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Pauline

Ist es nicht, wenn ich mich recht erinnere, in Aladins Wunderlampe so, daß der junge Schustersohn sich in dem ersten Saal der unterirdischen Höhle alle Taschen voll Silber steckt, es dann fortwirft, als er das Gold im zweiten Saale sieht, und das wieder von sich schleudert, nur um die Edelsteine des dritten Saales einzusacken und um plötzlich jämmerlich im Dunkel zu stehen. Und, – wenn mich meine kleine Tochter fragen würde, wie sie es stets tut, wenn ich ihr etwas erzähle, ob das nun wahr ist, oder ob das nur eine Geschichte ist, so wüßte ich wirklich nicht, was ich ihr da entgegnen sollte.

Ich meine schon, es ist eine wahre Geschichte, und jeder hat sie erlebt, jeder erlebt sie, – denn es ist die uralte Geschichte von der Frauenliebe. Vor geheimnisvollen Zauberformeln erschließt sich dem klopfenden Herzen zum ersten Mal ihr Reich, und wir stürzen hinzu und sind vom holden Schein geblendet. Und wir werfen dann bald das Silber fort, weil wir meinen, daß uns Gold glänzt, und wir lassen das Gold zurück, weil wir wähnen, daß uns Edelsteine locken, und wir stehen zuletzt doch nur ratlos im Dunkel.

Und das ist auch die Geschichte hier. Und ob das Silber auch nur Glimmer war und das Gold wertloses Katzengold, – was macht es, für Emil Kubinke blinkte es doch wie Edelmetall. Und – wenn selbst endlich die Edelsteine Rheinkiesel gewesen wären, was hätte es geschadet! Es kommt ja gar nicht darauf an, was die Dinge sind, sondern nur, für was wir sie nehmen. Aber es waren nun mal keine Rheinkiesel, und es war kein Straß, es waren echte Diamanten von schönem, verhaltenem Feuer, klar, hell, durchscheinend, selten und kostbar, von reichem Wert; und niemand kann Emil Kubinke einen Vorwurf machen, wenn er über diese Diamanten nun bald den Glimmer und das Katzengold vergessen sollte.

Doch noch sind wir ja gar nicht bei den Edelsteinen, noch sind wir ja nicht bei Pauline. Noch ist es eben grauer Morgen, noch schleicht sich Emil Kubinke die Korkenziehertreppe herab, in die ein weißes, erstes Licht fällt, und huscht fröstelnd über den Hof. Und auch Dante und der Apoll von Bevedere zwischen ihren Thujabüschen scheinen in der Morgenkühle zu frösteln, denn sie sind ja an wärmere Zonen gewöhnt; – und nur der dickköpfige Luther steht ganz starr und unbeweglich auf seinem Sockel, als sagte er: wer in seiner Jugend bei Eis und Schnee als Kurrendeschüler von Haus zu Haus gezogen ist, dem macht selbst ein Berliner Aprilmorgen nichts mehr. Aber so leise auch Emil Kubinke über den Hof glitt, seine Schritte entgingen doch nicht dem Herrn Piesecke, der eben seinen Morgenkaffee schlürfte, und der vor Tau und Tag aus dem Bett war, weil er doch schon ganz früh der Warmwasserversorgung ihr erstes Futter geben mußte. Und Herr Piesecke steckte erstaunt seinen Kopf aus dem Fenster und sah Emil Kubinke nach. Sein Haus war ein hochherrschaftliches Haus, und solche Sachen duldete er da ein für allemal nicht!

Aber Emil Kubinke huschte drüben in die Tür, und er war froh, daß ihn niemand gesehen hatte. Und er stieg die grauen Treppen hinauf, immer rund herum bis ganz oben hin, und er wollte ganz leise in seine Kammer gehen, um ja Herrn Tesch nicht zu wecken.

Aber Herr Tesch rappelte sich doch und riß die Augen auf.

»Sie sind ja verliebt wie 'n Stint, Herr Kollege«, juchazte er verschlafen, »aber ich meine immer, was der Mensch braucht«, – und dabei dachte Herr Tesch an ›Innig 185‹ und an die nicht unbemittelte Waise mit Kind, – »was der Mensch braucht, meine ich immer, muß er haben.«

Damit aber warf sich Herr Tesch wieder auf die andere Seite und schnarchte weiter. Denn engherzig wie Herr Piesecke war er nun einmal nicht.

Emil Kubinke aber zog nur die Stiefel aus und die Jacke und legte sich noch ein wenig aufs Bett. Jetzt lohnte es sich nicht mehr zu schlafen. Und er sah durch das schräge, verstaubte Dachfenster den grünen Morgenhimmel, der von breiten, roten Streifen durchquert war, und so ganz dämmerhaft tauchte in ihm von der Schule her die Erinnerung an die ›rosenfingrige Eos‹ auf. Aber dann waren doch wieder seine Gedanken bei der langen Emma, und er sagte sich, daß ihre Eltern doch Geld haben müßten, – denn wie wäre es denn sonst möglich, daß ein einfaches Dienstmädchen so vornehme Wäsche mit echten Spitzen tragen könnte. Und damit schlief Emil Kubinke, und er hatte das Recht dazu, ein, und er schnarchte mit Herrn Tesch um die Wette, während der graue, dämmerige Raum sich mehr und mehr mit Licht und Farbe füllte und alles klar wurde: die Stühle mit den Sachen; die Waschständer in den Ecken; Heilemanns lachende Tennisjünglinge ... und sogar die Seidenröcke der Schönen Rezniceks begannen verlockend im Morgenlicht zu knistern.

Und Emil Kubinke erwachte erst, als ihn Herr Tesch an der Schulter zerrte. »Menschenskind, stehn Se doch uff, es ist allerhöchste Eisenbahn«, rief er, »der Olle wird schon kieken.«

Was blieb Emil Kubinke übrig. Er machte sich ganz schnell fertig und stolperte hinter Herrn Tesch her, die Korkenziehertreppe hinab. Und als er gerade den ersten Bissen in den Mund steckte, ging schon die Ladenglocke und der Werktag nahm seinen Anfang.

Aber Herr Ziedorn mit seinem markanten Männerkopf strich immer um ihn herum und sah Emil Kubinke von der Seite an wie der Hahn einen Regenwurm, und als Emil Kubinke hinten im Verschlag noch einmal seine Messer nachsah, denn es war Zeit, daß er zur Kundschaft ging, da stellte sich Herr Ziedorn plötzlich zu ihm.

»Herr Kubinke«, sagte Herr Ziedorn halblaut, aber bestimmt und würdevoll, »mit Ihre Leistungen bin ich sehr zufrieden, das kann ich nicht anders leugnen. Und, was Sie nach Feierabend oder an 'n Sonntag tun und machen, – das betrifft mich nicht. Sie sind als solcher ebent ein junger Mann, und ich kann nichts dagegen bemerken, wenn Sie sich mal amisieren wollen, – das haben wir ja alle seinerzeit auch nicht anders gemacht. Aber – ins Haus diese Sachen, das schickt sich nicht, Herr Kubinke. Dadurch bringen Sie mir nur bei meine Kunden ins Gerede. Denken Sie, mir wäre es angenehm, wenn sich Herr Löwenberg beschwerte, oder wenn ich vielleicht durch Sie die Kundschaft von Frau Heymann verlieren würde?«

»Herr Ziedorn«, stotterte Emil Kubinke, »das muß ein Irrtum sein.«

»Und selbst dann, Herr Kubinke«, meinte Herr Ziedorn und trat mit einer leichten Verbeugung von dem Verschlage in den Laden zurück, »selbst auch dann., Herr Kubinke, möchte ich mir gestatten, Sie darauf aufmerksam gemacht zu haben.«

»Da hat's wohl eben einen reingewürjt jejeben, wegen gestern?« flüsterte Herr Tesch mit jenem Gemisch von Mitgefühl und Schadenfreude in der Stimme, mit dem wir stets fremdes Erleben betrachten.

»Ach nee«, meinte Emil Kubinke und bemühte sich, unbefangen zu erscheinen, »es war bloß was wegen der Kundschaft.«

Und dann trat Emil Kubinke seinen Morgenweg an, zuerst wollte er aber sehen, ob er nicht noch die lange Emma hinten an der Tür erwischte, und wollte ihr sagen, daß sie sich doch lieber Donnerstag draußen irgendwo treffen möchten. Und so ging Emil Kubinke über den Hof, und Herr Piesecke in Hemdärmeln, der gerade im Garten arbeitete – er strich die Kellerluken mit grüner Ölfarbe und das Treppengeländer für den Durchgang zum zweiten Hof, und er zog mit wichtiger Miene lange Streifen mit einem breiten Pinsel – Herr Piesecke sah Emil Kubinke mit einem schweren und verachtenden Blick ob seiner Lasterhaftigkeit nach; solche Elemente würde er aus seinem Haus schon herausbringen.

Und Emil Kubinke ging höchst mißtrauisch um Herrn Piesecke herum, denn er hatte schon lange das Gefühl, als ob von dieser Seite nichts Gutes käme. Aber endlich lassen wir uns ja gern kleine Unzuträglichkeiten gefallen, wenn sie nur auf anderer Seite durch die Annehmlichkeiten des Daseins aufgewogen werden. Und dessen glaubte nun Emil Kubinke völlig sicher zu sein. So stiefelte er also ganz vergnüglich zu Herrn Löwenberg hinauf, und er hoffte noch vorher für eine kurze Minute bei der langen Emma Station machen zu können – natürlich nur, um sie zu warnen und mit ihr zu beraten, wie sie das schöne Geheimnis ihrer Liebe noch besser verbergen könnten. Aber unser Emil Kubinke war kaum auf dem ersten Treppenplatz, als ein unerhörter Lärm sein Ohr traf, ein Gekeife und Geschrei, ein Schimpfen und ein Kreischen. Und ganz erschrocken blieb Emil Kubinke stehen und hielt den Atem an. Was war denn das, war das nicht seine Emma, die so schrie? Und wer war bloß die andere? Und schon war Emil Kubinke oben und horchte zitternd, was sich begab.

»Na, denn sehen Se doch meine Sachen nach, wenn Se meinen, daß Ihnen was fehlt! Bitte, denn tun Se's doch! Denn jehn Se doch zur Polizei!« schrie Emma, »aber ick wer erst jehn und wer sagen, wie das hier bei Ihnen zujeht! Sie meinen wohl, Sie haben ein jewöhnliches Mädchen hier vor sich? Sie meinen wohl, Sie können mich dumm machen? Sie meinen wohl, ich weiß nicht, was Sie for eine sind? Sie meinen wohl, ich bin auch so eine wie Sie, daß ich jeden Tag zehne habe?« Und bei jedem neuen ›Sie meinen wohl –‹ wurde die Stimmlage Emmas höher und höher.

»Raus!« schrie Frau Pamela Nansen-Gersdorff und schlug noch mit ihrem Sopran dabei über, als sänge sie ›Und ringt die Hände mit Schmerzensgewalt.‹

»Na, meinen Se vielleicht, ich wer bei so einer wie Sie auch nur noch eene Stunde bleiben, da danke ich ja meinem Schöpfer, daß ich hier raus bin. Aber Kost und Lohn krieg ich, Kost und Lohn krieg ich, dat wer'n wir ja uff die Polizei sehen, uff de Polizei wer'n wir das ja sehn!«

Ach, Emil Kubinke war sehr ernüchtert. Denn wenn er auch fest überzeugt war, daß Emma sich im Recht befand, und daß sie sich einer falschen Anschuldigung erwehren mußte, so konnte er doch die Art und Weise, wie sie es tat, keineswegs billigen, und ganz kleinmütig schellte er drüben bei Löwenbergs.

Die Geschichte zwischen der langen Emma und Frau Pamela Nansen-Gersdorff hatte sich aber so zugetragen.

Ein junger Mann, – nicht nur aus gutem, sondern aus allerbestem Hause – hatte seine Stimme entdeckt, und Frau Nansen-Gersdorff hatte nach sachverständiger Prüfung es für das Beste gehalten, wenn sie, trotzdem sie sonst sonntags keine Lektionen gab, dieses Mal sogleich mit seiner Ausbildung beginnen würde, ehe der Schüler Zeit finden könnte, vielleicht eine andere Lehrerin aufzusuchen. Und als Frau Nansen-Gersdorff zu diesem Behuf die Toilette wechselte, da fehlte ihr gerade irgendein Stück der Unterbekleidung, auf das sie dieses Mal glaubte besonderen Wert legen zu müssen. Und anderes in dem Schranke schien ihr auch nicht vollzählig zu sein.

Da diese Dame aber darin Erfahrung hatte, – denn ihre Dienstmädchen bestahlen sie stets, sie hatte nie andere als diebische Dienstmädchen gehabt, und wenn sie es vorher nicht waren, bei ihr wurden sie es, – da diese Dame also darin Erfahrung besaß, so sagte sie es der langen Emma auf den Kopf zu. Sie hätte es ja schon gestern nacht sagen können, aber sie wußte, daß es ihre Schüler nicht liebten, wenn ihre Lektionen durch Dienstbotengezänk unterbrochen würden. Und auch darin besaß Frau Nansen-Gersdorff einige Übung, daß sie stets ihre Sachen ohne Zwischenkunft der Polizei zurückhielt. Denn wie gesagt, sie legte – aus Gründen, die wir wirklich nicht erklären können, – jedesmal zum Schluß doch kein Gewicht darauf, daß sich diese Behörde ihrer erinnerte. Und da sie eine sehr robuste und in Ton und Sprechweise nicht gerade sehr wählerische Dame war, die auch ihren Worten mit ausladenden Handbewegungen mehr Nachdruck zu geben verstand, so hatte sie wirklich in den letzten Jahren nie der Intervention der Sicherheitsbehörde benötigt.

Wie gesagt eine feine Dame war ja Frau Pamela Nansen-Gersdorff nun durchaus nicht, aber bei der langen, blonden Emma kam sie doch noch ganz verdammt an die Unrechte. Die war ihr weit überlegen, schrie lauter als sie, fuchtelte noch mehr mit den Händen und wartete ihr mit ganz bedeutend gemeineren Insinuationen und Beschuldigungen auf, die der erstaunten Frau Gersdorff die Augen öffneten, daß sie es hier keineswegs mit einer blöden Anfängerin zu tun hätte.

Einen Augenblick kämpfte Frau Pamela Nansen-Gersdorff mit sich, ob sie nicht etwa Frieden schließen und versuchen sollte, diese Kraft fürder angemessen zu beschäftigen; dann aber sagte sie sich, daß eine so herrische Natur sich niemals mit einer zweiten Stelle begnügen würde, und sie schrie: Wenn sie gewußt hätte, was jene für eine, – sagen wir – ganz gewöhnliche Person sei, sie sie auch nicht eine Minute in ihrem ehrbaren Hause beherbergt hätte. Und sie warf ihr mit bebendem Busen, und der hatte in dem weiten Morgenrock genug Platz dazu, die großen, klirrenden Fünfmarkstücke auf den Küchentisch und schmetterte– Arie aus ›Samson und Dalila‹ – daß sie von ihrem Hausrecht Gebrauch mache.

Währenddessen aber fuhr Emil Kubinke Herrn Löwenberg, der heute gestiefelt und gespornt war, vorn im romanischen Herrenzimmer mit dem blanken Stahl um die schaumglänzenden Wangen. Und Herr Löwenberg, der es sonst nicht an leutseligen Worten fehlen ließ, war dabei heute gar einsilbig und stumm; und auch Pauline, die rotblonde Pauline, hatte vordem Emil Kubinkes Gruß kaum erwidert und hatte beharrlich nach der anderen Seite gesehen, als er vorüberging. Ja, sie schien sogar – wie Emil Kubinke zu bemerken glaubte – ganz verweinte Augen zu haben. Aber er hatte sich nicht viel Zeit genommen, sich davon zu überzeugen, sondern er war nur um Pauline herumgeschlichen wie ein Pudel, der ein böses Gewissen hat und der es deshalb gern vermeidet, daß man von ihm Notiz nimmt.

Doch als er Herrn Löwenberg noch schnell mit Brillantine über die gelichteten Haare gefahren war und am Hinterhaupt ein Arrangement getroffen hatte, das die blanke Insolvenz noch einmal verschleierte, und als er Herrn Löwenbergs Schnurrbart mit einem kühnen Scherenschnitt wieder in die rechte Bürstenform gebracht hatte, da wollte Emil Kubinke sich schnell und lautlos empfehlen, aber Herr Löwenberg hielt ihn zurück.

»Hören. Sie mal, lieber Freund«, sagte Herr Löwenberg im Tone des milden Verweises, und er fühlte sich dabei ganz als Chef, »mir sind da Dinge zu Ohren gekommen. Sie werden wissen, was ich meine; ich will nicht untersuchen, ob es auf Wahrheit beruht; ich will's auch nicht an die große Glocke hängen; ich sage sogar meiner Frau absichtlich davon nichts, – aber – ich möchte Sie doch ersuchen, in Zukunft freundlichst von diesen unangemeldeten Besuchen bei mir Abstand zu nehmen. Ich habe natürlich nichts dagegen, junger Mann, wenn Sie sich einmal des Abends mit Pauline treffen, und wenn Pauline keine Zeit hat, dürfen Sie sogar meinetwegen ruhig auf ein halbes Stündchen in die Küche kommen, aber derartiges wieder zu hören, Herr Kubinke, wünsche ich keinesfalls.«

Emil Kubinke war ganz erschrocken. »Herr Löwenberg«, rief er, »ich versichere, daß es nicht wahr ist. Ich bin niemals ohne Ihr Wissen in Ihrer Wohnung gewesen. Wer das von mir sagt, der lügt einfach. Und dann bringt er in gemeiner Weise ein anständiges Mädchen in schlechten Verdacht!«

»Nun, nun«, meinte Herr Löwenberg, und als Diplomat war er geschulter als Emil Kubinke, »ich habe ja nicht etwa behauptet, daß es wahr ist, ich habe nicht einmal gesagt, daß ich es glaube;– aber ich möchte auch dem Gerücht die Spitze abbrechen.«

Wenn Herr Löwenberg aber diese schwierige Angelegenheit so außerordentlich zart und delikat behandelte, so hatte er schon seine guten Gründe dafür, und selbst wenn Herr Max Löwenberg für Herrn Pieseckes freche Beschuldigung Beweise gehabt hätte, er hätte keinen Gebrauch von ihnen gemacht, denn die Pauline hätte ja jede Stunde eine neue Stellung bekommen; aber sie und Goldhänschen nimmer wieder eine Pauline, und vor allem noch jetzt, da Frau Betty Löwenberg heilfroh war, einen Menschen zu haben, auf den sie sich für die Reise verlassen konnte.

Und dann war auch Herr Max Löwenberg nicht unangenehm berührt von der Art, wie Emil Kubinke Pauline verteidigte und nicht bloßstellte. Dafür hatte er Verständnis. Er zeigte ja seine Geheimbücher auch keinem Fremden.

Und somit ging Herr Löwenberg, während der hochrote Emil Kubinke das Rasierbesteck zusammenpackte, an den Bücherschrank und nahm ein paar Zigarren aus einer kleinen Kiste.

»Da, junger Freund«, sagte er und klopfte Emil Kubinke gönnerhaft auf die Schulter, denn Herr Max Löwenberg war ein Schulterklopfer von Beruf, »da – – nehmen Sie die. Die kann der ärmste Mann rauchen, die bekomme ich direkt über England. Und Sie wissen ja, was ich Ihnen gesagt habe.«

Und damit strich Herr Löwenberg schon seinem Zylinder mit der Sammetbürste übers Fell und brüllte durch die Wohnung: »Betty, ich gehe jetzt!«

Und aus irgendeiner geheimen Kammer echote es: »Komm aber pünktlich zu Mittag, es kann heute nichts gewärmt werden!«

Und Emil Kubinke zog mit seinem Rasiergeschirr ab; aber draußen in der Küche stand, mit dem Gesicht zum Fenster, Pauline im hellen Kattunkleid und mit geblümter Bluse und kehrte Emil Kubinke absichtlich den Rücken zu. Und Emil Kubinke sah ganz traurig nach dem schweren Rotgold, das in breiten Tauen über dem weißen Hals sich zusammenknotete.

»Adieu, Fräulein Pauline«, sagte Emil Kubinke sehr kleinlaut und schüchtern.

Pauline wandte sich plötzlich um, und ihr Gesicht war ganz rot und ihre großen braunen Augen waren voll vorwurfsvoller Tränen.

»Ach, Sie sollten sich auch was schämen«, schluchzte sie, »einem so was Schlechtes nachzusagen. Von Sie hätte ich das am wenigsten erwartet. Jehn Se man, jehn Se man schon los!«

»Aber – Fräulein – Pauline«, stotterte Emil Kubinke, » ich habe doch nichts gesagt?!«

»So«, meinte Pauline, »Sie haben nichts gesagt! Na, wie soll denn Herr Löwenberg auf so was kommen? Ich rede ja sonst mit keinem Menschen ins Haus. Sie haben sich wohl jeärgert, weil ich nich so eene bin wie die Emma von drüben. Jerade von Ihnen hätte ich so was nich jedacht. Jehn Se man los, Sie jemeiner Mensch.«

»Aber Fräulein Pauline«, rief jetzt Emil Kubinke, »denken Sie denn wirklich, daß ich so niederträchtig bin, denken Sie denn wirklich, daß ich solche Lügen erzählen werde, – glauben Sie denn so etwas wirklich von mir?!«

Und es waren wohl weniger Emil Kubinkes Worte als der Ton seiner Stimme, der Pauline stutzig machte.

»Ja, aber«, meinte sie stockend – »ja aber ... wer soll es denn aufgebracht haben, wenn Sie es nicht jewesen sind? Dann können es doch nur die Portierleute jewesen sein. Aber ick jeh runter! ick wer den Herrn fragen! Und wenn's wahr is, verklag ich die Gesellschaft bein Jericht wejen Beleidigung. Natürlich, solange ich alles in sie reingestopft habe, solange ich ihnen alles von Tisch runtergebracht habe, da hieß es Paulinchen hinten und Paulinchen vorne, da konnten sie jarnich jenug um einen herumsein, – und jetzt, wo sie nischt mehr von mir kriegen, da tun se, als ob man jarnich da is; und dann bringen se noch sone Sachen von einem ins Haus auf, – nur weil se nich sehen können, daß man 'ne jute Stelle hat.«

»Ja«, meinte Emil Kubinke, und plötzlich war ihm der Zusammenhang deutlich, »ganz sicher und bestimmt sind das die Portierleute gewesen! Mich haben sie ja auch bei meinem Chef verklatscht.«

»Aber so was lass' ich nich auf mir sitzen«, rief jetzt Pauline schluchzend, »da muß ich doch jleich mal runter jehn.«

»Liebes Fräulein Pauline«, versetzte Emil Kubinke sehr ruhig, »wie können Sie sich denn mit solch gewöhnlichem Chor herumzanken; so was sieht man ja gar nicht an!«

Aber Pauline schluchzte weiter. »Ach nee – des kann mich doch zu sehr jiften.«

»Wissen Sie, was die von mir sagen und denken, ist mir ganz schnuppe«, versetzte Emil Kubinke, »sunt proletes, proletes«, das fiel Emil Kubinke so von der Schule her ein.

»Kennen Sie denn Französisch?« forschte die rotblonde Pauline, und ihre braunen Augen wurden noch größer und noch fragender.

»Das ist Lateinisch«, meinte Emil Kubinke und lächelte.

»Ach!« sagte Pauline ganz erstaunt, und plötzlich leitete sie auf ein anderes Thema über, das ihr nicht weniger am Herzen lag. »Lateinisch?! und da jehn Se mit so eine wie die Emma von drüben is?«

»Ich?« rief Emil Kubinke, und dieses Mal heuchelte er Erstaunen.

»Ja«, sagte Pauline, »ich habe Sie doch heute nacht zusammen kommen sehen, – wie ich da raus mußte, weil der Junge so jeschrien hat.«

»Ja«, sagte Emil Kubinke zögernd, »jaja, ich hatte die Emma zufällig vorm Haus getroffen. Da is sie mit hereingegangen, weil sie keinen Schlüssel mithatte.«

»Ach nee?!« meinte Pauline und lachte schon wieder und sah Emil Kubinke dabei mit einem langen Blick von der Seite an. »Na, es ist man jut, daß Sie wenigstens einen Schlüssel jehabt haben!«

Emil Kubinke stand jetzt sehr verlegen Pauline gegenüber.

»Sind Sie böse auf mich, Fräulein?« stammelte er, »sehen Sie, und wenn ich auch mal mit nem anderen Mädchen hier im Haus rede, das tue ich ja nur, weil Sie immer so stolz sind und nichts von mir wissen wollen.«

Man konnte nun der rotblonden Pauline alles nachsagen, aber stolz war sie nun ein für allemal nicht.

»Nee«, versetzte Pauline ganz langsam, »nee, Herr Kubinke.« Und nun senkte sie die Blicke. »Sie haben mich ja noch niemals gefragt, ob ich mit Ihnen ausgehen will. Ich kann das doch nicht zu Ihnen sagen?«

»Wollen wir denn nächsten Sonntag zusammen nach dem Grunewald fahren«, rief Emil Kubinke und versuchte Paulines Hand zu fassen, die außen so glatt, weiß und zart war, wie sie innen hart, rissig und rauh von Arbeit war. »Wollen wir, Fräulein Pauline?«

»Nee«, sagte Pauline, und schüttelte die rotblonde Mähne, »nee – nee –, ach Jott, ich kann ja so selten. Den Sonntag sind de Herrschaften einjeladen, und den nächsten auch wieder; aber wenn Sie mal des Abends Zeit haben, können Sie ja auf ein Stündchen in de Küche kommen. Der Herr Löwenberg hat mir vorhin selbst gesagt, daß er nichts dagegen hat.«

»Ach ja«, rief Emil Kubinke, »wenn ich das darf, Pauline«, jetzt ließ er das ›Fräulein‹ schon fort – »wenn das geht, dann komme ich natürlich, so oft ich kann«, und damit strich er Pauline ganz scheu über die rotblonden Haare, denn die liebte er doch am meisten an ihr.

Aber da setzte vorn in ihrem zackigen Gehäuse schnarrend und rasselnd wie eine Turmuhr die Standuhr zu neun gewichtigen Schlägen an, und Emil Kubinke wurde sich voll Schrecken bewußt, wie lange er sich schon verplaudert hatte.

»Also heute abend, Pauline« rief er.

»Denn komm'n Sie aber auch«, gab Pauline mit ihrem verlockendsten Lächeln zurück und wischte sich mit der Hand noch ein letztes Mal über die Augen, und dann begann sie trällernd für Goldhänschen die Milchflaschen auszuspülen.

Draußen aber auf der Treppe scholl Emil Kubinke immer noch das Gekeife von der langen, blonden Emma und Frau Pamela Nansen-Gersdorff entgegen, die mit ihrem Alphabet noch nicht zu Ende waren, und die jetzt einander Dinge vorwarfen, aus denen selbst ein anerkannter Forscher auf dem Gebiet der Sexualwissenschaften noch mancherlei hätte profitieren können.

Und Emil Kubinke mußte sich ganz erstaunt fragen, was es denn da eigentlich gäbe, denn alles, was die lange, blonde Emma betraf, das war für ihn grade jetzt in weite Ferne gerückt und fast vergessen. Und ohne auch nur einen Augenblick zu halten, machte Emil Kubinke, daß er die Korkenziehertreppe herabkam, er floh vielleicht noch schneller, als es nach der vorgeschrittenen Zeit für ihn nötig war.

Auf dem Hof aber stand, mit dem breiten Pinsel voll grüner Ölfarbe, in Hemdsärmeln, starr und steif wie ein witternder Rehbock, der im Garten beschäftigte Herr Piesecke und lauschte nach oben, was es gäbe, und ob sich für ihn vielleicht Gelegenheit zum Einschreiten böte; und außerdem wünschte er seine Frau möglichst sachgemäß und unparteiisch informieren zu können; denn aus den Aussagen der Dienstmädchen allein, sagte Herr Piesecke, ist es stets schwer, ein genaues Bild zu gewinnen. Im geheimen aber bewunderte Herr Piesecke doch die okkulten Kräfte seiner bescheidenen, zahntuchgeschmückten Gattin, die noch am letzten Freitag für die lange Emma aus den Karten ›schwere Verleumdungen von einer falschen Freundin‹ herausgelesen hatte. Und mit all dem war Herr Piesecke so beschäftigt, daß er ganz vergaß, dem armen Emil Kubinke jenen verachtenden Blick ob seines lasterhaften Lebens zuzuwerfen, den er ihm zugedacht hatte.

Oben bei Markowskis aber schlug Manne, der Teckel, wie wild an, als Emil Kubinke schellte; denn als Männe herausgefunden hatte, daß Emil Kubinke nicht mehr zur Familie gehörte, hatte er ihm seine Gunst entzogen und behandelte ihn nur noch als Fremden, indem er ihm wieder nach seinen Hosenbeinen schnappte.

»Wo sind Sie denn gestern abend geblieben?« rief die kleine, runde Hedwig Emil Kubinke wenig freundlich entgegen – heute war sie wieder ganz sie selbst – und stemmte die bloßen Arme in die Seiten. »Ick hab mir ja die Oogen aus 'm Kopp gekieckt, und wie Se denn nich jekommen sind, na da bin ick eben alleene nach Hause jejangen.«

»Aber Fräulein Hedwig, Sie waren ja gestern mit einemmal verschwunden.«

»Na, haben Sie denn nich jesehn, wie ick Ihnen zugeblinzt habe, wie ick jejangen bin; und denn habe ick Ihnen ja ooch vorher jesagt, Sie sollten nachher auf mir warten. Mehr kann doch wirklich und wahrhaftig keen Mensch tun.«

»Aber wann denn?« rief Emil Kubinke.

»Na, wie Emma das eene Mal mit den Schieber da tanzte. Nee, wissen Se, Herr Kubinke, Sie haben ooch een Gedächtnis, kurz wie 'ne Bierstrippe!«

Also Emil Kubinke konnte sich durchaus nicht erinnern.

»Und wie lange sind Sie denn nachher noch mit Emma jeblieben?« fragte Hedwig.

»So ungefähr wohl ... bis nach elf«, sagte Emil Kubinke etwas unbestimmt.

»Jott, haben Sie nich auch jefunden, daß sich die Emma jestern jräßlich aufjedonnert hat? Sie, Herr Kubinke, ich sage Ihnen, nehmen Sie sich vor die in acht! Lassen Sie sich nich mit die in! For die sind Sie nicht gevievt genug! For die, – da muß een ganz anderer kommen, wie Sie 't sind.«

Emil Kubinke lächelte überlegen. »Ach«, sagte er, »soo?« Und in diesem einen ›so‹ lag für den, der Ohren hatte, eine ganze und keineswegs uninteressante Geschichte.

Und Ohren hatte die runde Hedwig. »Also Sie waren des heute nacht? Na warten Se man ab, wenn Ihnen man des nich nur noch mal übel uffstößt!«

»Menschenskind!« brüllte Herr Markowski und schob seine unverhüllte, rauhe Männerbrust durch die Tür, »Menschenskind, kommen Sie man! Ich lauere hier schon wie ein Affe. Können Sie denn nie genug kriegen?! Ich denke, Sie waren gestern den ganzen Abend mit Hedwig zusammen?«

»Aber Herr Markowski«, rief Hedwig empört, »aber bitte lassen Sie das! Da suche ich mir zum Ausjehen doch janz andere Herren!«

»Na, ist Ihnen vielleicht der junge Mann hier nicht gut genug«, fragte Herr Markowski lachend und ließ seine Pranke auf Emil Kubinkes Schulter fallen, »was meinen Se, da würde sich manch eine freuen, wenn sie einen so Netten kriegte; aber nu mal los«, und damit schob Herr Markowski Emil Kubinke vor sich her in den Korridor.

Denn seitdem gestern ›Hoppsassa‹ dreifaches Geld gegeben hatte und ›Eldorado‹ sogar sechsundeinhalbfaches, war Herr Markowski mit Herrn Ziedorn ausgesöhnt und behandelte alles, was von dort kam, mit kameradschaftlicher Achtung.

Aber während Herr Markowski unter Emil Kubinkes Rasiermesser seiner Vollendung entgegenging, kam die lange, blonde Emma zu Pieseckes in die Portierloge gestürzt.

»Ick jehe«, schrie sie und schlug den Vorhang der Portierloge beiseite, »heute mittag ziehe ick.«

»Ach«, sagte Frau Piesecke mit einem schiefen Kopf und wischte die nassen Hände an der Schürze, »ach – warum denn?«

Und Frau Piesecke machte dabei ein sehr erstauntes Gesicht, als ob sie noch von gar nichts wüßte.

Aber da hätte man die lange Emma hören sollen. All Ihre Vornehmheit war von ihr abgefallen wie die Blätter vom Klatschmohn ... und als sie fertig war (doch sie wurde ja gar nicht fertig), da sagte Frau Piesecke, daß sie schon bei Gelegenheit ihren Freund, den Wachtmeister, auf die Person aufmerksam machen würde, und dann krempelte sich Frau Piesecke die Ärmel hoch, nahm das Reibeisen und begann Kartoffeln zu reiben, und ehe es elf Uhr war, da stieg schon der Schmalzgeruch von Frau Pieseckes Kartoffelpuffern, die sie für die lange Emma zum Abschied briet, in beleidigender Deutlichkeit vorn das Treppenhaus empor und rankte sich angenehm und heimatlich duftend von Küchenfenster zu Küchenfenster.

Emil Kubinke jedoch sah und hörte und roch von alledem nichts, er lief straßauf, straßab, treppauf, treppab bis zu dem Komponisten, der im lichtblauen Schlafrock vor dem Flügel saß und ob der Störung nur abwehrend und unwillig die Locken schüttelte. Als aber des Nachmittags eine Droschke vor dem Geschäft anfuhr und ihr Herr Piesecke entstieg, und als er zusammen mit dem Kutscher einen schweren Schließkorb kunstreich auf dem Bock über Eck verstaute, da blickte Emil Kubinke doch sehr erstaunt von seiner Arbeit auf durch die Glastür, was es gäbe.

Aber da Herr Tesch heute seinen freien Tag hatte und Herr Ziedorn wieder einmal an einer wichtigen Kommissionssitzung der Fachausstellung teilnehmen mußte, so konnte Emil Kubinke nicht einmal vor die Tür treten, denn drei Kunden rissen sich gegenseitig die zerfledderten Witzblätter aus den Händen und traten von einem Fuß auf den anderen, während der vierte unter der schnatternden Maschine eine leichte Sommerfrisur erhielt.

Ja, ja, das Geschäft hier war eine Goldgrube, nicht einmal vor die Tür konnte Emil Kubinke treten und die lange, blonde Emma fragen, wo sie denn hinzöge. Da kam sie nun selbst mit ihrem Faltenrock, mit ihrem Glockenhut mit den Moosrosen und mit ihrer hellen Bluse, stupste mit dem Sonnenschirm aufs Pflaster, lachend und gleichgültig, als wäre nichts geschehen, weder gestern noch heute, und sie winkte noch einmal aus dem Wagen, die lange Emma, mit der behandschuhten Rechten, aber keineswegs etwa nach Emil Kubinke und seinem Laden hin, den schien sie ganz und gar vergessen zu haben, sondern nur nach dem braven Ehepaar Piesecke winkte sie, ehe sich das Pferdchen in Trab setzte und Emma zu ihrer Freundin, zu der sie jetzt ziehen wollte, nach der inneren Stadt brachte ... nach der inneren Stadt ... mit dem Lärmen und Branden der hin- und hergeworfenen Menschenmengen, mit dem ewigen Ineinandergreifen von Angebot und Nachfrage, dorthin, allwo jedwedes seine Stelle findet und jedwedes seinen genau bemessenen Preis erzielt, Haarwasser so gut wie Schreibmaschinen, falsche Steine so gut wie Gesundheitstee – und wieviel mehr erst eine gute Figur, ein hübsches Gesicht und die Unverwüstlichkeit der Jugend. Jetzt hatte Emma ihre erste Häutung vollendet.

Doch als Emil Kubinke ganz schnell, während er schon einen neuen Kunden zum Platznehmen einlud, noch wie absichtslos an die Tür trat, da war der Wagen schon entschwunden, und Emil Kubinke wußte nicht einmal mehr, ob es diese stuckernde Droschke da vorn zwischen den vier Baumreihen neben der Straßenbahn war, oder die andere dort drüben. Denn, wenn auch mit dem heutigen Morgen die Waage in Emil Kubinkes Herzen ganz bestimmt für die schöne rotblonde Pauline den Ausschlag gegeben hatte, so war sie doch noch nicht von leichten Rückschwankungen frei; und nur zu gern hätte Emil Kubinke noch einmal wieder die so jäh zerrissenen Rosenketten, die ihn mit der langen Emma verknüpft hatten, von neuem wieder zusammengeflochten.

In der nächsten Zeit aber erzählte Frau Betty Löwenberg all ihren Bekannten, daß ihre Pauline jetzt einen richtigen Bräutigam hätte, einen Friseur, einen entzückenden Menschen – denn Frau Betty Löwenberg gehörte zu der Sorte, die überall entzückende Menschen wittert, und deren Leben deshalb aus einer ununterbrochenen Kette von Enttäuschungen besteht. Ja, und sie hätte sogar gestattet, daß der Bräutigam des Abends in die Küche käme, und ihr wäre das viel angenehmer, als wenn sie sich außer dem Hause träfen. Und sie sähe es auch viel lieber, wenn solch Mädchen einen richtigen Bräutigam hätte, als wenn sie sich jeden Abend mit zehnen rumtriebe. (So sagte sie.) Hoffentlich würde ihre Pauline nicht so bald heiraten, aber so wäre das ja immer: hat man mal ein gutes Mädchen, kann man versichert sein, daß es zu Michaeli heiratet. Und die Mädchen sind ja schön dumm, wenn sie das tun, denn so, wie sie es bei ihr hätten, bekämen sie es nie wieder.

Für Emil Kubinke aber begann nun eine seltsame Zeit. Wenn er die letzten Jahre seines Lebens übersah, so lag das hinter ihm wie eine lange Flucht dumpfiger, enger Stuben, durch die er gehetzt worden war, ohne je Gedanken von Ruhe und Heimat zu haben. Tage bis zur Neige voll von Arbeit waren es, mit kargem Verdienst und geringen Ersparnissen; und Abende so öde und freudlos, frostig und einsam. Immer wieder diese kleinen Stuben, die Waschtische mit der abgesprungenen Politur, die rissigen Kienschränke, die eisernen Betten, die wackligen Stühle und der Tisch mit der gewürfelten Wachstuchdecke, auf dem die Lampe stand; und dazu die Einsamkeit und die müden Glieder; oder das Gespräch mit den Kollegen, das schlimmer war als das Alleinsein. Mal für Wochen ein Kursus in der Fachschule oder ein Versuch, aus irgendeiner alten Grammatik selbst Englisch zu lernen. Und ein Tag wie der andere. Und kaum, daß der Sonntag oder der freie Tag vorüber war – wieder die lange Reihe von Arbeitstagen.

Und nun gab es Abende, da Emil Kubinke bei Pauline in der Küche saß, ihr gegenüber an der anderen Seite des Küchentisches unter den hellen Porzellangeschirren. Und alles ringsum war so blitzblank und sauber wie Paulines Tändelschürze. Denn Löwenbergs waren ja noch nicht einmal fünf Jahre verheiratet, und sie hatten selbst bei der Kücheneinrichtung nicht gespart, da es Frau Betty ja nicht schlechter haben sollte als all ihre Freundinnen. Und außerdem war Frau Rosa Heymann noch eine aus der alten Schule, bei der erst die Küche und dann der Salon kam, und der Hauch von Wohlhabenheit, der Löwenbergs Wohnung durchwehte, hatte also nicht vor dem Hinterkorridor halt gemacht.

Aber es kam wohl auch vor, daß Frau Betty Löwenberg für einen Augenblick den Kopf in die Tür steckte und nickte, wenn Emil Kubinke aufsprang, und daß Herr Löwenberg ihm auf die Schulter klopfte und ihm ein paar Zigaretten gab. Aber dann saß Emil Kubinke wieder der rotblonden Pauline gegenüber, und die Unterhaltung floß langsam und stockend dahin. Bis Goldhänschen, dem nichts Menschliches fremd war, trompetete und Pauline zu ihm in das Zimmer lief. Aber noch ehe Herr Piesecke das Gas löschte, da war Emil Kubinke schon wieder drüben bei sich in der Bodenkammer, und er lag lange mit offenen Augen im Bett, starrte durch das Dachfenster in den grauen, dumpfen Himmel oder in die blanken Sterne, und er dachte daran, was er alles der rotblonden Pauline für schöne Dinge sagen wollte, und wie sehr er sie küssen, nur immer küssen wollte. Am nächsten Abend jedoch saß er dann wieder am Küchentisch und vermied angstvoll, irgend etwas von den schönen Dingen verlautbaren zu lassen. Die Sache mit dem Küssen aber behielt er nun schon ganz und gar für sich. Denn Pauline, glaubte Emil Kubinke, munterte ihn auch gar nicht ein wenig auf. Sie sprach immer von so gleichgültigen, einfachen Dingen.

Es war den beiden gegangen, wie es so zwei Jungen auf der Straße geht; der ist hüben und der ist drüben; und da denkt der eine, daß ihm der andere einen Blick zugeworfen hat, und er ruft ein Schimpfwort. Und der andere gibt es zurück. Und sie werden beide immer mutiger und immer lauter, bis dann der eine ruft: ›Na wenn de wat willst, komm doch rieba‹, und der andere zurückgibt: ›Komm du doch rieba.‹ Und die Zuschauer hetzen: ›Das würd ich mir nicht gefallen lassen.‹ Und dann setzen sich beide etwas zaghaft in Bewegung, und auf der Mitte des Dammes treffen sie sich und sehen sich zum ersten Male an. ›Na wat willste denn nu?‹ sagt der eine sehr bescheiden. ›Ick? Jarnischt, – du wolltest ja was.‹ Nachdem sie aber so eine Weile ihre Meinung darüber ausgetauscht haben, daß der ›andere‹ mit Schimpfen angefangen habe, läuft der Streit aus wie das Hornberger Schießen. Jaj jetzt war Pauline, die zuerst gerufen hatte: ›Wenn du was von mir willst, komm nur‹, sehr schüchtern. Und Emil Kubinke, der sich kaum weniger begierig gezeigt hatte, die Feindseligkeit zu beginnen, war nicht um ein Deut mutiger. Und so saßen sie Abend für Abend, er hüben und sie drüben, am Küchentisch, wie die beiden Königskinder, die nicht zusammenkommen konnten ... Und Emil Kubinke begann sogar, Pauline geistig zu heben, und las ihr mit bewunderswerter Ausdauer aus dem Uhland den Herzog von Schwaben vor. Pauline jedoch saß ganz still dabei und sah Emil Kubinke sehr erstaunt an, und wenn sie auch die Sache nicht so recht begriff und die ›schwarze Diamantengräfin‹ weit spannender und lesenswerter fand, so war sie doch der festen Meinung, daß es keinen klügeren Menschen gäbe als ihren Bräutigam. Denn wenn auch Pauline Emil Kubinke sehr kühl behandelte und scheu und spröde ihm gegenüber war, so hatte sie doch in ihrer Phantasie schon ganz von ihm Besitz ergriffen und behandelte ihn da desto vertraulicher.

Im Haus aber glaubte niemand, daß Emil Kubinke und die rotblonde Pauline nur den Herzog Ernst von Schwaben lasen, und vor allem Herr und Frau Piesecke waren sittlich entrüstet, daß sie so etwas bei sich dulden mußten. Herr Ziedorn hingegen sah die Sache jetzt sehr ruhig mit an. Solange sein Kunde nichts dawider hatte, gab es für ihn ja auch keinen Grund, Lärm zu schlagen. Herr Tesch aber würdigte Emil Kubinke von jetzt an als gleichberechtigt seiner Freundschaft und machte ihn zum Vertrauten seiner Liebessorgen, die keineswegs durch ›Innig 185' und die nicht unbemittelte Waise mit Kind erschöpft waren, sondern sich noch aus einer langen Reihe unerledigter Beziehungen rekrutierten. Ja, wenn das alles so einfach gewesen wäre, da hätte Herr Tesch sich morgen aufbieten lassen, und Herr Tesch war nur baß gekränkt, daß ihm Emil Kubinke dafür gar keine Intima seines Liebeslebens zu berichten wußte. Am meisten ungehalten ob Emil Kubinkes Lebenswandel war jedoch die kleine, runde Hedwig. Das mit Emma verzieh sie ihm, denn Emma war doch immer ihre Freundin gewesen, – aber jetzt das mit Löwenbergs Pauline, die keineswegs ihre Freundin war, sondern die sie aus dem sichern Gefühl der seelischen Unvornehmheit sogar innig haßte, das war mehr als Untreue – das war geradezu ein Übergehen in das feindliche Lager. Und Abend für Abend lag so ganz heimlich Hedwig in ihrem Fenster und sah drüben in die Küche hinein, ob sie vielleicht irgend etwas sähe und bemerke, das sie zu Pieseckes Portierstube in reicher Ausschmückung hinabtragen könnte. Und erst nachdem Emil Kubinke sich empfohlen hatte, führte Hedwig jetzt Männe an die Luft. Und das traf sich ganz gut so, denn Herr Schultze konnte auch nicht eher. – Aber des Morgens, wenn Emil Kubinke zu Herrn Markowski kam, dann zeigte ihm Hedwig ganz offen ihre Verachtung und rumorte und warf mit den Sachen umher, ohne Emil Kubinke eines Blickes oder einer Ansprache zu würdigen. Und während sie vordem noch hin und wieder einmal Herrn Markowskis Rasierbecken gereinigt hatte, überließ sie das jetzt ganz Emil Kubinke. Und Männe, der Dackel, ging sogar von der hämischen Gleichgültigkeit der letzten Zeit zu offenkundigen Feindseligkeiten über.

Wer weiß aber, wie lange noch Emil Kubinke und Pauline sich so in der Küche gegenübergesessen hätten, und wer weiß, wieviel Abende noch Emil Kubinke der schönen rotblonden Pauline nur Uhlands Ernst von Schwaben vorgelesen hätte – denn das Stück hat fünf Akte –, wenn nicht Herr Herzfeld gestorben wäre, der Onkel, der richtige Onkel von Frau Betty Löwenberg, der älteste Bruder von Frau Rosalie Heymann. Und so sah sich Frau Betty Löwenberg genötigt, für diese und die nächste Woche keine Einladungen anzunehmen, und wenn das Frau Betty Löwenberg auch nicht gern tat – (denn was hat man denn vom Leben?!) – so tröstete sie sich doch damit, daß dieser Familiensinn und die schwarze Jettbrosche sie sehr gut kleideten. Und so kam es, daß Frau Löwenberg selbst fragte:

»Pauline, wollen Sie Sonntag vielleicht mit Ihrem Bräutigam ausgehen?«

Pauline aber schlug die Augen nieder und sagte: »Ja, Frau Löwenberg.«

Doch wenn, wie wir ja sahen, der Frühling es für Emil Kubinke und die runde Hedwig und später für die lange Emma schon recht nett und hübsch hergerichtet hatte, so machte er doch jetzt für die rotblonde Pauline und ihren Bräutigam sich weit mehr Umstände. Jetzt wollte er wirklich sein Bestes geben, mal zeigen, was er konnte, jetzt hatte er ganz heimlich für Emil Kubinke und Pauline eine richtige Feststraße geschaffen, und zwar mit weit mehr Geschmack und weit geringeren Auslagen, als das sonst in Berlin üblich ist.

Schon vom Hause an hatte er begonnen. Er hatte sich mit Herrn Piesecke geeinigt und auf dem Hof zwischen den Thujabüschen, zwischen Dante, Luther und dem Apoll von Belvedere das Gras wachsen lassen, und es wäre vielleicht ganz schön dicht und grün geworden, sofern ihm nicht Herr Piesecke immer wieder mit einer Sichel die Spitzen abgesäbelt hätte. Und wenn Herr Piesecke mit seinem dicken, roten Hals auch, auf der Erde kniend, mit dem Türkenschwert mehr in den Boden hieb und in die Äste der Lebensbäume schlug als in das Gras selbst, so zerdrückte und zertrampelte er doch den Rasen gar gründlich, auch an jenen Stellen, an denen ihn sein Schwerthieb nicht in seiner jungen Entwicklung hemmte.

Aber draußen auf der Straße hörte das Reich des Herrn Piesecke auf, da hatte der Frühling schon mehr freie Hand. Und wenn er dem kleinsten Baum in seinem Eisengitter an der Bordschwelle für Emma seinerzeit nur ein Dutzend Blättchen gegeben hatte, – jetzt hatte er ihn mit zum mindesten zwei Dutzend grüner Blätter besteckt. Und wenn vordem an den vier langen Baumreihen das zierliche Grün sich angliederte wie Filigran und Korallen, und im Schatten auf den Granitplatten bei Sonnenschein oder bei den Strahlen der Bogenlampen sich nur in dünnen, scheckigen Mustern abzeichnete, – jetzt überzog der Frühling die ganzen Äste mit richtigen, lichtgrünen Segeln und Tüchern, daß sie auf dem Bürgersteig und an den Häusern wirklichen Schatten gaben. In den Vorgärten aber sah er sich um, der Frühling, und wo er da einen Flieder- oder Goldregenbusch fand – und wenn er auch noch so klein war –, da hatte er auch schon ein paar blaue Trauben oder gelbe Fähnchen ihm angeheftet, nicht etwa übermäßig viele, daß er aus den Büschen blaue und goldene Fontänen machte, aber doch auch nicht so wenig, daß man die Büsche übersehen, und ganz vergessen konnte, daß jetzt die Zeit war, da der Flieder blüht. Und weil es doch in den paar Vorgärten nicht viel zu tun gab, so kümmerte sich der Frühling auch auf den Balkons ein wenig um die Sache, sah zu, daß der wilde Wein sich etwas mehr ausbreitete, die bunten Bohnen fleißig an den Fäden hochkletterten und daß die Hausfrauen sagen konnten, daß ihre Pelargonien vom vorigen Jahr auch noch in diesem Jahr sehr dankbar wären. Und sie schrieben sich hieran das Verdienst selbst zu, die Hausfrauen, während es doch nur dem Frühling daran lag, die Feststraße für Emil Kubinke und die rotblonde Pauline herzurichten.

Und der Frühling machte es nicht etwa –wie man das sonst tut – daß er nur ein kurzes Stück Wegs übertünchte und schmückte und schon an der nächsten Ecke die leere Ärmlichkeit begann; nein, so weit der Weg gehen mochte und konnte, traf er seine Vorbereitungen. Draußen in den Laubenkolonien ließ er den Hopfen ranken und die Radieschen und die Kressen sprießen, und die Lobelien und Gottesaugen aufblühen; und den Weiden gab er ganz silbergraue Blätter und den einsamen Pappeln solche, die blitzten, wenn der Wind über sie strich. Und damit alles besser aussähe, breitete der Frühling seine große Himmelsglocke darüber, ließ sie dort auf den Häuserreihen ruhen und drüben auf der dunklen Linie des Grunewalds, ließ über die blauen Weiten weiße Wölkchen segeln, die noch weißer waren als der Taubenschwarm, der sich oben im Licht drehte. Die geteerte Dachpappe auf den Lauben ließ der Frühling glänzen wie Silber, und den Abessinierbrunnen ließ er quietschen, als ob ein Vogel zwitscherte. Und auf all den Sandplätzen, auf denen doch so lange das starre, morsche Kraut gestanden hatte, braun und brüchig, räumte er jetzt auf und ließ frisches Grün und frisches Kraut emporschießen in bunten Flecken, daß man auch da Herbst und Winter vergessen mußte, wenn man sie nicht über die langen Lindenwege, die hellen Menschenkinder und die blitzenden Speichen der Fahrräder schon ganz vergessen hätte. Und warum sollten etwa Emil Kubinke und Pauline an Herbst und Winter denken?!

Dieses Mal hatte Emil Kubinke nicht verschlafen wie bei Hedwig und Emma, und um Schlag drei hätte er schon in Paulines Küche gesessen, den neuen Strohhut auf den Knien, und hatte sich immer noch einmal die Krawatte zurechtgezupft, während er Pauline in ihrer Kammer plantschen hörte. Ach, jetzt durfte er nicht mehr da hinein wie ehedem, da er noch Pauline als Ritterin für den Hohenzollerngarten zu frisieren hatte. Das war nun mit einemmal alles anders geworden. Aber schon auf dem Hof hatte ihn dafür Pauline doch gleich untergefaßt, nur weil die runde Hedwig von drüben im Fenster lag und Herr und Frau Piesecke von ihrer Portierloge aus den Hof überwachten. Sie sollten sich nur recht ärgern, – das freute sie. Und dann waren Emil Kubinke und Pauline hinausgezogen nach dem Grunewald. Aber Paulines Paket mit dem abgeriebenen Napfkuchen und den Gußzwiebäcken, das durfte Emil Kubinke nicht tragen,– das schickte sich nicht.

Immer weiter und weiter schritten die beiden die Feststraße ab, die für sie der Frühling geschaffen hatte. Es sanken die Straßen zurück und die Häuser, die Laubenkolonien, die Sandflächen, die Lindenwege und die paar letzten grünen Sammetfelder, und der dunkle Wald kam mit seinen Villen und der tausendfachen Buntheit seiner Gärten. Aus aller Welt hatte der Frühling hier für Emil Kubinke und Pauline die Requisiten für seine Feststraße geliehen: die Ziersträucher des Ostens und die Koniferen der Neuen Welt, die Alpenrose des Himalaya und die Lilien Kleinasiens, die hängenden Wedel der Trauerweide und die grünen Kegel der Lebensbäume; all das hatte er zwischen die reglosen, starren Kiefernkronen auf den zerrissenen Stahl- und Kupferstämmen eingeflochten. Und die roten, glühenden Zweige der Judaskirschen, sie glichen blutbefleckten Geißeln, und die jungen Tannensprößlinge, sie waren lichter als das Grün von Schneeball, Ahorn und Kastanie. Und zu silbernen Triumphbogen schlossen die Obstbäume ihre Zweige, und wilder Wein in seltsamer Art, mit gezackten Blättchen, kletterte an glatten Föhrenstämmen hoch; und da, wo etwa die Blüten nicht ausreichten, da schuf das Blattzeug noch gescheckte Kegel und blumenfarbige Wände mit Blutbuchen und gelbem Ahorn. Und dann folgten immer wieder diese zehntausend Sträucher an den Zäunen, um die Rasenflächen, um die großen Schnörkel der Vergißmeinnichtbeete, mit den Reihen und Feuerwerkmustern gelber, weißer und roter Köpfchen, mit kleinen hängenden Sonnenballen, mit weißen Zuckerperlen, sie, die der Frühling sich von überall her, aus Japan und Persien und dem Kaukasus eigens ausgeliehen hatte zu der Feststraße für Emil Kubinke und Löwenbergs rotblonde Pauline...

Ja, an besonders günstigen Stellen hatte der Frühling sogar Koniferenwände angebracht, vor denen er weiße Magnolien im Winde verblättern ließ. Oder er hatte über ein Gartentor ganze Taue von Glyzinien gezogen, von denen blaue Blütentrauben so gleichmäßig wie fallendes Wasser herabtropften. So schön hatte er es gemacht und so vornehm. Und damit die Besitzer hier nicht etwa störten, waren sie alle nach dem Süden geschickt worden; allenthalben hatte er die Jalousien geschlossen, der Frühling, und nur der Wolfsspitz durfte im Garten sich die Sonne in den Pelz scheinen lassen, und selbst der Gärtner durfte seine Anwesenheit nur durch das Knattern der Gartenspritze verraten. Natürlich, ein bißchen Trubel und gelbe und weiße und rote Automobile und ein bißchen Staub – das gehörte schon zur Feststraße; und geputzte Menschen gehörten dazu, Frauen in rosa und himmelblauen Kleidern und kleine Mädchen mit Seidenschärpen.

Dann aber hatte der Frühling auch den alten Birkenweg aufgeputzt, der in den Wald hineinführte, dessen grüne Fahnen schwebten und flatterten und dessen schlanke Stämme doppelt weiß gegen den dunklen Grund der Kiefern und des dichten Stangenholzes standen. Und sogar mit dem Wald selbst hatte er auch sein Bestes getan. Nun ja, das Papier vom vergangenen Jahr hatte er noch nicht weggeräumt, aber an manchen Stellen, hatte der Frühling doch grüne Gräschen sprießen lassen, die die alten Zeitungsbogen wie zum Sieb durchlöcherten; und überall, an jedem dritten Baum, hatte er fürsorglich jetzt eigens einen Papierkorb aufgestellt, und um alle Stämme hatte er weiße Ringe gezogen, und das sah auch ganz nett aus. Und wenn auch der Rasen fehlte, und wenn auch die Blumen fehlten – überall, so weit das Auge gerade sah, hatte der Frühling in bunten Gruppen die Menschen verteilt, die am Boden lagerten, – da bündelweise wie Monatsrettiche, da gruppenweise, seltener einzeln, doch zumeist paarweise. Und er hatte als Kolorist immer dafür gesorgt, daß hell gegen dunkel stand, und nicht genug damit hatte er noch hie und da rote, weiße und gelbe Sonnenschirme über den Boden verteilt; aber wenn man näher hinsah, so waren diese Sonnenschirme keineswegs ohne Besitzer, ja sie gehörten sogar meistens zweien, die recht eng zusammengerutscht waren, damit auch jeder sein Teil von dem Schatten kriegte. Und die Finken und Nachtigallen ersetzte der Gesangverein ›Deutsche Eiche‹, der auf ›Eins, zwei, drei‹ das ›Heidegrab‹ intonierte oder richtiger detonierte. Und dann die Halleluja-Mädchen, die hundert Schritt davon auf der Erde hockten und zu einer Schlagzither nach der Melodie des Cakewalks ›Komm, o mein Jesulein‹ sangen. Sie alle waren vom Frühling beordert, für Emil Kubinke und Pauline an der Feststraße Spalier zu bilden. Ganze Gesellschaften waren aufgeboten, die kreischend ›Fanchon‹ und ›Drittenabschlagen‹ und andere neckische Spiele zu spielen hatten, und ganze Familien waren zugelassen, die sich auf dem braunen Nadelboden und dem Zeitungspapier durcheinanderzuwälzen hatten wie die Bären im Zoologischen Garten, mit Kindern von zwei bis zu zehn an Zahl und von einem Jahr bis zu zwölf an Jahren. Und andere Familien hatten malerische Gruppen zu bilden, und vorn zog der Vater oder schob in Hemdsärmeln den Sportwagen, auf dem zwei Kinder sich mit den Beinen stießen, während das dritte mit einem Stock hinter Vater herlief, tüchtig zuhieb und ›hüh, hüh, mein Pferdchen!‹ jubelte. Und der Vater war ein kleiner, bescheidener, einfacher Mensch mit leicht gekrümmten O-Beinen. Die Mutter aber, eine umfängliche Dame, folgte mit Vaters Jacke, und sie ließ die gerührten Blicke auf dem Bilde ihres sonnigen Familienglücks ruhen...

Und wie Emil Kubinke und Pauline an dieser Gruppe vorüberschritten, da nickte Pauline, und unser Emil Kubinke bekam einen Schrecken, daß ihm die Knie zitterten. Den ... den – den Mann kannte er doch! – Woher denn nur? – –

»Wer war denn das, Pauline, den Sie da eben grüßten?« fragte Emil Kubinke ganz ängstlich.

»Aber kennen Sie den denn nicht, Herr Kubinke?« rief Pauline.

»Ja, ich glaube schon, ich muß ihn mal irgendwo gesehen haben«, stotterte Emil Kubinke.

»Aber das ist doch unser Briefträger, Herr Schultze!«

»Was – der ist verheiratet?« fragte Emil Kubinke ungläubig.

»Gewiß«, sagte Pauline und wurde rot, »es kommt sogar wieder was Kleines bei ihnen.«

Emil Kubinke schüttelte den Kopf. »Das finde ich aber merkwürdig«, sagte er.

Pauline jedoch verstand das falsch.

»Ach Gott«, sagte sie und lächelte verschämt unter ihrem blauen Hut mit den Kornblumen und drückte Emil Kubinkes Arm, »wenn man verheiratet ist, ist doch so etwas gar nicht merkwürdig.«

Und mählich sorgte der Frühling dafür, daß die Feststraße ein anderes Gesicht bekam. Nachdem eine Weile noch das Zeitungspapier mit den Erdbeerblüten und den Hundsveilchen am Boden gekämpft hatte, gewannen doch die weißen Blütensterne und die hellblauen Träubchen die Überhand, und man konnte sogar den Waldboden vom Weg unterscheiden. Immer schöner und feierlicher wurde die Feststraße mit den hohen Hallen und Bogen der Kiefern, in die man so tief hineinsehen konnte und die sich fern zu einer Wand braungoldner Pfeiler zusammenschlössen. Hie und da nur wurden sie von den lichtgrünen Kaskaden einsamer alter Eichen unterbrochen, die ihre zerrissenen Stämme aus Nesselkraut emporhoben und mit ihren gewundenen Riesenästen das blaue Himmelslicht suchten. Jetzt brauchte der Frühling keine bunte Menschenstaffage mehr, um seine Feststraße zu beleben, höchstens, daß er einmal zur Unterbrechung der grünen Bahnen und der braunen Grenadiere, die rechts und links in Reih und Glied standen, solch ein paar heller Flecken von Frauenkleidern oder des Gelbs eines Strohhuts, oder des Graus eines Männerrocks benötigte. Und das hatte er nicht etwa plump und auffällig gemacht, sondern hatte es diskret so neben einen alten Föhrenstamm gesetzt oder in einer kleinen Bodensenkung halb versteckt.

Aber Emil Kubinke schielte doch im Weiterschreiten neidisch und eifrig da hinüber, und er pries heimlich die Bevorzugten – wie weiland die deutschen Fürsten den Grafen Eberhard im Barte, weil er sein Haupt friedlich jedem Untertan in den Schoß legen durfte.

Und man soll nicht etwa glauben, daß nun die Feststraße des Frühlings ihr Ende hatte – nein, jetzt fing sie erst recht an, jetzt wurde sie breit und schön, stieg und fiel, ging über Hügel und Hänge, an Lichtungen vorüber, auf denen gelb die Sonne um niedere, krause Fichtenbüsche schwelte, daß der harzige Duft weithin durch den Hochwald flutete; und an Stangenholz vorbei, das wie zu ewiger Nacht seine erstorbenen, flechtenbehangenen Zweige über einem braunen Nadelboden verschränkte, auf dem nur hie und da sich ein paar runde Pilze hervorwagten.

Ganz still war es ringsum. Nur noch ein Specht, der geschäftig gegen einen morschen Ast trommelte, verstieß gegen die Sonntagsruhe, trotzdem diese sonst im Kreise Teltow besonders scharf durchgeführt wurde. Und nur ganz wenige Menschen kreuzten jetzt die Wege Emil Kubinkes und seiner rotblonden Freundin; aber sie waren vielfach zu sehr mit sich beschäftigt, als daß sie auf andere geachtet hätten, höchstens daß Emil Kubinke einmal einen bewundernden Blick auffing, der eigentlich nicht ihm galt, oder daß er ein halblautes ›Donnerwetter, hast du die gesehen?!‹ hörte. Und das bestimmte Emil Kubinke nur, den Arm der rotblonden Pauline noch etwas zärtlicher an sich zu drücken, wie uns der Neid ja oftmals erst über den Wert eines Besitzes aufklärt. Und Pauline hätte auch gern diese Zärtlichkeit erwidert, aber da sie vorsichtig das Paket mit dem Napfkuchen balancierte, der schon allenthalben durchzufetten begann, so schob sie es für später auf, und der Nachmittag war ja noch so lang.

Dann jedoch wurde es licht am Ende der Feststraße, wie von einer unerhörten Helligkeit. Noch traten zwar die Bäume nicht auseinander, noch rückten sie immer wieder in neuen, grünen Scharen Emil Kubinke und seiner Begleiterin entgegen; und doch spürten sie es, daß dahinter, weit unten, sich besonnte Wasserflächen dehnten, – denn gleichsam aus den Tiefen stieg nun das Licht empor. Dann aber wurde plötzlich wieder alles bunt und hell von Menschen und flirrend von Staub; die Autos fauchten in weitem Bogen auf schräger Straße bergan, und die Breaks und Kremser rückten Schritt für Schritt vor, während die ratternden Omnibusse sich mit ihren wuchtigen Leibern an ihnen vorbeischoben. In unbegrenzte Fernen wanderte der befreite Blick; in breiten, blauen Leinentüchern lag das Wasser da unten zwischen den dunklen Waldufern; und aufgerauht war es von den langen, flackernden Kielstreifen der Dampfer, die weiß und breit wie Schwäne waren; und belebt war es bis in die letzte Tiefe von den tänzelnden Segeln der Boote, die wie schlanke silberne Möwenflügel über das Wasser dahinstreiften. Um Inseln mit kleinen Häusern glitt der Blick; um Inseln mit ragenden Baumgruppen glitt der Blick; über Wälder glitt er fort, über Äcker und Felder und Weiler hin, immer weiter in die weiße Helligkeit hinein ... bis zu den Wolkenballen, die mit weißen Kanten, in Licht gebadet, am Horizont schwebten, bis zu den fernen Türmen einer Stadt, die im Dunst zitterten und sich lösten.

Ganz in der letzten Ferne aber, da stand er selbst, der Frühling, und er lächelte Emil Kubinke und Pauline entgegen, und er fragte: ›Na, wie ist das? Wie habe ich die weite Welt für euch hergerichtet? Für euch ganz allein heute, für niemand sonst?'

Und wenn auch Emil Kubinke und Pauline den Wortlaut der Frage nicht vernahmen, so waren sie doch um die Antwort nicht verlegen, und sie lasen sie einander aus den Augen ab. Und das erste Mal fühlte Emil Kubinke in der lachenden Quadrille, die nun schon so lange mit ihren breiten Reihen an ihm vorübertanzte, sich nicht verlassen, nicht vereinsamt und unbeteiligt, sondern sein Herz sagte ihm, daß auch er sich in die Reihen eingeschmiegt habe, und daß auch er nunmehr unbekümmert mittanzen dürfe, daß auch er engagiert habe, – und er hoffte, nicht einzig für eine flüchtige Tour sich die Tänzerin erwählt zu haben.

Und dann gingen sie mitten im Gewühl den breiten Weg am Wasser entlang, hörten von den Dampfern die Kapellen spielen, sahen die Sportboote wie lange schwarze Striche über die glatte Fläche gleiten, hindurchschießen zwischen den Sterndampfern und den fauchenden Schleppern mit der Reihe schwer beladener Lastschiffe. Sie sahen die Schwäne am Schilf entlang rudern und das Spiegelbild der überhängenden Fichten sich lösen und stets von neuem in dem glatten Wasser sich wiederfinden.

Und dann saßen sie im Restaurant am Wasser, und Pauline packte vorsichtig ihren Napfkuchen aus, und sie ging selbst nach der Küche Kaffee kochen und puffte sich mit den anderen Frauen beim Geklapper der Tassen und Kannen, weil sie Löwenbergs guten Kaffee gewohnt war; und sie duldete nicht, daß Emil Kubinke etwa bezahlte, – das duldete sie keinesfalls. Schenken ließ sie sich nichts. Der Kaffee war ihre Bewirtung. Nachher konnte ja ihr Bräutigam sich revanchieren, wenn er wollte.

Und dann saßen sie ganz glücklich und sahen immer über die Kaffeetassen fort aufs Wasser, auf die kleinen Boote, die da fuhren, und die Dampfer, die die Boote schaukeln machten, daß die Frauen kreischten. Und an einer langen Tischreihe saß mit Papiermützen der Verein der ›Bettschoner‹, der seinen diesjährigen Ausflug mit Damen machte. Und Emma Brendeke kam mit Herrn Gerichtsschreiber Adumeit, rot wie Klatschmohn, an den elterlichen Tisch zurück, und ihre Frisur war sehr in Unordnung geraten, trotzdem nun wirklich heute kein Segelwind ging. Eine dicke Frau aber fragte alle, ob sie nicht um Himmels willen einen kleinen Jungen im Matrosenanzug gesehen hätten; und dann ohrfeigte sie einen kleinen strampelnden Sünder vor sich her: »Ick wer' dir lehren, Muscheln suchen!« Herr Weber spielte mit seinen beiden Söhnen, die Monteure bei Siemens & Halske waren, den Rücken gegen das Wasser gekehrt, einen Dauerskat; und Herr Schwarzkopf schnippte seine Zigarrenasche seinem Freund Hugo ins Bier hinein, denn sein Freund Hugo war schon so weit, daß er das nicht mehr merkte. Und Herr August Drechsler ahmte ein Pistonsolo mit dem Mund nach, während sein Freund Ferdinand auf dem Regenschirm die Gitarrenbegleitung übernommen hatte.

»Lanke? Wo ist denn Lanke?« geht's durch den Sommergarten. »Lanke! Faß doch mal hin, ob de noch da bist!« »Emma, faß Tanten an.« »Au! er und sie! – Mutter, det sag ick!«...

Dazu aber gehen immer die Boote auf und nieder, und von den Dampfern kommt in abgerissenen Klängen Musik, und die bunten Schattenmuster von den Kastanien und Linden spielen über die Tischtücher fort und über die gelben Kieswege. Und immer reicher und farbiger wird das Bild, je mehr die Sonne sich dem Horizont neigt und unter ihrem Goldschein die großen Massen von Wald und Wasser, von Himmel und Häusern zusammenbringt.

Und nun bestellte Emil Kubinke Abendessen, und trotzdem Pauline nur ein Schinkenbrot wollte und meinte, es wäre Unsinn, mehr auszugeben, da nahm er doch Kotelett mit Spargel, und das Geld tat ihm nicht einen Augenblick leid.

Und als sie endlich aufstanden, da lag schon die Sonne auf den Wipfeln des jenseitigen Ufers rund und groß und golden und zog Feuerkanten drüben um die Bäume und Feuerkanten um die Wolken, in die sie jetzt hineinsank, und schlug eine Feuerbrücke über die lichtblaue Wasserfläche. Und die Boote waren jetzt wie mit der Schere aus schwarzem Papier geschnitten.

Dann aber gingen Emil Kubinke und Pauline hinüber in den Wald und lagerten sich oben am Hang unter den alten Kiefern. Sie sahen weit über das Wasser fort; und jetzt brauchte Emil Kubinke nicht mehr die andern zu beneiden, die es so gut wie weiland Eberhard im Barte hatten – nein, jetzt war ihm das gleiche beschieden, und Pauline hielt ihn so recht hübsch in ihre Arme hineingebettet. Den Hut mit den Kornblumen hatte sie abgelegt, daß ihr das Haar in der roten Sonne wie ein richtiger Goldhelm über dem Haupt stand.

Und mählich ging die Sonne drüben hinter den Bäumen nieder und verriet die Stelle, da sie gesunken, nur noch durch ein weißes Strahlen, das in langen Streifen zum Zenit emporflammte; von Osten aber rückte schon die Dämmerung herauf, legte sich wie Rauch und Nebel auf die Fernen, über das Wasser, um die rötlichen, tanzenden Segel, die immer kleiner und kleiner da ganz hinten auf und nieder schwebten. Und das lichtblaue Wasser wurde, so weit der Blick reichte, nun mattgrün und zimtbraun und kirschrot in langen, blanken Streifen; es änderte sich von Minute zu Minute mit dem leuchtenden Abendhimmel. Und während unten um die braunen Föhrenstämme schon die Nacht emporstieg und langsam zu den dunklen Kronen hinaufkletterte, begannen nun plötzlich wie durch Wunder ganz oben die Kanten und Spitzen der Kiefern, die armdicken, gewundenen, kurzen Äste, die die Fächer der Nadeln trugen, rot aufzuglühen; wild, zornig, schwermütig und unheimlich, als glühten sie selbst, als strahlte eine riesige Schmiedeesse ihre irre Glut über sie hin. Je tiefer und melancholischer dies Glühen aber wurde, desto näher rückte unten die Nacht zusammen, umkreiste die beiden, die da an dem Föhrenstamm saßen ... wie ein Raubtier, das im jagenden Lauf seine Zirkel immer enger und enger zieht...

Und da – unter dem Druck der schönen Schwermut, die das sinkende Licht über Wasser und Land breitete, vollzog sich etwas Seltsames und Ungeahntes: Emil Kubinke, der Friseurgehilfe Emil Kubinke, der sein ganzes Leben bisher nur wie in einem dumpfen Taumel verbracht hatte, und in dessen Seele nur unklare und verworrene Melodien mit ihrem wogenden Auf und Nieder erklungen waren, – er, dieser kleine, arme Hund, der von einem Tag in den andern hineingehetzt wurde, der wie im Traum von einem Tag in den andern hineinstolperte, durch das kümmerliche Halbdunkel seines Daseins, – ihm war es plötzlich, als seien die Schleier von den Augen fortgezogen, und er sah alles, sein ganzes Leben, seine ganze, elende Vergangenheit, und all seine geheimste, wortlose Hoffnung, sein letztes Sehnen schlug plötzlich empor, in langen, wirren, heißen Wortreihen, die so nächtig und zuckend und doch so voll von Glut und Angst waren, daß er vielleicht selbst erschrocken gewesen wäre, wenn er sie vernommen...

Von Hause erzählte er, von der kleinen grauen Stadt, in der er geboren, kaum zwei Stunden von Berlin und doch so weit, mehr als hundert Meilen davon entfernt. Wie er von der Mutter gar nichts mehr wisse, nicht einmal von ihr träume, wie der Vater ihn geschlagen und nur immer geschlagen habe, wenn er schlechte Noten heimgebracht hatte; er, der selbst kein Wort von dem verstand, was er in seinen Heften hatte. Wie er hinten in dem Gärtchen mit dem Schiefblatt und dem Hahnenkamm in die dunkle Holzkammer gekrochen sei und geweint habe, erzählte er. Wie er auf der Schule keinen Freund gehabt habe, weil sein Vater arm war; und wie er auf der Straße keinen Freund gehabt habe, weil er in die gute Schule ging. Die einen hätten ihn kaum gegrüßt und die andern hätten mit Steinen hinter ihm hergeworfen, denn er trug eine bunte Mütze. Die Lehrer aber wären nicht viel anders zu ihm gewesen als die Schüler, und sie hätten ihn immer spöttisch gefragt, warum er nicht in die Klippschule ginge, fürs Gymnasium tauge er doch nicht. Und dann habe die ganze Klasse gewiehert vor Vergnügen. Und die paar Lehrer, die gut und freundlich zu ihm gewesen, die hätten wieder gar nichts in der Schule zu bestimmen gehabt, und er hätte soviel bittern Haß gehabt von früh an – oh, er könne gar nicht sagen, wieviel Haß in ihm gewesen sei. Ach ja, wenn er nur gewußt hätte, wohin – er wäre ja tausendmal fortgelaufen, so weit ihn die Füße trugen. Eigentlich könne er sich an niemand erinnern, der wirklich gut zu ihm gewesen sei, außer dem Hund vom Schloß, der ihn einmal aus dem Wasser gezogen hätte, und dem Schäfer Kelpin, mit dem er ganze Nachmittage draußen vor der Stadt mitgezogen sei, von einem Anger zum andern, bei Regen und Wind, und der dabei so alt und närrisch gewesen sei. Am meisten aber gehaßt auf dieser Welt hätte er doch die Haushälterin, diese dicke, blonde Person mit den grauen Augen, die ihn immer des Abends vorher einschloß, wenn sie zu seinem Vater schlich. Vielleicht wäre er schlecht gewesen, störrisch; vielleicht wäre er dumm gewesen, und faul wäre er gewesen; aber mehr als alles wäre er unglücklich gewesen als Junge, gemieden und abseits, und wenn er nicht jede Woche einmal zu dem alten Musiklehrer von der Schule geschlichen wäre, der ihm am Nachmittag in seiner Wohnung solch ein paar Griffe und Lieder auf seiner alten braunen Geige beigebracht hätte, und ihm dann immer noch nachher bis in die Dämmerung hinein vorgespielt hätte – er hätte wirklich nicht gewußt, wie er dieses Leben hätte ertragen sollen.

Und da wäre es ihm ganz recht gewesen, wie alles so gekommen sei.

Eines Abends vor acht Jahren – jetzt im Herbst vor acht Jahren – hätte man den Vater ins Haus gebracht, über und über grau von Schmutz, mit gebrochenem Schenkel und zerschlagenem Kopf. Er hatte draußen auf dem Land einen Bauern besucht, denn er kam als Kurpfuscher weit herum auf die Dörfer; er war mit dem Rad herausgefahren, und er war wohl an der Wegbiegung im Dunkeln gegen einen Chausseestein geflogen und dann über die Böschung gestürzt, denn die Maschine, die sie nachher brachten, war kurz und klein gebrochen. Und drei Tage hatte er noch so gelegen, und gar keinen hatte er mehr gekannt. Aber ich, ich habe nicht weinen können, und ich habe auch keine Träne vergossen, bis ich wieder vom Begräbnis in die leere Wohnung zurückgekommen bin. Und erst nach Jahren habe ich angefangen zu glauben, daß es nur Ehrgeiz und Unverstand gewesen sind und nicht Lieblosigkeit von meinem Vater, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben. Und dann ist natürlich nichts dagewesen, so gut wie nichts: ein paar alte Möbel und ein paar hundert Mark. Und man hat mir einen Vormund gegeben, der mich nicht schlug, aber der mir mit jedem Wort zu erkennen gab, daß er in mir eine Last hatte. Und das, glauben Sie, ist noch schlimmer als Prügel gewesen. Und der Direktor am Gymnasium hat gesagt, daß sie keine Freistelle für mich hätten, und daß es ja soviel gute, ehrliche Handwerker gebe. Und da habe ich dann geantwortet, daß ich in Gottes Namen wie mein Vater Friseur werden wollte; denn etwas anderes habe ich ja nicht gekannt.

Aber all die Jahre, die nun gefolgt sind, die sind fast noch schlimmer gewesen als die zu Hause, und eines Tages da bin ich aus der Lehre fortgelaufen und bin nach Berlin gefahren, ganz heimlich. Zwanzig Mark habe ich gehabt. Von keinem Menschen habe ich Abschied genommen, nur von dem alten Schäfer Kelpin. Den habe ich noch am letzten Sonntag aufgesucht, draußen auf den Hügeln vor der Stadt und habe mich zu ihm gesetzt. »Wat willst du in Berlin?« hat der alte Kelpin gesagt. Denn seit ich Friseur war, hat er wieder du zu mir gesagt – »wat willst du in Berlin, Emil? Hier bei uns, da wissen se alle, wo Berlin is; aber in Berlin, da weiß kein Mensch mehr, wo wir sind. Jeh man, – dau kommst nich wedder.« Aber am nächsten Morgen da bin ich doch ganz heimlich nach Berlin gefahren. Weißt du, ich werde nie vergessen, wie ich da am Fenster stand, wie der Zug sich durch die Wagenreihen schlängelte und wie er einfuhr, wie die Felder aufhörten und die Wiesen, wie alle Bäume schwarz von Rauch waren und zerfetzt und dürr. Ganz dick und schwer stand ein Wetter über Berlin, und die langen Straßen waren grell und bestrahlt wie riesige, wild gezackte Mauern. Und überall drängte sich Haus an Haus hinter einem Wald von Schornsteinen, die ihren Rauch in die Wolken strömen ließen. Und hinter einem Lager von mächtigen Schuppen und Kränen und Eisengerüsten und drüben zwischen weiten, öden Flächen waren immer wieder neue und neue Festungen von Häusern mit tausenden von Fenstern. Und dann sah ich in die Straßen hinab, sah von oben hinein, wie das durcheinanderwogte von Menschen und Wagen – ich erinnere mich noch deutlich, es war gerade Mittag und die Arbeiter kamen aus den Fabriken und zogen in schwarzen Scharen über die Brücken fort, die ganz hoch die Bahnkörper überspannten. Und Plätze kamen mit dichtbesetzten Bänken, und rotschwarze Kirchen ragten aus dem Dächermeer. Und Wasser floß vorüber, auf dem die Zillen wie aneinandergerammt waren. Und von all diesem Lärm und diesem Gewühl da ist mir himmelangst geworden, und ich habe gezittert und geweint, wie ich aus dem Zug gekrochen bin. Meinen Koffer habe ich auf der Bahn gelassen und bin einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in Berlin herumgelaufen, ohne jemand anzusprechen. Nur alle paar Stunden habe ich mir beim Bäcker Semmeln gekauft. Aber dann bin ich von Meister zu Meister gegangen, ob sie mich gegen Kost als Lehrling einstellen wollen, und einer – verstehst du, – hat mich behalten, da ich ja schon rasieren konnte. Am gleichen Abend aber habe ich an meinen Vormund geschrieben, daß ich jetzt in Berlin sei und hier auslernen wollte. Und auf die Fachschule möchte ich auch gehen. Dem aber ist das ganz gleich gewesen, denn er hat an nichts Anteil genommen, was mich betraf.

Und dann hat nun eben dieses Leben angefangen, bergauf, bergab in ewiger Jagd. Meist habe ich ja Arbeit gehabt, meist habe ich ja verdient, aber es ist auch vorgekommen, daß ich acht Tage von Chef zu Chef gelaufen bin, ohne etwas zu finden, daß ich ganz kümmerliche Stellen habe nehmen müssen, nur um nicht gerade zu hungern. Ach Gott, was habe ich alles an Elend und Jammer um mich gesehen! Wie viele habe ich gekannt, die unter die Räder gekommen sind, die überfahren wurden, daß sie nie wieder auf die Füße kamen. Ich habe ja noch immer zu essen gehabt, – ja, ich habe sogar noch etwas gespart, – aber die Angst vor diesem Ungeheuer Berlin, die hat mich nicht eine Minute verlassen, die ist noch ebenso stark wie damals, als ich mit meinem Koffer zum ersten Mal in Berlin auf dem Bahnhof stand. Oft, wenn ich des Nachts nicht schlafen kann, im Winter in den kalten Stuben, dann habe ich mir wohl hundertmal das Wort von dem alten Kelpin vor mich hingesagt: ›Dau kommst nich wedder, – dau kommst nich wedder, – dau kommst nich wedder...‹

Manchmal komme ich mir wirklich vor wie eine Fliege, die an der Fensterscheibe auf- und niederschwirrt, weiß, wo sie hinaus will und sich doch den Kopf einstößt. O Gott, wie viele habe ich in den Jahren um die Ecke gehen sehen, Verbrecher werden, Zuhälter werden oder noch Schlimmeres, – auf der Walze habe ich sie verkommen sehen, verderben und sterben. Jetzt geht's ja noch, aber man wird doch älter. Welcher Chef nimmt denn einen Gehilfen über dreißig Jahre. Wirklich, wirklich, ich bin nicht stark genug, ich bin nicht roh genug für Berlin! Was habe ich denn davon, daß ich eine gute Schule besucht habe? Schlechter als die andern stehe ich dabei. Aber ich weiß schon, was ich tun will: sowie ich noch zweihundert Mark gespart habe, fahre ich wieder nach Hause. Und zuerst miete ich mir einen ganz kleinen Laden, und dann werde ich schon mein Auskommen finden. Denn ich kann jetzt mehr, viel mehr als die andern, die zu Haus sind. Und dann kaufe ich mir eines schönen Tages unser altes Geschäft zurück, und wenn's mir dann gut geht, schaffe ich mir Bücher an, und jede Woche einmal nehme ich wieder bei unserm alten Lehrer Geigenstunde. Zu Hause, wo mich jeder kennt, da komme ich schon weiter...

Aber Angst habe ich oft, daß ich doch noch vorher zusammenbrechen werde. Ach Gott, viel will ich ja nicht, es ist ja blutwenig, was ich vom Leben fordere, und Hunderttausende erreichen das und erreichen mehr, – und warum soll ich denn in meinem Leben niemals auch nur einen einzigen ruhigen Atemzug tun können?! Warum soll ich denn gehetzt werden von morgens bis abends die ganze Woche hindurch? Sieben Jahre lebe ich nun schon in Berlin, und heute ist es das erste Mal, daß ich hier draußen bin, das erste Mal, daß ich einen Nachmittag so ganz freudig und sorglos verbracht habe, das erste Mal, daß ich mit einem Mädchen, das ich gern habe, ein paar Stunden verplaudern durfte. Ach Gott, ich weiß ja gar nicht, wie ich Ihnen dankbar sein soll, Pauline, denn Sie sind doch so hübsch, so wunderschön sind Sie, daß Sie jeden andern bekommen könnten, jeden andern, der etwas ist und etwas vorstellt. Und wenn Sie morgen mit einem andern gingen – ich würde Ihnen doch dankbar sein, weil Sie mir gezeigt haben, daß es etwas im Leben geben kann, was nicht Qual und Mühen heißt ...

So lange hatte Pauline geschwiegen und still und zitternd zugehört, und sie hatte sich begnügt, Emil Kubinke hin und wieder einmal über das Haar zu streichen. Sie hatte es vielleicht etwas seltsam gefunden und nicht recht verstanden, warum Emil Kubinke sprach und nur sprach, da es doch wirklich jetzt nicht so sehr auf Worte ankam. Aber sie hatte sich auch in diese Eigenart von ihm gefügt und sie hatte sich, nach allem was sie gehört, vorgenommen, diesen närrischen und verdrehten Menschen nur nachher doppelt lieb zu haben. Doch wie er da das herredete, daß sie morgen mit einem andern gehen könnte, da schlug das doch bei der rotblonden Pauline dem Faß den Boden aus. So etwas ließ sie sich nicht bieten. Und sie fuhr auf: was er von ihr dächte; und wenn er so von ihr dächte, dann könne er sich gleich 'ne andre suchen; wenn sie auch keine Bildung wie er hätte, ein schlechtes Mädchen, das jeden Tag mit 'n Neuen ginge, wäre sie deswegen noch lange nich. Und dann könne sie ja nach Hause gehen, wenn er solchen Verdacht gegen sie habe. »Wenn ich einen Menschen mal jern habe, dann bin ich ihm auch treu.«

Und damit begann Pauline zu weinen und schluchzte in die Dunkelheit, daß es sie nur so schüttelte.

Nun ist es ja Frauenart, daß Pauline von all dem, was Emil Kubinke da sich von der Seele geredet hatte, nur ein Wort verstanden hatte, und dieses eine Wort betraf nicht ihn, sondern sie. Und dieses eine Wort hatte sie nach Frauenart auch noch falsch verstanden. Aber es ist auch ebenso Frauenart, daß Pauline unbewußt von allen Wegen den kürzesten nahm und mit ihren Tränen schnurgerade auf das Herz Emil Kubinkes losmarschierte und alles niederlegte, was da irgendwie noch im Wege stand ...

Und wie der Fischer sein Netz anzieht und die Bahnen immer näher zueinander bringt und den Raum kleiner werden läßt, bis die Maschen sich über den zappelnden Fischen zusammenschließen, so hatte auch die Nacht indessen ihr Netz immer enger um die beiden gezogen, und von Sekunde zu Sekunde glitten die Maschen mehr zusammen. Noch tauchten drüben ein paar Baumstämme auf, noch flimmerte von unten die Wasserfläche mit springenden Funken matt empor, noch trennten sich oben die Wipfel vom dunklen Himmel, auf dessen Grund ein paar Sterne zitterten; aber ein Funke nach dem andern erlosch, ein Stamm nach dem andern schwand und schwand. Und die Wipfel schlössen mit dem schwarzblauen Himmel mehr und mehr sich zu einer einzigen, riesigen, nachtfarbenen Zeltdecke zusammen.

Diese riesige nachtschwarze Zeltdecke aber verhüllte mit ihren breiten Sammettüchern ringsum in dem weiten Wald so manches, was nicht für dritte bestimmt war, und warum sollte sie nicht auch Emil Kubinke und der schluchzenden Pauline mit ihrem weichen Dunkel Schutz leihen, als Emil Kubinke seine Partnerin ganz erschrocken zu trösten begann, daß er das doch nicht so gemeint hätte. Aber da die rotblonde Pauline all seinen schönen, zärtlichen Worten gegenüber taub war und fortfuhr durch die Dunkelheit zu schluchzen, so blieb wirklich Emil Kubinke nichts übrig um Pauline davon zu überzeugen, daß er sie durchaus nicht beleidigen wollte, nichts übrig, als zu stärkeren Argumenten überzugehen. Und da ihm die Gegnerin ja ziemlich nahe war, wenn er auch ihr Gesicht nicht recht sehen konnte, so hatte das nicht allzuviel Schwierigkeiten, und, noch weinend, küßte Pauline Emil Kubinke wieder und schlang ihren Arm um seinen Nacken, als die beiden in das Bett von Erdbeerblüten und herb duftendem Thymian sanken.

Doch wie nach abziehendem Gewölk, nach einem kurzen ergiebigen Regenschauer so langsam erst ein Sonnenstrahl hindurchbricht, so kamen auch hier erst die Küsse einzeln, wie die Sonnenstrahlen zwischen den Tränentropfen, nur um sie dann bald ganz und gar und völlig zu besiegen. Und dichter fiel kein Schauer je, als die Glut der Küsse niederschlug; und gieriger trank keine Erde je den Regen ein; und je mehr sie tranken, desto heißer und röter wurden die Wünsche. Die nachtschwarze Zeltdecke aber ließ ihre schweren, schützenden Sammettücher herabfließen. Ganz in der Ferne jedoch kam plötzlich ein Wind auf, und zog mit geheimnisvollem Rauschen durch die Schläge, kläglich wie ein Schmerzenslaut; und er machte es, daß die beiden da unten in ihrem Bett von Erdbeerblüten und Thymian sich nur immer dichter und enger aneinander schmiegten.

Und da, wie sie sich umschlungen hielten, da wußte unser junger Aladin, daß er nunmehr für Glimmer und Katzengold Diamanten, echte Diamanten eingetauscht hatte und daß er ein Narr wäre, wollte er die je wieder aus den Händen lassen.

Draußen von der Chaussee her aber hörten die beiden immerfort die Wagen rollen und die Pferde traben und die Autos fauchen und schnaufen. Und hin und wieder einmal glitzerte sogar ein besonders grelles Azetylenlicht durch die Bäume, huschte über die Stämme hin, daß sie schnell wieder braun und rot aufflackerten, ehe sie ins Dunkel zurücktauchten. Ja, es schoß dann lange Streifen über den Boden fort in den Wald hinein, so daß die beiden vor ihnen ganz erschrocken die Köpfe noch tiefer niederduckten. Aber sogleich waren sie auch schon weit drüben ... die hellen Streifen ... und es gab wieder nur die Frühlingsnacht, mit ihrem Geruch nach Thymian und Harz, und mit ihrer schönen samtigen Dunkelheit... bis dann eben doch von neuem lange Strahlenfächer durch den Wald geisterten und schämig forthuschten, um die Verliebten in doppelter Dunkelheit mit ihren Küssen wiederum allein zu lassen. Und auf dem Wasser unten kam auch einmal so ein langer, roter oder grüner Streifen heran, gescheckt und glitzernd, und ein paar Lichtchen, wie erschrockene Leuchtkäfer, kreuzten seine Bahn, und noch lange danach hörte man die Wellen durch das Schiff rauschen und schwer und platschend an das Ufer schlagen. All das aber kam und ging unbestimmt ... schattenhaft ... Traumbildern gleich, die aufsteigen und versinken, die ganz am Rande in andern Reichen vorüberschweben ... kam und ging, erstand und schwand, während die beiden in einem Meer von feuerfarbenen Wellen dahintrieben und nur emportauchten, um immer wieder zu versinken.

Und erst als irgend ein rasendes Automobil mit seiner gellen Hupe so ganz wild und unzufrieden durch den Wald rief, da fuhren Emil Kubinke und die rotblonde Pauline auf und fragten sich erstaunt, wie spät es wohl schon sein mochte, und wie lange sie wohl verweilt hätten. Und dann faßten sie sich um und gingen langsam und tappend aus dem Wald dem hellen Schein zu. Und es war recht gut, daß es fast dunkel war, denn sonst hätten sie ihr junges Glück wohl kaum verbergen können. Ihre Gesichter und Kleider nämlich hätten es jedem erzählt.

Da aber stand nun gerade, mit Feueraugen so groß wie Mühlräder, ein ratternder Autoomnibus, der in allen Fugen zitterte und knarrte, weil er bergan wollte und nicht so recht in Lauf kam. Er schnaufte wie ein dicker, asthmatischer Herr, dem der Arzt eine Terrainkur verordnet hat. Und da der Autoomnibus zufällig in die Nähe von Luther, Dante und dem Apoll von Belvedere fuhr, so fragte Emil Kubinke kurzentschlossen, ob noch Platz wäre. Und als der Schaffner ihm zurief: »Nur oben«, da gab Emil Kubinke Pauline einen Schwung, daß sie in den Wagen stolperte, sprang selbst mit der Grazie eines Kontrolleurs nach; und dann kletterten die beiden, während schon wieder das Gefährt nach rechts und links zu werfen begann, lachend und quietschend die steile Treppe hinauf.

Und da saßen sie beide nun ganz allein, oben im Dunkel, unter den Sternen, auf dem Autoomnibus; und der Wind fuhr ihnen um die Ohren; und mal griffen hüben und mal drüben die Baumzweige nach Emil Kubinkes neuem Straßburger Panamahut und nach Paulines Strohglocke mit den Kornblumen. Und sie mußten sich ganz ducken und sich ganz eng aneinanderschmiegen, um den Ästen der Chausseebäume, die nach ihnen schlugen, zu entgehen.

Der finstere Wald aber zog unten in langen weiten Wellen vorbei; und Lichtlein schwebten über dem Wasser; und die hüpfenden Leuchtkäfer der Radfahrer flatterten vorüber; und schwankende Wagenlaternen zitterten dahin, während suchende Feueraugen der Automobile am Boden fortglitten und Kremser rechts und links vorüber schaukelten mit den bunten Lampions. Die Herrenpartien aber sangen den herzhaften Kanon: ›Wir sind vergnügt, wir sind vergnügt und haben's gar nich nötig!‹ während die Mädchen in weißen Kleidern auf der anderen Chausseeseite elegisch die goldene Abendsonne priesen.

Aber hoch und erhaben über allen, ganz oben auf dem Verdeck des Autoomnibus, saßen eng aneinander geschmiegt Emil Kubinke und Pauline. Und sie küßten sich die ganze Döberitzer Heerstraße herunter, so daß man deutlich ersehen kann, daß diese Heerstraße mit ihrem großen Kostenaufwand nicht nur zu strategischen Zwecken angelegt worden ist. Zwischen den Küssen aber erzählte Pauline, daß sie von Hause fortgegangen wäre, weil sie sich mit ihrer Stiefmutter nicht stellen könnte, und daß sie jetzt im nächsten Januar, wenn sie einundzwanzig Jahre würde, das Erbteil von ihrer Mutter bekäme – über dreitausend Mark, und daß sie noch einmal ebensoviel später von ihrem Onkel erhielte. Und, wenn sie das hätte, dann könnten sie ja heiraten und dann könnten sie auch, wenn sie wollten, das Geschäft kaufen; und in so einer kleinen Stadt wären ein paar tausend Mark ja sehr viel Geld. Darüber jedoch, daß sie sich heiraten würden, war Pauline nicht eine Minute im Zweifel, trotzdem Emil Kubinke hiervon ja eigentlich noch ganz und gar nichts erwähnt hatte.

Aber da sagte Emil Kubinke, daß er ja nicht wüßte, ob er schon heiraten könnte, weil er ja noch nicht militärfrei sei. Aber wenn er jetzt wieder nicht angesetzt würde, dann könnten sie sich ja zum Januar aufbieten lassen. Aber ihr Geld solle sie nur behalten, das wäre besser so, es wäre ja gewiß gut, wenn sie es hätten, aber er hoffe, es ginge auch ohne das, denn fleißig wäre er ja, und da würden sie schon weiterkommen.

Und dann küßten sie sich wieder, die beiden oben in Zug und Wind, in der Frische der Nacht, oben auf dem Autoomnibus und waren froh und guter Dinge, während in langen Reihen in den öden Vorstadtstraßen die Gaslaternen vor ihnen aufblitzten, und die Perlenketten der Bogenlampen sich hinabzogen, weit, weit. Und dahinter tauchte dann das ganze riesige Berlin auf. Schemenhaft mit Türmen und Kuppeln breitete es sich im Dämmer der trüben Nacht vor ihren Blicken aus, tauchte auf unter dem irren Flammenschein, unter der matten Feuerwolke, die – aus hunderttausenden emporsteigender Lichtscheine gewebt – über dem Horizont sich lagerte, und die immer schwächer, weicher und dämmriger sich gegen die Sterne des Zenits verlor. Und das erste Mal schien es Emil Kubinke, daß dieses düstere und feueratmende Riesenwesen da vorn ihm nicht feindlich gesinnt war, sondern ihm zuwinke, weil er nunmehr als Sieger zu ihm käme.

Aber schon ratterte und kullerte der hohe Autoomnibus unter den Leitungsdrähten der Bahnen dahin, daß Emil Kubinke und die rotblonde Pauline sich ängstlich bückten; wild und schnaufend brauste er in die Straßen hinein, die rechts und links sich immer weiter und weiter auseinanderzweigten, die stets mit neuen Häuserreihen sich angliederten, die stets von neuen Straßenbahnwagen belebt waren und von neuen wechselnden Fluten der Heimkehrenden, die von allen Seiten unermüdlich hinzuströmten. Aus den Lokalen aber kam Musik, und auf den Terrassen der Cafés saßen die Menschen – und die Herren behaupteten, daß es doch noch kühl wäre, und ließen sich vom Kellner die Sommermäntel von den Haken geben. Die Damen aber sagten, es wäre doch schon eine wundervolle Frühlingsnacht – denn sie trugen ihre neuen Kostüme.

Ganz klamm, wie Maikäfer nach dem Regen, krabbelten Emil Kubinke und Pauline endlich die Treppe hinunter und gingen fein langsam mit dem Strom dahin, in schönem Schweigen, ganz Gefühl, – indem nämlich Pauline ihren Arm zart um Emil Kubinkes Hüfte gelegt hatte und Emil Kubinke den seinen etwas fester um der schönen, rotblonden Pauline füllige Taille. Und wenn man auch nicht sagen kann, daß es sich so gerade sehr bequem geht, so wird doch niemand behaupten, daß es nicht angenehm wäre, so zu zweien in einer Frühlingsnacht dahinzuschlendern.

Aber ehe es sich Emil Kubinke und Pauline versahen, war auch schon wieder über dem Torweg die graue, frostige Dame mit dem Merkurstab da, jene, die mit dem jungen Mann, der den Amboß liebkost, verheißungsvolle Blicke wechselt; und die beiden breiten roten Zettel tauchten im Dämmer auf, die bei dem Laden des ›gemütlichen Schlesiers‹ nunmehr an den Scheiben klebten: ›Ich eröffne hier Anfang nächsten Monats ein ff. Delikatessengeschäft. Wilhelm Müller‹, und die kleinen, weißen Schildchen leuchteten unter den Bäumen hervor mit ›Nur für Herrschaften‹ und ›Nebeneingang‹.

Doch als sie nun beide durch den Hausgang schlichen, mußten sie an Herrn Piesecke vorüber, der ganz still und brummig in einer Ecke stand und anscheinend schon lange auf sie gewartet hatte, und nun schwer enttäuscht war, daß sie, ohne rechts und links zu sehen, machten, daß sie weiterkamen.

Auf dem Hof aber nahmen Emil Kubinke und Pauline doch Abschied voneinander, so wie das richtigen Liebesleuten ziemt, und ob das auch Luther, Dante und der Apoll von Belvedere aus dem Dunkel ihrer Thujabüsche sahen und die dicke Hedwig, die oben in ihrem Kammerfenster lag, – das war ihnen nun ganz gleichgültig, und sie verkürzten deshalb ihren Abschied nicht um einen Kuß und nicht um eine Sekunde, ja sie konnten scheinbar mit ihrer Rechnung gar nicht zum Resultat kommen, denn sie fingen immer wieder von neuem an, nachzuaddieren. Doch endlich ging Emil Kubinke hier hinauf und Pauline drüben.

In der Küche aber beschäftigten sich gerade Herr Max Löwenberg, in rosafarbigem Pyjama, und Frau Betty Löwenberg – in einem weißen Etwas, einem Bastard von Frisiermantel und Nachtjacke – damit, für Goldhänschen eine Flasche anzuwärmen, und sie waren beide erfreut, als Pauline auftauchte; denn Herr Max Löwenberg verstand das Milchflaschenwärmen nur theoretisch, während Frau Betty Löwenberg nicht einmal das in der Pension von Beate Bamberger gelernt hatte.

»Na, Pauline, wie war's denn im Grunewald?« rief Harr Löwenberg.

»Oh, sehr schön!« sagte Pauline, und sie senkte die Augen, und ihrer Stimme hörte man es an, daß sie sich der historischen Bedeutung dieses Momentes voll bewußt war, »sehr schön – ich habe mich soeben mit Herrn Kubinke verlobt!«


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