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Sehr warm war der Wagen nicht. Aber Doktor Herzfeld hatte den Mantel anbehalten und hatte die Reisedecke über den Knien, und er saß nun ganz behaglich und bequem in seiner Ecke, – die Zivilisation segnend, der man den D-Wagen verdankt. Er hatte den besten Platz im Abteil; denn vor ihm, draußen in dem breiten Fenster, schob sich die Welt vorüber, kam auf ihn von ferne zu, verharrte einen Augenblick und versank dann hinter ihm … nur manchmal umrahmt von einem vorbeijagenden Rauchfetzen. Die anderen im Coupé erhaschten nur einen Blick davon, – oder sie sahen sie erst, nachdem sie eigentlich schon wieder weggeflogen war. Ganz schnell, wie eine unzüchtige Photographie, wurde sie ihnen entrissen. Aber sie schienen es nicht einmal übel zu vermerken, daß ihnen von der entfliehenden Welt soviel vorenthalten wurde. Ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben: sie würdigten sie kaum eines gelangweilten Blickes.

Immerhin, wenn Doktor Herzfeld sich die Sache recht überlegte, so hatte er es besser als alle die anderen, die hier saßen; von denen, die draußen im Gang standen und sich irgendwie – an Riemen, Knöpfe und Vorsprünge geklammert – auf den Füßen zu halten versuchten, ganz zu schweigen; und erst recht von jenen, die auf Körben und Tornistern hockten, auf die angezogenen Kniee die Ellbogen stützten und den Kopf schief in Händen hielten. Und die hatten immer noch einen bedeutenden Vorsprung vor den anderen, die noch nirgends festen Fuß gefaßt hatten, sondern immer noch an freie Plätze in den Abteilen oder Wägen glaubten und sich auf den Gängen, zwischen den Stehenden ruhelos (entschuldigende Worte murmelnd) hindurchquetschten und mit hochgeworfenen Beinen über die am Boden Hockenden hinwegkletterten.

Eigentlich waren ja nur sechs Plätze im Abteil, aber man hatte sich zusammengedrängt, und so gab es Raum für acht, – weil man außerdem noch die beiden Armstützen hüben und drüben hochgeklappt hatte. Aber sie gingen nicht ganz hoch und pufften jene, die vor ihnen saßen, bei jeder Bewegung in den Rücken. Ja, es saßen sogar eigentlich neun im Kupee; denn im Mittelraum auf dem Boden, da, wo man sonst vielleicht Raum fand, die Beine ein wenig von sich zu strecken, thronte, mit zierlichen Tropfen ehrlichen Schweißes auf seiner Glatze, ein altes Männchen auf seinem blechbeschlagenen Musterkoffer und seufzte still vor sich hin.

Ein Zehnter war dem allgemeinen Protest gewichen und hatte sich vorerst auf eine Stelle des Wagens zurückgezogen, die ihm zwar Sitzgelegenheit bot, aber für dauernden Aufenthalt kaum geeignet erschien. Er hatte auch gedroht, sich in Jüterbog wieder einzufinden, weil er behauptete, daß dann Plätze vacant würden.

Wenn auch sonst im Zuge der Militarismus die Majorität hatte, so stellte Doktor Herzfeld doch zu seiner Genugtuung fest, daß hier – in seiner kleinen Republik – die Zivilisten führten. Eigentlich war nur eine Militärperson da, ein Mann Anfang der Dreißig mit einer handtellergroßen, eingesunkenen Narbe vorn über der Stirn. Aber er machte sich nicht bemerkbar, sondern drückte sich halb verschlafen in seine Ecke. Ein Kontakt war überhaupt noch nicht unter den Reisenden hergestellt. Sie sprachen noch nicht und sahen sich feindselig an. Die Eingezwängten neideten den anderen die Eckplätze; und diese wieder sprachen innerlich jenen überhaupt die Existenzberechtigung ab. Und gegen Doktor Herzfeld schien sich – das fühlte er – naturgemäß der Unwille aller zu vereinen; und das ließ ihn mit geheuchelter, doppelter Aufmerksamkeit zum Fenster hinaussehen, als ob da irgend etwas besonderes wäre.

Erst hatte es Ansammlungen von Wagen und Zügen gegeben, durch die man sich hindurchtastete; dann Reihen von Hinterhäusern, in denen noch hier und da rötliche Gasflammen schwelten, und an deren Brandmauern wilde Reklamen verschmutzten von Schönheitsinstituten, Kammerjägern, Sargmagazinen, Zeitungen und Trauerkleidung, … das riß nicht ab … bis Stein- und Stätteplätze und Eisenläger folgten, wo Millionen vom Rost gefressen wurden.

Ach, und da oben vor den ziegelroten Burgen des Bezirkskommandos hatten sich wieder mal in dicken, schwarzen Massen Menschen angesammelt. Die Saugpumpe arbeitete also immer noch weiter, hatte immer noch nicht genug Blut gepumpt. Dieser arme Junge, der Kurt! Titatata tum tati! O, da gab es Laubenstädte, halb verschneit, mit matschigen Wegen und mit verklatschten Kohlbeeten. Kein Mensch war zu sehen, und doch spürte man nächtliche Razzien mit Schüssen und Polizeihunden, dachte an Sittlichkeitsverbrechen, Schwarzschlächtereien, Kaninchenausstellungen, gestohlene Tauben, Papiermützen und Erntefeste. Durch die ganze Latrine Berlins mußte man erst durch, ehe man ins Freie kam. Das ist zum Schluß bei allen Großstädten so. Unter den offenen Bahnhallen der Vorortstationen gingen im flirrenden Schneegestöber fröstelnde Menschen – meist Frauen in schwarzen Kleidern … (das sollte nicht sein – man sieht zuviel schwarz gekleidete Frauen jetzt!) unruhig auf und ab und warteten auf den Zug. Tröstet euch: er muß gleich kommen, wir haben ihn vorhin überholt!

Wie das heller wurde, plötzlich heller, wenn man heraus war, den Kohlendunst Berlins hinter sich hatte, die letzten Häuser der Vororte schwanden und … soweit das Auge reichte, das aufgebrochene, weißgepuderte Land lag.

Es war eine ordentliche Lichtfülle, die in den Wagen kam. Da war ein letztes rotes Dach: ein ganz klein wenig einsam, da zu wohnen! Beschneite Kiefern wurden von Birkenstämmen bewacht. Auf fernen Wegen rumpelten ein paar Holzfuhren dahin. Eine Pappel fror mitten im Feld, mit runder Krone, in der wie große, dunkle, exotische Früchte ein Schwarm von Krähen saß und beriet, wohin er heute fliegen sollte: nach Zossen oder nach den Rieselfeldern. Gekröpfte Weiden marschierten an schmalen Gräben entlang, – eine hinter der anderen, niedrig, zerzaust, wie Vagabunden auf der Walze. Und all das immer wieder zerschnitten von den Drähten der Telegraphenstangen, die neben dem Zug im Kiebitzgang einhertanzten. Schon Friedrich Theodor Vischer hatte das in Verse gebannt, dies Heben und Senken, dieses Auf- und Niedergleiten, dachte Doktor Herzfeld. Und an jeder Telegraphenstange, unter dem Schellenbaum, hing oben wie eine mächtige Kohlraupe, die sich verpuppen will, mit einem Gurt um den Rücken ein Telegraphenarbeiter, mit den Steigeisen sich haltend, seinen Draht abhaspelnd und befestigend. Hier einer, da einer, dort einer. Acht, zehn, zwölf Stück nacheinander.

Wie trostlos dieses Land hier. Doktor Herzfeld schüttelte den Kopf, ich habe eigentlich nie begriffen, warum diese wahllose Menschenansammlung, die sich Berlin nennt, hier und gerade hier stattfinden mußte. Jede andere Stadt hat eine geographische Bedingtheit … da ist Meer … Hafen, … Fluß, … Confluenz, … Handelsstraßen, die sich kreuzen, … günstige Verbindung mit anderen Ländern, … Gebirge, … Fruchtbarkeit, … geschützte Lage bei Kriegen, … irgend ein Gedanke liegt zu Grunde. Aber dieses Berlin, das hebt sich ohne Ziel, Sinn, Notwendigkeit aus dem Nichts heraus. Als ob Kinder auf einem Tisch mit einem Ankerbaukasten eine Stadt aufgebaut hätten; es könnte ebenso gut an dem einen wie an dem anderen Ende des Tisches geschehen sein. Es hat kein Hinterland, keine Nachbarorte, außer elenden Landstädtchen, die seit Jahrhunderten stagnieren; keine Kultur, aus der es wuchs; – es schwimmt wie eine Insel im Nichts. Es hat keine Voraussetzungen. Man mag ihm nahen, von welcher Seite man will. Es ist plötzlich da; und, wenn man es verläßt, so ist es nach zehn Minuten Bahnfahrt vergessen, als ob es nie gewesen wäre.

O, man weiß genau, es gibt hier keine Überraschungen: es gibt nur dünne und dürftig beschneite Felder, die mit ihren Furchen und Stoppeln an schlechtgepuderte, alte Dirnen erinnern; gibt dürrste Kiefernheide, ein paar trostlose Wege, einen kleinen See mitten im kahlen Land, – Scharen von Wasserhühnern darauf, die, durch den Zug beunruhigt, nach der Mitte streben, über seinen Spiegel hinschnurren; – gibt nur eine Krähenschule im Horizont wie auf Gemälden Millets (sie sind, wie die Sorgen, immer da; aber niemand kann sie leiden). Selten mal, daß durch einen Kirchturm ein Dorf sich hinten verrät; ein Gutshof, hinter Bäumen versteckt, sich ahnen läßt, zu dem über eine kahle Rüsternallee ein quarrender Ochsenwagen sich hinschiebt. Ein paar Obstbäume, dürftig genug, sind wie mit Kalter-Nadel in den zittrigen Linien eines Anfängers auf den grauen Schneehimmel radiert.

Ich kenne das alles seit hundert Jahren. Ich möchte ein Buch nehmen, um dem zu entfliehen. Und doch muß ich hinausblicken, wie die Ferne vorüberströmt, immerfort, sich wie ein aufgeschlagener Fächer weiterschiebt. Unzählige Mal habe ich es gesehen, und doch beunruhigt es mich noch, weil es das geheimnisvolle Erlebnis der Welt ist, des Himmels, des Raumes. Das Durchgleiten zwischen all dem, selbst wie ein Meteorit, – läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Die Zeit, mit dem Raum verbunden, bekommt plötzlich einen neuen Sinn. Man empfindet gleichsam körperlich diese Ab- und Umlösung des Seins in das Nichts und des Nichts in das Sein, die der Sinn der Zeit ist. Wenn ich noch tausend Jahre älter bin – dann werde ich ein Buch lesen in der Bahn, wie der Greis da drüben, und werde zwanzig Meilen später aufwachen … Noch habe ich aber das Staunen über diese Welt nicht verloren, … selbst nicht an einem mürrischen Wintertag wie heute, und in dieser armseligen Eintönigkeit der märkischen Landschaft: nur Himmel und Erde wie am zweiten Schöpfungstag!

Aber jetzt kommt mehr Schnee! Plötzlich fängt er an. Nur in den Rainen und Ackerfurchen zogen sich bisher lange, weiße Streifen hin, die das Land in Rechtecke und Quadrate abteilten, wie die Kreidestriche die einzelnen Reviere der Tennisplätze abgrenzen. Dann kam ein Ackerstück, das bestäubt war, sodaß allenthalben die Spitzchen der Wintersaat wie durch dünnes Seidenpapier stachen; und gleich das nächste ist mit einem hohen, weißen Bettuch belegt, einem Federkissen, das alle Unebenheiten des Bodens ausgleicht. Und das Stück Wald, das sich anschließt, schläft schon völlig, in seinen Winterpelz gehüllt, von Wildspuren zag durchfurcht.

Das viele Weiß blendet Dr. Herzfeld, und er muß die Blicke abwenden. Der Himmel ist auch höher und klarer geworden; es schneit hier nicht mehr, scheint kalt zu sein. Irgendwo über dem Horizont ist ein Stückchen frostiges Blau, nicht größer als eine dreieckige Marke vom Cap der Guten Hoffnung, die der Traum aller briefmarkensammelnden Jungen von ehedem war. Kleine Stationen fliegen vorbei, von Ortschaften, die weit hinten im Land liegen – überall gibt's einen jämmerlichen »Gasthof zur Eisenbahn«, sonst nichts – ratzekahl nichts … Wie weit die menschliche Kultur doch ist! …

Doktor Herzfeld wendet sich dem Wagen zu. Der Kontrolleur ist erschienen, zusammen mit einer behosten Schaffnerin mit lang spießender, ungeschützter Nadel durch die Mütze. Der Kontrolleur ist dick, sehr würdig, mit grauem Spitzbart und Kneifer und sehr gestreng. Er prüft die Fahrscheine bedächtig. Doktor Herzfeld stellt mit Staunen fest, daß er und zwei Herren – breite, behäbige Jagdonkels in Loden und Gamaschen – eigentlich die einzigen sind, deren Fahrscheine der Wagenklasse entsprechen. Die anderen werden ernst vermahnt, sobald es Platz gibt, in ihre Klasse sich zurück zu begeben. Sie nehmen davon bescheiden Kenntnis, ohne auch nur daran zu denken, es jemals ernstlich in Erwägung zu ziehen. Nur der Soldat mit der Kopfverletzung meint: »das wäre ja noch schöner!«

Vorerst ist jeder noch für sich im Abteil. Nur die beiden Jagdonkel, die zusammen gehören, sprechen von Feinkorn, Karnickelbock, Fasanenhennen und Rotspohn. Das ist ihnen noch von den Werten dieses Lebens geblieben; Aphrodite, die Gauklerin, scheinen sie überwunden zu haben … Aber allseits fühlt man beginnende seelische Erwärmung: nicht zehn Minuten mehr, und der ganze Abteil wird nur noch eine plaudernde Familie sein.

Doktor Herzfeld gegenüber sitzt ein altes Ehepaar – recht bejahrt schon; haben zusammen vielleicht bald anderthalb Jahrhundert auf den gekrümmten Rücken. Doktor Herzfeld denkt an Terenz: ›wir sind nur noch da, um die Zahl der Märchen zu vergrößern; wie lange noch, und es wird heißen: es war einmal ein alter Mann, und es war einmal eine alte Frau.‹ Er fühlt, in fünf Jahren wird beiden zu Häupten, auf dem Friedhof in Züssow, ein gemeinsamer Grabstein stehen.

Er hat auf dem viereckigen Pastorenkopf eine Fuchskappe, unter der, vorn über der Stirn, eine einzelne, zähe, wippende Haarsträhne wie bei einem Silberreiher hervorsteht, und jede Bewegung zitternd mitmacht; und er liest aufmerksam mit Augen und Lippen. Und sie, mit einem Gesicht wie eine vorjährige Backbirne, ganz klein und verhutzelt – in einer Mantille aus einem Turkenshawl und mit einer Tocque auf dem Dutt – nur Falten, in denen die blanken und harten Stecknadelknöpfe der Augen sitzen, – sie hat einen Korb auf dem Schoß, der alles enthält, was der Städter lange entbehrt hat; wohlgeschichtet: Schinken und Wurst und Rauchfleisch und Eier und Käse und Butter und Weißbrot und Kuchen und Rotwein und Obst … und sie stopft mimmelnd in sich hinein. Sie hat ein halbes Dutzend Eier entpellt und die Schalen angesammelt. Und sie ißt und ißt, mit der Schulung eines langen Lebens, ungeheure Mengen. Doktor Herzfeld begreift nicht, wie sie bei ihr Platz finden. Aber sie stopft sinnlos weiter. Die neidischen, großen Augen des jungen Mädchens ihr gegenüber verwirren sie nicht. Sie, die Alte, verachtet aufrichtig alle Großstädter, die nichts zu fressen haben … geschieht ihnen schon recht. Sie ist vom Land. Altruismus liegt ihr fern. Sie bietet ständig ihrem alten Ehegespons neue Dinge an. Aber er will nicht mehr, schüttelt den Pastorenkopf mit der Pelzkappe, liest weiter mit Augen und Lippen … Das ist Nordosten, Kleinstadt, Gut, Pommern, denkt Doktor Herzfeld.

Dabei ist sie unausstehlich zu ihm (sicherlich schon seit vierzig Jahren), erzieht ewig an dem etwas asthmatischen Alten herum: »Schnaufe nicht so, Heinrich!« … läßt sich von ihm die Weinflasche aufziehen, eingießen, Brot, Wurst, Schinken schneiden, Äpfel schälen, in Achtelchen zerteilen, damit sie sie beißen kann; ist nie zufrieden. Während er nur hin und wieder halb beschwichtigend »Aber Malwine!« murmelt. Trotzdem hat sie, das sieht man ihr an, die Empfindung, daß sie rührend-gut zu ihrem Mann ist, sich für ihn aufopfert. »Stirb nicht so unmanierlich!« werden die letzten Worte sein, die sie zu ihm sagen wird, und dann wird sie weinend sich beklagen, daß sie nun niemand mehr hat, für den sie sorgen kann, und wird Fräulein Schmidt kommen lassen, damit sie ihr Maß für ihre beiden Trauerkleider nimmt: das für gut, und das für alle Tage. Gegen sie ist dieser alte, vierkantige Pastorenkopf, – gewiß ein ehemaliger Gutsverwalter oder im besten Fall Geometer, – noch ein Landedelmann. Alte Männer finden sich doch stets irgendwie mit ihrem Schicksal ab; alte Frauen fast nie. Doktor Herzfeld versteht plötzlich den Feuerländer, der zu Darwin gesagt hatte, daß, wenn sie in Not kämen, sie zuerst die alten Frauen totschlügen und auffräßen, und dann erst ihre Hunde: – »Hunde fangen Ottern … alte Frauen nicht!« Und er lobt innerlich die weise Einsicht der unverbildeten Naturvölker.

»Soll ich dir vielleicht das andere Buch geben?« … fragt die Treusorgende.

»Ach nee,« meint der Alte, »dat Buch is sehr scheen; Dorbi bliw' ick. Dat beles' ick mich janz sparsam.«

Das war das Signal zur Verbrüderung. Das junge Mädchen – Doktor Herzfeld konnte von ihr nichts sagen, als daß es ein junges, schlankes Mädchen und braunblond war, mit schmalem Kopf und dunklen Augen … ein ziemlich einfaches Geschöpf, das vielleicht Kinderpflegerin oder Verkäuferin oder Telephonistin war – denn sie saß zwei Plätze von ihm, auf seiner Seite, und er vermochte sie nicht recht zu sehen, wenn er nicht den Kopf allzuweit hätte herüberbeugen wollen … das junge Mädchen fing plötzlich an zu lachen, ohne Grund und Sinn. Ein Mann in der Ecke, um die Fünfzig, mit einem schweren, seltsam-gescheckten Spazierstock zwischen den Fäusten und einem Gesicht wie ein Marktschreier, lachte gleichfalls. Und der Soldat mit der Kopfwunde reckte sich, gähnte und rief: »Es wird immer zwölfer! Ach Jott, – was kann eigentlich an einem Tag schon dran sein, wenn er des Morgens gleich mit Aufstehen angefangen hat,« und er fragte dann mit schmeichelnder Stimme das Mädchen: warum es denn so vergnügt wäre?! Selbst das Männchen auf dem Musterkoffer wischte sich nicht mehr die Stirn, hörte auf zu seufzen und blinzelte nach dem Alten mit der Fuchskappe hinüber.

»Na,« meinte der eine von den Jagdonkels zu dem Soldaten, »Sie haben da ein tüchtiges Ding bekommen! – Granatsplitter?!«

»Ja, ick habe jetzt einen offenen Kopp gekriegt,« meinte der Soldat lachend (er hatte schwarze, glimmende Augen, in denen es ständig im geheimen arbeitete). »Das habe ich früher noch nicht gehabt. Sehen Sie, wenn ick huste« – er räusperte sich. »Der Schädelknochen ist glatt weggerissen. Da is nur Haut drüber. Da haben die Gedanken mit einem Mal Platz bekommen. Aber da sollten Sie erst mal die Narbe über meinem Bauch sehen! Die macht mir noch viel mehr Spaß. Fuhrwerkt mir da solch Kerl, dem ich nie was getan habe, einfach mit dem Bajonett drin rum.«

»O!« sagte das Mädchen, beugte sich vor und sah dem Soldaten auf die Knöpfe des Waffenrockes, als ob da die Narbe wäre.

»Ach, wissen Se, Fräulein,« fing da der Soldat wieder an – er spielte den Schwerenöter – »glauben Sie 's mir ruhig, hören Se uff einen Fachmann: die scheenste Krankheit is nischt wert!«

»Nun tut es Ihnen wohl leid, daß Sie nicht mehr herauskommen?« meinte der andere von den Jagdonkels, jovial und schulterklopfend. Er hatte Augensäcke und buschige Brauen, und das gab ihm etwas Würdiges; »kann das nachfühlen, bin auch alter Soldat. Aber Sie haben wirklich genug getan. Jetzt sollen mal die anderen ran!«

Der Soldat mit der Kopfwunde sah den Jagdonkel ganz ruhig an und richtete plötzlich und ohne Warnung in freundlichster Weise eine Aufforderung an ihn, der dieser nicht, ohne das peinlichste Aufsehen zu erregen, hätte nachkommen können. Der Marktschreier in der Ecke lachte, daß es dröhnte. Er begann sich wohlzufühlen in der zweiten Klasse. Das war sein Ton. Der Jagdonkel wurde rot und zerrte an seinen grauen Schnurrbartenden, sagte aber nichts.

Man fühlte plötzlich, es war etwas wie eine latente Feindschaft in dem Abteil. Zwei Welten, die der Krieg mühsam für einen Tag zusammengeleimt hatte, drohten wieder auseinander zu fallen.

»Wissen Sie …« meinte der Soldat mit der Kopfwunde sehr langsam und sehr überlegen. »Wenn ich höre: alter Soldat! … dann wird mir schon janz anders. Jott, es macht mir ja immer Freude, wenn Leute von sich selbst beglückt sind. Aber wenn Ihnen jetzt einer sagte: springen Se man gleich 'raus aus dem fahrenden Zug! Was würden Sie entgegnen? Na?! – ›Sie sind wohl verrückt!‹ würden Sie rufen. Aber wenn Ihnen dagegen jemand sagt: da wird mit Granaten geschossen, halt' mal deinen Kopp hin, mein Junge, das Vaterland is in Jefahr, – da soll'n Se noch Hurra! schreien … nicht wahr?«

»Sie sind ein schlechter Mensch!« zeterte der Alte mit der Fuchskappe über sein Buch weg. Und seine Silberreihersträhne schwankte auf und nieder vor Erregung. »Ich fahre jetzt nach Halle zu meinem Sohn, weil der morgen als Leutnant hinausgeht, um ihn noch einmal zu sehen; aber ich würde mich seiner schämen, wenn ich solche Worte von ihm hören sollte!« …

»Ich will Ihnen mal 'was anvertrauen, Großpapa,« meinte der Soldat mit der Kopfwunde sehr bescheiden – »ich habe bisher immer noch jefunden, daß die schlechten Menschen zum Schluß noch besser sind als die guten. Wenigstens fressen se nich seelenruhig sechs Eier hintereinander, wenn dem andern gradeüber der Magen bis auf die Schnürstiebel runterhängt, und der seit Jahr und Tag keen Ei jesehn hat. Ich wünsche Ihrem Sohn alles Gute. Aber es is ein bißchen eine komische Zeit heute: man weiß nämlich nie, ob nich morgen schon de Raben an einen rumhacken. Sie wundern sich, daß ich so rede. Seh'n Se, Großpapa: ich sage das, was ich denke. Warum soll ich das nich tun?! Mir kann nischt mehr passieren. Schlimmstenfalls heißt es: der Kerl spinnt, und sie beobachten mich eene Weile uff meinen Geisteszustand, und denn lassen se mir wieder 'raus. Die anderen aber lüjen Sie an: und Sie, Sie belüjen sich selbst. Glauben Sie mir, Großpapa: wenn auch die Zeit augenblicklich den anderen verbietet, ihre Meinung zu äußern. Daß sie eene haben, kann sie ihnen nich verbieten.«

»So is 's«, fiel der Mann mit dem Marktschreier-Gesicht ein und stampfte wie der zornige Vater im Bauernstück zur Bekräftigung mit seinem gescheckten Spazierstock auf den Boden.

Draußen auf dem Gang die Soldaten hörten zu. Einer sah in die Tür, sagte aber nichts. Er war gewohnt, Worte nicht so heiß zu nehmen.

»Sehn Se, Großmama,« begann der Soldat mit der Kopfwunde wieder und wandte sich zu der alten Frau, die immer noch mimmelte. Jetzt spielte sie Mundharmonika mit einem kalten Kotelett. »Ich habe nich gehen wollen. Mich ham se jeholt. Ich war schon 1907 als ›unsicher‹ auf de Liste. Gleich den ersten Tag, wie ich draußen war, habe ich überlaufen wollen; es is mir aber leider vorbeijeglückt!«

Die Großmama musizierte weiter. Für so etwas hatte sie nur Verachtung. Da waren sie in Pommern doch noch anders wie solches Berliner Lumpenpack. »Weil Sie eben nicht an Gott glauben,« sagte sie strafend zwischen zwei Bissen.

»Wissen Se, Großmama,« rief der Soldat sehr freundlich, »ich sage immer: jetzt den Namen Jottes zu erwähnen, is schon Gotteslästerung! Bleiben Se mir doch mit Ihrem ganzen Glauben von' Halse. Was tut er denn? De Waffen segnen!«

Der Jagdonkel hatte einen roten Kopf bekommen. Jetzt hatte er ihn: Der alte Soldat in ihm regte sich. »Sie wollten also überlaufen?« meinte er scharf. »Feigheit vor dem Feinde wird mit dem Tode bestraft.«

»So!« sagte der Soldat obenhin und krabbelte nervös in seiner Tasche. »Eijentümlich, Leute, die nischt verstehen, wollen einen immer belehren. Sie scheinen mir 'n sehr jesunder Herr zu sein, daß Sie soviel Selbstüberhebung haben; wenn Se etwas kränker wären – wie ich zum Beispiel – würden Se die Dinge milder und sich selbst geringer sehen. Aber kennen Se vielleicht das hier?« Und damit hielt er dem Jagdonkel ein schwarzweißes Etwas unter die Nase. »Es is 'n Eisernes, aber eins erster Klasse!, falls Se 's noch nich jesehn haben sollten. Wenn das ein gemeiner Soldat kriejt, denn kriejt er 's ja schließlicherweise nicht für Feigheit … vor … dem … Feinde …! Wenn Sie's bekommen hätten, würden Sie's nachts auch noch auf dem Nachthemd tragen. Ich schenk's Ihnen, wenn Sie's haben wollen. Ich mach' mir nichts draus. Es erinnert mich unnötig an Sachen, die ich jern vergessen möchte. Für mich is der Krieg zu Ende. Mir ham sie 'n Schädel eingeschlagen; das jenüjt mir!«

Der Jagdonkel wußte nich recht, was er antworten sollte. Er fühlte, er hatte den kürzeren gezogen, und man war ringsum nicht auf seiner Seite. Das junge Mädchen zum Beispiel, das vordem auf all seine Witzworte, die er zu seinem Freunde gesagt und auf sie gemünzt hatte, so verständnisinnig gelächelt, hatte keinen Blick mehr für ihn, sah an ihm vorbei, sah über ihn weg. Hier war Volk. Und das Volk dachte anscheinend sehr anders über die Dinge als er, und als es die Zeitungen glauben machten, daß es das täte. Selbst der Alte mit dem viereckigen Pastorenkopf und der Fuchskappe las nur scheinbar mit Augen und Lippen in seinem sehr schönen Buch. Aber man merkte ihm an, daß es ihm irgendwie zu denken gegeben hatte. Nur seine Gattin mit der großgemusterten, gelbroten Mantille kaute und stopfte und stopfte und kaute demonstrativ weiter, sodaß der schwarze Tocque auf ihrem spärlichen Dutt erzitterte. Nun gerade! dem Lumpenpack wollte sie es zeigen! Um was es hier eigentlich ging, hatte sie nicht begriffen. Davon war nichts in ihr altes und stumpfes kleines Hirn gedrungen.

Es war eine etwas peinliche Stille im Abteil, voll von innerer Gereiztheit.

Der Jagdonkel aber wollte auf alle Fälle die Situation retten, wenn es auch gegen seine Überzeugung ging. Eigentlich war er doch ein gemütlicher Mann und kein Spielverderber. Das sollten alle sehen. »Na,« sagte er und holte aus der Brusttasche seiner Joppe sein Juchten-Etui heraus, »nehmen Sie eine Zigarre, Kam'rad. Die da drüben. So 'was kriegen Sie jetzt nicht mehr. Das bringt Sie auf andere Gedanken. Nehmen Sie gleich noch eine für nachher.«

Der Soldat griff zu mit zittrigen Fingern. Er knickte innerlich plötzlich zusammen. Jetzt war er nicht mehr Rebell, sondern ein armer Kerl, der sich demütig unterordnete unter Gegebenheiten. »Nich für ungut!« murmelte er. »Ick war früher Monteur. Hundertzwanzig Mark hab ich die Woche verdient. Was soll ich nu machen? Ich krieje volle Rente, … gewiß. Aber man weiß ja garnicht mehr, wem man eigentlich gehört.« Er schwieg, und seine schwarzen Augen glimmten weiter. Und unter der dünnen Haut, die seinen angeschlagenen Schädel bedeckte, oben auf der Stirn, sah man, wie es zuckte und arbeitete.

Doktor Herzfeld hatte mehr als einmal eingreifen wollen in dieses Rede- und Antwortspiel. Aber immer hatte er es wieder niedergekämpft. Er kannte sich. Er verriet sich dann zu leicht. Und was hatte das für einen Sinn?! Was nützt es denn, wenn man zum Armen Bruder sagt? Dadurch geht es ihm nicht besser. Aber dieser Mann interessierte ihn, der so seltsam Scheu und Unbildung und Wortgewandtheit und Roheit ineinander mischte. Die Welt sah anders aus, ganz anders, als er es in seiner Stube geglaubt hatte: solche, wie den Monteur da, gab es gewiß zu Tausenden schon allenthalben.

Die oben ahnten es nur noch nicht; und es war einzig noch die Frage, wie lange man das Volk weiterpeitschen konnte.

Der Jagdonkel aber strich sich seinen weißen Schnurrbart und sah sich befriedigt um. Er hatte doch gesiegt. Selbst das junge Mädchen mußte jetzt eingesehen haben, was er für ein famoser alter Herr war!

Der Zug hatte schon ein paarmal gehalten. Jenseits der Elbe hatte der Schnee wieder aufgehört. Das Land war nicht so abgestorben und wintertot und armselig wie in der Mark, war nur scheintot, schlief nur. Die Bäume hatten einen anderen Sinn, waren schwerer und astreicher hier in den Niederungen. Die Farben waren schon etwas wärmer und hatten nicht mehr das Öldruckmäßige von vorher. Dann jedoch war wieder Dürre gekommen, trockenste Kiefernwälder, ärmste vegetative Armut. Aber mächtige Braunkohlengruben darin, in denen Bagger prusteten, von hohen verschlemmten Sandwällen umgeben. – Überall Riesenschornsteine, die schwarze Fahnen flattern ließen, … bis ganz weit hinten ins Land hinein. Fabriken, an denen man minutenlang vorbeifuhr. Überall Neubauten, Förderbahnen, hochgliedrige elektrische Masten, die weithin mit Siebenmeilenstiefeln durch die Wälder stelzten. Eigentlich sah man keine Menschen. Spürte nur Arbeit … Arbeit … Arbeit! … Reichtum! … Hunderttausend, die sich da hinter diesen roten Mauern, in diesen schlammigen Gruben in nackter Jämmerlichkeit von Tag zu Tag hinquälten, damit tausend andere sorglos und ohne den Finger zu rühren davon leben konnten.

»Die Gegend hier ist groß geworden!« sagte, hinausweisend, der Jagdonkel zu Doktor Herzfeld. »Hier werden auch überall jetzt Granaten gedreht … Hier werden täglich jetzt Millionen und Millionen mit verdient. Und da drüben sind riesige Sprengstoffwerke neu gebaut worden.«

»Ja, ja,« meinte Doktor Herzfeld, »die eine Hälfte der Industrie ist immer dazu bestimmt, die andere zu vernichten. Chronos, der seine eigenen Kinder frißt!«

Der Jagdonkel sah Doktor Herzfeld entgeistert an. »Wissen Sie, mir imponiert das,« stotterte er.

»Gewiß! mir auch,« – meinte Doktor Herzfeld – »wenn's nur zu anderen Zwecken geschehen würde. Wieviel weniger brauchten wir zu arbeiten, wenn wir nicht ewig wieder für neue Kriege schuften müßten. Fünfzig Jahre haben wir uns in Deutschland gequält, um wenigstens irgend etwas auf die Beine zu bringen. Und immer wieder kommen diese Sandstürme der Unkultur und decken die paar Oasen, die wir glücklich geschaffen haben, von neuem zu.«

Der Jagdonkel schwieg. Er hatte genug. Er war ein alter Soldat. Er war ein ruhiger Mann. Er ging zu seinem Vergnügen auf die Jagd; streiten wollte er sich nicht.

Die Unterhaltung war lebhaft geworden. Die beiden Jagdonkel hatten eine Weile Fasanendoubletten geschossen, dann Treibjagden auf Hasen abgehalten, waren weiter auf ihre Vermögenslage zu sprechen gekommen … »wenn meine alte Dame mal ihre Augen zumacht, krieg ich da auch noch ein' gehörigen Batzen!« … Aber jetzt erklärte einer dem anderen, worin die deutsche Heeresleitung taktische Fehler begangen hätte … »sie hätten Warschau links liegen lassen müssen und direkt auf Moskau los marschieren.«

Die alte Frau bot sogar dem jungen Mädchen ein Stück Kuchen an und erzählte von ihrem Sohn Sachen, die vierzig Jahre weit zurück lagen. Die waren ihr gegenwärtig. Das andere hatte sie vergessen. Was der Besuch jetzt bedeutete, war ihr nicht ganz klar: ihr Sohn war doch nur Fronttelegraphist … da konnte ihm ja nichts passieren.

Der Mann, der vordem mit Protest ausgewiesen war, war zurückgekehrt, weil man ihn wohl aus seinem Schmollwinkel allzu oft vertrieben hatte. Er hat sich in die Tür gestellt, um als erster zuzuspringen, wenn es etwa eine Vacanz geben sollte, und er hatte in dem seufzenden Männchen auf dem Musterkoffer einen alten Bekannten aus seiner Heimat entdeckt. Und nun war die Freude groß. Er plätscherte nur so in Erinnerungen … was der andere jetzt mache, wo doch keine englischen Tuche mehr 'reinkämen?!

... Gewiß, er hätte noch seine Holzwerke, – und eine Stuhlfabrik hätte er auch noch übernehmen müssen, weil ein Gläubiger im Kriege gefallen sei. »Sie arbeitet mit Hochdruck jetzt wieder, … aber natürlich andere Dinge!« … fügte er geheimnisvoll hinzu, »jetzt heißt's eben: sich richtig umlegen!« Alle vierzehn Tage führe er einmal hin, um nach dem rechten zu sehen. Ob jener noch nach ›Gerlitz‹ käme?

Er nicht. ›Gerlitz‹ wäre kein ›Platz‹ für ihn. Bei ihnen, in Schneidemühl, wäre garnischt mehr los. Früher, wie sie noch beide dagewesen wären: damals, da wäre noch Betrieb gewesen. Ob er noch wüßte, wie er als junger Mann auf einen Sitz seine ganze Weihnachtsgratifikation beim Pokern verloren hätte? »... Aber seitdem der alte Meier auch weg ist, ist alles vollkommen tot bei uns … der hat auch nicht eher geruht, als bis er mit de Karten in de Hand gestorben ist … Der selige Meier sollte jetzt sein'n Kopf erheben … der möcht' sich wundern!«.

Der Mann in der Tür wurde weichmäulig. »Wielange wird's noch dauern,« sagte er, »werden wir auch da sein, wo der alte Meier heute ist?!«

»Nana, Sie haben doch noch mindestens zwanzig Jahre Zeit!« … meinte das Männchen auf der Blechkiste.

»Zwanzig Jahre?! Lieber Freund,« sagte der in der Tür, »ich bin ganz zufrieden, wenn der da oben auf fünfzig Prozent mit mir akkordiert.«

»Mit mir kann er sogar auf fünfundzwanzig Prozent sich einigen. Ich wäre nicht böse,« meinte wieder das Männchen auf der Blechkiste, wischte sich die Schweißtropfen von der Glatze und seufzte.

Man sah es ihm an. Ihm gefiel es schon längst nicht mehr … ›Na, war das vielleicht eine Art, mit einem Musterköfferchen von Stadt zu Stadt hausieren zu gehen in einem Alter, da andere sich schon zur Ruhe gesetzt hatten; und vor allem, da er doch selbst einmal ein eigenes Geschäft gehabt hatte … das war kein Leben!‹

Der Dicke mit dem Marktschreiergesicht zeigt seinen Stock herum, hält ihn jedem hin, er solle ihn bewundern. Ein Offizier habe ihm neulich dreißig Mark dafür geboten; aber er gäbe ihn nicht fort. Er war von der Edelkastanie geschnitten, weiß und schwarz geflammt, wie ihn die Soldaten draußen in den Vogesen machten, indem sie den Stock mit Werg umwickelten, das sie dann anzündeten: das brannte lichterloh schnell herunter und gab diese zufälligen, brunierten Maserungen. Das war garnicht häßlich! Aber außerdem hatte eine plumpe Hand ihre Schnitzkünste daran versucht, hatte ein Edelweiß eingekerbt, eine Gemse, eine ebenso nackte wie un- oder richtiger überproportionierte Dame und eine sich windende Schlange; und fürder hatte sie ein Etwas, was man für einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen halten konnte, hineingeschnitzelt; kurz: es war ein sehr schöner, reicher und kunstvoller Stock, der von der unverbildeten, völkischen Seele Zeugnis ablegte.

Alle bewunderten auch den Stock pflichtgemäß. Nur der Soldat mit der Kopfwunde sagte: »Dat is jarnischt! Das macht Ihnen draußen heutzutage jeder. Da ha'm wir aber bei der Kompanie ein' Mann gehabt, der war Feinmechaniker von Haus aus, der hat sowas noch viel kunstvoller gemacht. Und im Tätowieren is er einfach ein Genie gewesen. Bilder, über die man sich totlachen kann!«

Und der Soldat mit der Kopfwunde streifte seinen Ärmel zurück, um Proben dieser Kunst dem Marktschreier zu weisen.

Doktor Herzfeld sah hinüber. Sie mochten ja schön sein und kunstreich, diese Bilderchen, … fein waren sie jedenfalls nicht.

»Ja, und die Vorgesetzten« – erzählte der Mann mit der Kopfwunde ganz traurig weiter – »haben das aber nicht zu würdigen gewußt; denn sie haben ihm sechs Wochen Kasten aufgebrummt, weil er – einfach zum Spaß nur! – seinem besten Freund die ganze kaiserliche Familie mit alle Prinzen auf die Gegenseite tätowiert hat. Ich hab es geseh'n. Wunderschön! sag' ich Ihnen.

»Na, soweit war nu alles richtig und gut. Und wir haben ihn alle beneidet, weil er mal sechs Wochen aus de dicke Luft raus kommen sollte. Aber nu denken Se an, was für 'n Pech er gehabt hat: den Tag, bevor er seine Strafen antreten will – er hatte uns schon alle adieu gesagt – da fällt er. Also das hat uns allen wirklich riesig leid getan. Es war ein famoser Mensch. Das hat sogar der Hauptmann zugegeben.«

»Ja, ja,« meinte der Marktschreier. Doktor Herzfeld triumphierte innerlich; er hat gut getippt, hat ihn gleich richtig eingeschätzt, denn wie aus seinen letzten Erzählungen hervorgegangen war, hatte er wirklich früher einen Achtmeter-Wagen gehabt, mit dem er auf Jahrmärkten herumgezogen war und Bücklinge, Räucherwaren und Häringswaren und gebratene Fische verkauft hatte, und in dem er und seine Frau und seine beiden Töchter auch geschlafen hätten. Er hatte die Photographie gezeigt, wie er mit seiner Familie vor dem Wagen saß; man hatte daraus ersehen können, daß der Wagen in seiner Art durchaus vollkommen war. Er stände noch wo in Thüringen, und jetzt wolle er sehen, ob er ihn dort an den Mann bringen könne. Früher hatte er schönes Geld mit verdient, vor allem in der Provinz Sachsen … die Mark Brandenburg wäre von je faul gewesen … jetzt aber sei er in der gleichen Spezialität in der Großmarkthalle tätig und könne sich auch nicht beklagen, »jaja« meinte er bedächtig, »wenn einer klug is, denn macht er sowas vorher ab; das is ja geschenkt, die Zeit. Nich wahr?! … Da ha'm wir zum Beispiel einen in de Halle: also eine Seele von ein' Menschen! … und neulich, da spielt er mit seinem Freunde eine Partie Doppelkopp um een Seidel Patzenhofer, und plötzlich sagt sein Freund zu ihm so in' Gespräch, ganz nonnschalante … ›Justav,‹ sagt der, ›du beschummelst ja, du Betriejer du!‹ Na, und da nimmt der nu sein Glas und haut es dem Freund auf' n Kopp. Und da kiekte der noch so dumm, und da hat er ihn denn noch mal uff'n Kopp jehau'n … Also, ich versteh das nich: denn sonst is er wirklich eine Seele von ein'n Menschen. Sein Freund muß ihn wohl doch jeärjert ha'm! …

Sechs Monate hat er jekriejt wegen Körperverletzung im Rückfall. Der is nu klug, verstehen Se. Am fünfzehnten soll er bei'n Kommiß einrücken und am ersten tritt er seine Strafe an. Jaja, … das macht er!«

Doktor Herzfeld mischte sich, – man sprach ja durcheinander, war eine plaudernde Familie geworden, – in das Gespräch ein.

»Entschuldigen Sie, mein Herr,« sagte er. »Aber das ist doch ein Glücksfall; es hat doch nicht jeder gerade sechs Monate abzumachen?!«

Der Marktschreier sah zu Doktor Herzfeld mit einem unendlich mitleidigen Blick herüber, aus seinen großen schnapsverglasten Fischaugen – sie kamen sicherlich von seinem Beruf –. »Lieber Herr!« sagte er belehrend, ernst und kopfschüttelnd, wie jemand, der das Leben kennt und weiß, daß es eine sehr merkwürdige, keineswegs vorauszubestimmende Angelegenheit ist, »lieber Herr!, dazu kann heutzutage eener kommen, er weiß nicht, wie. Es kann was Jeschäftliches sein … Nich wahr, Sie sind doch ooch Jeschäftsmann?! Sie werden das verstehen!«

»O ja,« meinte Doktor Herzfeld, »die geschäftliche Moral ist bei den Armen Angst oder Dummheit, bei den Reichen Bequemlichkeit, und nur bei denen Ueberzeugung, die – wie ichnicht in die Verlegenheit kommen, sie anzuwenden.«

Der Mann mit dem Marktschreiergesicht starrte Doktor Herzfeld fassungslos mit seinen Fischaugen an. Das war ihm zu hoch. Vielleicht gelänge es ihm, auf der Grundlage des Allgemeinmenschlichen sich jenem eher verständlich zu machen. »Oder,« fuhr er gutmütig und langsam fort, mit den schweren Händen die Worte formend, »oder setzen Se mal den Fall: Se nehmen sich – wie das auch passieren kann – mal ein Mächen … (Pause) Und dat Mächen faßt den Scherz falsch auf! (Pause) Na?! Fliejen se schon rin! (Sehr laut und mit Überzeugung). Dazu kann jeder von uns kommen; er weiß nich, wie!«

Der Alte mit der Fuchsmütze auf dem Pastorenschädel legte das schöne Buch auf den Schoß, schüttelte ernst den Kopf, daß sein Silberreiher wie gesponnenes Glas auf einem Weihnachtsbaumstern zitterte und sah bedenklich auf seine verschrumpfte Frau herunter, ob sie auch nicht zugehört hatte: denn er liebte es, wenn solche Dinge von ihr fern blieben, die sie in Verlegenheit setzen könnten. Aber sie hatte nichts gehört. Sie hatte gegessen.

Der Soldat mit der Kopfwunde nickte ernst und zustimmend: So war das!

Die beiden Jugendfreunde aus Schneidemühl unterbrachen die Kette ihrer gemeinsamen Erinnerungen und meckerten vergnüglich vor sich hin.

Die Jagdonkels lachten unbändig, taten aber, als ob es über einen Witz wäre, den einer von ihnen gerissen hätte.

Das junge Mädchen jedoch war rot geworden und blickte absichtsvoll zum Fenster hinaus in die wieder leicht schneegepuderten, weiten Flächen der Felder, aus denen plötzlich, ganz angeweißt, (mit einem Kirchlein auf seiner Spitze,) ein einsamer Steinkegel schroff herausragte, … der erste Vorbote kommender Hügel und Berge.

Doktor Herzfeld aber lachte nicht: er fühlte den Druck einer schwerlastenden und kümmerlichen Welt, in der andere Maße und Gewichte galten, in der alles Gut und Böse seiner Welt einfach nicht vorhanden war, und in der es nur Glück oder Unglück gab. Er begriff die Philosophie der Armen.

»Ja ja,« sagte er, »das … mag schon so sein!«

Eigentlich war er schon weit weg, kramte schreckhaft in seinen Erinnerungen. Wem sah dieses Mädchen doch ähnlich?! Das heißt, sie sah ihr garnicht ähnlich, … sie sah ganz anders aus. Und doch war da ein Zug um den schmalen Nasenrücken, etwas um die leichten Falten der hohen Stirn, ein Aufflackern von Rot, das plötzlich von den Wangen nach den Schläfen sprang … wem denn? … Eigentlich war sie ein ganz schlichtes Ding, gewiß irgend eine kleine Handwerkers- oder Postbotentochter, die einen Kursus in Stenographie oder Schreibmaschine durchgemacht hatte und nun sich als etwas besseres vorkam. Und doch kicherten und zuckten – wie so oft! – tausend seelische Capricen und Seltsamkeiten in ihren Zügen, deren sie sich nie bewußt wurde, die vielleicht ungeweckt in ihr schlummerten. Plötzlich aber kreuzten sich ihre Blicke, sie gingen aneinander vorüber und trafen sich für den Schatten eines Moments, wie zwei Gerade, die sich nur in einem Punkt schneiden, und von denen dann jede ihren Weg weiter geht. Ganz unmerklich aber huschte über das verlegen gerötete Gesicht dieser arrivierten Postbotentochter das süße Kinderlächeln der Frau. Und in diesem Bruchteil einer Sekunde durchzuckte es Doktor Herzfeld: wahrhaftig, das war ja: Rehchen! dieses Lächeln, das gleichsam in den Nasenwurzeln seinen Wohnsitz hatte, hatte er nie wieder bei einem anderen Wesen gefunden; dieses Lächeln, mit dem sie ihm zu danken pflegte, wenn er irgend etwas gesagt hatte, was ihr gefiel, und das er des Morgens als erstes über ihre Züge huschen sah, wenn sie eben erwacht war und noch mit halbverschleierten Augen zu ihm herüberblickte. Und in Doktor Herzfeld begann plötzlich irgendetwas zu brennen. Rehchen! Sie hatte zu Anfang des Krieges in München geheiratet. Einen Maler. Er hatte etwas Geld. Und jetzt war er eingezogen; zeichnete irgendwo Karten. Ach Gott, Rehchen!

Im Abteil begann es unruhig zu werden. Trostlosigkeiten rechts wie links, wie vor der Einfahrt in jede Großstadt. Man mußte gleich in Halle sein. Aufbruchsstimmung. Diese für die Dauer von drei Stunden zu einander verschlagenen Menschen, die der Raum zusammengeschlossen, schickten sich an, wieder auseinander zu flattern.

Der Alte mit dem Pastorenschädel klappte sein schönes Buch zu, suchte Pelzmantel und Handgepäck zusammen. Ein gestickter Fußsack und eine Reisetasche – mit einem Hundekopf in Kreuzstich darauf – erregten Doktor Herzfelds Entzücken.

Die Alte mit der Mantille schob einen letzten Kuchenkrümel in den Mund und verschloß dann den Picknickkorb. Die Jagdonkels standen auch auf und reckten sich; sie hingen ihre Lederbehälter mit den Gewehren unternehmend über die linke Achsel. Sie mußten noch mit einer Nebenbahn weiter in ihr Revier.

Der Soldat mit der Kopfwunde schüttelte allen die Hand, sagte einmal über das andere: »nich für ungut!« Er wollte zu seinem Ersatzbataillon wegen Entlassungsschein, sprach auch von einem Zivilanzug, den er dagelassen, und der ihm jetzt sicherlich geklaut worden war. Er war nunmehr weich und traurig, und seine schwarzen Augen glimmten nur noch wie ein paar gestrige, letzte ersterbende Bröckchen Glut in einem schon fast erkalteten Ofen. Die Fahrt und das viele Sprechen hatten ihn doch recht angestrengt.

Das Mädchen fuhr noch bis nach Weißenfels, wo sie in eine Kriegsgesellschaft engagiert war.

Der Marktschreier wollte weiter bis nach Naumburg; da stand sein Wagen noch vom letzten Kirschenfest her. Und die beiden Jugendfreunde aus Schneidemühl hatten sich nicht über ihr Reiseziel geäußert.

In Halle schien der Zug beim Einfahren einen grauen Wall von Soldaten zu durchschneiden; denn geradeüber stand noch ein Zug, der abgelassen werden sollte, vollgestopft von einem Gedränge Namenloser; und wieder viele Frauen in Trauerkleidung dazwischen. Eine hatte einen grauen Rucksack auf ihrem Rücken und rannte – wie ein gescheuchtes Huhn an einem Lattenzaun – den Zug drüben entlang, um eine Tür zu finden, die noch für sie geöffnet war. Und in Schlangenwindungen flatterte über ihrem grauen Rucksack ihr schwarzer Witwenschleier hinter ihr her; stand fast wagerecht in der Luft wie ein knatternder Wimpel bei steifer Brise.

Doktor Herzfeld brauchte nicht die Reisenden zu vermissen, die ihre Uhren stellten, als ob sie das nicht vor drei vier Stunden getan hätten, – mit Wichtigkeit und Akribie, wie wenn es in ihrem Dasein auf Bruchteile von Sekunden ankäme –; oder, als ob Halle eine von allen Orten dieser Welt abweichende Zeitrechnung hätte. Es waren auch die gleichen, die dann des weiteren mit der Miene von Weltumseglern, ohne nach rechts und links zu sehen, schnurgerade und ernst auf dem Bahnhof auf und nieder stelzten und genau an der gleichen Stelle wieder mit einem kurzen Ruck umdrehten, als hätten sie es für ihre Gesundheit nötig, sich diese vorgeschriebene Bewegung zu machen.

Drüben wurde der Zug abgelassen. Der Mann mit der Siegellackmütze pfiff und streckte den Arm und die Signalscheibe mit der Geste einer aufgezogenen Marionette in die Höhe. Die Witwe mit dem Rucksack war auch noch irgendwo untergeschlüpft. Es waren wohl ein paar Dutzend Urlauber im Zug, die zur Front zurück mußten. Einige Söhne und Väter, die einrückten. Junge Frauen, alte Mütterchen und viele Kinder standen ruhig da, nahmen Abschied; – eher kühl und gleichmütig als laut und stürmisch, eben wie man so Abschied nimmt: mit ein paar Küssen, mit Hochheben der Kinder, Hineinklettern im letzten Augenblick, nachdem der Schaffner schon zweimal gemahnt, und die Lokomotive schon angeruckt hatte. Dann noch Winken bis zum letzten Flattern eines Tuches, und bis der Wagen um die Kurve schwindet. Und nun stehen die Frauen noch eine Weile und starren und starren, während sich um sie der Bahnsteig leert.

Wie einfach sich doch das Leben abspielt, dachte Doktor Herzfeld, wie wenig Gefühl doch eigentlich solche Frau hat! A la joie de ne vous revoir jamais … titatata tum tati. Und nun gehen sie da die Treppe herunter. ›O Gott, o Gott‹ Doktor Herzfeld schluckte plötzlich; ›wie sie sich gehalten hatten! prachtvoll!‹ Eine nach der anderen in Abständen. Nicht mehr eben die gleichen wie vorher; nein, jede, – die mit Pelzmantel so gut wie die im Kopftuch, – geschüttelt von Schluchzen, in Tränen sich windend, am Geländer sich hinabschiebend, von Stufe zu Stufe sich fallen lassend, verhärmt, kümmerlich und jämmerlich, – die verständnislosen und verständnisdämmernden Kinder mit sich zerrend, die sich an sie klammerten; eine wie die andere, Niobidengruppen … Und sich sagen, daß nun in ganz Europa die Züge über die Schienen donnern, halten, das gleiche Elend hinter sich lassen und weiter donnern! … sich sagen, daß das nun seit achtundzwanzig Monaten ununterbrochen Tag und Nacht so geht!

So, da fahren wir ja schon wieder! Doktor Herzfeld hatte garnicht bemerkt, wie der Zug angezogen hatte. Eigentlich war es leerer geworden. Draußen waren nur noch ein paar Soldaten auf dem Gang. Sie hätten auch drin Platz finden können: aber sie zogen es wohl vor, auf dem Boden irgendwie zu liegen oder zu hocken; war ihnen bequemer so. Das junge Mädchen hatte die Stelle am Fenster eingenommen, die der Alte mit dem Pastorenschädel inne gehabt hatte, – Doktor Herzfeld gegenüber – und drückte das aschfarbene Haar in die grünlichen Kopfpolster. Ein Rembrandtakkord, dachte Doktor Herzfeld. Es ist doch nett, daß der liebe Gott immer wieder für etwas Hübsches sorgt. Sie hatte einen feinen, schmalen Kopf, der zu ihren langen und grazilen Gliedmaßen paßte, und sie hatte immer noch dieses capricieuse Lächeln, von dessen Seelensinn sie sicher nichts wußte, noch ahnte. Sie wird einen Unterbeamten bei der Steuer einmal heiraten, der rote Sammtschlappen im Hause trägt. Er wird des Abends fortgehen, und sie wird zuhause bleiben und weinen. Und sie sollte nicht weinen: wenn die Welt gerecht wäre, dürfte Schönheit nie weinen … Aber Rehchens Nase ist anders, noch etwas schmäler und geschwungener dabei.

Seltsam, hier hatte der Schnee wieder fast ganz aufgehört. Im Ausschnitt des Fensters erschien plötzlich eine Schafherde, auf einem grauen Brachfeld ein großer, vielzackiger, wolliger Fleck, aus dem als einzige Vertikale der Umriß einer dunklen, menschlichen Figur gegen den Himmel wies. Plötzlich schob sich ein Lazarettzug, der entgegen kam, dazwischen, und man sah durch ihn hindurch im Vorüberfliegen – auch durch Menschen, die sich dort bewegten, schien man hindurchzublicken, als ob sie aus Glas oder einer glasartigen Masse wären, – auf den großen, wolligen Fleck der Schafherde mit seiner ragenden Vertikale des unbewegten Schäfers. Die roten Kreuze auf Türen und Dächern flirrten kaleidoskopartig vorüber: – wohin ihr Ärmsten?!

Ein Güterzug wurde überholt mit seinen Daktylen von Wagen, ganz langsam und pustend, asthmatisch keuchend schob er weiter: … ›von Lüne … burg … bis Ratze … burg … drei Tage … und … drei Nächte … durch …!‹

Der Marktschreier hatte in Halle seinen Gegenspieler, den Soldaten mit der Stirnwunde eingebüßt. Und das hatte allsogleich seine Lebensgeister gelähmt, sodaß er, den Kopf vornüber auf die Brust gesenkt, seine Fischaugen geschlossen hatte, und wie auf Kommando eingeschlafen war. Die beiden Jugendfreunde aus Schneidemühl logen sich gegenseitig an mit außerehelichen Liebeserfolgen. Aber der Mann mit der Stuhlfabrik konnte es besser. Ein älteres, etwas abgehungertes Mädchen war noch in Halle zugekommen, ein entgleister Erzieherintyp, mit einer spitzen und hochgedrehten Nase und Brezelzöpfen um den Kopf. Doktor Herzfeld hatte das Gefühl, als ob sie eine Berufslautensängerin wäre, und seit Kriegsbeginn in hundert Genesungsheimen sich und die Soldaten mit ›Annemarie‹ und ›Hinter Metz, hinter Metz, in Chalons‹ erheitert hätte; und in Wahrheit hatte sie auch ein Futteral bei sich, das ein gefährliches Instrument vermuten ließ.

Warum denkt man eigentlich von Menschen so hart, auch wenn sie innerlich verlogen sind; zum Schluß sind es ja doch arme Luderchens, die sich mit sich selbst und der Welt abquälen müssen, – genau wie wir auch.

Was sind das für gewaltige und geheimnisvolle Industriewerke, die sie hier gemacht haben? Ganze Städte von Fabrikbauten, Bahnhöfe, unerklärliche, weitsichhinziehende, hochgeschwungene Seltsamkeiten an Eisenröhren und Gerüsten. Ein endloses Schienennetz mit Masten-Wäldern von Bogenlampen: Fertiges, Halbfertiges wechselt mit kaum Begonnenem. Allenthalben wird noch gearbeitet. Überall Schornsteine, wie Kletterstangen für ein Geschlecht von Riesen. Ein Plan von so überwältigender Großzügigkeit, als wäre er dem Hirn eines amerikanischen Technikers entsprungen, der mit uns unbekannten Möglichkeiten zu denken und zu rechnen gewohnt ist. Eine hassenswerte, betäubende und verwirrende Zukunftswelt; eigentlich häßlich, aber von dem nervenpeitschenden Rhythmus eines Dieselmotors. Kilometer- und kilometerlang tanzt das vorüber.

»Die neuen Stickstoffwerke!« … sagte das junge Mädchen und wies hinaus.

Doktor Herzfeld wunderte sich nicht: sie konnte garnicht anders sprechen, das war dasselbe helle Rot der Stimme, das er immer an Rehchen so geliebt hatte. Wenn er die Augen geschlossen hätte, hätte er sie nicht unterscheiden können. Wie waren sie eigentlich auseinander gekommen, – damals?! Unmerklich!

O, wie eigen. Dort ein kleines Dorf: irgendetwas an ihm ist schon neuartig – im Norden stehen die Häuser wahllos und zufällig, und hier schon in Gruppen – ein kleines Dorf mit einem Wald von Kreuzen auf einem Riesenkirchhof, auf dem zehnmal mehr Menschen ruhen, als in den paar Dutzend Häusern jemals wohnen konnten – wie ein Korallenstock, von dem hundert Schichten abgestorben sind und nur die oberste lebt. Leichtes Schneetreiben um die Kirche, deren Turm gleich einem Finger Gottes sich in den Himmel verliert. Wie unerhört einsam doch an solch einem Wintertag die Welt ist!

Wie das Land an Bewegung gewinnt! Hügel! – nicht mehr Horizontalen, die sich ineinanderschieben! Weite, erstarrte Wellen Ackerlandes, mit einer Kirschenallee, die in einer Senkung verschwindet und drüben wieder emporschleicht, in der dünnen, süß-zittrigen Graphik ihrer Stämmchen. Immer wieder diese weiten, erstarrten Wellen Ackerlandes! Und doch fühle ich schon: Schwere, Körner, Gras, Heu und Früchte, Ackerfurche, Aufbruch und stampfendes Rindvieh – gescheckt, kopfgesenkt mit rauchenden Nüstern, – das diesen Boden beleben und umformen wird, … selbst ein Stück von ihm.

Wie das Land vorüberfliegt, denkt Doktor Herzfeld; jede Minute kristallisiert sich eine neue Welt um meinen Mittelpunkt. Ja, weil die Welt eben durch die Sinne und den Verstand eingeht, ist – so meinen wir – das Ich der Mittelpunkt der Welt. Die Welt aber ist ohne Mittelpunkt. Sie ist gleichgültig, sie ist mitleidslos und sie ist unbeteiligt. Sie hat Gleichberechtigung verkündet für jedes Wesen und für jede ihrer Schöpfungen, die endlos in Zahl und Raum sie erfüllen. Sie bleiben stets außerhalb von uns; und man zählt uns, die wir uns der Mittelpunkt von allen wähnen, nur irgendwo, ganz flüchtig mit. Mal hier, mal dort!

Wir bedeuten der Welt nie mehr, als ein Fleckchen im Bild, das jetzt da ist, und nur allzu schnell durch ein anderes, dessen Dauer ebenso karg begrenzt ist, ersetzt wird. Denn ihr Bild selbst kennt ja keine leeren Stellen: es bleibt in Ewigkeit unverändert bestehen.

Und da scheint mir die Lösung! – all' die hunderttausend Bedrücktheiten und Zweifel unseres Lebens haben ihre tiefste und letzte Wurzel, ziehen ihre stärkste Nahrung nur aus dem Zusammenprall dieser beiden, nie zu vereinigenden, nie sich deckenden, immer wieder sich bekämpfenden Welten: der Welt in uns und der Welt um uns, von denen jede herrschen will, und von denen jede uns glauben machen will, daß sie eben die wirkliche und die andere die unwirkliche sei. Dem Ich wollen wir es glauben und können es nicht, und dem Nicht-Ich, dem Außerhalb – sollen wir es glauben und vermögen es ebenso wenig.

Ach ja, ein entlaubter Baum, ist fast schöner als ein grüner. Man spürt besser das letzte Geheimnis seiner Architektur. Wie lang und hochzweigig solch eine kahle Pappelallee wirkt; wie bescheiden und elegant diese Erlen, die die Bachwindungen begleiten; wie philiströs und dickbäuchig, – die Hände verfroren in den Taschen, – die Weiden am Wehr den schwimmenden Enten zusehen, … wie alte Herren, die sich über die plantschende Jugend belustigen, wenn sie sich auch selbst nicht mehr ins Wasser trauen, weil es kalt und naß ist; und wie zerzaust diese Krallen der Obstbäume, wie Jerichorosen; wie rhythmisch die Feldlinien dieser Büsche; (es werden Schlehen sein!). Diese Bauminsel dahinten liegt wie ein melancholischer Kirchhof im Land. Und dort, dort ist die erste einsame Tanne, der erste Vorbote noch ferner Berge. Sie steht ganz allein da, an einem Hügelrand: schön, wuchtig, harzig. Ich spüre ihren Duft, trotzdem sie dreihundert Meter entfernt ist, ahne ihn durch die geschlossene Scheibe hindurch. Dein Lebensweg, wo mag er enden, du Bruder Baum du?

Ein kleines Waldstück. Der Zug tappt hinein, streift an seinem Rand vorüber. Eine Bahnwärterbude mit Hühnern in dem – dem Wald abgerungenen – Gartenstück, … und Flatterwäsche mitten in der Einsamkeit. Kinder; Liebe; zäh tropfender Alltag! Die kleine Stille des Lebens und die große Ruhe der Welt. So leben viele Tausende. – Wer das auch könnte! Gefällte Bäume liegen unordentlich. Holzstöße ducken sich frierend am Weg, lassen den Schnee über sich hintanzen. Holzarbeiter gehen auf gefrorenen, weißen Waldwegen. Der Rauch eines flackernden Feuers zieht durch die Stämme. Junge Buchen und mittelwüchsige Eichen in dem braunen Zobelpelz des alten Laubes. Ich höre die Schneekörner in ihnen prickeln, rede mir ein, es zu hören durch die Scheiben hindurch; eine Tannenschonung: jedes Tännchen hebt den Kopf. Sie hocken in Reihen wie auf Schulbänken, und eine große Tanne steht wie ein Lehrer mitten zwischen ihnen und sagt: »so müßt ihr es machen!« Aber wenn ich eine kleine Tanne wäre – denkt Doktor Herzfeld – würde ich fragen: Herr Lehrer, was hat das für einen Sinn, wenn wir doch gefällt werden? – ja, was hat das für einen Sinn? … Ein einsames Halbrund von Büschen verrät eine Wasserstelle. Richtig: dahinter blinkt ein gefrorener Weiher wie eine vereiste Träne.

Der schönste kahle Baum ist aber doch die freistehende Linde, wie ein in die Luft geworfenes Netz mit tausend Maschen. Ein Rabe sitzt darauf; eine Strecke davon, auf einer anderen Linde, ein zweiter, und sie rufen einander in ihrer Sprache Schimpfwörter zu: »Leichenfledderer … Ehebrecher … Kindermörder«!

Wie langsam der Fluß in seinen Niederungen hinträumt, in gestreckten Windungen, grau und schillernd, eine riesige Blindschleiche in die Ebene hinaus gleitet! Immer wieder überquert man ihn, poltert über Brücken und Brückchen dahin. Jetzt ist er weit hinten an einem Rand abfallender Hügel, und nun leuchtet er schon wieder links von uns auf.

Die ersten Häuser, auf die man herabsieht, denen man aufs Dach blickt. Laubwälder liegen oben auf den Hügeln, Buchen, braunrot und violett und von jenem blauen Schimmer überspielt, wie sie ihn nur an Frosttagen haben. Ich sah das mal auf einem kleinen Gemälde von Puvis de Chavannes, denkt Doktor Herzfeld, das irgendwie nach Deutschland verschlagen war; es gab die Essenz davon … Ein Wiesental zieht zwischen zwei Buchentoren querweltein.

Im Bogen kommt jetzt ein Bahnstrang aus dem Land hinzu; halbrund in großer Kurve, wie mit einem Zirkel geschlagen. Man muß sich wieder einer Stadt nähern. Das junge Mädchen knöpft ihren grünen, seidenen Regenmantel zu, holt ihre Gepäckstücke herunter: ein schäbiges Köfferchen mit bestoßenen Ecken und ein strohgeflochtener Japankorb, der mit dicker Papierschnur umwunden ist, – ein paar Fähnchen darin – das ist wohl ihr ganzes Besitztum; und noch eine vertragene Ledermappe dazu, aus der ein paar Bücherrücken ragen. Wie wenig der Mensch sein eigen nennen braucht! und gewiß ist sie noch reich gegenüber hunderttausend anderen, die von solch einem grünseidenen Regenmantel ( cache misère, sagt der Franzose – denkt Doktor Herzfeld, – wie hübsch, das Wort »Armutverdecker«) von solch einer Vornehmheit kaum zu träumen wagen!

Nein, Rehchens Seidenmantel damals in Eldena war changeant, braun-blau-rot.

Das junge Mädchen, das bisher still und sorglos vor sich hingeträumt, scheint nunmehr etwas bedrückt und ängstlich: neue Arbeit; neue Menschen; Abendeinsamkeit kleiner möblierter Hinterstube; niemand, der nach ihr fragt; – wie wird das werden? All das huscht plötzlich verdüsternd über ihr Gesicht. Nun ja, es gibt ja mehr Gehalt als in Berlin; das Essen wird auch billiger sein. Man wird sparen, lichtet es sich auf. Aber, es beschattet sich von neuem: wozu lebt man eigentlich? Was hat man zum Schluß davon?

Sie bittet Doktor Herzfeld, ob er ihr nicht durch das Fenster die Gepäckstücke hinausreichen will? Das macht ihn innerlich erzittern: wieder Rehchens schönes Rot der Stimme.

Vielleicht war Rehchen garnichts besonderes gewesen, nicht mehr als hundert andere, die einen dem ihrigen ähnlichen Lebensweg gegangen waren, und denen es zum Schluß doch geglückt war. Kunstgewerbeschule; sie züchtet einen eigenen Typ; anders wie die Malerinnen; schwächlicher aber subtiler und mit mehr Sinn für das Künstlerisch-Launenhafte. Aber keine, die seinen Weg gekreuzt, hatte durch ihn so geklungen. Wie ein alter Gong, vibrierend und wundersam. Und sie war wieder verstummt, arm und leer geworden, wie er aus ihrem Leben getreten war; das waren ihre Worte gewesen, die sie ihm dann geschrieben. Sie hatte damals etwas von einer umgekehrten Mondfinsternis gesagt, in dem Brief aus Leipzig: denn sie hätte nur so lange geleuchtet, wie der Schatten seines Lebens auf das ihre gefallen war. Rehchen liebte so verstiegene Vergleiche. Und jetzt käme sie sich vor, wie ein Knäuel Garn auf der Nähmaschine ihrer Mutter, das von innen her sich abhaspelte. – Das hätte ihr als Kind immer solche Freude gemacht, da zuzusehen: ganz geschäftig und vergnügt und stattlich wäre es da oben umhergehüpft, und man hätte ihm gar nichts angemerkt; aber ganz urplötzlich wäre es dann in sich zusammen gebrochen, nur noch eine leere Hülle von ein paar armseligen, zerzausten Schlingen und Fädchen gewesen.

Und doch hatte Rehchen ihm unendlich viel mehr geschenkt; Dinge, die um kein Gold der Erde käuflich waren: mit jeder Biegung ihres Rückens, auf dem seine Hand ruhen durfte, mit jedem Lichtschein, der durch das Mattgrün eines Lampenschirmes über ihre Stirn fiel.

O … ja ja, – gewiß würde er die Sachen herausreichen; ob sie denn niemand abhole?

»Nein, niemand,« sagte das Mädchen mit ihrem leisesten und scheuesten Lächeln, das doch unschwer zu deuten war.

Du verstehst, alter Herr, man ist ja abenteuerlustig, wenn man reist; eigentlich hatte ich mir etwas anderes als dich erträumt; aber der Krieg hat uns Frauen verlernen lassen, wählerisch zu sein; »ich bin ganz fremd dort. Übermorgen muß ich … zwar eigentlich … erst … meinen neuen … Posten … antreten.«

Und schon bremste der Zug, schleifte – sich verlangsamend – die Wagenkette über die Schienen, und das Mädchen mußte sich anschicken, zu gehen: die Haltezeit war nur ganz kurz bemessen.

Doktor Herzfeld eilte auf den Gang, ließ die Scheibe nieder und reichte die Stücke heraus, ihr zu. Und sie dankte mit freundlichen und bescheidenen Augen. ›Schöne Luft hier; frisch und scharf und dünn und kristallen; Luft, wie ich sie seit Jahren nicht mehr geatmet habe.‹

Schon ruckt der Zug wieder an. Das Mädchen steht inmitten ihrer Gepäckstücke und blickt zu Doktor Herzfeld empor mit ihrem zaghaften Lächeln, mit Rehchens feinem Vielleicht-Lächeln um die Nasenwurzeln. Schade! heißt das, man hätte sich aneinanderschmiegen können; das Leben wird für mich einsam sein, die nächsten achtundvierzig Stunden, bis die Arbeit anfängt, über der wir vergessen können. Aber man wird sich nie mehr sehen –

›A la joie de ne vous revoir jamais‹ – schießt es Doktor Herzfeld durch den Kopf, titatata tum tati!

Genau das habe ich doch eigentlich schon einmal erlebt. Das war Rehchens Blick, oben auf dem kleinen Bahnhof, durch den der Seewind durchpustete und ihren Seidenmantel bauschen machte, und der selbst unter dem breiten Velourhut ihre schönen braun-blonden Haarsträhnen durcheinander warf, daß Sonne und Seeluft, wie mit verliebten Händen, gleichmäßig in ihnen wühlten.

Doktor Herzfeld bleibt im Gang stehen; schließt das Fenster nicht wieder; geht nicht auf seinen Platz zurück. Der Gang ist fast leer. Nur drei müde Soldaten haben sich dort untergebracht, fahren wohl schon Tage, wollen noch weit in die Heimat, sind zufrieden, da sein zu dürfen, gesichert zu sein, sehen nicht nach rechts und links, stören niemand. Der Krieg hat sie gelehrt in allen Lagen zu schlafen. Der eine steht knickebeinig und schnarcht, die Augen geschlossen hinter einer runden Brille; ein anderer sitzt auf einem Patronenkasten, streckt die Sohlen der Nagelschuhe drüben gegen die Wand und nickt mit dem Kopf bei jedem Schienenstoß; und ein Dritter liegt halbschräg am Boden und zeigt wie ein Mandrill eine mächtige blaue Flicke auf seiner Kehrseite.

Andere Landschaft: hier beginnt schon die Welt aus ganz neuen Augen zu sehen, verliert ihre nordisch-triste Gleichgültigkeit. Es ist plötzlich, als ob man einen Wendekreis überquert hat: Chausseen ziehen in Windungen hügelan. (Wieviel müde Landstreicherfüße mögen sie schon gemessen haben?!) Ein altmodischer Planwagen mit schweren Pferden davor, die der Fuhrmann im blauen Kittel an der Trense hält, damit sie nicht hochgehen, knarrt langsam vorwärts. Ein Bauernhof mit Fachwerkhäusern und vergrünten Strohdächern, mit Dreschertakt und Hühnern, Gänsen, – selbst die Sperlinge fehlen nicht vor der Tenne, in die man hineinsieht; eine romantische, aber unrationelle Wassermühle mit Eiszapfen am Rad, und einer Bachstelze, (oder sonst einem Vogel,) die in dem dünnen, herabsickernden Strahl flattert. Wenig Schnee, mehr bunte, winterliche Fröhlichkeit bei matter Sonne. Genau wie auf einem Anschauungsbild »Der Winter« in der dritten Vorschulklasse; sogar die Hagebuttenhecken mit den roten, leuchtenden Früchten fehlen nicht, und auch die Ebereschenallee, an deren letzten roten Beeren vorschriftsmäßig die Drosseln picken, ist vorhanden.

Doktor Herzfeld denkt, was für ein gefundenes Fressen das für seinen Lehrer, Herrn Lindemann von der Nona, gewesen wäre …: »Was sind das?« – »Das sind Bäume!« – »Wie heißen diese Bäume?« »Sie heißen Ebereschen!« – »Also, nun nochmal die ganze Klasse! … wie heißen diese Bäume?« – »E–ber–eschen!« – »Die Ebereschen haben rote Beeren, die den Vögeln im Winter zur Nahrung dienen.« … Dieser Herr Lindemann war ihm als ein Riese, ein Goliath, ein Mensch von unnatürlicher Körpergröße immer erschienen; und als er ihn dann nach zwanzig Jahren noch einmal wieder gesehen, da war er gerade gut Mittelmaß, nicht um ein Haar länger als er selbst war.

Da oben an der See gab es auch Ebereschen. Aber: sie blühten damals! Die wenigsten wissen, wie die weißen Teller der Ebereschen duften. Es war eine Allee vor dem, Fenster, maigrün und blütenbeladen. Alte Apfelbäume wechselten mit jungen Birken, und einige wenige Ebereschenstämmchen breiteten dazwischen die Schirme ihrer grünen Fiederblätter. Und da wir das Fenster nie schlossen, klang maiglöckchenweiß und honigfarben durch unsere ganzen, hellen Liebesnächte der Hauch von den weißen, draußen verdämmernden Blütentellern der drei Ebereschenbäumchen. Aber dieser honigfarbene, sinnlich-süße Maiduft ist seitdem für mich so unlösbar mit Rehchens schlankem Körper verbunden, – mit jedem Haar ihres Leibes – daß er mich nie trifft, ohne daß ich ihn wieder, bis in das Zittern ihrer Hüften hinab in meinen Armen, spüre. Es schwangen vielleicht auch die Atemzüge des jungen Birkenlaubs mit, – die homerisch wie harziger Wein sind – und der Mandelgeruch von den rosigen Wolken der alten Apfelbäume. Aber was war das gegen diese betörende Welle von Eberesche, in der wir dahin schwammen, als ob sie die duftgewordene Seele deiner Gliedmaßen war.

Wann hätte man Tage und Nächte verbracht, die so restlos und fast losgelöst-glückhaft gewesen wären?! Was bleibt denn endlich? Hunderttausend Dinge treibt man im Leben, von denen man glaubt, daß sie den Sinn träfen, ihm Inhalt geben; und zum Schluß sind es immer wieder die paar smaragdenen Grasflecke in den eintönig grauen Sanddünen unseres Daseins, zu denen man die Gedanken auf die Weide schickt, damit sie sich vollschlampen können an Erinnerungen.

Das war das Zimmer! Es baute sich gleichsam jetzt draußen in der Landschaft, jenseits des Flusses, vor Doktor Herzfeld wieder auf. Keins wie die alltäglichen, da oben an der See, wo sich die Geschmacklosigkeit von 1890 zu Villenstraßen verdichtet hat. Es war schöner – denn es war ein Garnichts. Es war nur ein niedriges, blaugetünchtes Futteral für zwei Bauernbetten, für einen Kienschrank und ein lendenlahmes schwarzes Wachstuchsofa mit weißen Porzellanknöpfen wie Zahnreihen. Eine etwas schief sitzende Tür schloß, dünn genug, vor der Welt ab; und zwei niedrige Fenster mit breiten Fensterbänken vermittelten durch die Raffung weißer, ewig sich blähender Mullgardinen wiederum den Anschluß an die äußere Welt, die im Vordergrund aus einem rosigen Apfelbaum, zwei Birkenmädchen und den drei blütenbestickten Ebereschen bestand, sich weiter als eine grün-goldige Laubwand eines sich eben entfaltenden Buchenwaldes bewährte und in dem blauen, wie Glasschlacke unwirklichen Meer seinen Abschluß fand, … bis darüber mit weißen Wolkenterrassen der Himmel sich emportürmte.

Es gab einen Koloß von einer Wirtin, die kochte, was sie selbst gern aß, die behäbig snackte, und zwei Töchter, wie aus Hefeteig, (die eine war aber etwas besser aufgegangen!), die sich sehr städtisch trugen und abwechselnd oder vereint das Klavier der Gaststube behämmerten. Sie liebten Musik; aber die Musik schien sie zu hassen.

Ich weiß, Rehchen, ich kenne jedes unserer Worte und jeden unserer Wege von damals. Anna Kölner! Ich könnte noch die Stellung unserer Schachpartie rekonstruieren, die wir abbrachen, weil es zu regnen aufgehört hatte und wir wieder hinausgehen konnten. Ich weiß all unsere Gespräche  … Im Wald war eine Ruine alter Klostergotik, direkt im Buchenwald, der über die ziegelroten Streber, über die letzten Reste alter Fensterrosetten, über geborstene Türbogen, über vermorschte Grabplatten und alte Chorwände, die ihr Dach schon jahrhundertelang verloren hatten, – über alles hinweg gewachsen war, ein lebendes, neues Dach über sie gebaut hatte, … ein deutsches Wisby, … unerhört in der Stimmung des Morgens, wenn die Finken darin sangen; und gleichsam herausfordernd zu Umschlingungen, wenn der Abend sich darüber breitete und man nur von einem Pfeiler bis zum anderen in dem grünen Dunkel sehen konnte, über das der Wind hinrauschte, und durch das die Sterne schimmerten.

Ich weiß das Zimmer, aus dem ich dich abholte, in der kleinen Hafenstadt. Du hattest recht, Rehchen, mir zu schreiben: die Dächer draußen, auf die du von deinem Fenster sahst, wären ungemalte Vincent van Goghs; sie waren ganz stark in der Linie und von einem berauschenden, uralten Ziegelrot. Diese riesigen, grün behelmten Steinkirchen, Maßlosigkeiten des Raumes, mit trotzigen Stirnwänden wie für Seeräuber ersonnen, mit Chorstühlen, die wie kleine geschnitzte Schränke waren – jeder schloß sich gegen den Nachtbar ab, hatte seine Koje! – und mit den Nachbildungen der alten Kauffahrteischiffe, die an Drähten von der Kirchendecke hingen, mit Grabplatten, plump und barbarisch und mit patzigen Grabsprüchen voll duzender Vertraulichkeit gegen den lieben Herrgott, Himmel und Hölle, die noch über Generationen hinweg nach Grog dufteten … Was tatest du eigentlich da oben, Rehchen, bei diesen Menschen?!, lehrtest kunstgewerbliche Handarbeiten??! Du warst da oben wie eine Ludwigsburger Schäferin in einem Küchenschrank!

Was hat dein Körper, nur dein Körper, Rehchen, aus dem Zimmer gemacht, in dem der Duft der Ebereschen sang! Nicht eine Stunde hätte ich es dort ertragen können, und du hast mich seine elende Kahlheit vergessen machen, weil du mit den schlanken, biegsamen Ästen deiner Arme die Schwester der Birken vor dem Fenster warst, … weil du alle Farbenspiele der Apfelblüten auf deinem rosigen Körper vereintest, … die lächelnde und übermütige Kühle der bewegten See in deinen blaugrünen Augen war, … weil das grüne Gold des jungen Buchenlaubes in dem Schatten deiner Lenden ruhte, … weil du mit dem reifen, lächelnden Kopf einer fünfundzwanzigjährigen Frau und dem unverbrauchten Körper eines achtzehnjährigen Mädchens ein Stück Natur warst, von Kunst, Laune und Klugheit beseelt, gleichwertig der, die durchs Fenster unseren Spielen zusah.

Du liebtest es, die Hände über den Knöcheln deiner Füße zu falten und den Kopf zu neigen und Minuten so ganz still zu sitzen, ehe du dich plötzlich, mit der Bewegung einer Welle, die an den Strand schlägt – du hattest ihr vielleicht am Tage das abgelauscht – herüberwarfst zu mir, um mich gleichsam zu fangen und die Arme hinter meinem Hals zu verknoten und sie erst wieder zu lockern, … wenn wir dem Gott in uns geopfert hatten.

Ob du noch all das weißt?! Ob du noch den frischgrünen Buchenwald siehst?! Er war erst vor wenigen Tagen aufgebrochen, über Nacht wie das da oben geschieht, hörte oben den ersten Kuckuck rufen und hatte noch seine fehlerlosen Damasttücher der Anemonen über das braune, vorjährige Laub seines Bodens gebreitet, – soweit man sehen konnte. Die Buchenwälder da oben sind schon ganz dänisch, … wie aus Andersens Märchen. – Und gerade dann, wenn sie am herrlichsten sind, – acht, zehn Tage lang, – wenn sie in grünliches Gold gebadet sind, sieht sie kaum ein Auge. Nachher sind sie voll Schatten, gotisch, und hoch, mit steingrauen Strebepfeilern und still und kühl, mit Waldwegen, an deren Rändern Schillerfalter fliegen … gewiß, schöne Wälder sind sie nachher, aber keine Märchen mehr, wie damals, als wir drin liegen durften.

Warum bin ich nicht auf den Gedanken gekommen, Rehchen, daß ich dich hätte halten können? Wenn ich mir jetzt überlege, wie du auf dem Bahnhof mir sagtest – aber nicht wahr, du mußtest ja zurück; deine Schülerinnen brauchten dich?! – mir sagtest, daß du mir danktest: denn es wäre für dich ein unerhörtes Glück gewesen, mit einem Menschen Tag und Nacht zusammen zu sein, immer zu fühlen, daß jemand neben dir ist und nie ins Leere zu greifen, wenn du die Hand ausstreckst …

Ja ja, du warst gesetzter geworden, beinahe Dame, standest im Beruf. Ich hätte früher nie geglaubt, daß du dich – ein weiblicher Münchhausen – an deinen eigenen braun-blonden Zöpfen aus dem Bohèmesumpf jemals noch würdest herausziehen können.

Eigentlich paßte es sich garnicht, daß du plötzlich weintest, als ich im Zug saß. Wir waren doch zwei sehr vernünftige Menschen. Eine würdevolle Lehrerin, sogar an einer staatlichen, kunstgewerblichen Anstalt, und ein kühler, englisch gekleideter Herr von bald fünfzig Jahren, die noch beide vor zehn Minuten wie deutsche Professoren über Backsteingotik und das Erwachen des Naturgefühls in der dänischen Literatur gesprochen hatten.

Waren die Tage schön und die Nächte, Rehchen! In Wahrheit war es nur ein einziger Tag, so gingen sie ineinander, oder eine einzige Nacht: denn der Tag war immer nur die Brücke zur Nacht, und die Nacht die Brücke zum Tag gewesen. Und doch! – ich sehe mich noch im Zug sitzen, der durch die jungen, blühenden Kornfelder schlich, (der Wind konnte noch nicht nach Lust und Laune in ihnen wühlen, sondern fuhr nur hin und wieder mit der Hand darüber hin, als ob er grünen Sammet glatt striche) ganz still und dankbar war ich, erwärmt bis in den Kern meines Wesens und voll Rührung: »man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von der Nausikaa schied – mehr segnend als verliebt« … Ja und dann hast du den nächsten Tag doch deine Stunden nicht gegeben, schriebst mir: du hättest dich nicht wohl gefühlt, Rehchen, und hättest nicht aufstehen können … wärst den ganzen Tag liegen geblieben.

Diese Hänge, an denen der Zug ganz dicht vorbeistreift, zwischen Fluß und Bergen sich wie eine Katze an ihnen entlangschmiegt! Wie schön diese Gegend ist!! Sie hat Blut getrunken, viel Blut, und das hat sie so fruchtbar gemacht. Ich kann diese Hänge nie erblicken, ohne daß ich die Reiter mit flatternden Dolmans breite Säbel schwingend vor mir habe, wie sie die Hügel hinabstürmen. Hier ist vor 110 Jahren das alte Preußen mit seinem Gamaschendienst in sich zusammengebrochen. Diese Hänge haben Napoleon gesehen  … »macht mir den Teufel nur nicht klein!« … Aber sie sahen einen noch größeren Herrscher, der nicht über Schädelpyramiden ein neues Europa errichten wollte, dessen Riesenreich nicht zerfiel wie sein Machttraum, sondern noch über Jahrhunderte bestehen wird, immer wieder neue Menschenscharen in seinen Bann zwingt und ihnen jene Freiheit bringt, die der andere ihnen nicht zu geben vermochte, der ja auch meinte, als Erlöser zu kommen: – überall, auf allen gefrorenen Wegen glaube ich noch die breite Räderspur von Goethes Kalesche zu sehen. Hier wächst das Obst schon fast wie im Süden. Sein phantastisches schweres Gezweig unterbricht des Himmels gelbes Grau. Reich aufgeschlossenes Hügelland, gegliedert durch Buschketten und Wälder! Auch der Winter hat hier schon Farben, noch Farben: Flechten leuchten smaragden und schwefel aus Wäldern, in denen alte Bäume in saftgrünen Moosschuhen stehen; die roten Ruten der Gesträuche begleiten das Blau des ziehenden, frostdampfenden Wassers der Saale; mit den Silberbällen ihrer Früchte besteckt, wirft die Waldrebe Girlanden von Gartenmauern; und das abfallende Gestein ist dicht mit den gebräunten Dornenranken der Brombeerhecken umzogen – genug für hunderttausende von Dornenkronen.

Ob das deshalb Dornburg heißt – diese drei Schlösser oben?! – Wie peinlich: man sieht sie vom Zug nur einen Augenblick, … und den habe ich verpaßt! Da schob sich gerade solch eine dumme Kette von Güterwagen dazwischen: Kessel und Kohle und Salz und gelbe Würfel von Preßstroh, Plandecken und Autos, Kies, Zement und Kanonen, Holz für Schützengräben (wie kann man Holz nur so degradieren!) stinkende Tierhäute, alte Nägel und rostige Faßdauben, Lumpenballen und Papierfetzen … und was für Dreck sonst noch den Milliardenreichtum dieser Welt ausmacht! … und das nahm mir die Aussicht … nicht die Erinnerung!‹

Rehchen, ob wir jemals uns da oben wieder treffen werden? Wir hatten uns geschworen, es jedes Jahr am ersten Mai zu tun; es sollte unser Blocksberg sein, die Stätte unserer Walpurgisnächte. Du konntest nicht viel weg, aus deiner Schule in Leipzig. Nur vielleicht einen Sonnabend mal und über Sonntag. Leipzig mit seiner Flanierluft, mit seinen hellen, zwitschernden, kleinen Mädchen, in denen noch in jeder ein Stück Käthchen Schönkopf mit ihrem siebzehnjährigen Leichtsinn war und ein Rest Rokoko, und um die immer noch die lasziven und süßlichen Jugendverse der »Annette« mit Libellenflügeln gaukeln, das kleine Paris von ehedem, das sich im Volk bewahrt hat, lag dir schon eher als das fischblütige Obotritenwesen im Norden; und der Rhythmus des neuen Leipzig und sein Weltstadtstreben fesselte dich, wenn du auch so hart und witzig in deinen Briefen über das sächsische Oberlehrergriechentum der Kunst, das hier, goldene Brillen tragend, auf hohen Kothurnen stelzte und sich kniefällig anbeten ließ, spötteltest, das so doktrinär und nüchtern war, weder Apoll noch Dionysos, sondern – wie du schriebst! – im besten Fall Willamowitz-Möllendorff. (Du mochtest recht haben, Rehchen, aber du vergaßest, daß es das nicht immer gewesen war, und daß ein junger, rothaariger Fabrikantensohn hier einmal in sich einen fast Winckelmann'schen Griechentraum verkörperte. – Nur schade, daß er sobald erstarrte!‹)

Wie hübsch das ist – Doktor Herzfeld lächelt – wenn man reist, um eine Frau zu treffen. Man weiß vorher, dann und dann wird man dort sein, und sie wird mich am Bahnhof erwarten. Man ist neugierig, was sie anhaben mag, wie sie aussehen wird, ob frisch, lachend und sonnenverbrannt, oder müde und mitgenommen; verändert im Guten oder im Bösen; ob man den alten Ton wiederfinden wird und den alten Menschen; oder ob alles fremd und anders sein wird? Und all das hält uns in Schwingung, durch die ganze Fahrt, – die garnicht enden will – und wenn es auch nur zwei oder drei Stunden sind.

Oder man sagt sich: Von der Bahn ist es zehn Minuten, bis man zu ihr gelangt. Also wird man um halb vier Uhr spätestens bei ihr vor der Tür stehen und die Klingel ziehen und wird klopfenden Herzens warten, bis es drinnen raschelt, und jemand durch das Guckloch sieht und man von innen einen leichten, freudigen Aufschrei hört. Ach, dieser leichte freudige Aufschrei hinter der Tür ist viel beglückender als die ersten Küsse unter sinnlosen Fragen drin auf der halbdunklen Diele vor dem wertlosen, aber stolzen Erbstück eines hohen, goldrahmigen Spiegels mit Goldkonsole voller Papiermache-Ornamente und mit Marmorplatte, auf der Kamm und Bürste zum Gebrauch für jeden neuen Ankömmling liegen.

Aber das beides ist nur etwas für Anfänger. Später weiß man, daß nichts dem gleichkommt, eine Frau an einer Station zu treffen, zu der auch sie reisen muß. Man hat ihr geschrieben: wir wollen uns wiedersehen; wollen dort und dort zusammen sein. Ich komme von A., du kommst von B.; in C. müssen sich also unsere Wege treffen. Mein Zug wird eine halbe Stunde eher eintreffen, als der deine; und in zwanzig Minuten geht dann unser gemeinsamer Zug weiter. Wenn du nicht kommen kannst, so mußt du mich anrufen. Man ist den Tag vorher nicht ausgegangen; man hat die Nacht noch unruhig geschlafen, weil man immer den Anruf fürchtete, und man hat noch ein paar Dinge in der Stadt erledigt, eine Ausstellung besucht, in ein Museum geblickt, hat irgendwo gefrühstückt, von dort nochmals zuhause angefragt und ist gegen Mittag – alles stand auf einem hellen Unterton von leiser, vibrierender Erwartung – zur Bahn gefahren. Dann hat man sich unterwegs ausgemalt; jetzt muß sie auch in den Zug steigen – gerade jetzt – zehn Minuten nach drei. Und sie will zu dir, muß an dich denken; sie muß an dich denken.

Und man ist ausgestiegen, hat ein paarmal das Pflaster des Bahnsteigs gemessen, neue Luft geatmet, bis man gefragt hat »Verzeihen Sie, wo kommt der Zug aus Leipzig?!« Und der Mann sagt mit ungeahnter Freundlichkeit: »Pahnstaich trei – er muß palt ainlaufen! Hären Se, er schlächt schon ab!«

Und während ich mich noch über den Dialekt freue, der mir so plötzlich entgegen springt – ich habe noch »ick und det« im Ohr – lächelt Rehchen schon aus einem Fenster mir zu. Ganz gerötet und mit frohen Augen.

Da ist sie. Sie hat eine Wippe auf, ein weites, helles Bastkleid an, ihren Achatschmuck um und trägt ihren leuchtenden Seidenmantel über dem Arm, hat sich ganz auf 1840 stilisiert. Und ich sehe es ihr an, sie ist eben so voll Erwartung, aufgespeichert voller Erwartung, wie ich es bin. Und doch können wir uns nur die Hände reichen; denn sie hat Rücksichten zu nehmen – und wir sind ja beide wohlerzogene Leute und keine Spießer, die aus Ahlbeck kommen.

Was ist aus dem kleinen Bohèmemädchen von ehedem geworden, das um ein Haar damals aus dem Sudkessel nicht wieder aufgetaucht wäre. Das ist auch nicht mehr die Gleiche, wie sie vordem im Obotritenland war. Jetzt ist sie ganz Dame, ist arriviert, hat ein Atelier, Schülerinnen, die zu ihr aufschauen, ihre Bucheinbände und Kissenentwürfe ausführen, steht mit Dutzenden von Firmen, Dutzenden von Kunstblättern und Modezeitschriften in Verbindung.

Und während wir im Zug nebeneinander sitzen, legt sie ganz still ihre Hand über die meine, deckt sie mit der Schlankheit ihrer beweglichen Finger zu. All ihre Kunstfertigkeit liegt in dieser, ihrer Hand; ihre Lebensarbeit hat sie geformt. Und ich lausche den Wellen ihres Geplauders, die über mich hinstreichen – Plaudern, das kann sie: sie läßt Dinge und Menschen aus Worten entstehen – während draußen das Land, das den Abend schon ahnt, von blühenden Obstbäumen bekränzt, langsam vorüberzieht.

Die Menschen reden immer von der Melancholie des Herbstes. Ist denn noch niemand aufgefallen, daß das Schwermütigste, was es auf der Erde gibt, ein später Frühlingsnachmittag ist, kurz vor Sonnenuntergang?! Nicht nachher, wenn der Himmel flammt und sich das Land rötet … nein, nein, die kurze Stunde vorher, wenn alles still und in sich versunken dasteht, als ob es über das Schicksal seiner Schönheit nachdächte.

Es war ein richtiger, kleiner Sommerbahnhof, auf dem wir ausstiegen, Rehchen, am Rand der Hügel – oder soll man sie Berge nennen?, ja, es sind wohl schon Berge. Und du sagtest, daß du fest überzeugt bist, daß dieser Bahnhof jeden Winter eingepackt und weggestellt wird, um am 15. April aus seiner Schachtel genommen und wieder aufgebaut zu werden. Ob ich das denn noch nicht gehört hätte?!: es gibt sogar ganze Städte, die für den Winter abgerissen und jeden Sommer wieder aufs neue hingestellt werden, z. B. Luzern. Die meisten Menschen wüßten das nur nicht, weil im Winter nie ein Fremder nach Luzern käme; und die Schweizer hüteten ihr Geschäftsgeheimnis sorgfältig. Wie ich dich gern hatte, wenn du so etwas sagtest!

Der eigentliche Ort lag jenseits des Flusses, und hier quetschten sich nur eine Zahl aprikosen- und weinberankter Häuser neben- und übereinander zwischen Berg und Bahn zusammen und hielten eine fast südliche Abendschwüle in sich gefangen.

Wir wollten aber weder hier noch dort hin, trotzdem uns drüben im Ort die »Kanne« als einziges Gasthaus und als gut geführt zungenfertig gelobt wurde. ›Nein, wir wollten lieber noch hinauf,‹ meinte ich, ›versuchen, ob wir dort unterkämen, – denn ich wüßte, daß dort oben schon irgend ein Salier oder Hohenstaufe, ein Otto oder ein Heinrich im Jahr 1000 die Neujahrsnacht verbracht hätte, und ich sähe nicht ein, warum man uns dann dort schlechter behandeln sollte, wie einen Menschen, der nachweislich tot und gestorben wäre und nur noch als Geschichtszahl in Untertertia existiere. Auch Goethe wäre ebenso dort oft abgestiegen, wie ungefähr folgende Verse an die Frau von Stein exemplifizieren: Nirgends bin ich geborgen … selbst bis zur Dornburg hier … verfolgen mich meine Sorgen … und meine Liebe zu dir … Doch da meine genauesten Informationen dahin gingen, daß Exzellenz gerade heute in Tiefurt sei, so müsse es für uns Platz geben.‹

Und wir stiegen langsam auf zahllosen, ausgetretenen Stufen, die – immer wieder sich windend – zu Ausblicken emporführten, zwischen Laubgrün und Büschen und Mauern hinan, während das Land mit seinem Silberfluß bei jedem neuen Ausblick tiefer unter uns sank und mehr und mehr verdämmerte. Und endlich leuchteten schon aus dem Städtchen und von der Eisenbahn erste Lichter hinauf, trotzdem es oben doch noch ganz hell war, und die Drosseln auf den Spitzen der Büsche saßen, den Kopf gegen den geröteten Himmel wandten und ihre Verdauungsstrophen sangen.

Also man nahm uns nicht; konnte uns nicht nehmen, oder wollte uns vielleicht nicht nehmen. Wir standen ziemlich vertattert.

›Otto der Kahle oder Heinrich der Finkler hätten vor neunhundertundetlichen Jahren weniger Schwierigkeiten gehabt mit dem Unterkommen,‹ sagte ich. Ein Hof von Mauern und Gebäuden umschlossen; – waren nicht blühende Kastanien darauf, die doppelt leuchteten in der Dämmerung?

»Nein, nein, es wäre nur für Pensionäre, und kein Gasthofsbetrieb; und übervoll! …«

Du drohtest fast die Laune zu verlieren, Rehchen!

»Ja, wo wir denn noch hinsollten zur Nacht …?«

»In die Stadt!«

»Aber jetzt noch hinunter, in der halben Dunkelheit?«

»Nun, da wäre ja ›wohl‹ noch ein Gasthof im Dorf!« Das ›wohl‹ sprach ohne Kommentare.

»Sauber aber«, fügte man mitleidig hinzu, als man unsere Unschlüssigkeit sah, »sauber aber wäre er!«

Was blieb uns übrig, als es dort zu versuchen, wenn wir ein Dach über dem Kopf haben wollten.

Ich weiß es nicht mehr genau, aber du wirst es behalten haben, Rehchen, war nicht ein breites Wasser da oben, ein langgestreckter Dorfteich, an dessen Seite in Reihen kleine Häuser waren, und stand nicht an dem ersten: »Schloßapotheke?«. Und lag nicht hinten ein etwas stattlicheres, altes Gebäude quer vor, zu dem eine Freitreppe hinaufführte? Ja, so war es doch wohl!

Es war schon fast dunkel, als wir die Treppe hinauf tappten und die Gaststubentür aufstießen. Drin sangen junge, leicht trunkene Burschen. Einer sogar spielte dazu Mundharmonika mit tiefer Versunkenheit, wie es einem Künstler zukommt. Und er war in seinem Fach ein Künstler. Ich habe manchen Soldaten jetzt auf der »Maulhobel« spielen hören, munter oder trübselig, aber an den kam keiner heran; so etwas liegt im Volk hier. Er hatte Generationen von Musikern im Blut, ohne es vielleicht zu ahnen … Aber nicht lange, da turkelte die ganze Gesellschaft, die dich angestarrt hatte und nicht wußte, was sie aus uns machen sollte, singend und johlend hinaus in die Nacht, – und wir waren allein.

Es war eigentlich dann viel netter, als man gehofft hatte. Das Essen war gut, die Flasche Mosel trinkbar. Man plauderte sehr gesetzt, causierte leise, hatte sich zu erzählen, weil man sich bald zwei Jahre nicht mehr gesehen, erriet Beziehungen, – denn jeder von uns beiden lebte ja in seiner anderen Welt. Ich machte allerhand bescheidene Späße, nur um dich lächeln zu sehen. Man nippte am Glas, schwieg sich dann auch vielleicht einmal eine Minute an – warum nicht?, man kannte sich ja endlich, warte mal Rehchen … eins, zwei, drei, vier, fünf, bald sechs Jahre! Irgend ein Spiritusglühlicht gab weiße Helligkeit. Standen nicht auf Konsolen, unter Glaskästen, ausgestopfte Vögel umher, an denen wir unsere ornithologischen Kenntnisse erprobten? Ich kam bis zur Blauracke und dem Nachtschwalm, – bei den Wasservögeln scheiterte ich. Schlich nicht auf einem Baumast, langgezogen wie ein Zaunpfahl, heimtückisch und mordgierig, einen Stieglitz zwischen den Zähnen, ein Edelmarder über den Schenktisch? Und flatterte nicht ein Turmfalke links vom Türgesims (zwischen einem Plakat von Freilaufnaben, auf dem junge, rotblusige, lustige Mädchen, – ohne die Hände an die Lenkstange zu legen! – einen steilen Berg hinabfuhren, und zwischen einem anderen Plakat, von Bergkräuterlikör, mit drei pokulierenden Wichtelmännchen, die anscheinend nur wenig alkoholfest waren), unschlüssig hin und her? Oder verwechsele ich das, Rehchen?!

Und kehrte nicht immer wieder der Wirt zurück und machte sich an seinem Bierfaß zu schaffen, um uns daran zu erinnern, daß wir aufstehen könnten? Wir hatten zwar Wein gehabt, waren also bessere Gäste; aber hier ging man früh schlafen, – selbst in der Walpurgisnacht.

Wir bekamen zwei Zimmer, sie waren menschlicher als man nach dem düsteren, speicherähnlichen Flur vermuten konnte. Du eins nach vorn heraus mit zwei Betten, lang und schmal wie ein Handtuch. – Nein, das ist nicht richtig: wie ein Tortenstück (denn die Längswände verengten sich nach hinten), – aber recht sauber sonst. Und ich ein ganz kleines, nach der Rückseite hinaus – das Riesenbett saß unerklärlich darin, wie das Bergwerk in der Flasche – benachbart schweineduftenden, grunzenden Ställen.

Doktor Herzfeld lachte vor sich hin: Sie haben mich nicht gestört; denn das Zimmer hat mich nicht viel gesehen. Ja, irre ich mich nicht, so habe ich mir nicht einmal die Mühe genommen, das Bett künstlich in Unordnung zu bringen, wie man das doch sonst tut, um vor der Unschuld des Zimmermädchens das Dekorum zu wahren!

Und als ich im Schlafanzug zu dir hinüberging – gräßlich, was so Dielen in alten Häusern quieken und knarren – und die Tür aufstieß, das Licht der Kerze flackerte und bog sich hin und her, warf meinen Schatten spukhaft und verzerrt an Wände, jagte ihn über die weiße Decke hin … da standest du schon entkleidet, den Rücken mir zugekehrt, am geöffneten Fenster und sahst in die Nacht hinaus, die kühl und duftig und sehr still und ohne jeden Lichtschein ins Zimmer hereinschlug. Aber wie ich neben dich trat und hinausblickte, da sah ich erst, daß der ganze Himmel herrlich ausgestirnt war, flimmernd auf schwarzem Sammet, und reichbesetzt mit Linien und Figuren. In dem Weiher unter uns aber, den wir sonst wohl kaum erblickt hätten, spiegelte sich noch einmal in Himmelstiefe all das blaue und stählerne Funkenspiel. Es ist ein eigenes Bild, wenn Sterne zu uns herauf leuchten, … es erinnert an eine Wiese, überschwirrt und besetzt von phantastischen Glühkäfern.

»An was denkst du?« fragte Rehchen. »Wann hast du das schon einmal gesehen?« und in das leichte Zittern ihrer Stimme teilte sich dabei gleichmäßig die sinnliche Erregung, das Frösteln von der Kühle der Nacht und ein Drittes, das ich mir im Augenblick nicht zu erklären vermochte, aber das mich aufhorchen machte.

»Woran mich das erinnert?!« … sagte ich, »warte mal Rehchen, … warte mal … Ja, ich hab's: … An eine Seefahrt zwischen Neapel und Palermo, wo das Wasser sehr still war, nur leicht gefurcht, und sich der nächtliche Widerschein der Sterne, noch reicher als hier, – und hellere! – mit den Funken des Meerleuchtens mischte, die im Kielstreifen aufgeworfen wurden, und wo man nicht wußte, was die Spiegelung der Sterne da war, und was die phosphoreszierenden Lichtpunkte.«

»An nichts sonst, Walpole?«, meinte Rehchen – sie nannte mich immer Walpole oder Horace, weil sie behauptete, ich hätte auch äußere Ähnlichkeit mit Horace Walpole, wie ihn Lawrence gemalt hatte. – (Wo hatte ich nur meine Gedanken, daß ich an dem Dreiklang ihrer Stimme so vorbeihörte?!)

»O ja,« sagte ich – ich habe noch jedes Wort im Ohr – »ich muß an eine Johannisnacht denken … mit zahllosen Leuchtkäfern, unten im Neckartal. Das ist ziemlich lange her. Damals warst du gewiß noch ein ganz kleines Mädchen, kaum älter als zehn Jahr und gingst gewiß sehr brav noch in Hildesheim in die sechste Klasse. Kennst du das Land um Heidelberg herum, Rehchen? Nirgends in ganz Deutschland sind die Sommernächte … sind die Sommernächte so schön wie da unten am Neckar; lind und doch kühl, klar und doch geheimnisvoll, mit ihren schlafenden Wäldern. Und der Mond strahlt da manchmal, als hätte er den ganzen Tag Eichendorffs Gedichte gelesen und wüßte nun, wie er es zu machen hätte. Man begreift bei diesen Nächten wirklich, daß die Gegend voll von Spukgeschichten und Gespenstern ist. Wenn ich ein Gespenst wäre, würde ich auch lieber im Neckartal mein Handwerk betreiben als in Kottbus.«

Ich glaubte, trotz der Dunkelheit, Rehchen lächeln zu sehen, denn für so etwas war sie zu haben.

»Und da unten gibt es um die Johannisnacht Myriaden von Glühwürmchen. Es hat etwas Mystisches, so im Laubdunkel zu schreiten, und die Funken wie einen Feuerwerksregen durch die kaum erkennbaren Äste heranschwirren und wieder verschwinden zu sehen, – denn die Glühwürmchen blasen oft plötzlich mitten im Flug, huit!, ihr Laternchen aus, werden ein Stück Nacht in der Nacht; und doppelt geheimnisvoll erscheint es uns, wenn man nicht allein ist … und ich war damals nicht allein!«

»So,« meinte Rehchen.

»Ja, es war ein kleines Ding von siebzehn Jahren; schön wie orientalischer Mohn; schwarz wie ein Teufel, wild wie ein Herbststurm. Gejagt von Unruhe, umschattet von einer ererbten Schwermut. Ein Stück Naturkraft, kaum zu bändigen, die vor das Leben hintrat und die Arme schüttelte: Platz! – ich komme!

»Wir waren oben in einem Gartenlokal über dem Fluß gewesen, hatten im Kastanienschatten gesessen, bis die Nachtfalter gegen die blühenden Violen schossen; und nun brachte ich sie heim durch die Wolken von Leuchtkäfern auf den Waldwegen und plauderte sehr gesetzt, wie eben ein Mann zu Ende der Dreißig mit einem jungen Ding spricht, das ihn zwar als ein Stück atemberaubender Jugend fesselt, dem er aber noch nicht Anspruch auf das Leben zugesteht. Und plötzlich – eben war sie noch neben mir gegangen, ich hatte sogar vermieden, ihr den Arm zu reichen, um die Distanz zu wahren – ganz ohne Warnung und Vorrede, fiel sie mir um den Hals, warf mich beinahe um, sprang mich an wie eine Wildkatze und schrie durch den Wald, durch die Dunkelheit und durch die Glühwürmernacht hin: ›Siehst du denn nicht, wie ich dich liebe, – du Mensch, du?!‹ – Das ist jetzt, wie lange wohl her?«

»Und hast du sie noch oft gesehen?« … fragte Rehchen. Sie starrte immer noch auf das flimmernde Widerspiel der Sterne im Wasser. Ich hatte ihr die Jacke von meinem Schlafanzug über die Schultern gehängt, die doppelt schmal darin erschienen.

»Gesehen? o ja … eigentlich jeden Sommer … alle paar Monate mal … durch vier …«

»Und was ist dann aus ihr geworden, Horace?« fragte Rehchen. Ich weiß nicht, sie war plötzlich vom Fenster verschwunden, und die Stimme klang schon vom Bett her. Ich hatte garnicht gemerkt, daß sie von meiner Seite gegangen war, sich meinem Arm, der sie nur ganz leise an der Schulter berührt hatte, entzogen hatte, denn ich spürte im Augenblick ja noch ihre Wärme. Ach ja, ich erinnere mich, ich sah trotzdem noch eine ganze Weile in die Dunkelheit hinaus, denn ich komme mit meinen Augen nie von den Sternen los. Ich liebe sie, sie haben mich zu lange Zeit schon begleitet, als daß ich das nicht sollte. Und wenn ich einmal sterbe, dann möchte ich, daß mein letzter Blick noch in den Sternen ruhen soll, um sich eine Stelle dort zu suchen, wo meine Seele Domizil nehmen mag.

»Und was ist aus ihr geworden?« kam es nochmal vom Bett herüber.

»Ja, ich glaube … sie ist seit zwölf Jahren sehr glücklich verheiratet … mit einem Fabrikanten; irgendwo unten in Baden. Es soll ihr gut gehen. Die Leute haben ja dort alle Geld. Sie hat mir sogar später nochmal Bilder von sich und ihren zwei Mädelchen geschickt. Die sind schon genau die gleichen kleinen Wildkatzen, wie sie es einmal war.«

Ich war an Rehchens Bett getreten bei den letzten Worten. Sie saß wieder, wie sie es so liebte, die Hände um die Knöchel gefaltet, und den Kopf auf die Knie gesenkt. Und ich setzte mich zu ihr auf den Bettrand, ohne zu sprechen, und da fühlte ich, wie mir Rehchen ganz leise mit der Hand über den Rücken strich. Und als sie den Kopf hob – das Licht von der Flackerkerze hinten fiel ihr gerade hinein – schien es mir, als ob sie geweint hätte. Aber vielleicht irrte ich mich, denn in all der Zeit hatte ich Rehchen doch nur einmal weinen sehen; damals auf dem kleinen Bahnhof.

»Ich habe«, sagte sie sehr leise, »vorhin an etwas ganz anderes gedacht.«

»Woran? – Rehchen?«

»Ich habe an eine letzte Augustnacht gedacht … vor Jahren. Plötzlich am Abend hatte es sehr stark zu regnen begonnen, und es war noch gut eine Stunde bis zur Station. Und deshalb sind zwei Menschen, die wir beide kennen, Horace – nicht wahr? beide kennen, sind diese Zwei in einen kleinen Gasthof, der an einem See lag, gegangen, um den Platzregen abzuwarten; und es ist immer später geworden, ohne daß der Regen nachließ. Wirklich, man konnte nicht fortgehen. Und endlich – den Zug hätten wir ja doch nicht mehr erreicht – hat man diesen zwei Menschen ein Zimmer angewiesen, in einem kleinen Nebengebäude, das mit seinen Galerien über den See hinausragte. Einer davon war sehr jung und fürchtete sich vor dem Unbekannten, was kommen mußte, aber es hatte den anderen sehr lieb … Also ohne Parenthese und Umschweife: es hatte eigentlich doch nichts dagegen einzuwenden. Und wie da zwei Menschen dann, die sich ganz eng umklammert hielten, auf den Balkon hinaustraten, da regnete es nicht mehr; da summte es nur noch von den Tropfen, die von den Erlenblättern ins Wasser fielen, und von dem abgeregneten Nachthimmel blinkte gerade vor uns, zwischen den Laubkronen, stark und hell der Große Bär; aber er hatte sich verdoppelt, denn Wagen und Deichsel, alle sieben Sterne, spiegelten sich ganz klar und scharf noch einmal unter uns im schwarzen Wasser. Und die zwei Menschen sagten es sich zu, das Wunder, das sie da sahen, niemals mehr in ihrem Leben zu vergessen. Versprachen es sich noch einmal, am nächsten Morgen sogar, als der Eine vor mir kniete und seinen Kopf in meinem Schoß vergrub, weil er nicht zeigen wollte, daß er weinte. Erinnerst du dich nun, Horace Walpole? …«

» J'y pense, Rehchen, j'y pense … Ferch …« Ob ich mich erinnerte! – (Wo hatte ich denn nur meine Gedanken gehabt vorhin?)

»Und was wirst du mal später sagen, Walpole, wenn dich eine andere Frau fragen wird: ›was ist denn nachher aus dem Rehchen geworden?‹ Hast du daran schon einmal gedacht?! … Laß sein, ich will nichts hören! … Ach, komm' her! Siehst du denn nicht, wie ich dich liebe – du Mensch du?!«

Und sie hatte immer noch die Bewegung einer Welle, die auf den Strand schlägt, wie sie ihre Arme hinter meinem Nacken verknotete und mich zu sich riß.

Du warst keine Galathea, die errötend lacht, wenn man dich küßt. Du hattest das den Töchtern jüngerer Völker überlassen. Du kamst aus der Wüste, wo die Nächte sinnlich-schwer und heiß sind; und wenn auch tausend Wanderjahre und mehr dazwischen lagen – die gleiche rätseldumpfe Blutwelle trieb auch noch durch dich hin, die schon einst durch Judith und Esther trieb.

Merkwürdig, alles ist mir erinnerlich: Bewegungen; Berührungen; Anschmiegungen; die Linie von Rehchens Rücken, der meine Finger folgten; das Gefühl, das mir den Arm herauf rieselte; ihre sehr schmalen Hände, sie paßten sicherlich um die Griffe altägyptischer Dolche, für die unsere heutigen Hände zu breit und zu ungefüge sind; die hohe, mir zugewandte Stirn … ihre suchenden Lippen über weißen Zähnen … Worte … Gesten … Ausrufe und Stöhnen … Sichloswinden und wieder Ineinanderschmelzen … das Doppelsein und die Eisklarheit und Durchsichtigkeit unseres Ichs … Ruhe und Erschlaffung … aber dazwischen versagt die Erinnerung, steht vor einer roten, wallenden Nebelwand. Eigentlich sind es doch nur immer die Sekunden, wo wir nicht allein sind im Leben; und gerade diese Sekunden letzter Verschmelzung sind es, die uns später stets wieder entschweben. Wie abgründig das Wort ›Sichhingeben‹ ist. Und doch gibt man sich keinem anderen hin, sondern fast stets sich selbst. Wie hieß denn die alte Dame, von der Sokrates spricht im Symposion? Ach ja, Diotima!, die sagt – es ist mir nicht ganz gegenwärtig, aber dem Sinne nach ist es wohl ähnlich – sie sagt, daß die Menschen einmal Kugelgestalt gehabt hätten, aber dann hätte man sie wie mit einem Schwertschlag zerspalten, und seitdem wären sie unglücklich und jedes müsse seine andere Hälfte suchen, und irre wertlos umher, klammere sich hier und dort an, und löse sich enttäuscht wieder, weil es eben doch nicht seine Hälfte hielte. Und selbst, wenn es seine Hälfte gefunden hat, dann erkenne es sie nicht, und ließe sie wieder, und zu spät wisse es, daß es sie in den Armen gehalten hat – wenn es sie nicht wieder zu sich zurück zwingen kann.

Das Leben hat es gewollt, daß Horace Walpole nicht einrosten sollte, in einer Ehe, die ja nur eine kurze glück- und schmerzhafte Episode war, so schmerzhaft, daß oft halbe Jahre vergehen, ehe ich den Mut finde, mir die Qual aufzuerlegen, diese Stelle in mir zu berühren; und es hat mich immer wieder umher getrieben, – ohne daß ich seine geheimen Absichten verstand, – nach der anderen Hälfte meines Ichs zu suchen. Ich habe Frauen gern gehabt, trotzdem es mich zu den Ditopassabeln geworfen hat – vielleicht doppelt gerade wegen dieses ›Trotzdem‹ gern gehabt … wie ich ein Stück Kunst liebe; denn mag der Mann hundertmal der schöpferische Gedanke in der Kunst sein, die Frau ist ja doch: die Kunst. Ich bin das gewesen, was man einen Frauen freund nennt; nie Herr über sie und nie ihr Knecht. Aber ich habe mich eigentlich nie an Eine mit meiner ganzen Seele verschenkt; zum Schluß bin ich doch noch von jeder gegangen wie Odysseus von der Nausikaa. Und ich weiß jetzt: einmal sind für mich die Worte der Diotima Erfüllung gewesen, und das eine Mal ist mir mein Ganzes wieder entglitten … und ich hätte doch nur die Hand zu schließen brauchen, und sie wäre mir nie entflattert! …

Nein, ewig konnte man nicht liegen bleiben. Das Dorf hatte schon seit vier, fünf Stunden mit Hühnern und Gänsen, mit Menschen und Gespannen, mit Hüh und Hott zu leben begonnen. Es hatte das Recht dazu. Es hatte mehr geschlafen, als wir. Aber ewig konnte man nicht liegen bleiben! Und dann: es gäbe ja jedes Jahr einen ersten Mai, eine Walpurgisnacht!

Ich weiß noch, wie du lachtest, als ich dir vormachte, Rehchen, wie ich dann in zwanzig Jahren, meckernd vor Alter, deine Hand an die Lippen führen würde und sagen, wie le vieux Adolphe bei Gavarni – » Vous en souvenez-vous, vous en souvenez-vous?!«

Seltsam, am Parkeingang blühte schon ein Fliederbusch. Bei uns im Norden war er kaum erst in der Knospe. Es war ein Vormittag mit restloser Bläue, mit leichtem Wind, dieser erste Mai. So frisch und schön und blumig und jung, wie er im Buch steht. Vom Standpunkt des Meteorologen aus viel zu schön für einen Mann gesetzteren Alters. So vollkommen, wie sonst nur ein Maitag in unserer Jugend sein kann, wenn man sich in späteren Jahren seiner erinnert. Ich weiß eigentlich nicht mehr recht, was wir da sprachen und taten, Rehchen. Wir krochen in Goethes Schloß bis unters Dach herum, – der Zeitungsartikel der Sonntagsnummer nennt so etwas »Auf Goethespuren«, – bestarrten ehrfurchtsvoll Zeichnungen und Erinnerungen: … »Nirgends bin ich geborgen« …, und … »Ziehst du als Wandrer vorbei segne die Pfade dir Gott …«

Nichts gerade, was einen umwarf. Etwas bescheiden alles, etwas provinziell. Potsdam lag weit. Würzburg lag weit und erst Trianon! Ein mittlerer Bankdirektor stellt heute mehr Ansprüche an seinen Sommersitz – wenn auch nicht gerade nach der Seite des Geschmacks hin.

Gab es da nicht einen sehr süßen Speisesaal, mit Empiremustern und Bildern, und ganz in eine Farbe getauchte kleine Kabinette; bescheiden und mustergiltig? Allerhand Stoffe und Stöffchen, Gardinen und Vorhänge, deren Dessins und verblichene Töne dich entzückten. Sie waren nebenbei später als du glaubtest.

Alles war etwas verstaubt und ganz leicht verwahrlost. Das jedoch war ja das Echte. Scheinbar war hier vor achtzig Jahren der letzte Mensch hinausgegangen; nur für ein paar Tage fortgefahren, und hatte gesagt, er käme bald wieder. Und nun wartete man, daß er wieder einträfe. Aber das Personal, Küchenmädchen, Diener und Kastellane, war alt geworden inzwischen, und – da die Herrschaft fehlte! – etwas nachlässig. Der Artikelschreiber in der Sonntagsnummer hätte sich vom Atem der Titanen angeweht gefühlt.

Wenn ich offen sein soll, so gefiel mir im Schloß doch am besten ein ganz langes und schmales Doppelsofa von seltsamer Konstruktion. Das hatte man so gebaut, weil Goethe und Karl August, beide, bejahrte Herren geworden .. – auch Leute mit »Fischschwanz und Kindskopf« werden das ja endlich – und wenn sie nach dem Essen plauderten, plötzlich müde wurden und ihr Nickerchen machen wollten. Und da hatte es sich wohl ergeben, daß der eine nach rechts und der andere nach links sich gelegt hatte, und die Goetheschen Beine (sie waren bekanntlich etwas kurz) und die Karl August'schen Beine, trotzdem sie – wie uns Schwerdtgeburth verrät, auch nicht lang waren, gegenseitig und untereinander in Kollision geraten waren. Und da das zu Unzuträglichkeiten zwischen ihnen hätte führen können – sie waren beide mit den Jahren etwas eigentümlich geworden – so hat man dieses ganz, ganz lange Sitz- und Liegesofa, auf dem rechts wie links sich ein Goethe wie ein Karl August in ihrer vollen Körperlänge strecken konnten, ohne sich gegenseitig mit den Füßen zu stoßen, gebaut.

Das gefiel mir am besten, Rehchen. Und ich fragte, ob du – gebildet wie du doch wärst! – den Kupferstich nicht kenntest, auf dem man sie beide, friedlich vereint, auf diesem Sofa schnarchen sähe? … Den Stich mit der Unterschrift in entzückender Fraktur der Zeit … (»Es soll der Dichter mit dem Fürsten gehn, denn beide schnarchen auf des Lebens Höhn …«) Er würde durch seine langgestreckte Form und die Zweiteiligkeit seiner Kompositionen, – umrahmt von einem Eierstab, mit blühenden Soldanellen in den Ecken, die zu entwerfen Rehchen vorbehalten blieb – eine vorzügliche Buchleiste abgeben, so die Zierde jeder Goethebiographie sein könnte!

Aber du meintest, daß die Tektonik dieses Zimmers – solche Schimpfworte liebtest du! – dieses und gerade dieses Möbel erfordert hätte, und daß das andere eine boshafte Erfindung von Horace wäre. Lassen wir es dabei!

Nein, Rehchen: ein paar schlecht gerichtete Teppichbeete, die noch die alten Formen sehen lassen, die man ihnen nach Goethes Angaben schenkte, und von denen aus sich verwilderte, kleine Tulpen und Muskathyazinthen … (»Sie blühten weit hinten in Urgroßmutters Garten« singt Storm) bis weit hinaus in die Büsche verirrt hatten, haben mich gerührt. Und noch eine andere Blume hat mich innerlich zittern gemacht, die ich nicht kannte, von der mir aber der Kastellan sagte, die hätte Goethe aus Italien mit anderen Samen mitgebracht und hier ausgesetzt. Vielleicht wird es nur irgend ein Blumenwildling sein, der, früher gehegt, jetzt in hundert alten Parks auf Rasenstücken und an Buschrändern vagabondiert. – Auch möglich! – Aber lassen wir es dabei!

Noch hatten wir jedoch nicht die Terrassen gesehen, Rehchen! Übereinander mehrere breite Terrassen, mit dünnen Eisengittern, mit Treppenführungen, mit Ausrundungen, den Hügelrand entlang, … ihn wundervoll ebnend und aufteilend; ganz weit den drei Bauten da oben vorgelagert, eine Verbindungsbrücke zwischen ihnen schlagend, eine Anlage von italienischer Großzügigkeit und Gefälligkeit … einzig und fremdartig wirkend im Norden; und – richtig, auch von einem italienischen Baumeister geschaffen … mit dem Blick herunter auf die Saale … mit dem Blick herüber auf die Nachbarberge … mit dem Blick in die Ebene hinaus … mit dem Blick unten auf die Dörfer und Ortschaften hinab … auf weiße Entenscharen, die – ganz klein – unten im Fluß das Wasser schlugen, daß man es regenbogenhaft in der Sonne aufspritzen sah.

Und der einzige Laut, der herauf kam, war ihr Geschnatter. Sonst war alles stumm, verzaubert, außer Hörweite gerückt.

Die ganze Terrasse entlang, neben uns aber, über uns, unter uns: Flieder! Flieder! blühender Flieder! Hundertjährige Fliederbüsche, deren mattblaue, tiefblaue und weiße Blütenwellen in der Sonne schäumten … rechts und links wegauf, wegab, soweit man sah! Und keine Seele hier oben. Alle Viertelstunde kam ein bäuerlicher Spaziergänger Und dann wieder: nur Sonne, Licht wie im Süden von hundert Seiten; Fliederduft und Finkenzwitschern und Bienensummen; die weißen Flügel eines ersten Schmetterlings, der von Dolde zu Dolde trieb; und den Blick hinunter und hinüber.

Ich sehe dich noch, ich sehe dich mit deiner Wippe, im dünnen, gelben, seidenen, sich bauschenden Bastkleid mit den Breiten, flatternden altvioletten Moireebändern in der Sonne auf der Rampe sitzen. Irgendwo warst du hinaufgeklettert, – hattest dir nicht neben, sondern halb über mir einen Sitzplatz geschaffen, – und ich sehe dich dort oben sitzen und in die Welt hinaus träumen.

Seltsamer Ort, spukhaft am hellen Tage, wie Hamlets Terrasse. Es schien wirklich, als ob der alte, italienische Baumeister, der dieses Stück Italien hier einst hinauf trug, auch ein Stück seiner Seele mit eingebaut hatte, das in uns drang, und uns zwang, so zeitvergessen, formlos und wortlos zu träumen, als hätten wir den heiligen Boden Italiens selbst betreten.

Ich fühle noch, wie du hin und wieder die Hand hinabstrecktest zu mir, daß sie irgendwie mich berührte, auf meiner Schulter oder meinem Hals einen Augenblick Ruhe fände … wie um dich zu überzeugen, ob ich noch bei dir wäre, oder schon von dir gegangen. Eigentlich sind doch alle Frauen arme Wesen; … selbst eine, die alles als Mensch erreicht hat, was in ihren Grenzen liegt, was einer Frau in dieser ungerechten Welt zu erreichen möglich ist!

Und wie wir endlich nach der Uhr sahen, da war schon längst die Mittagszeit vorüber, und wir mußten ganz schnell in den Gasthof zurück, essen, und hinunter zum Zug stürmen, der schon irgendwie hinten geahnt wurde, … die Treppen und Windungen hinab. Wir kamen gerade recht.

Aber in Naumburg wollten wir noch in den Dom, uns vor dem Größten verbeugen, was bei uns zu finden ist. Du warst bisher stets daran vorübergegangen. Ich kannte es. Ich freute mich, es dir zeigen zu dürfen, denn was gibt es schöneres, als mit einer Frau, die man gern hat, Kunst sehen, und nun zu warten, bis beides zu klingen beginnt. Aber – ich hatte mich geirrt. Dein Zug ging früher. Wir hatten gerade noch Zeit, in einem Scheusal von Wartesaal einen pestilenzialischen Kaffee zu trinken. Und außerdem hatte es sich auch umzogen, staubte und windete etwas, und einzelne Tropfen, groß wie Talerstücke, fielen platschend und musikalisch auf die Wellblechdächer der Bahnsteige.

Ich habe vergessen, was du sagtest, als du in den Zug stiegst. Ach ja, du riefst »Fare well, Horace Walpole!« und sprangst noch mal herab, vergaßest ganz deine Damenhaftigkeit, deine Stellung und das Sonntagspublikum, flogst mir um den Hals und rissest dich nur schwer wieder los. Ich weiß nicht mehr, ob du mir lange nachwinktest, oder bald verschwandest; ich erinnere mich nur noch: du warst sehr lieb und sehr still und ganz Dame gewesen, – den ganzen Tag. Aber all das ist doch halb verwischt und ineinander geschoben. Doch wenn man jetzt, in diesem Moment meinen Augenhintergrund photographiert, so würde die Platte dich zeigen, wie du da oben auf der Fliederterrasse sitzt gegen den blauen Himmel … mit deiner Wippe und deinem sandgelben, sich bauschenden Bastkleid.

Wochenlang bin ich zuhause durch die Wohnung gelaufen, jeden Abend habe ich – endlich beruhigt – mit dem festen Entschlusse die Augen zugemacht, am nächsten Morgen zu dir zu fahren. Und jeden Morgen sagte ich mir, daß ich kein Recht hätte, dich für immer an mich zu binden, – nur um am Abend das Spiel zu wiederholen. Und plötzlich schriebst du, du hättest alles aufgegeben, Stellung, Atelier, Wirkungskreis, gingst nach München, wolltest neu beginnen, weil du mit dir und deiner Kunst nicht ins Reine kämest. Und einen Monat danach schicktest du mir die Anzeige, daß du verheiratet seist. Ich habe gehört, er hat Geld, einen Sprachfehler und malt sichernde und fliehende Gemsböcke. Das war also der Schluß: »Fare well, Horace Walpole!« Drei Walpurgisnächte sind seitdem über die blutige und blödsinnige Erde gegangen. Wer mag sie nach mir dort gefeiert haben?! Denn zum Narrentanz der Liebe spielen die himmlischen Musikanten ohne Unterbrechung auf.

Ach Gott, da war ja Schnee! Doktor Herzfeld hatte in das Land hinaus gestarrt, ohne etwas zu erblicken. Es hatte wohl sein Auge getroffen, nicht sein Hirn. Er hatte garnicht gemerkt, wie der Zug schon stundenlang schwerfällig bergan gekrochen war. Jetzt war er fast auf der Höhe. Wie schwarze Bäche rieselten von allen Seiten die Wälder dunkel zwischen den Schneefeldern von den Hängen herab. Eine grenzenlose Menge von Schnee machte das weite Rund der Berge und Hügel glitzern, während unten das Land, auf das Doktor Herzfeld bei einer Wendung des Zuges wie von ungefähr zurückblickte, graugrün und mildfarbig in einer lichten, sich schon wieder senkenden, fast frühlingsmäßig-hellen Sonne lag.

O hier war Kälte, Reinheit und letzte Menscheneinsamkeit. Ein rosiger Schimmer von der Sonne flog über die geglätteten Schneeflächen. Schmale Wasserfäden, in dünnen Linien, durchzogen sie und suchten noch, so lange es ging, sickernd und tastend den Bach zu erreichen, der in frischen Windungen talab – um vereiste Steine mit großen Schneehüten, – rauschte.

Er war gewiß im Sommer nichts besonderes, ein unbedeutendes Wässerlein, kaum nütze, um eine Schneidemühle zu treiben und ein paar Bauernjungen Gelegenheit zum Forellenstehlen zu geben. Aber jetzt, in all der träumenden und weißen Stille ringsum, war er plötzlich der Mittelpunkt geworden, führte das große Wort und maßte sich mehr an, als ihm zukam. Es war das einzige Stück Leben hier; und nur die Wildspuren, die in zarten Linien durch die hohen Schneedecken zu ihm hinab zogen, verrieten, daß sich hier ringsum irgendwo noch anderes, wärmeres Leben verborgen hielt.

Wie schön das ist! dachte Doktor Herzfeld – einer der Soldaten war aufgewacht und sagte: »Schnee hoat's hier, Herr Noachbar!« – wie schön das ist. Nie sieht man so den Wesenskern der Dinge, nie so die zarte Linie eines Baches, die Bewegung eines Abhanges wie jetzt, da der Schnee alle Konturen weich gemacht hat und wundersam verdeutlicht. Da unten, diese Paar Bäumchen! Irgendwelche kleinen Laubbäume, mitten auf diesem Hang, ganz allein für sich. Und nun dreht der Zug, und sie liegen klar auf dem Weiß, auf diesem Traum von zartem, pudrigem Weiß, … bis in die letzte Biegung ihrer Zweiglein mit der Silhouettenschere ausgeschnitten.

Vor einem Blockhaus wälzte sich – unbändig vor Freude – ein großer langhaariger Hund im Schnee, grub Kopf und Schnauze und den ganzen zitternden Körper in die weichen Polster, sprang auf, bellte vor Freude und warf sich wieder hinein. Die Tannen hatten unter den Lasten die Arme sinken lassen, den Kopf nicht; sie waren über und über bereift und bepudert – ›wie Rokokoperücken,‹ dachte Doktor Herzfeld. Und die kleinen Tännchen an den Böschungen waren zu weißen Haulemännchen geworden, die so froren, daß sie kaum mit der Nasenspitze aus ihren Mantillen guckten. Dabei waren die Wälder, – trotzdem ihr Boden mit all seinen Unebenheiten von Steinen und morschen Ästen, von den weißen, weichen Wattelagen fast ausgeglichen war – in ihrem Innern, wenn Doktor Herzfeld hinein sah, genau so nächtlich und finster, wie nur je, und sie lichteten ihr grünliches Märchendunkel kaum auf, wenn durch das schneeverhangene Geäst ein einsamer Goldtupfen der scheidenden Sonne sich bis auf den Boden gedrängt hatte. Sie schienen ganz erstorben, atmeten nur in langen Zügen; doch wenn Doktor Herzfeld genau hinhörte, so klang etwas dazwischen, wie das Zwitschern einer Meise oder das leichte Rieseln, wenn ein Schneepolster von den Zweigen sich löste und sein Silber hinabstäubte, damit es sich dem unten einfüge.

Doktor Herzfeld hatte das Fenster heruntergelassen und atmete die reine Luft, die ganz unbewegt war, ja fast warm erschien, obwohl sicher der Thermometer sie nicht dafür erklärt hätte.

»Sö, Herr Noachboar,« sagte der Soldat, »es moacht koalt, toan Sö's Fensterl zua; i hoa scho bei' dena Russen g'nua g'frorn.«

Der Zug hatte die Höhe erreicht, schob sich eine Weile oben, – als ob er sich von den Anstrengungen des Heraufklimmens erholen müsse – gemütlich an Wäldern mit hohen Tannen und an weißen, ungetrübten Schneeflächen vorbei, als wolle er sich noch einmal in Ruhe hier ein wenig umsehen, und machte dann auf einer kleinen Station halt, die jedes Kursbuch verschwieg, und neben der gefällte Baumstämme in Reihen lagen. Riesige Mastbäume, halb im Schnee vergraben. Irgend etwas stimmte bei der Lokomotive nicht. Welche behaupteten: das Gestänge wäre heiß gelaufen; ein anderer bemerkte sachkundig: die Schmierbüchse wäre eingefroren, … was bei dem Ersatzöl kein Wunder wäre. Aber – es war eigentlich gar nichts von Belang.

Doktor Herzfeld freute sich, hinauszutappen durch den Schnee – hier roch es nach Garmisch! – und gerötete Wolken auf einem meergrünen Himmel zu sehen, wie auf Bildern von Ancarcrona, die man vor Jahrzehnten bewunderte; freute sich, eine Schale dampfendes Etwas am Schenktisch zu erwischen, das heiß und braun war, und darum sich Mocca nannte. Und während der ganzen Zeit wanderte er erheitert vor dem Schenktisch auf und nieder, dem Spiel der Überraschungen folgend, das ihm eine dort aufgehängte Seltsamkeit bot, die sich hier hinauf, in diese Waldeseinsamkeit verirrt hatte.

Es war ein Kaiserbild; das heißt, es war nicht ein Kaiserbild, es waren drei Kaiserbilder in einem. Wenn man gerade davor stand, sah man Kaiser Wilhelm den Ersten, den Alten mit einem Gitter über dem Gesicht oder richtiger einer Art von Lattenzaun. Wenn man aber von rechts kam, erblickte man – wenn auch etwas schraffiert und grecohaft-langgezogen – das Bildnis des weiland Kaiser Friedrich. Wer aber von links an den Schenktisch heran kam, sah den Kaiser, den jetzigen, –, den von heute und morgen.

Und nun konnte man, hin und her schreitend vor dem Schenktisch, ständig Variationen da hinein bringen. Man konnte den Landwehrbart Kaiser Friedrichs zur Hälfte mit den grauen Koteletten seines kaiserlichen Vaters zusammen gehen lassen; und dessen Enkel hinwiederum sah sich mit grauem Backenbart und ragenden Schnurrbartspitzen … sah sich selbst nur sehr wenig ähnlich. Auch gab es Momente, wo Vater und Sohn und Großvater zu einem ganz neuen und unbeschreiblichen Wesen sich vereinten.

Doktor Herzfeld konnte sich gar nicht davon losreißen, und als er wieder einstieg, sagte er sich, daß der Zug hier ohne Zweifel viel zu kurze Zeit gehalten hätte; und er versprach sich innerlich, auf der Rückreise doch diesem Bild wieder seine Reverenz zu erweisen. Wenn er die Preisaufgaben für die philosophische Fakultät zu stellen hätte, so würde er als nächstes Thema »Die Metaphysik der Wechselbeziehungen zwischen Patriotismus und Geschmacklosigkeit« in Vorschlag bringen.

Aber nun hatte die Lokomotive genug von Schnee und Höhe; und sie lief wie ein Junge, der bergab einen Spielreifen treibt; und – je mehr er ihn schlägt, umso mehr muß er selbst springen, um ihm nahe zu bleiben. Die weißen Wälder und die beschneiten, – schon hier und da braunen Boden durchlassenden – Felder und Wiesen jagten nur so vorbei in einem weißen Tanz, erfüllt vom Widerhall des Bahngeräusches, wie von dem Rauschen eines Wassersturzes, und überhastet von sich in der Luft zerreißenden Rauchfetzen. Und als die Lokomotive endlich unten in der Ebene war, da hatte der Spielreifen noch solchen Schwung, daß sie immer noch ihm nachrennen mußte, was die Räder hergaben. Und stets begleitete sie hüben wie drüben Schnee, der vom Abendhimmel einen seltsamen Phosphorglanz bekam … Dorf an Dorf, Ortschaft an Ortschaft, verschneit und verschwiegen, aber leuchtend die Häuser und Scheunen in bunten Abendfarben, wie wir im Norden sie kaum im Sommer kennen, … während der Himmel mit zahllosen kleinen Wolken, zimmetroten, veilchen- und malvenfarbigen, wie mit Fetzen bunten Seidenpapiers beworfen war. Der deutsche Süden begann!

Irgendwo nicht zu fern einem Städtchen hielt an einem Bache, mitten im freien Feld, ganz klar noch zu sehen im verdämmernden Schnee, ein großes Volk von Wildgänsen. Sie hatten zur Sicherung – als hätten sie das Exerzierreglement, Abschnitt Felddienstübung, gelesen – rechts wie links oben an den Windungen des Baches ihre Wachtposten ausgestellt.

Doktor Herzfeld wurde an den Krieg erinnert und an Kurt und an die toten jungen Freunde, und seine alte Unrast, die er Stunden verbannt hatte, befiel ihn plötzlich wieder. Er vernahm wieder das Sausen der Granaten, das durch die Welt ging.

Er stand noch immer draußen im Gang. Es war langsam dunkler geworden; dann Nacht. Der Mond war noch nicht da, kam erst später. Doktor Herzfeld sah sein eigenes Spiegelbild in der großen Glasscheibe. Er herrschte über alles da draußen, das durch ihn hindurch blinkte, mit aufblitzenden Lichtern von Städten, und das in schemenhaftem Dunkel, vom Weiß des Schnees nur kaum gelichtet, vorüberzog. Er sah sich bis auf die Falten zwischen Mund und Nase, seine Mütze, seine glimmende Zigarre, den offenen Mantel, Schlips, ja, sogar genau den kleinen Silberdenar von Alexander dem Großen, den er als Nadel trug. Und es schien ihm, als ob er der Welt da draußen sein quos ego! zuriefe. Einmal brannte ganz in der Ferne ein Haus oder ein Kornschuppen, denn es flogen Funkenregen hoch in die Luft und ließen den Schnee ringsum mit ihren Farbenspielen erglühen. Und noch meilenweit verfolgte diese Feuersäule den Zug. 'Wie das Fanal der Zeit', dachte Doktor Herzfeld. Aber dann kamen ihm wieder die Gedanken an Rehchen, und schon allein das Wort erfüllte ihn mit Entzücken, und er begann sich mit ihm zu narkotisieren; und wenn sie hundertmal eigentlich Anna Köllner hieß – wenn sie hundertmal jetzt Frau Barthelmaier oder sonstwie hieß – niemand in der Welt hatte das Recht, ihm, Doktor Herzfeld, Horace Walpole, den Namen Rehchen, und das, was sich für ihn damit deckte, zu rauben.

Doktor Herzfeld ging in sein Abteil zurück. Er kannte keinen mehr. Neben seinem Platz saß ein rundköpfiger Junge von zwölf Jahren, der ganze Ahnenreihen von Pfaffen im Gesicht hatte. Und Doktor Herzfeld empfand, wenn auch vorerst noch leise und unsicher: daß er in Bayern war.

Zwei Soldaten von draußen hatten sich jetzt hier hinein gesetzt. Ein Achtundvierziger aus Cüstrin und ein Spezi von jenem Münchener Regiment, in dem Doktor Herzfeld vor Urzeiten als preußischer Spion sein Jahr abgedient hatte. Sie taten zwar sehr kameradschaftlich miteinander, aber nörgelten sich ewig, lagen sich in den Haaren und schienen alle zehn Minuten nicht übel Lust zu verspüren, in einen Faustkampf einzutreten, – begnügten sich aber zum Schluß doch immer wieder damit, ihren Wortreichtum an einander zu erschöpfen, nach dem Grundsatz »kleine Gezänke erhalten die Feindschaft!«

Zwei dicke Männer in neuen Pelzmänteln, mit tiefen, eingekerbten Speckschwarten über den Hals, die Doktor Herzfeld an seinen alten Fettbauchbuddha, seine Mingbronze, erinnerten – dicke Männer … Doktor Herzfeld hatte das seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen … in Berlin merkte man schon längst, daß Bethmann-Hollweg recht gehabt hatte, als er prophezeit hatte: Deutschland müsse sich den Schmachtriemen enger ziehen … bis hierher schien sich aber doch der Machtbereich dieser Worte nicht auszudehnen, … zwei dicke Heulieferanten politisierten wild und sinnlos und warfen dazwischen mit Geldziffern von ihren fraglichen Geschäften um sich, die früher den Verdienst einer ganzen Stadt ausgemacht hatten.

Endlich hatte die Regierung sich durchaus nicht mit Höchstpreisen und Reglementierungen geirrt, sondern einzig und allein darin, daß sie die Hemmungslosigkeit der menschlichen Psyche nicht in ihre Rechnung mit eingesetzt hatte.

Die beiden Heulieferanten eroberten zwar zielbewußt die Welt, teilten alles unter Deutschland und seine Bundesgenossen auf – Amerika inbegriffen! – erklärten aber einmal über das andere, daß ›der Preuß‹ an allem Schuld hätte. Es war ein heilloser Unsinn, den sie vorbrachten, aber schließlich – sagte sich Doktor Herzfeld, – war es (nur in anderer Art!) auch nicht viel dümmer als jegliches Politisieren, selbst das der Berufspolitiker … die stets die Monarchie mit der Regierung … die Regierung mit dem Staat … den Staat mit der Bevölkerung … die Bevölkerung mit dem Volk … das Volk mit dem Menschen verwechselten, … und sich einredeten, ihre Kunst würde es fertig bringen, eine Pyramide auf die Dauer auf der Spitze balancieren zu lassen, statt sie auf die Basis zu stellen. Und diese Basis hieß eben: der Mensch.

Der eine der beiden Heulieferanten versuchte während des ganzen Diskurses immer wieder einen Zigarrenstummel sich anzustecken, der nach Waldbrand roch und ein zerlutschtes und zerbissenes Klümpchen war, das ihm halbschräg zum Munde hinaushing und mit den Fransen seines hängenden Seehundbartes zu einer Masse zusammengegangen war. Und jedesmal wettete Doktor Herzfeld mit sich, was zuerst Feuer fangen würde: die Nase, der Schnurrbart oder der Stummel, tippte auf eins von den Dreien; aber der Mann hatte Übung, war das gewöhnt und zündete immer wieder – wenn auch mit Gesichterziehen und Maulspitzen – nur den Stummel an … und ließ ihn nach zwei Zügen wieder ausgehen.

Doktor Herzfeld hörte still den beiden Dicken zu, betrachtete sie und ihr Gebaren sich so eine Weile und begriff langsam, weshalb auch in der zweiten Wagenklasse auf weißem Schild mit großen Druckbuchstaben zu lesen ist: »Nicht auf den Boden spucken!« Die Bahnverwaltung mußte ja doch wohl ihr Publikum bester kennen, als so ein blutiger Laie, wie er das war.

Der Zug hielt irgendwo. Der Schaffner lief ihn entlang und schrie mit der Stimme einer Sirene: ›Biffbaff! – Biffbaff! – Biffbaff! Drei Minut' Aufethalt!‹

»A schieni Au'sprach!« sagte der Mann mit dem Zigarrenstummel. Und Doktor Herzfeld fühlte intensiv: jetzt bist du in Bayern!

In Treuchtlingen stiegen die beiden Heulieferanten aus.

» A la joie de ne vous revoir jamais« sagte Doktor Herzfeld erleichtert.

Er schloß die Augen und versuchte zu schlafen; … aber es ging nicht: Rehchen! Rehchen! Rehchen! Plötzlich empfand er, daß ihn irgendetwas unbequem in der Manteltasche drückte. Wirklich, da war ja sein Bändchen Goethe. Er zog es heraus.

»Nicht ganz geeignet zur Eisenbahnlektüre,« sagte er und lachte in sich hinein. »Aber da ich gerade nichts ›besseres‹ zur Hand habe … Man sollte doch etwas darin lesen, das objektiviert einen so herrlich.«

Und Doktor Herzfeld schlug mittendrin es auf, hob es an die Augen, denn der Druck war klein und die Beleuchtung nicht allzu gut.

Αναγχη

Da ist's denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille.
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will' und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran .. als .. wir .. im Anfang waren.

Doktor Herzfeld ließ das Buch, starrte hinaus: Mond, der Mond über den toten Schneeflächen! Und … bis die Lichter von München auf der winddurchsausten Ebene auftauchten, sang und dröhnte es immer wieder in Doktor Herzfeld ›das Liebste wird vom Herzen weggescholten!‹ Und dann von neuem hundertfach: ›So sind wir scheinfrei, denn nach manchen Jahren‹ … scheinfrei! hört ihr denn nicht: scheinfrei! … ›nur enger dran, als wir im Anfang waren!‹

Doktor Herzfeld hatte von je die Eigenheit, sich in eine Verszeile verbeißen zu können. Er hielt sie dann zwischen den Zähnen, wie eine Bulldogge, die einmal zugebissen bat, und die sich eher totschlagen läßt, als daß sie das Maul öffnet.

* * *


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