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Hedwig

Jeder wird mir – denke ich – nun zugeben, daß der erste April ein Schicksalstag ist, ein Tag, der Fäden knüpft und löst, Menschen bindet und trennt. Emil Kubinke trat seine neue Stellung an, und die drei Grazien Hedwig, Emma und Pauline lachten ihm entgegen und begannen, Blumen auf seinen Lebensweg zu streuen.

Und auch Herr Max Löwenberg fand am ersten April zum erstenmal den Weg hier hinaus, und er wechselte Grüße mit Herrn Ziedorn. Vornehmes Viertel, in dem selbst Friseure Zylinder tragen. In der Neuen Roßstraße hatte er das nie gesehen. Der ›gemütliche Schlesier‹ aber war keine Stunde bevor der neue Vizewirt, Herr Piesecke, in Erscheinung trat, bevor er sich aus dem unendlichen Menschengewirr der Großstadt ablöste, um hier Fuß zu fassen, den Laubenkolonien nachgezogen. So waren sich zwei Männer aus dem Wege gegangen, die sicherlich dazu bestimmt gewesen wären, innige Freunde zu werden. Und doch hatte es der schicksalsschwangere erste April wie absichtlich vermieden, sie zusammenzuführen. Mit Rat und Tat hätte Herr Piesecke dem ›gemütlichen Schlesier‹ zur Seite stehen können, denn er war selbst früher einmal Wirt am Wedding gewesen, bekannt drei Straßen in der Runde. Jetzt oder nie hätten sie sich finden müssen. Und nun sah Piesecke nichts von dem ›gemütlichen Schlesier‹ mehr als die schmutzigen Scheiben, die Flecke an den Wänden, die anderen Residuen und die achtzehn leeren Flaschen, die Piesecke sorgfältig, eine nach der anderen, gegen das Licht hielt.

Aber was der erste April schlecht gemacht hat, das wird der zweite nicht gutmachen, denn der ist eben kein Schicksalstag mehr. Der ist einfach ein Tag wie alle Tage, ein Tag der gleichförmigen Arbeit, ein Tag der Mühe, des Erwerbs; und vielleicht birgt er auch etwas von jenem Tropfen von Lust, den nun einmal der müdeste Strom noch mit sich führt. Aber das, was am ersten April leicht, Spiel und Freude war, wird am zweiten wieder Qual und Beruf. Und als Emil Kubinke aufwachte, da lag erst so eine frühe, trübe, mattblaue Helligkeit über dem schrägen Fenster, aber Herr Tesch stand schon in dem grauen Raum mit entblößtem Oberkörper vor seinem Waschständer und beugte plantschend seinen Kopf über die Schüssel. Emil Kubinke jedoch kam es plötzlich zu Bewußtsein, daß er diese Nacht über hier oben unter dem Dach doch recht gefroren hatte.

»Na nu mal raus aus de Posen, Kolleje!« rief Herr Tesch. »Es is höchste Zeit. Der Olle macht Ihnen sonst Krach!«

Und Emil Kubinke kroch fröstelnd aus dem Bett. Ach, gestern war ihm alles hier so freundlich entgegengekommen, und heute war es so grau und trist.

Als sie die Treppen herunterstolperten, kamen ihnen in der Dämmerung die Zeitungsfrauen und die Milchausträgerinnen entgegen, nicht frisch und derb und rot, sondern welk und keuchend. Und auf dem Hofe wirbelte schon Frau Pieseckes Besen. Frau Ziedorn ballerte immer noch Türen und stellte den jungen Leuten den Kaffee hin, so wie man einem Hund das Futter vorschiebt. Aber Herrn Ziedorns scharf geschnittener Männerkopf war zu interessanter Blässe vergeistigt. Und kaum daß Emil Kubinke die Schrippe halb aufgegessen, da ging auch schon die Schelle an der Ladentür. Und Emil Kubinke wischte sich mit den immer noch klammen Fingern die Krümel vom Mund und ging vor, bedienen. Aber die Kunden jetzt am Morgen hatten keine Zylinder und keine Brillantringe und keine breit gesteppten Paletots, und sie sagten ganz tief »Mahlzeit«, wenn sie eintraten, und noch tiefer »Mahlzeit«, wenn sie gingen. Und sie ließen sich nur einmal überrasieren, legten keinen Wert auf Pudern oder Spritzen, wuschen sich schnell noch den Seifenschaum von den Ohren und den Schläfen ab und machten, daß sie weiterkamen, auf den Bau oder ins Geschäft, zu ihren Packen, Wagen und Dreirädern. Und Herr Ziedorn schwang selbst das Messer. Hier hieß es nämlich die Kunden schnell abfertigen – denn, wenn sie einmal warten mußten, kamen sie nicht wieder, – das wußte er. Und Herr Ziedorn hatte, wie wir schon sahen, kein Vorurteil. Jeder war ihm gleich, der ihm Geld brachte, arm oder reich. – Verdienen wurde bei ihm groß geschrieben. Leben und leben lassen – war sein Wahlspruch. In Wahrheit aber kam es ihm mehr aufs Leben, als aufs Lebenlassen an. Plötzlich gegen acht Uhr jedoch schien dieser eine Strom versiegt. Nicht ein einziger mehr mit Mütze, im Sporthemd, ohne Kragen, in blauem Leinenkittel! Und schon kam langsam wieder der erste Zylinder, langsam der erste englische Hut, die ersten blitzenden Brillantringe, während jetzt Emil Kubinke seinen Autoschal um den Hals warf, seine Messer noch einmal prüfte und seinen Gang zur Kundschaft begann. Die merkwürdige Zaubermacht des Autoschals bewährte sich auch dieses Mal: Emil Kubinke war ein ganz anderer, als er ihn um die Schultern fühlte, und da zudem soeben die Sonne durch einen grauen Himmel brach und die Straße hell, farbig und lustig machte, so begann Emil Kubinke wieder mit den schönsten Trillern, während er die Hausglocke zog, um Herrn Max Löwenberg seine Aufwartung zu machen.

Aber Emil Kubinke hatte noch nicht zwei Schritte auf dem roten Teppich des Vestibüls zurückgelegt, als aus der Luke der Portierloge ein Kopf herausschoß wie ein bläffender Hofhund aus seiner Hundehütte: »Wo wollen Se'n hin?«

»Löwenberg«, sagte Emil Kubinke bescheiden.

»Denn jehn Se ma jefälligst über de Hintertreppe! Det war ja det Neuste, wenn mit eenmal de Babiere über de Vordertreppe jehn wollten! Det wird ja alle Tage schöner! Und 'n andermal jehn Se durch 'n Nebeneinjang, – hab'n Se mich verstanden?«

Und wie Emil Kubinke schon auf der Hintertreppe war, da brüllte der neue Vizewirt, Herr Piesecke, immer noch hinter ihm her.

Man möge deswegen nicht schlecht von Herrn Piesecke denken. Er war, wie wir noch sehen werden, von Hause her ein ganz gemütlicher Mann. Aber er war nun zu lange schon Vizewirt in vornehmen Häusern gewesen, um nicht in Harnisch zu geraten, wenn jemand die Vordertreppe benutzen wollte, den er für die Hintertreppe reif hielt.

Emil Kubinke war nicht stolz, und er legte kein sonderliches Gewicht auf Vordertreppe oder Hintertreppe. Aber er war doch im Augenblick verwirrt, daß sein neuer Autoschal so gar keine Wirkung auf Herrn Piesecke ausübte. Dann jedoch dachte er, daß er vielleicht in der Küche einen Augenblick unbemerkt mit Pauline sprechen könnte. Und Pauline gefiel ihm nun mal durch ihre Vornehmheit am allerbesten. Und als Emil Kubinke jetzt klingelte, da war es nicht vom Treppensteigen, daß ihm das Herz klopfte. Aber heute war nun einmal keineswegs mehr der erste April, und als Emil Kubinke sein freundlichstes Lächeln aufsetzte, um schon damit Paulines harten Sinn zu erweichen, da blickte er mit einmal in ein altes, gelbes, kleines, runzliges Gesicht einer großen, stockdürren Person, sah ein paar verschleierte Augen und eine rote Himmelfahrtsnase, und eine Stimme im reinsten Ostpreußisch, wie das Quarren einer rostigen Türangel fragte ganz hoch: »Äh, was wollen Se denn, junger Mann?«

»Ich bin der Barbier.«

»Da missen Se noch lauern; der jnädige Herr sitzt jrade in de Badewanne«, sagte die Köchin und ließ Emil Kubinke in die Küche eintreten, die in ihrer Unordnung nicht viel anders als gestern abend ausschaute. Dann ging die Köchin selbst zur Badestube und hieb mit ihren harten Fäusten gegen die Tür.

»Kommen Se raus, Herr Löwenberch, der Barbier is da.«

Und drinnen brüllte etwas: »Warten!«

Hinten aber am Ende des Korridors steckte Pauline ihren rotblonden Kopf durch eine Türspalte. Und patsch, patsch kam es auf ganz kleinen Füßen den Korridor entlang gewackelt. Und eine Frauenstimme rief: »Aber unser Goldhänschen soll doch nicht immer zu der Anna in die Küche gehen!«

Das Goldhänschen jedoch ließ sich nicht beirren und machte, daß es weiterkam, nahm in der Küche mit seinen O-Beinen vor Emil Kubinke Aufstellung, steckte den einen Finger in die Nase und sagte: »Mann – Mann.« Denn trotzdem Goldhänschen – es war schwarz wie ein Rabe – bald zwei Jahre alt war, verfügte es doch über einen sehr geringen Wortschatz, den es aber dadurch zu vergrößern strebte, daß es alles zweimal sagte. Und eine alte Dame kam Goldhänschen nachgestürzt, riß es mit der Gewalt eines Wirbelwindes vom Boden hoch, küßte Goldhänschen auf sämtliche Backen, wo sie gerade hintraf, und knudelte es herum wie ein Bündel Wäsche, während sie zwischendurch in der halbblödsinnigen Art der Großmütter mit lallender Stimme behauptete, daß sie hier aber auch alle zu dem Kind schlecht wären.

Und Herr Löwenberg ging im Bademantel, wie ein Araber mit flatterndem Burnus, den Korridor entlang. Und als Herr Löwenberg dann vorn im romanischen Herrenzimmer fest auf dem Schreibtischstuhl saß, den Kopf im Genick, als er ganz unter Seifenschaum stand und sich nicht wehren konnte, da kam die alte Dame, die immer noch Goldhänschen auf ihrem Arm einer Massagekur unterwarf, und erzählte, wie himmlisch der Junge gestern wieder bei ihr gewesen wäre. Als das ›Leisch‹ auf den Tisch gekommen wäre, hätte er ganz deutlich ›Leisch‹ gesagt, und von allem hätte er haben wollen. Diese frühe geistige und körperliche Reife aber erinnere sie zu sehr an ihre Tochter Betty, der er ja auch wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Denn die hätte auch einmal, als sie noch ganz, ganz klein war, mit fünf Monaten bei ihrer eigenen Schwiegermutter – die nebenbei ein Aas war – als sie dazukam, mit bei Tisch gesessen und frische Wurst gegessen. Man denke: mit fünf Monaten! – Und nicht wahr, Goldhänschen würde das auch fertig bekommen?

Aber Herr Löwenberg, der gerade unter dem Messer war, konnte nicht, – wenn er nicht sein Leben in Gefahr bringen wollte, – seine Zweifel über diese Darstellung verlautbar machen. Und das war gut. Denn er hätte mit diesem Zweifel nur den schwer versöhnlichen Zorn der alten Dame heraufbeschworen, die das nicht etwa leichtfertig hingesagt hatte, sondern die fest überzeugt war, daß ihre Aussage dem Tatsachenbestand entspräche. Zur Richtigstellung muß aber doch bemerkt werden, daß die jetzige Frau Betty Löwenberg damals nicht fünf Monate, sondern ein Jahr und fünf Monate war, und daß sie nicht bei Tische saß, sondern auf dem Arm des Kindermädchens, und daß sie nicht frische Wurst aß, sondern nur mit ihren neuen Beißerchen an einem Stückchen Weißbrot knabberte. Alles übrige aber in Frau Rosa Heymanns Erzählung beruhte, um nicht ungerecht zu sein, auf lauterster Wahrheit. –

Und noch hatte Goldhänschen nicht die Zeitung vollkommen zerrissen – die dritte Beilage, die einzige Lektüre seiner Mutter, verschonte er instinktiv – und noch war Emil Kubinke nicht mit Nachrasieren fertig, als Frau Betty Löwenberg selbst in einer rosaseidenen Matinee, in einem klingenden Wasserfall aus Troddeln, Behang und Besätzen hereingerauscht kam und ihrem Gemahl einen Zettel überreichte: das, was sie da aufgeschrieben hätte, möchte er ihr aus der Stadt mitbringen. Hier draußen bekäme man ja überhaupt nichts, und es täte ihr schon leid, daß sie hier herausgezogen wäre, und sie wäre ja auch von Anfang an dagegen gewesen. Nun hätte ja Herr Max Löwenberg sagen können, daß er sich solange gesträubt hätte, in den Westen zu ziehen, weil er in der Nähe seines Geschäfts bleiben wollte, und daß Frau Betty ihm täglich und stündlich damit in den Ohren gelegen hätte, ja, daß sie sogar höchst peinliche Straßenbelästigungen erfunden hatte, so daß er sich endlich entschließen mußte, die Neue Roßstraße zu verlassen. Aber Herr Max Löwenberg war klug genug, einzusehen, daß er hier als einzelner durchaus in der Minderzahl war; und außerdem läßt man sich ja von einem stillen Kompagnon, der einem hunderttausend Mark ins Geschäft gebracht hat und von dem noch einmal über kurz oder lang – denn Frau Heymann mußte schon jedes Jahr nach Karlsbad – zum mindesten die gleiche Summe zu erwarten ist, manches sagen, das man in einem anderen Falle nicht unwidersprochen lassen würde. So also erwiderte Herr Max Löwenberg freundlich, daß er alles gut besorgen würde, und Frau Löwenberg drückte ihm einen Pflichtkuß auf die frisch rasierte Wange, und Goldhänschen streckte die Arme nach einem romanischen Löwen aus, der wie ein mißratener Pudel auf dem Bücherspind thronte, und machte ›Birr – birr‹. Und Frau Rosa Heymann begann Goldhänschen von neuem zu küssen, zu knudeln und zu drücken, während Frau Löwenberg und ihr Gatte in stummer Verzückung verharrten.

Man wird sich vielleicht wundern, woher Löwenbergs, die doch gestern so einsam waren wie Brüderchen und Schwesterchen im wilden Wald, nun mit einmal so zahlreich geworden sind. Aber da Goldhänschen gestern während des Umzugs bei seiner Großmutter in der Sächsischen Straße wirklich vorzüglich aufgehoben war, so lag kein Grund vor, uns seiner anzunehmen. Und die Köchin Anna war eben heute mit dem Frühsten aus Schmoditten von ihrer immer noch todkranken Mutter zurückgekehrt, weil sie es nicht über das Herz brachte, die Herrschaft so lange allein zu lassen. Und wenn sie trotzdem die weite Reise, die beschwerliche Nachtfahrt in der vierten Klasse nicht sonderlich angestrengt hatten, so war vor allem der Grund hierfür darin zu suchen, daß Anna die letzte Nacht wie die vorangehenden Tage keineswegs in Schmoditten, sondern in der Wohnung ihres Schwagers, des verwitweten Gelegenheitsarbeiters Hermann Pepusch, Fehrbelliner Straße dreiundzwanzig, Quergebäude vier Treppen, zugebracht hatte. Denn wenn die brave Anna, eingetrocknet wie eine Backbirne, mit ihren dreiundvierzig auch längst von den Jahren der Jugend Abschied genommen hatte, so hatte sie damit doch noch nicht der Quadrille der Jugend den Rücken gekehrt.

Im Eßzimmer erwischte Emil Kubinke noch für einen kurzen Augenblick Pauline, die eifrig mit einem Staublappen an dem Schnitzwerk der Ritterburg herumrieb. Ihr rotblondes Haar stand ihr wie ein Lichtschein um das helle, etwas sommersprossige Gesicht.

»Na, wie haben Sie denn heut geschlafen?« fragte Pauline und stieß Emil Kubinke zart bedeutsam mit dem Ellbogen in die Seite.

»Ach, gar nicht gut«, sagte Emil Kubinke leise. »Es ist doch sehr kalt oben.«

»Bei mir war es sehr schön warm«, sagte Pauline scheinbar ganz harmlos, aber keineswegs ohne jeden Nebenton. Und sie sah dabei den kleinen, schüchternen Emil Kubinke mit einem Paar Augen an, daß ihm jetzt nachträglich auch sehr schön warm wurde.

»Ja, das glaube ich«, sagte der verlegen. »Sie haben ja Heizung.«

»Aber nich zu knapp«, entgegnete Pauline stolz und hielt es für angebracht, mit dem Staubtuch nach Emil Kubinke zu schlagen.

»Und wie gefällt's Ihnen denn hier?« fragte Emil Kubinke halblaut und brachte seinen Kopf – es zog ihn so – in bedenkliche Nähe zu dem rotblonden Heiligenschein Paulines.

»Hier? – Bei die Leute bleibe ich nich acht Tage! Mit die Olle, mit die Köchin, kann sich ja kein Mensch vertragen. Die Olle is ja verrückt!«

»Ach, bleiben Sie man hier, Fräulein«, sagte Emil Kubinke. »Das wäre doch wirklich nichts, wenn Sie wieder wegzögen!« »Mit einmal! Es sind so viel andere Mädchen hier im Haus. Sehen Se, die Hedwig drüben, die hat ja schon vorhin aus'n Fenster jekukt, wie Sie übern Hof jegangen sind.«

Plötzlich erhob im Nebenzimmer Goldhänschen ein Mordsgebrüll. Es war über eine Fußbank gefallen und schrie nun ohne Aufhören, als ob es am Spieß stecke, trotz Mutter und Großmutter, die ihm mit kaum geringerer Lungenkraft die Worte: »Lade, Lade« und »Bonbonchen« entgegenbrüllten. Und Emil Kubinke machte schnell, daß er aus dem Zimmer kam, denn es wäre ihm doch unangenehm gewesen, wenn man ihn hier noch angetroffen hätte.

Aber Pauline rief noch einmal »St, st!« hinter ihm her; und als Emil Kubinke sich umdrehte, da sagte sie: »Vergessen Sie nicht, frisieren, – am achtzehnten – aber bestimmt.« Und dabei versprachen Paulines große, dunkle, feucht schimmernde Augen dem glücklichen Emil Kubinke die allerschönsten Dinge.

»Nein, nein«, sagte Emil Kubinke. Und plötzlich faßte er sich ein Herz, und nur er wußte, was er damit meinte: »Aber vergessen Sie auch nicht!« rief er. Und dann beeilte sich Emil Kubinke ob dieser Kühnheit, daß er nur ganz schnell den Gang herunterkam.

Draußen stand am offenen Herd die alte Köchin; und sie glich, wie sie da mit dem Feuerhaken herumstocherte, vom Flammenrot bestrahlt, auf ein Haar der Alten aus der Hexenküche.

»Äh«, sagte sie, »haben Se ieber mich jesprochen? Was hat Ihn' denn die Pauline von mir jesacht?«

»Über Sie? Wir haben nich ein Wort über Sie gesprochen«, sagte Emil Kubinke und machte, daß er aus der Tür kam.

Aber da wäre er beinahe gegen den Hilfsbriefträger, Herrn Schultze, geprallt, der im gleichen Moment drüben aus der anderen Tür trat. Sein Kopf war so rot wie der Streifen um seine Mütze, und hinter ihm tauchte die lange, blonde Emma auf, ebenfalls in schönster Sommerfarbe, und die Haare wirr wie ein Flederwisch.

»Also dann komme ich mit dem Einschreibebrief noch einmal wieder«, sagte Herr Schultze plötzlich sehr laut, sehr würdig, sehr ernst und sehr dienstlich. Und auch die lange, blonde Emma fühlte, daß man einen Beamten nicht verraten oder kompromittieren dürfe. Und sie sagte so laut, daß es Emil Kubinke hören mußte, als er die Treppe hinunterging: »Jejen zwölwe treffen Se de Frau am sichersten.«

Aber seltsam – Herr Schultze mußte doch noch andere und geheime Aufträge für die Herrschaft der blonden Emma haben, denn trotzdem Emil Kubinke nun ganz langsam die Treppe hinunterging, hörte er doch keinen Tritt hinter sich, und nur ein ganz leises Tuscheln verriet ihm, daß da oben noch gesprochen wurde.

Bei Herrn Markowski öffnete Hedwig Emil Kubinke die Tür. Klein, fest, rund, vollbusig, mit einem Kopf wie eine vergnügte Kegelkugel. Das Gesicht glänzte nur so. »Na?« fragte sie, »Ihr Kollege, der Herr Tesch, kommt wohl nicht mehr?«

»Nein, ich bediene von jetzt an außerm Hause.«

»Ach, was Sie sagen«, versetzte Hedwig und zupfte verlegen an ihrer Schürze.

»Sie haben wohl meinen Kollegen gut leiden können?«

»Den?« meinte Hedwig verächtlich, »den? – der bild sich ja ein, er is 'n Affe, und die andern sind jarnischt.«

»Aber der Schlächter, der jefällt Ihnen jewiß besser, Fräulein?«

»Mir? – Na nu wird's Tag! Ick hab mit den Schlächter höchstens zweemal in mein' Leben jesprochen.«

»Aber Sie haben doch gestern mit ihm oben auf de Treppe in de Ecke gestanden?«

»Ich? – Det wird wohl die Aujuste vom dritten Stock jewesen sein. Ick bin jestern überhaupt schon um halbneun in de Falle jekrochen. So miede war ick.«

Emil Kubinke blinzelte mit den Augen. »Na, dann habe ich mich jeirrt«, sagte er.

»Det will ich auch meinen«, gab Hedwig kurz zurück.

Von drinnen hörte man Herrn Markowski brüllen:

»Zum Donnerwetter, ist denn der verfluchte Kerl von Barbier noch nicht da? Ich muß ja fort!«

Aber als Emil Kubinke hereintrat, da war Herr Markowski wie umgewandelt.

»Na, es ist nur gut, daß Sie überhaupt noch einmal kommen«, sagte er freundlich, nachdem er sich von dem Staunen, ein neues Gesicht zu sehen, erholt hatte.

»Ist Francillon Erster?« rief er dann und knöpfte sein Jägerhemd zu, aus dem seine deutsche Männerbrust rauh und unverhüllt hervorgesehen hatte.

Emil Kubinke sah Herrn Markowski erstaunt an.

»Mann Gottes!« schrie der, »ich frage Sie ja nur, ob Francillon Sieg oder Platz ist! Verstehen Sie mich denn nicht?«

»Ich habe noch nichts gehört«, stotterte Emil Kubinke.

»Natürlich!« brüllte Herr Markowski, »natürlich werde ich schon wieder meine paar Kröten verlieren. Aber bestellen Sie nur Ihrem Herrn Ziedorn, er sieht samt seinen todsicheren Sachen keinen Groschen mehr von mir. Das ist ja lächerlich! Neulich, wo ›Revanche‹ achtzehnfaches Geld gibt, sagt der Esel, ich soll auf ›Mon Petit‹ setzen! Und jetzt macht Francillon auch nichts! Das kann mich einfach scheußlich ärgern!«

Herr Markowski war, – wie wir schon anläßlich des »Ziedornins« sahen, – von Temperament Choleriker; aber er war, wie alle Choleriker, nicht nachtragend, und er ließ nie einen Unschuldigen seinen Zorn entgelten. Und als Emil Kubinke seine Aufgabe zu Herrn Markowskis vollster Zufriedenheit – und was Rasieren anbetraf, war das nicht leicht – erledigt hatte, ließ Herr Markowski ihm hoheitsvoll ein Geldstück in die Hand gleiten.

Als Emil Kubinke das Rasiergeschirr herausbrachte, plantschte Hedwig immer noch unwirsch mit dicken, entblößten Armen am Abwaschtisch. Jetzt schien sie gar nicht mehr auf ihn zu achten. Und Emil Kubinke sagte sich, daß er sie gewiß vorhin beleidigt hätte. Schließlich konnte es ja auch wirklich die Auguste vom dritten Stock gewesen sein. Männer sind nämlich wie Kinder. Sie glauben immer das, was man ihnen sagt.

Aber Emil Kubinke wollte sich doch nicht so ganz geschlagen geben.

»Na, Fräulein Hedwig«, sagte er, und er dämpfte seine Stimme zu bestrickender Weichheit, »kommen Se heute abend nach neune nich noch 'n bißchen vor de Tür?«

»Det könnte Ihn' woll so passen«, sagte Hedwig spitz und wandte kaum den Kopf nach ihm. »Ick jeh des Abends überhaupt nicht runter.«

»Na, dann vielleicht diesen Sonntag, Fräulein Hedwig? Haben Sie da Ausjang?«

»Den Sonntag fahr ick zu meine Freundin nach 'n Gesundbrunnen. Mit Herren jeh ick nie aus! Sowas mache ich nich. Da können Se sich 'ne andere zu suchen!«

Emil Kubinke stand ganz verschüchtert und puterrot. Weniger über die Abweisung, die er erfuhr, als über die geringe Erfahrung, die er in der Beurteilung des weiblichen Geschlechts bewiesen hatte. Als Hedwig das sah, regte sich doch ihr mitleidiges Herz, und – indem sie den Ton von Dur auf Moll herabstimmte, – fügte sie hinzu: »Es jibt jewiß so viele, die gern mit Ihn' jehn wollen. Warum denn auch nich? Sie sind doch 'n janz hübscher Mann!«

»Ach, all die andern sind ja lange nich so nett wie Sie«, meinte Emil Kubinke, denn er war nun einmal mehr für die kleinen, drallen, frechen Sperlinge, als für die schönsten Tauben auf dem Dach.

»Nee«, sagte Hedwig und tat die Nickelkanne zu den Tassen aufs Tablett, »den Sonntag kann ich wirklich beim besten Willen nich. Da muß ich zu meine Landsmännin nach 'n Jesundbrunn' fahren. Die hat mir jeschrieben.«

Und damit ließ sie Emil Kubinke stehen und ging, das Tablett in beiden Händen, den Korridor hinunter; und wieder wie gestern abend sah Emil Kubinke ihr nach, sah den schönen Gang, die breiten Schultern, das volle Haar, und die Worte des Herrn Tesch kamen ihm auf die Zunge, als er die Tür hinter sich ins Schloß zog: »Ein nettes Mächen. Es sind wirklich sehr nette Mächens hier im Haus.«

Und weiter lief Emil Kubinke. Treppauf, treppab, überall über die gleichen grauen Hintertreppen; und überall sah er neue Gesichter, neue Schicksale. Hier kam er in eine große Wohnung mit einer ganzen Reihe von Zimmern, in denen ohne Bedienung zwei einsame alte Leute wie zwei letzte, übriggebliebene Kanarienvögel in einer Riesen-Voliere hausten, – er wie sie schon halb närrische Sonderlinge. Da aber saßen wieder zehn, zwölf Personen eng gepfropft in einer Vierzimmerwohnung, und Emil Kubinke konnte kaum den Kunden rasieren, weil ihm die Kinder zwischen den Füßen herumliefen. Da gab es ältere Herren, die sich mit ihren Wirtschafterinnen duzten; und ein Literat kam endlich nach langem Klingeln und Klopfen im Nachthemd Emil Kubinke öffnen und drang ihm, als er fortging, einen Kognak auf. Da war ein Agent, bei dem die Möbel versiegelt waren, und der selbst in der Wohnung nicht das Monokel aus dem Auge ließ, nur damit man ihn vielleicht für einen Offizier in Zivil halten könnte. Ein Musiker war da, der in Unterhosen und rotem Sammetschlafrock vor dem Flügel saß, und der sein Spiel nicht unterbrach, sondern Emil Kubinke zehn Minuten warten ließ, bis er all seine Läufe und Übungen heruntergetrillert hatte. Diese empfingen ihn, als ob er ihr Vetter wäre, gaben ihm Zigarren und Trinkgelder, und jene knurrten kaum Ja und Nein auf seine bescheidenen Fragen, – alle aber schimpften, er käme zu spät, sie warteten, sie müßten fort, – und keiner dachte daran, sogleich nach dem Rasieren sich weiter anzuziehen.

Und als Emil Kubinke endlich zurückkam, da fragte Herr Ziedorn, wo er denn so lange geblieben wäre. Herr Tesch wäre immer schon viel früher zurückgekommen. Aber Emil Kubinke erwiderte, daß ihm eben noch alles neu wäre, und daß er morgen schon weniger Zeit brauchen würde.

Und am Nachmittag setzte Herr Ziedorn wieder seinen Zylinder auf, denn er war, wie er laut verkündete, in den Ehrenausschuß der Fachausstellung der Friseure gewählt worden, und da hätte er heute eine wichtige Sitzung. Aber wie das nun mal bei solchen Sitzungen ist, man wird sich, wenn jeder seinen eigenen Kopf hat, nur schwer über die strittigen Fragen einig. Es dauert meist sehr lange, und sie müssen oft wiederholt werden, ehe man zu einem Resultat kommt. Und so ging eben Herr Ziedorn von nun an jede Woche zweimal nachmittags mit Zylinder und gelben Glacés in die Sitzung des Ehrenausschusses der Fachausstellung der Friseure. Frau Ziedorn war versöhnt und stolz auf die neue Würde ihres Mannes; Emil Kubinke aber und Herr Tesch, die mit den Dingen besser Bescheid wußten, schwiegen als lächelnde Auguren.

Und am Nachmittag gab Herr Tesch Emil Kubinke eine ganze Zahl von Photographien von jungen Damen. Er möchte ihm raten. Denn Herr Tesch hatte unter ›Innig 185‹ sich als einen jungen, vielversprechenden Mann von angenehmer Gemütsart in einer Heiratsannonce dargestellt, und hatte nun eben die angesammelten Früchte von der Zeitungsfiliale eingeheimst. Aber Emil Kubinke war mißtrauisch. Und wirklich sagten ihm die Haartrachten, daß viele der Photographien zu ihren heutigen Besitzerinnen sich ebenso verhielten wie die lachenden Knabenbilder auf den Straßenbahnkarten zu den bierbäuchigen und vollbärtigen Abonnenten. Und so konnten sie sich nicht auf die gleiche Dame einigen. Emil Kubinke war für eine dreiundzwanzigjährige Witwe mit vornehmer Nußbaumeinrichtung, während Herr Tesch sich doch mehr zu einer bemittelten Landwaise mit Kind hingezogen fühlte.

Überhaupt, – wer in Herrn Tesch nur einen schlichten und einfachen Menschen vermutete, war im Irrtum. Herr Tesch war eine sehr komplizierte Natur von reichem Innenleben. Er war der beliebteste Komiker des Theaterklubs ›Joseph Kainz‹, und er ging außerdem jeden Freitag abend in den Witwenverein ›Verlorenes Glück‹, allwo er sich als ›Justav mit der Tolle‹ vor allem wegen seines figurenreichen Contretanzes einer großen Volkstümlichkeit erfreute.

Und die Tage gingen hin für Emil Kubinke in der ermüdenden Gleichförmigkeit der Arbeit. Alte Kunden wie der Agent verschwanden plötzlich mitten im Monat aus der Gegend. Eines Morgens war das Nest leer und der Vogel ausgeflogen. Und neue Kunden kamen hinzu. Und Emil Kubinke mußte die Strecke von Haus zu Haus fast im Dauerlauf zurücklegen, um nur nicht zu spät wieder ins Geschäft zurückzukommen. Doch ob er es eilig hatte oder nicht, danach fragte keiner von den Kunden. Nur Herr Löwenberg war immer parat. Denn, wenn die alte Köchin ihn auch die ersten Tage stets aus der Badewanne holen mußte, da Herr Löwenberg bei der teuren Miete dem Wirt keinen Tropfen warmes Wasser schenken wollte, so beschloß nach wenigen Tagen Herr Löwenberg, doch nur noch einmal wöchentlich in die Fluten zu steigen. Und damit kehrte er zu seiner alten Gewohnheit zurück, ungefähr jeden Monat einmal für eine umfänglichere und allseitige Reinigung seiner Person zu sorgen. Pauline aber konnte Emil Kubinke nur ganz selten einmal sprechen, denn sie lebte mit Anna, der alten Köchin, wie Hund und Katze. Und sowie Emil Kubinke auch nur ein Wort zu der rotblonden Pauline mit den großen Rehaugen sprach, steckte auch schon die Alte ihren häßlichen, mageren Kopf dazwischen. Und unter solch einer Obhut brachte es Emil Kubinke nicht übers Herz, von dem zu sprechen, was ihm am nächsten war, und was ihm, wenn er Pauline gegenüber stand, erst voll zu Bewußtsein kam. Denn während ihn die anderen nur verwirrten und seine Wünsche zu sich hinzogen, schien ihm alles an diesem Mädchen lieb und wert. Und er wäre den ganzen Tag nicht müde geworden, sie anzuschauen. Vielleicht, meinte er, könnte er sie öfter in Ruhe sehen, wenn sie erst von Löwenbergs fort war. Denn am Fünfzehnten wollte ja Pauline bestimmt kündigen, da sie mit der alten Köchin nicht auskommen konnte.

Die alte Anna war nämlich, wie gesagt, eine veritable Perle. Und wenn Perlen mit dem Alter immer besser und wertvoller werden, so konnte man sie wirklich schon als ein Kronjuwel bezeichnen. Nur hatte diese Perle den einen Fehler: sie war zu sehr von ihrem Wert überzeugt. Sie hielt sich mit der Kritiklosigkeit des Ungebildeten für unersetzlich und drückte so alles nieder, was um sie war. Sie war von einem Dunstkreis von Lärm, Zank und Unfreundlichkeit umgeben. Sie bestimmte, herrschte, ließ niemanden neben sich aufkommen, – auch die Herrschaft nicht, und das ganze Haus tanzte nach ihrer Pfeife.

Eine Weile hatte man das ruhig mit angesehen, – denn für ein gutes Mittagbrot läßt man sich ja manches gefallen, – und als sie in Gegenwart eines Geschäftsfreundes Herrn Löwenberg erklärte: »Äh, woßu nehm Se da Zitron in 'n Thö? Da kriejenSe ja Bauchjrimmen nach«, so nahm er das noch als einen zarten Scherz auf. Als aber die alte Anna am nächsten Tag, nachdem sie eine Stunde im Küchenkoller das Geschirr durcheinandergeballert hatte, an die Dame des Hauses, die ihr sagte, daß sie die Wurzeln in der Hechtsoße lassen solle, da ihr Mann das von seiner Heimat her so gewöhnt sei, ein Ansinnen stellte, dem Frau Betty Löwenberg unter keinen Umständen entsprechen konnte, und als sie zudem kategorisch, mit fuchtelnden Fäusten erklärte, daß das ihre Küche hier wäre, ... da beorderte Frau Betty Löwenberg, aufgelöst in Tränen, telephonisch ihren Gemahl heim, der der alten Anna zu erklären hatte, daß man sofort auf ihre weiteren Dienste verzichte. Aber Herr Max Löwenberg war Großkaufmann genug, um zu wissen, daß Ärger nur die Lebenskraft heruntersetzt. Er unterzog sich deshalb der ihm aufgetragenen Arbeit kühl, schlicht, geschäftsmäßig und ohne Lärm. Darin war er, wie in dem Zylinder, ganz Engländer.

Und Anna erklärte, daß Löwenbergs eine so gute Köchin wie sie nie wieder kriegen würden, daß sie gegen den Herrn nichts habe, und daß sie noch Jahre hiergeblieben wäre, wenn eben nicht das Aas, die Pauline, im ganzen Haus über sie Klatschereien gemacht hätte, und wenn die Frau vernünftig gewesen wäre. Aber das ewige Tressieren, das könne ja kein Mensch aushalten.

Und Herr Löwenberg, der von dem Großvater aus Nakel her eine Anekdotensammlung besaß, wollte Anna eigentlich als Zeugnis einschreiben ›Sie hat hier gestohlen, mag sie auch da stehlen‹ – und das wäre der Wahrheit, – wenn man die üblichen Schmuh-Groschen der Köchinnen grobschlächtig als Diebstahl nehmen will, – auch ziemlich nahegekommen. Aber da Frau Löwenberg, die schon ganz versöhnlich gestimmt war, weil sie nur wußte, daß die Alte aus dem Hause kam, sagte, das ginge nicht, so etwas erlaube die Polizei nicht, so schrieb Herr Löwenberg, nachdem er Annas gute Eigenschaften ins richtige Licht gestellt hatte, ›verläßt den Dienst auf eigenen Wunsch. Unsere besten Wünsche begleiten sie.‹

Und man schied nicht etwa zornig voneinander, sondern die alte Anna drückte, nachdem Lohn und Kostgeld zu ihrer Befriedigung ausgefallen, mit tränenden Augenwinkeln, ganz gerührt allen die Hand, knudelte Goldhänschen und sagte, daß sie ihn bald einmal besuchen würde.

Unten bei Frau Piesecke aber machte sie noch einmal in der Portierloge Station und sagte, daß sie ihrem Schöpfer danke, daß sie aus der Sauwirtschaft da oben raus sei und daß sie sich schon vorgestern for'n nächsten Ersten zu eine Baronin vermietet hätte. Und sie warf den blanken Mietstaler auf den Küchentisch, daß es nur so schepperte.

Und dann ging Anna nach der nächsten Annahme der Paketfahrt und beorderte, daß man ihr sogleich ihren Schließkorb und die Nähmaschine nach der Fehrbelliner Straße dreiundzwanzig, Quergebäude vier Treppen, zu Herrn Hermann Pepusch brächte.

Herr Max Löwenberg aber fuhr wieder nachmittags in die Stadt zu seinen afrikanischen Straußenfedern, als wenn nichts geschehen wäre.

Und am nächsten Morgen trat eine Aushilfe bei Löwenbergs in Tätigkeit – oder richtiger in Untätigkeit – eine blonde Person, ausdruckslos wie eine Wassersemmel, matt wie eine Herbstfliege, in sehr gesegneten Umständen und von noch weit gesegneterem Ungeschick. Und die Anarchie im Hause Löwenberg, die jetzt eintrat, war beinahe noch schlimmer als die Tyrannis von vordem. Denn Frau Betty Löwenberg war wirklich in allen Wirtschaftsdingen so rat- und hilflos wie ein Kind. Und damit nicht alles drunter und drüber ginge, mußte die alte Frau Heymann ihre Karlsbader Kur aufgeben und jeden Vormittag bei ihrer Tochter mit am Herd stehen.

Pauline aber, die gesagt hatte: – sie oder ich! Pauline, die rotblonde Pauline mit den braunen Rehaugen, fühlte sich als Siegerin und blieb. Und alle, sie selbst, Goldhänschen, Frau Löwenberg – denn Pauline war sehr tüchtig und umsichtig – und ebenso, wie wir noch sehen werden, Emil Kubinke, alle kamen auf ihre Rechnung dabei.

Es wäre aber wirklich auch unrecht gewesen, wenn die alte Anna, bevor sie Löwenbergs und das hochherrschaftliche Haus verließ, nicht noch einmal bei Pieseckes Station gemacht hätte. Denn trotzdem Pieseckes einfache Leute waren, und trotzdem Frau Piesecke klein und unscheinbar war und ihr verknautschtes Dreiergesichtchen durch das ewige Zahntuch noch winziger erschien – niemand hatte sie je ohne das gestreifte Zahntuch gesehen, wirklich, man mußte annehmen, daß sie schon mit ihrem Zahntuch auf die Welt gekommen war – trotz alledem und alledem, wie es im Liede heißt, hatten Pieseckes es binnen kurzem verstanden, sich die Zuneigung sämtlicher Mädchen im Hause zu erwerben. Und die, bei denen die Zuneigung nicht aufrichtig war, hatten bald eingesehen, daß es besser wäre, mit Pieseckes als gegen Pieseckes zu stehen. Und so machte kein Dienstmädchen irgendeinen Gang mehr, ohne nicht wenigstens einen Augenblick beim Hin- oder Rückweg bei Pieseckes anzusprechen, ohne kürzere oder längere Rast in Pieseckes Portierloge zu machen, ihr bedrücktes Herz auszuschütten und alles zu berichten, was sie bei ihrer Herrschaft gesehen und gehört, natürlich nicht, ohne dafür ebenfalls Neuigkeiten einzutauschen. Von seiner Portierloge aus, von dem Flecken aus, in dem alle geheimen Fäden zusammenliefen, leitete Herr Piesecke die Schlacht, die er unentwegt gegen die Mieter des Hauses führte. Er brachte Unfrieden zwischen befreundete Parteien. Er drückte auf den Knopf, und vorn im vierten Stock explodierte eine Flattermine. Er verschaffte den Mädchen, die es gut hatten, im Nebenhaus bessere Stellen, aus denen man sie nach vierzehn Tagen rausschmiß; und er sorgte dafür, daß die hinten im Tiefparterre überhaupt keine Mädchen mehr bekamen, und daß Frau Ziedorn wie Frau Markowski bald über die Wege ihrer Männer genau unterrichtet waren.

Vielleicht hätte ja Herr Piesecke die Mädchen des Hauses nicht so an sich gekettet, wenn seiner Frau, so unscheinbar sie auch in ihrem Zahntuch erschien, nicht aus ihrer Destillenzeit als köstlicher, unverlierbarer Schatz ein Geheimrezept für die Zubereitung von Kartoffelpuffern geblieben wäre, nach denen selbst ein gefürsteter Graf sich alle zehn Finger geleckt hätte.

Ich will hier nicht in die Abgründe des Geheimnisses der guten Frau Piesecke eindringen. Ich will nur soviel andeuten, daß in einen umgekehrten Stuhl, der auf den Küchentisch gestellt wurde, eine Blechschüssel getan wurde, und daß an die vier zum Himmel strebenden Stuhlbeine die vier Zipfel eines Kinderbettlakens gebunden wurden. Und nun mußte der frische Kartoffelbrei eine ganze Nacht durch das Tuch durchseihen, mußte langsam seine rostfarbene Brühe abtropfen, ehe er zu den braunen, knusprigen Fladen Verwendung finden konnte. Wenn Frau Piesecke Kartoffelpuffer backte, so brauchte sie das niemandem im Hause zu sagen, es wußte doch jeder; denn der Duft aus der Portierloge, der doch gar kein Anrecht auf die Benutzung der hochherrschaftlichen Vordertreppe hatte, füllte das Marmorvestibül, zog vorn die Treppen mit den roten Plüschläufern empor und drang – sowie jemand die Tür öffnete, – in die Wohnungen. Und da Frau Piesecke auch noch, um den Qualm von der Pfanne herauszulassen, das Fenster nach dem Hof öffnete, so füllte der Schmalzgeruch ebensobald den Hof, stieg verlockend an den offenen Küchenfenstern empor und brachte vom ersten bis zum vierten Stock den Mädchen Grüße von Frau Piesecke. Aber während vorn die Mieter schimpften, was das schon wieder wäre, und woher das so infam röche, huschten hinten die Mädchen eines nach dem andern die Hintertreppe hinab nach Pieseckes Portierloge, zu den Kartoffelpuffern.

Und wer Herrn Piesecke hier gesehen hätte, hätte ihn überhaupt nicht wiedererkannt; denn persönlich war Piesecke ein scharmanter Mensch, voll liebenswerter Eigenschaften. Und was er an unangenehmen Seiten offenbarte, das waren nur Notwendigkeiten, die der Stand und die Moral des Standes forderten. Ja, während er noch mit der rechten Hand Auguste vom dritten Stock auf die Backen klopfte, kniff er schon hinterrücks mit der Linken der langen Emma in eine der zahlreichen festen Rundungen, die durch ihr helles Kattunkleid nach außen strebten. Oder Herr Piesecke bückte sich plötzlich, um scheinbar irgend etwas aufzuheben, was ihm heruntergefallen war, so daß die Mädchen kreischend in die Ecken sprangen. Und dazu war Herr Piesecke unerschöpflich in witzigen Bemerkungen, die die Mädchen belachten und gern hörten. Frau Piesecke aber war eine moderne Frau, und sie gönnte ihrem Gatten von Herzen, daß er sich das harte Alltagsleben ein wenig aufhellte, wußte sie doch nur zu genau, daß er immer wieder zu ihren gebackenen Kartoffelpuffern zurückkehren würde.

Aber endlich hatten doch auch die Mädchen soviel Anstandsgefühl, daß sie sich sagten, es schicke sich nicht, bei armen Leuten umsonst Kartoffelpuffer zu essen; und um sich erkenntlich zu zeigen, schleppten sie Pieseckes Töpfe und Näpfe voll zu von dem, was übrig blieb. Wenn vom Braten oben noch so viel heraus in die Küche kam, am Abend, sobald wieder nach ihm gefragt wurde, ob vielleicht etwas zum Kaltessen noch da wäre, war der Braten bis auf das letzte Fusselchen verschwunden; und selbst die Fünfgroschenbrote reichten kaum halb so lange wie früher. Dafür drückte Herr Piesecke auch mal ein Auge zu, wenn er ein Mädchen sonntags nach zehn mit ihrem Schatz im Hausgang traf. Ja, er gestattete sogar, wenn es regnete, daß die Mädchen mit dem Bräutigam für einen Augenblick bei ihm vorsprachen. Der junge Mann aber ging nie fort, ohne dem Pomeranzenschnaps, den er selbst braute, das höchste Lob gezollt zu haben.

Und auch sonst nahmen Pieseckes an Lust und Leid der Dienstmädchen regen Anteil; keine gab ihrem Verlobten, den sie in der Heimat hatte, den Abschied, ohne vorher Pieseckes um Rat gefragt zu haben. Und wenn Frau Piesecke auch nicht gerade aus dem Kaffeesatz weissagen konnte, so las sie doch den Mädchen aus den uralten, klebrigen Bostonkarten die schönsten Dinge heraus: Briefe mit roten und schwarzen Siegeln, die mit der Post kamen, Geld, viel Geld, sehr viel Geld, falsche Freundinnen über den Weg, vor denen man auf der Hut sein sollte, eine Reise mit der Eisenbahn, den Tod eines nahen Verwandten und die Untreue des Liebhabers. Und wenn alle Voraussagungen nicht unbedingt zutrafen, das letzte traf über kurz oder lang stets zu und befestigte bei den Mädchen den Glauben an die okkulten Kräfte der Frau Piesecke.

Die erste aber, die auf Frau Pieseckes unheimliche Kartenkunst schwor, war Hedwig. Die runde Hedwig, mit dem Gesicht wie eine lachende Kegelkugel. Das Geld hatte sie zwar nicht bekommen, den Brief mit den roten Siegeln auch nicht, auf die Reise bestand keinerlei Aussicht, ihre ganze Familie in und um Prenzlau platzte vor Gesundheit; – aber das mit der falschen Freundin übern Weg konnte schon stimmen, und ihr Bräutigam – nie hatte er sich diesen Ehrentitel zugelegt – der Schlächtergeselle Gustav Schmelow, war ihr wirklich untreu geworden ...

Denn als Emil Kubinke Morgen für Morgen bei Herrn Markowski vorsprach, da hatte ihn Hedwig zuerst sehr kurz und schnippisch behandelt; aber er war auch immer so sehr in der Hetzjagd, daß er sich nicht auf lange Gespräche einlassen konnte. Doch selbst seinen bescheidensten und harmlosesten Fragen und Anknüpfungen setzte Hedwig einen kaum verständlichen Widerstand entgegen.

Sowie jedoch Herr Markowski, in seinem Jägerhemd mit der rauhen und unverhüllten deutschen Männerbrust, Hedwigs, die ihm die Stiefel hereinbrachte, ansichtig wurde, konnte er es sich doch nicht versagen, ganz harmlos zu fragen, ob sie heute wieder die Suppe versalzen würde, oder ob sie wieder mit der Butter gegen die Wand rennen wollte; denn Hedwig hatte letzthin in tiefen Liebesgedanken mit dem Tablett statt durch die Tür durch die Wand gehen wollen, und wenn ihr das auch nicht völlig gelungen war, so war doch bei dieser Gelegenheit die Butter an der Tapete kleben geblieben, wie ein Schneeball an der Kirchenmauer. Die Familie Markowski aber hatte das nicht weiter tragisch aufgefaßt, und der Humor des Vorgangs hatte sie mit dem dunklen Fettfleck an der roten Tapete des Berliner Zimmers versöhnt, und außerdem wollten sie gerade an diese Stelle schon lange einen schönen, mit Briefmarken beklebten Teller hinhängen.

Nebenbei lag nun in den Worten des Herrn Markowski keineswegs ein Vorwurf; denn, da Herrn Markowski selbst alle Äußerungen des Lebens außerordentlich angenehm waren, so wußte er sie in ihrer schönsten Vollendung auch bei anderen zu schätzen; und er war der letzte, der Hedwig hierin etwa geschmälert hätte. Ja, um es gerade heraus zu sagen, Herr Markowski hätte sogar nicht ungern zur Vervollkommnung von Hedwigs Glück das Seinige beigetragen, wenn er nicht ein Mann von strengen, moralischen Grundsätzen gewesen wäre. Und einer seiner ersten Grundsätze, von dem er nie ohne Not ungern und nur selten abwich, lautete: ›das Haus wenigstens muß rein bleiben; sonst gibt's zum Schluß nur Unannehmlichkeiten.‹ – Ach, wenn doch alle Ehemänner so denken wollten!

Und es wäre nun falsch, anzunehmen, daß Hedwig etwa die Scherze des Herrn Markowski übel aufgefaßt hätte. Nein, wenn sie auch verschämt sagte: »Aber Herr Markowski, lassen Sie doch bitte das«, so lag keineswegs ein Widerspruch darin, und man hörte ihrer Stimme den geheimen Stolz an, daß das Schicksal sie und gerade sie mit dem süßen Glück ihrer Liebe gesegnet hätte.

Aber bald darauf, als Emil Kubinke eines Morgens kam, da öffnete ihm Hedwig mit einem ganz verquollenen und verweinten Gesicht; und als Herr Markowski nach seinen Stiefeln rief, da kam Hedwig nicht mit ihnen, wie sonst, hereingetänzelt, rosig wie ein Frühlingsmorgen, sondern durch die Tür schob sich nur ein dicker Arm, und die beiden großen Stiefel klatschten ins Zimmer. Und als Emil Kubinke mit der Zartheit einer säugenden Taube, wie es bei dem Alten von Stradford heißt, Hedwig nachher fragte, »aber Fräulein Hedwig, was haben Sie denn heute, Ihnen ist wohl Ihr Schatz untreu geworden?« da entgegnete Hedwig kratzbürstig, »Was geht denn Ihnen das an? Und außerdem habe ich Ihnen schon einmal gesagt, Herr Kubinke, daß ich überhaupt keinen Schatz nich habe!« Und in ihrem Zorn warf sie nach Manne, dem Dackel, den Frau Markowski an Kindes Statt angenommen hatte, mit einer, rohen Kartoffel, so daß das alte, faule Vieh ganz angstvoll auf seinen vier krummen Beinen aus der Küche schlidderte.

Emil Kubinke aber ging kopfschüttelnd fort und wagte kaum »Adieu, Fräulein« zu stottern. Nie hätte er geglaubt, daß das Weib ein so rätselhaftes Geschöpf sei.

Am Abend aber, als Emil Kubinke nach seiner Bodenkammer hinaufstieg, da blickte er noch einen Augenblick durch das geöffnete Flurfenster, und er sah gerade in Hedwigs Zimmer hinein. Die saß am Fensterbrett, hatte eine Küchenlampe neben sich stehen, daß ihr der helle Schein aufs Papier fiel, hatte den blonden Kopf ganz heruntergebeugt und schrieb und schrieb schwerfällig, mit dicken roten Fingern. Und Emil Kubinke fragte sich ganz erstaunt, was das Mädchen da nur zu schreiben hätte. Ja – wenn Emil Kubinke eine halbe Stunde später unten bei Pieseckes in der Portierloge gewesen wäre, da hätte er es Wort für Wort hören können, denn da las Hedwig den Brief noch einmal vor, ehe sie ihn in den Kasten warf, und sie zeigte auch die intime Photographie von dem Schlächtergesellen Gustav Schmelow, in enganschließendem Trikot, die Orden und Schleifen seines Athletenklubs auf der Brust, das Bild, das sie ihm nun wieder zurücksandte, mit ausgekratzten Augen und die stolze, hochgewölbte Brust an jener Stelle, an der Hedwig das Herz vermutete, mit zahlreichen Nadelstichen durchbohrt.

Aber Piesecke verzieh Emil Kubinke den Gedanken an die Vordertreppe immer noch nicht, und für Emil Kubinke waren ebensowenig Pieseckes der rechte Umgang. Und so kam es, daß sie sich bisher mieden und daß zu der gleichen Zeit, da unten in der Portierloge Hedwig in Rache schwelgte, oben Emil Kubinke in seinem Bett lag, den Wind hörte und die blaue Nacht mit ihren Sternen sah, in den unruhvollen Gedanken und Empfindungen der Jugend.

Denn, wenn für Emil Kubinke auch die hellen Tage in der immerwährenden Arbeit und Bewegung gleichmäßig dahinflossen, und wenn sie nicht duldeten, daß die geheime Sehnsucht des Lebens sich allzu stark hervorwagte, und wenn sie sie immer wieder zurückdämmten, so sehr ihr Strom auch gegen die Deiche und Mauern preßte – nur beim Damenfrisieren, wenn Emil Kubinke die blonden, braunen oder roten aufgelösten Flechten knisternd zwischen seinen Fingern spürte, da verschwammen ihm auf Augenblicke die weißen Gestalten in den bauschigen Frisiermänteln vor ihm, und sein Herz klopfte ihm bis in den Hals hinauf, während doch die Finger wie selbsttätig weiter bastelten und bauten – ja, wenn die hellen Tage auch die Fluten zurückpreßten, ... sowie die Abende kamen, mit ihren roten Farben, mit ihrem unheimlichen Halblicht, mit den grünen Flammen der Bogenlampen und den hellen Punkten in Scheiben und Läden, mit dem Dunst, dem Staub und dem Rauschen der Bahnen und den Klängen von hundert und hundert schweren und leichten Tritten, mit Gelächter, Hast und Werbung, dann stieg die Flut höher und höher, um die Buhnen und Deiche, die schon angstvoll in den Grundvesten zitterten und wankten. Doch wenn die Frühlingsnacht kam, wenn, die Lichter in den Scheiben und Läden erloschen, wenn die Straßen wie von feuchtem Brodem erfüllt waren, der alles dämpfte und unbestimmt machte, der die lauten Tritte milderte, der das Läuten der Bahnen wie zu fernen Klängen verschleierte, wenn die Bäume ihren herben Geruch ausatmeten und die kleinen zaghaften, ersten Blättchen und länglichen Knospen in den Schatten auf den Bürgersteigen sich in seltsam verschnörkeltem Filigran zeigten, wenn die ganze Atmosphäre wie von Lockung und Werbung erfüllt war ... dann, ja dann brach die Flut über Wehre, Deiche und Buhnen fort, schwer, mächtig, unaufhaltsam, alles überschäumend, alles fortfegend und niederstreckend – diese unbekämpfbare rote Sehnsucht der Jugend nach Liebe, nach Abenteuern, nach Umfangungen.

Und kaum daß Emil Kubinke dann die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, so trieb diese Sehnsucht ihn hinaus auf die Straße, sie gönnte ihm nicht einmal das Butterbrot, das er mit Würgen im Hals herunterbrachte und wenn ihn auch vorher Ermüdung übermannen wollte, – denn es gab viel Arbeit den Tag über – so peitschte sie ihn wieder hoch, daß er die Erschlaffung nicht mehr spürte.

Und von Tag zu Tag, mit jedem milden Abend wuchs draußen – wie die Knospen an den Bäumen, wie die ersten Blüten, die sich an den roten Johannisbeeren und an den gelben Ruten der Forsythien mehrten, wie die Blättchen an den Geißblattbüschen, die den Schleier immer dichter woben, – wuchs draußen das heimliche Flüstern, das Gleiten, das Raunen. Jeder raschelnde Frauenrock flatterte Lockung, jeder Frauenschritt schien wie wartend und verzögert. Die lange Straße mit den zackigen Baumreihen, mit der Perlenschnur der Bogenlampen in der Höhe, mit der trüben Nacht hoch darüber, mit dem bunten Spiel der Schatten auf dem Asphalt, mit den schwarzen Fensterreihen und den nun wie mondbeglänzten Giebeln, Erkern und Pfeilern ... die lange Straße trieb es dann Emil Kubinke auf und nieder, auf und nieder, und Liebespaare kamen vorüber; und Emil Kubinke erhaschte mal hie und da ein Wort, das ihm sinnlos erschien, und das doch der eine dem anderen anvertraute wie ein hehres Geheimnis. Er beneidete jeden, der so neben seinem Mädchen herschreiten konnte, und wenn sie auch nur roh und stumpf nebeneinander trotteten. Er träumte dann, daß der dort sein Gegner wäre, daß er ihn niederstrecken würde, und daß das Mädchen im Augenblick den anderen vergessen und sich an ihn schmiegen müsse. Oder er sah drüben auf der anderen Seite aus einer Hausnische eine einzelne Person heraustreten, und er wollte sie wortlos zwingen, daß sie zu ihm hinüberschritte und ihn begrüße, ihm sagte, daß sie seiner warte. Das Mädchen kam dann auch vorübergeschritten, und sie ging auf irgendeinen Kerl los, der noch eben ganz gleichgültig und pfeifend sich an eine Laterne gelehnt hatte, und der nun den freundlichen Gruß, das Lächeln, alles an ihr, das volle Haar, den freien, hellen Hals, die junge Kraft ihrer Glieder, das saubere weiße Leuchten ihrer Kleider nicht wie ein Gottesgeschenk, sondern wie einen selbstverständlichen Tribut hinnahm.

Und wenn dann Emil Kubinke weiterschritt, unwirsch, traurig, sehnsüchtig und zitternd, dann fühlte er, so verlockend sein Autoschal, – der nur zu bald Abendfarbe bekommen hatte, – auch flattern mochte, daß in der Quadrille, die um ihn her wirbelte, für ihn doch nirgends eine Tänzerin harrte, nirgends ein Platz war und daß, so sehr er auch suchen mochte, er nirgends eine Lücke fand, durch die er sich in diesen Kreis hineinstehlen konnte. Und immer, wenn er glaubte, schon eine Tänzerin auffordern zu können, da winkte sie schnippisch ab und machte einem anderen ihre Verbeugung, oder sagte, daß sie keine Lust zum Tanzen hätte. Und Abend für Abend ging so der kleine Emil Kubinke wieder heim, gerade vor Toresschluß, stolperte die Windungen der Korkenziehertreppe hinauf, schritt unter den Balken den halbdunklen Gang ab, horchte einen Augenblick mit angehaltenem Atem in die weite Dunkelheit hinein und ging dann aufseufzend in seine Kammer. Und was er auch lesen mochte, den Uhland, den Körner, den Wilhelm Tell, er konnte nicht recht dabei bleiben, die Buchstaben verwirrten sich, der Sinn entschwand ihm, und die Müdigkeit nach des Tages Arbeit kam jetzt wieder, daß er auf sein Bett sank; aber dann wurde er nur wieder wach, heiß, überrege und lag lange da und starrte mit aufgerissenen Augen in den grauen, trüben Nachthimmel oder in das Blauschwarz mit den hellen Fleckchen und Punkten der ewigen Sterne. Und so ging es Abend für Abend, ob draußen die Straßen blank und rein, wie frisch gescheuert waren, oder im Schimmer eines glitzernden Sprühregens lagen, ob eine warme Feuchtigkeit von Bäumen und Gesimsen troff, oder der Wind die Scheiben klirren machte – stets nur das gleiche, hoffnungslos ermüdende Spiel.

Emma, Hedwig und Pauline, die den ersten Tag Emil Kubinke hier draußen so freundlich und lächelnd umgaukelt hatten, gleich drei Schmetterlingen, die eine Distel umflattern, und die sich nur nicht darüber einigen können, wer sich nun zuerst an dieser Distel gütlich tun soll – Emma, Hedwig und Pauline schienen weit fortgeweht zu sein und ließen sich nie mehr des Abends blicken. Pauline mußte, wenn Frau Betty Löwenberg des Abends ausging, bei Goldhänschen bleiben und dessen sanften und gleichmäßigen Kinderschlummer bewachen und behüten, und so kam sie nie herunter; denn Frau Löwenberg erklärte ihrem Mann jeden Mittag, daß sie jetzt überhaupt zu nichts mehr käme, daß sie bei diesen ewigen Wirtschaftssorgen und dem Kindergeschrei ganz verdumme und verbauere, daß ihre geistige Kraft hinschwände und daß sie sich nur nach ein ganz klein wenig Erholung und Abwechslung sehne. Und Herr Max Löwenberg mochte noch so müde vom Geschäft nach Hause kommen, es nützte ihm ganz und gar nichts, er mußte noch einmal den Londoner Zylinder aufsetzen und mindestens mit seiner Gattin ins Café gehen, damit sie wenigstens einmal am Tage Menschen sähe, und sich über den neuen Hut und den Pelzmantel von Frau Cäcilie Simonsohn den Mund fusselig reden könnte. Drei Tage von den sieben Tagen der Woche waren aber Löwenbergs schon von vornherein versagt, – ohne den Freitagabend von Rosa Heymann zu zählen, – denn es erübrigt sich wohl zu sagen, daß Löwenbergs der Geselligkeit nicht abhold waren, und daß sie, wie die meisten ihres Kreises, stets zu anderen, aber nie zu sich selbst kamen. Und das war keineswegs dumm von ihnen; denn da hätten sie eben nur eine zum Sterben langweilige Gesellschaft vorgefunden. Und so nahm Abend für Abend Frau Betty Löwenberg den lachsfarbenen Theatermantel, sagte zu Pauline, daß sie heute wirklich sehr bald wiederkämen, und daß sie hoffe, ruhig gehen zu können, sie wäre überzeugt, daß sie gut aufpasse. Und im Fahrstuhl erzählte sie dann täglich ihrem Mann, daß sie keine Macht der Welt überhaupt aus der Tür bekommen hätte, wenn sie nicht in Pauline vollstes Vertrauen setzte. Herr Löwenberg aber dachte an die rotblonden Flechten und das lachende, helle Gesicht und sagte: er wäre auch der Meinung, sie schiene eine ganz ordentliche und tüchtige Person zu sein. Aber, wenn man ihn auf Ehre und Gewissen gefragt hätte, was er lieber getan hätte, im Café mit den vielen Menschen zusammen zu sein und zum hundertsten Male das Lied vom Nerzmantel der Frau Cäcilie Simonsohn, (niemand verstand, wo die das Geld dazu hernahm!) das Lied vom ›Nerzmantel bis auf die Erde‹ zu hören, oder sich und der ordentlichen und tüchtigen Person ein wenig plaudernd und beieinander die Zeit zu vertreiben ... man braucht nicht zu zweifeln, wie die Antwort ausgefallen wäre. Aber während Herr Löwenberg so würdig neben seinem stillen Kompagnon einherschritt, saß nun Pauline oben und las das dreiundvierzigste Heft von der ›armen Millionengräfin‹, eine schöne, handlungsreiche und spannende Erzählung vom berühmten Autor der ›verfolgten Unschuld‹. Emil Kubinke jedoch irrte durch die Straßen, sehnsüchtig und traurig, und er hoffte immer einmal, daß dieser Schmetterling seinem Weg entgegenflattern würde.

Doch auch Hedwig gaukelte nicht heran, sondern zog es nunmehr vor, in Pieseckes Portierloge zu bleiben und den alten Dachshund, der wahrhaft Menschenverstand besaß und genau wußte, wo er wieder hingehörte, allein in die Nacht hinauszuschicken. Nur Emma schien manchmal in der Ferne den einsamen Wegen Emil Kubinkes vorüber zu schweben, und der glaubte mehr als einmal ihre große hohe Gestalt weit unten im Halblicht vorbeigleiten zu sehen. Aber sie zog so schnell dahin und bog immer so bald in die dunkleren Nebenstraßen, nach dem offenen Land zu, ab, daß sie stets seinen Blicken entfloh – und schließlich konnte es auch ebensogut irgendeine andere gewesen sein.

So hatte der neidische Wind diese drei Schmetterlinge von seinem Wege fortgeweht, und schon fürchtete Emil Kubinke, daß sie ihm nie wieder zuflattern würden.

Am achtzehnten morgens aber, da flüsterte Pauline, als er zu Herrn Löwenberg ins Zimmer ging: »Vergessen Sie heute abend nicht, Herr Kubinke, nach neune.« Und der schrak freudig zusammen, denn ihm war das alte Abkommen ganz aus dem Sinn geschwunden.

»Wo denn, Fräulein Pauline?« fragte er und sah sie glücklich und zärtlich von der Seite an.

»Na selbstverständlich hier oben; de Brennschere brauchen Se jar nich mitzubringen, die hab ich alleine!«

Ach, Emil Kubinkes Himmel war schon wieder entgöttert! »Gewiß«, sagte er, »sowie ich kann, gleich nach neun!«

Als aber Emil Kubinke abends nach neune heraufkam, saß schon Paulines Freundin in der Küche, in einem langen schwarzen Mullrock, mit aufgenähten goldenen Pappsternen, als Königin der Nacht und trug über dem Haarbau noch einen großen doppelseitigen goldenen Blechstern, wie man ihn an die Spitze der Weihnachtsbäume heftet, und ein paar mächtige, krebsrote Arme quollen oben zu beiden Seiten aus dem verschnürten Mieder, so überraschend in ihren wuchtigen Fleischmassen, daß man glaubte, die Königin der Nacht hätte die Arme mit den Beinen verwechselt. Und die große, fette Person saß auf einer Ecke des Küchenstuhls, wagte sich nicht zu regen, aus Angst, sie könnte ihr Maskenkleid beschädigen, – und das hatte sie schon genug zu leihen gekostet.

Aus der Mädchenstube aber rief Paulines wohlbekannte Stimme: »Herr Kubinke, kommen Se rein!«

Und Emil Kubinke schob klopfenden Herzens die Tür auf, und da sah er auf dem Bett im Halbdunkel ein langes rotes Sammetkleid liegen, mit hellen Besätzen; und daneben saß im matten Schein der Lampe Pauline vor der alten birkenen Kommode, dem Spiegel gegenüber ... saß da, wenn auch nicht ganz in jenem flatternden und zarten Kostüm, in dem Heines Königin Pomare ihrem Friseur Audienzen gab, so doch leicht und locker genug, im Schnürleib und in kurzen weißen Unterröcken. Arme, Hals, Schultern und Brust waren frei, ganz weiß und zart und matt perlmutt schimmernd, wie man es eben nur bei solchen Goldfüchsen findet. Und hinten über den Rücken hinab fiel Pauline dieses offene rote Vließ, diese schweren Wellen von gesponnenem Kupfer, gemischt mit hellen Bronzefäden. Nur den Kopf wandte Pauline nach Emil Kubinke, sah ihn aus den Augenwinkeln an und lächelte ihm ganz leise und freundlich und ein wenig verschämt entgegen, mit einem Lächeln, das nicht mehr ihr Gesicht veränderte wie der Wind, der über Blüten huscht, und vor dem doch selbst ein Stärkerer gezittert hätte. Wieviel mehr erst so ein junger Soldat, der noch kaum je im Feuer gestanden hatte wie dieser Emil Kubinke.

Und als Emil Kubinke so den Kamm in langen Strichen durch das schwere Haar zog – keine von den feinen Damen, die vor ihm gesessen, hatte je so reiches und edles Haar aufzuweisen gehabt – und als er so auf die weißen Schultern herabsah, da wurde ihm sehr beklommen zumute, aber dann überwog doch auch hier die Freude, so auserwählt schönes Material einmal in Händen zu haben, und wenn ihm sein schweres Handwerk niemals bisher als Kunst erschienen war, hier, als er die Strähnen und Flechten hochnahm und spielend über die Hand breitete, als er so Haarbahn um Haarbahn zu einem reichgegliederten Bau zusammenfügte, da spürte er so etwas wie eine tiefe Befriedigung, die ihm das Formen mit den zierlichen und schmiegsamen Gold-, Bronze- und Kupferfäden eingab. Und aus den Schultern Paulines wuchs jetzt gleichsam unter Emil Kubinkes Händen dieser schlanke Hals empor; und während die roten Flechten wie straffe Saiten zum Scheitel emporstrebten, kräuselten sich immer wieder einige rebellische Löckchen zurück nach dem weißen Hals. Pauline aber saß ganz still, immer noch lächelnd, und beobachtete durch den Spiegel jede Bewegung Emil Kubinkes, und wenn er aufsah, so sah er ebenfalls im Spiegel das helle Gesicht Paulines mit den großen, feuchtschimmernden braunen Rehaugen. Und Emil Kubinkes Herz neigte sich vor so viel Anmut und Schönheit. Und er wollte diesem stummen Beieinander gar kein Ende machen, und immer wieder fand er irgendeine rebellische Haarsträhne, die sich nicht ganz nach seinem Wunsch in den hellen, feuerfarbenen Helm einfügen wollte; – nur um noch einen Augenblick glücklich und verwirrt auf den Perlmuttschimmer und auf die weichen Rundungen der weißen Arme, der Schultern und des Halses herabsehen zu dürfen.

Aber endlich mußte Emil Kubinke doch fragen, ob die Frisur ihr so gefiele, und Pauline lächelte wieder und sagte, während sie sich langsam erhob und sie sich nun in dem engen Raum, den Bett und Kommode fast ganz einnahmen, ganz nahe gegenüberstanden, leise und fast zärtlich, mit einer Stimme wie ein Kind, das sich nach dem Bett sehnt: er hätte seine Sache vorzüglich gemacht. Und jeder andere, nur nicht Emil Kubinke, hätte gesehen, wie sich Paulines Oberlippe hierbei leicht schürzte, als erwarte sie, daß sie geküßt würde; und wie es in den weißen Armen Paulines zuckte, als wollten sie sich im nächsten Augenblick schon um den Hals dieses Mannes da ranken und ihm seinen Lohn geben. Aber Emil Kubinke stand starr und steif wie ein Stock. Ach Gott ja, wenn Jugend oft wüßte... Und als er noch immer so stand und nicht den Mund aufbekam und nicht einmal eine Bewegung machte, die von Pauline zärtlich hätte mißdeutet und durch Gegenmaßnahmen hätte gefördert werden können – da nahm Pauline von der Kommode ihr ledernes Geldbeutelchen und suchte darin nach einem Fünfgroschenstück, – denn sie ließ sich nicht gern etwas schenken.

Da aber fand Emil Kubinke seine Sprache wieder und stotterte, er hätte es sehr gern getan. Er nähme kein Geld, und er möchte sie gern jeden Tag frisieren, nur weil sie so schönes Haar hätte.

Und draußen klopfte die Freundin und rief lachend: »Na, seid ihr denn noch nicht bald fertig, was macht ihr denn da zusammen in de Kammer, – ihr verheiratet euch wohl?«

Und Pauline rief sie herein, sie solle ihr beim Anziehen helfen, solle die Ösen zumachen, und damit war der arme Emil Kubinke plötzlich überflüssig und entlassen; aber er solle doch ja einen Augenblick in der Küche warten, wenn er sie in ihrem Maskenkostüm sehen wollte. Und nun saß Emil Kubinke unter dem grellen Gasglühlicht draußen auf dem Küchenstuhl, und während er von nebenan die Mädchen quietschen und lachen hörte, dämmerte es ihm auf, daß er es vielleicht soeben verpaßt hatte, Lohn und Dank für seine Kunst einzuziehen, die sicherlich so reich und schön ausgefallen wären, wie ihm das noch nie vordem zuteil geworden.

Aber da hörte Emil Kubinke Frau Löwenberg »Pauline« rufen und hörte die Tritte des Herrn Löwenberg auf dem langen Korridor, und der schüchterne Emil Kubinke sagte sich, daß er doch hier nichts mehr zu suchen hätte, und daß er sich doch nur lächerlich machte, wenn er hier in der Küche säße; und ehe die noch nach hinten kommen konnten, stahl er sich ganz schnell und leise wie ein Dieb zur Tür hinaus und schlich die halbdunkle Wendeltreppe hinab.

Unten vor dem Hause wollte er auf Pauline warten.

Und während nun oben Herr und Frau Löwenberg Pauline als ›Ritterin‹ bewunderten, in ihrem roten Sammetkleid, das an der linken Seite hochgerafft war und mit vielen Silber- und Goldborten und Tressen allenthalben umzogen war, das ein geschnürtes Mieder hatte und ein richtiges Gretchentäschchen; und während dazu Pauline stolz und doch verschämt in der Küche auf und nieder schritt, damit man sie auch von allen Seiten sehen könnte ... und während dann Frau Betty Löwenberg für Pauline ihren vorjährigen silbergrauen Abendmantel, den sie doch nie mehr in ihrem Leben getragen hätte, heranbrachte – sie gäbe ihn zwar gern, aber Pauline möchte recht auf ihn acht geben, er wäre noch sehr gut, besser als sie sich je einen kaufen könnte –; und während ferner Herr Löwenberg immer wieder um Pauline mit dem Ausdruck der Verwunderung herumstrich und ihr doch zu gern als Anerkennung wenigstens einmal in die Backen gekniffen hätte, wenn nicht das dicke Trampel, die Königin der Nacht, ihn so unentwegt angestarrt hätte ... ja während nun hier oben alles lachte und fröhlich im hellen Licht sich drehte, ging unten im Halbdunkel am Haus Emil Kubinke auf und nieder; und er sah immer noch die weißen Arme, den Hals und die Schultern vor sich. Und jetzt in Gedanken nahm er sich all das im Sturm, was ihm vordem selbst als Geschenk entgegengebracht wurde – wenn er nur den Mut gehabt hätte, einen Finger auszustrecken.

Als aber oben die Tür hinter der Ritterin und der Königin der Nacht sich geschlossen hatte, und als man beide noch auf der Treppe lachen hörte, da sagte Frau Betty Löwenberg ganz entrüstet: »Weißt du, Max, die Pauline ist doch sonst wirklich ein ganz hübsches Mädchen; aber jetzt eben in dem Kostüm – so etwas von gemein habe ich noch nicht gesehen!«

Herrn Max Löwenberg schwebte ein Tiername auf der Zunge; doch er war Engländer genug und ging Szenen aus dem Wege. Und deswegen sagte er nur – und er sah dabei Pauline in ihrer ganzen Frische noch vor sich: »Ich fand eigentlich, sie sah doch recht niedlich aus.«

Aber Frau Betty Löwenberg war ungehalten, wie sie es eigentlich schon den ganzen Abend über war, da sie heute einmal rettungslos zu Hause bleiben mußte.

»Natürlich«, rief sie, nicht ohne jene Schärfe, die das Gewürz aller ehelichen Gespräche bildet, »natürlich! So etwas gefällt dir immer. Ich möchte mal sehen, was du dazu sagtest, wenn ich mich so anziehen würde. Merkwürdig, daß ihr Männer« – in der Erregung machte Frau Betty das ganze Geschlecht von Adam an bis in alle Ewigkeit für die Sünden ihres Gatten verantwortlich – »daß ihr Männer immer an andern Frauen das liebt, was euch bei eurer eignen Frau bis ins Innerste beleidigen würde.«

Und Herr Max Löwenberg begann mit der schonenden Milde des Überlegenen: »Aber liebes Kind! – – –«

Ja, ja, eine besonders starke Psychologin war Frau Betty Löwenberg nicht.

Aber während so Emil Kubinke nun unten vor dem Hause im Schatten auf und nieder ging, um doch wenigstens noch einen Gruß und ein Lächeln von Pauline zu erhaschen, und während er immer wieder nach der Tür sah, damit Pauline ihm ja nicht etwa auskäme, achtete er naturgemäß nur gering auf das, was direkt vor ihm auf der Erde sich bewegte, und so merkte er es erst, daß er dem alten Manne, der sich eben friedfertig ein Ruheplätzchen suchte, einen Fußtritt gegeben hatte, als der ihm bläffend gegen die Beine fuhr, und als Hedwigs Stimme kategorisch: »Manne, komm beis Frauchen!« rief.

Und da sah er auch erst Hedwig, die ein paar Schritte davon in heller Schürze an einem Baum stand.

»Tag, Fräulein Hedwig«, sagte Emil Kubinke verlegen, denn es war ihm peinlich, daß man sein wartendes Auf- und Niedergehen beobachtet hatte. »Schöner Abend heute.«

»Schöner Abend heute«, wiederholte Hedwig, zwar wenig freundlich, aber keineswegs so, als ob sie von vornherein alle Verhandlungen mit dem Gegner abbrechen wollte. »Den Abend möcht ich wirklich mal bei Tage sehen.«

»Na, er kommt wohl nicht, Fräulein?« fragte Emil Kubinke wieder, denn er wollte doch irgend etwas reden.

»Ich weiß nicht, was Sie immer wollen, Herr Kubinke. Ich warte doch hier auf niemand«, versetzte Hedwig lachend, – denn sie fühlte, daß sie hiermit traf.

Jetzt war es an Emil Kubinke, sich zurückzuziehen; denn er wünschte nicht, seine Zuneigung zu Pauline vor der dicken, runden Hedwig zu profanieren, und ferner wollte er ebensowenig, daß ihn etwa Pauline mit diesem Mädchen hier in Unterhaltung träfe.

»Nein«, sagte er schnell, »ich gehe nur noch ein bißchen spazieren.«

»So«, meinte Hedwig ungläubig.

»Ja, wollen Sie nicht ein bißchen mitkommen?« fragte Emil Kubinke, und er hoffte, Hedwig würde dieses Ansinnen mit der ihr sonst eigenen sittlichen Entrüstung von sich weisen. Aber ganz heimlich da regte sich doch etwas in ihm, wie schön es wäre, wenn sie nun ja sagen würde.

»Wie spät is es denn?« fragte Hedwig, – um wenigstens die Form zu wahren.

»Es ist noch nicht halb zehn«, meinte Emil Kubinke und zog seine alte, geerbte Nickeluhr.

»Ach, Ihre Knarre, – die jeht ja nach de Suppe«, warf Hedwig ein. »Das muß doch mindestens gleich an zehne sein.«

»Nein, meine Uhr geht auf die Minute«, versicherte Emil Kubinke und griff nach Hedwigs Hand. »Ich habe sie erst heute gestellt.«

»Na denn, weil Sie's sind«, sagte Hedwig und drehte sich. »Aber höchstens 'ne halbe Stunde, länger kann ich nich.«

Und Männe, als ob er jedes Wort verstände, setzte sich zögernd auf seinen alten krummen Beinen vor den beiden her in Bewegung.

Und wie sie so nebeneinander hingingen im Halbschatten unter den Bäumen, da vergaß Emil Kubinke ganz schnell die goldenen Haare Paulines, vergaß die Ritterin, die er als dienender Page erwartet hatte, und alles sonst schwand ihm, was ihn eben noch in freudige Erregung versetzt hatte. Und er sah und fühlte und empfand nur die Nähe Hedwigs, dieser breiten, kleinen, robusten Person, die lachend, frisch, blond, – mit den weißen Zähnen, mit dem großen noch hübschen Mund, mit den Armen wie ein Schmied, die so fest aus den Ärmeln der Bluse quollen, – neben ihm herschritt.

Emil Kubinke hatte ihre Hand ergriffen, und da Hedwig sie ihm nicht entzog, so dachte er auch nicht daran, sie loszulassen, und Hedwigs Hand ruhte frisch und kühl zwischen seinen Fingern, die ganz heiß von dem stürmenden Blut der Jugend waren.

Am liebsten hätte ja nun Emil Kubinke gar nichts gesprochen, denn es war angenehmer, schweigend diese Wellen über sich hingehen zu lassen. Aber er mußte doch reden, um nicht langweilig zu erscheinen.

»Gott, haben Sie kalte Hände«, begann er. »Meine sind viel wärmer. Ja, ja, Fräulein Hedwig, – kalte Hände, warme Liebe.«

»Det machen Se sich man ab«, sagte Hedwig und stupste mit dem Arm nach ihm herüber. »Ick bin wie 'ne Hundeschnauze.«

»Ach, – so sehen Sie doch gar nicht aus«, meinte Emil Kubinke ungläubig.

»Nee – wirklich, – det haben immer alle Männer zu mir gesagt.«

»Aber weshalb haben Sie denn eigentlich neulich morgens geweint?« fragte Emil Kubinke plötzlich; und zwischen dieser Frage und den letzten Worten bestand ein innerer Zusammenhang.

»Weshalb ich geweint habe«, pladderte Hedwig los, und im Augenblick wußte sie noch nicht, was sie sagen sollte. »Na, janz einfach, weil ich – weil ick – weil ick mir eben über die Frau so gegiftet habe. Ick bin immer sehr freundlich zu ihr gewesen; aber das ist eben bei die Leute nicht angewendet. Sonst hat die Olle ja jeden Monat ein frisches Dienstmädchen gehabt, und ich bin überhaupt die erste, die es so lange bei der aushält. Die kann schon 'n Menschen was rumjagen. Davon haben Sie keine Ahnung, Herr Kubinke. Und Dank von die Leute, – na wat meinen Se wohl? – nicht vor'n roten Heller.«

Emil Kubinke pflichtete Hedwig vollkommen bei; denn er kannte Frau Markowski nicht, die wirklich eine gute Frau war, und der man einst auf den Grabstein statt aller Lobpreisungen die seltenen Worte hätte setzen können: ›Hier ruht Frau Markowski, sie hat innerhalb fünfzehn Jahren nur drei Dienstmädchen gehabt.‹ Und selbst wenn Emil Kubinke Frau Markowski gekannt hätte, in ihrer ganzen Gloriole liebenswürdiger und häuslicher Tugenden, er hätte doch Hedwig voll und ganz geglaubt und ihr zugestimmt. Denn es gibt Lebenslagen, in denen ein junger Mann sehr unklug handelt, wenn er in die Worte seiner Partnerin irgendwelche Zweifel setzt; und Emil Kubinke fühlte, daß er gerade dabei war, in solch eine Lebenslage hineinzuwachsen.

Und dieses Gefühl machte Emil Kubinke glücklich; und er schritt, eine Melodie leise vor sich hinsummend, – denn in Emil Kubinke sang und summte immer alles, sowie er froh wurde; und wenn er recht traurig und mutlos war, so begann es ebenso in ihm plötzlich zu singen und zu summen, so lange bis sich die Wogen wieder glätteten, – ja, Emil Kubinke schritt immer die helle Straße entlang. Und wenn es nur auf ihn angekommen wäre, so wäre er unter den Baumreihen hin bis an das Ende dieser langen Straße gegangen, bis zur letzten Perle an der langen. Perlenschnur, und er wäre wieder auf dem gleichen Wege mit Hedwig und Männe zurückgekehrt. Und das hätte ihm völlig genügt.

Aber an der nächsten Ecke blieb Männe ostentativ stehen, und Hedwig tat eine kleine Sekunde danach das gleiche.

»Nee, hier jeh ich nich weiter runter«, sagte Hedwig, »hier kenn'n se mir.«

Und damit bog Hedwig in eine weniger erleuchtete Straße ab, in Richtung Laubenkolonie, und zog den unschlüssigen Emil Kubinke, der hier noch nie entlang gegangen war, mit sich. Aber Männe trottete so ruhig vor ihnen her, als ob ihm hier zu jeder Tages- und Nachtzeit Weg und Steg und jeder Pflasterstein bekannt war; während Hedwig sich mit ihrem runden festen Arm bei Emil Kubinke einhängte, so fest, als ob sie seinen Arm in den Schraubstock nehmen wollte, und hiermit dem braven Emil Kubinke jeden Zweifel und Widerspruch nahm.

Aber auch jetzt noch schien Hedwig Bekannte zu fürchten. Denn während sie unausgesetzt sprach, irrlichterierten ihre Augen nach allen Seiten. Und jedes Pärchen, das drüben im Dämmer lautlos dahinschritt, das vor ihnen ging, das ihnen weit aus dem Halbdunkel her langsam entgegenkam, suchte Hedwig mit den Blicken zu enträtseln, ob es wohl jenes wäre, nach dem sie fahndete. Denn – um es nur schon einzugestehen – es war keineswegs allein Hedwigs Absicht gewesen, zusammen mit Emil Kubinke die schöne Luft des Aprilabends zu genießen; sondern Hedwig trug sich mit der nicht unbegründeten Ansicht, daß sie hier mit der langen blonden Emma den Schlächtergesellen Gustav Schmelow antreffen würde; und sie war der Hoffnung, in der darauffolgenden Szene der langen Emma ihren Gustav wieder abspenstig zu machen, dem sie immer noch von Herzen zugetan war, und dem sie sich auch sonst verbunden glaubte; trotzdem er ihr auf ihren Absagebrief mit einer injurienreichen, bildverzierten Karte geantwortet hatte, die, gerichtlich bewertet – selbst wenn die geringe Bildungsstufe des Absenders als strafmildernd in Betracht gezogen wurde – auf sechs bis acht Wochen Gefängnis einzuschätzen war. Und da Hedwig von so vielen Abenden her die verliebten Schleichwege Gustav Schmelows kannte, so nahm sie an, daß er mit Emma auch keine andern wandeln würde, und Männe – der ja beinahe Menschenverstand hatte, – war hierin ganz ihrer Meinung. Ja, Männe wackelte mit solch einer Bestimmtheit Schritt vor Schritt vor den beiden her, bog so sicher in die rechten Ecken ein, daß sich Emil Kubinke im stillen sagte, dieser Dackel müßte doch wirklich ganz ungewöhnlich klug sein.

Und mählich änderte sich das Bild. Die Straßen waren jetzt dunkel, weit dunkler als der Himmel, der zart und mit einem mattgrünen, immer noch ganz sanft und rosig gestreiften Horizont sich gen Westen hinauswölbte. Die Häuser standen nicht mehr in geschlossenen langen Reihen, sondern nur noch in Blocks, standen zu zweien und dreien und einzeln mit großen dunkelgähnenden Höhlen, mit Baustellen oder Stätteplätzen dazwischen. Neubauten mit ihren schwarzen Augen, riesig, unfertig, von Gerüsten umgeben, verloren sich in die Dämmerung. Oder eben vollendete Häuser ragten ganz einsam – wie gewaltige, bizarr geschnittene Kulissen, von einer einzelnen Laterne bestrahlt – und kein Fenster war in ihnen hell.

Und dann hörte die Bauzone völlig auf, und der Himmel, der ihnen doch so dumpf und trüb erschienen war, lag nun ganz matt und licht über einer weiten Fläche. Zartgrau und grau war er und mit dunkleren Wolken und mit wenigen Sternen in den Wolkenrissen. Und meergrün war er noch gen Westen. Und von einem leichten, schon halb vergessenen rosa Streifen war er gesäumt dort unten am Rand, wo Himmel und Erde sich berührten. Das ganze Land aber vor Emil Kubinke – einst tiefliegende naßgrundige Wiesen – es war nun schon seit über einem Jahrzehnt in Straßen geteilt, und es harrte der Bebauung. So lange aber war das Gewirr der Kreuz- und Querwege mit schönen Lindenbäumen und mit Rüstern besetzt; und alle hundert Schritte einmal, hüben und drüben, wurde, wenn auch nicht auf allen Wegen, der grüne Punkt einer Laterne sichtbar. Im Sommer natürlich, wenn das Laub ringsum an den Bäumen war, dann war jede einzelne Laterne ganz eingehüllt, hatte im Blattwerk nur einen Lichtkreis, dann sah man kaum von einer Laterne zur andern, und alles dazwischen war von einem schönen, schützenden Dunkel erfüllt. Dann mußten immer vier Laternen brennen, damit man die fünfte sehen konnte. Jetzt aber, da die Bäume ja noch kahl waren, eben ihre Knospen regten, und höchstens irgendein vorwitziger Lindenbaum ein paar kleine Blättchen licht und zart wie Seidenpapier entfaltete, sah man natürlich, wenn auch die Straße an sich dunkel blieb, alle die langen Lichterreihen hintereinander, nebeneinander sich schneidend und kreuzend in dem Astgewirr, das sich ganz bestimmt und deutlich von dem helleren Nachthimmel schied. Lauter grüne blitzende Pünktchen waren es, soweit der Blick reichte. Wie eine Wiese voll Glühwürmchen sah das aus. Und Emil Kubinke fand das hübsch, und er wollte einen Augenblick stehen bleiben, um es in Ruhe zu betrachten. Aber weder Hedwig noch Männe waren hierin seiner Meinung, denn sie hatten es beide schon zu oft gesehen, um dem Bild noch Reiz abgewinnen zu können. Männe vor allem schlidderte mit der Selbstsicherheit eines Grandseigneurs den Weg weiter und ließ sich auch nicht eine Sekunde beirren.

Und wer das Wort erfand, daß die Nacht keines Menschen Freund sei, der hätte hier sehen können, wie unrecht er hatte. Hier war sie der Freund so vieler, die auf das Wort der Philine schworen, daß die Nacht ihre Lust hat, und die sich durchaus nicht im Dunkeln fürchteten, sondern die sogar mit Fleiß und Absicht jede Helligkeit mieden. Langsam, langsam schlichen hier Liebespaare die Wege herunter, oder standen eng aneinandergeschmiegt im schützenden Schatten eines Baumstammes oder eines Bretterzaunes. Emil Kubinke gewahrte sie oft gar nicht, aber er hörte Raunen und Flüstern, hörte die Laute der Küsse, sah dunkle Doppelschatten auf dunklen Wegen; und er, der geglaubt hatte, daß hier draußen die Wege ganz einsam waren, er erstaunte, sie so geheimnisreich belebt zu finden. Der Gedanke jedoch, daß ihn nun niemand hindern könnte, es bald ebenso zu treiben, wie die andern hier, – dieser Gedanke war Emil Kubinke nicht unangenehm.

Aber er hatte hierbei die Rechnung ohne Hedwig gemacht. Denn die zog höchst resolut weiter und dachte auch nicht im entferntesten daran, mit Emil Kubinke in jenem süßseligen Liebesschlendrian dahinzuschleichen. Bei diesem Marschtempo aber kam Emil Kubinke gar nicht dazu, auch nur ein einziges Mal seiner robusten Nachbarin in die Augen zu sehen und mit einem langen und innigen Blicke die Feindseligkeiten im Kampfe der Geschlechter einzuleiten. Und auch Männe schien Emil Kubinkes Vorhaben höchlichst zu mißbilligen, denn er schlidderte ebenso eilfertig vor den beiden her, und damit er den beiden etwa kein übles Beispiel gäbe, kümmerte er sich gar nicht darum, wenn unten in den Laubenkolonien ein einsamer Hund melancholisch in die Nacht hinausheulte, oder wenn ein Terrier plötzlich hell aus dem Dunkel heraus ihm entgegensprang und erhobenen Kopfes seine seelische Ruhe zu verwirren suchte. Nein, unbeirrt wackelte Männe weiter mit gesenkten Blicken und fromm herabhängenden Ohren, und nur wenn Hedwig den Kopf nach rechts oder links wandte, um zu erspähen, ob jenes Liebespaar, das dort langsam dahinschritt oder das da drüben am Zaun lehnte, etwa mit dem von ihr gesuchten identisch wäre, dann hob auch Männe den Kopf, schnupperte, indem er das rechte oder linke Nasenloch hochzog und trottete dann weiter. Emil Kubinke jedoch war für ihn ebensowenig vorhanden, wie er es für Emil Kubinkes dralle Begleiterin war.

Aber plötzlich bog der Schrittmacher, bog Männe von der Straße ab, und Emil Kubinke erstaunte, mitten hier in dieser Wildnis, in diesem der Natur enteigneten harrenden Bauland im Dämmerlicht der Nacht plötzlich weite, schöne, grüne Rasenflächen zu erblicken, oder richtiger zu ahnen, und den Duft von vielerlei Büschen und zartem Laubwerk zu atmen. Weiden standen da im Dämmer, das aus der milden Helligkeit der Nacht und dem fernen Schein der Laternen gewebt war, mit flatternden Schleiern gelbgrüner Zweige; und weiße Birkenstämme geisterten daneben, zart und dünn wie Mondenstrahlen. Buschwerk bildete ganze Wälle und Mauern, und etwelches davon war selbst jetzt im matten Licht noch gelb oder rosig oder purpurn von den Blüten, die es bedeckten. Und auch die bunten Muster von Tulpen, Krokus und Hyazinthen auf dem Rasen konnten selbst jetzt in der Nacht nicht ganz ihr Leuchten verbergen; und noch weniger den Duft verleugnen von Muskat, Nelken und Wein, den wilden Liebesduft, mit dem sie die Sinne der Menschen umnebelten, die hier still und wie müde entlangschritten, oder die schon eng aneinandergepreßt auf den weißen Bänken in den Anlagen saßen. Weiße Bänke waren das aus lackiertem Lattenwerk, und schön vereinzelt standen sie im Schutze der Büsche. Und überall saßen Liebespaare in heimlicher Zärtlichkeit; und sie befleißigten sich nur so lange einer gesitteten Wohlanständigkeit, wie knirschende Schritte auf dem Kies verlautbar waren. Aber im Augenblick, da sie verhallten, – ja noch früher – sanken sie sich schon wieder in die Arme, als ob sie jetzt und auf der Stelle ineinander schmelzen müßten.

Emil Kubinke hatte mitten in dieser Wildnis nie eine solche Oase, ein solches Stück blütenfarbiger Anlagen vermutet, das die Verliebten ringsum von fernher anlockte, wie die duftenden Phloxblüten die Falter in der Sommernacht. Ja, Emil Kubinke wagte kaum nach rechts oder links zu blicken, denn er fühlte, daß er Heimlichkeiten der andern störte. Er wußte auch nicht, wie weit diese Oase ging, wo sie endete, hüben oder drüben, ob das immer so fort ging durch dieses warmdunkle, halbhelle Liebesland. Er sah die weiten Rasenflächen in ihrem feuchten Schimmer, sah ganz fern Gärten und ein Haus, das dunkel zwischen den Korallenriffen blühender Obstbäume lag; und die phantastischen Flügel eines Windrades schwebten hoch darüber, standen gegen die grauen, leicht leuchtenden Wolken und gegen die Streifen schwarzen Nachthimmels, die mit ihren wenigen Sternen die Unendlichkeit offenbarten.

Aber weder Männe noch Hedwig schienen im geringsten über dieses Blütenwunder in der Wildnis erstaunt zu sein, und noch weniger schien sie der Anblick der Liebespaare zu verwirren. Männe strafte sie mit der stummen Verachtung des Philosophen und knurrte nur manchmal mißbilligend, wenn er sich genötigt sah, öffentliches Ärgernis zu nehmen. Auch Hedwig schlug etwa nicht, wie das einer Jungfrau zukommt, die Augen nieder, sondern ließ sie höchst respektlos umherwandern, ob da nicht doch etwa Gustav Schmelow, der treulose Schlächtergeselle, mit dem langen Laster, der Emma, ein Schäferstündchen feierte. Und währenddessen zog sie den guten und verwunderten Emil Kubinke mit, ohne dessen Wünschen und geheimen Absichten auch nur das geringste Entgegenkommen zu zeigen. Und der war, wie gesagt, Frauen gegenüber recht schüchtern; und außerdem ist ein Marschtempo nun einmal stets der beginnenden Liebe höchst hinderlich.

Aber endlich, nachdem Hedwig und Männe, wegauf, wegab die grünen Anlagen abgeschritten hatten, nachdem sie selbst mitten über die Spielplätze der Kinder ihre Schritte gelenkt hatten und sogar in die kleinen Lauben und Regenhallen hinein ihre indiskreten Blicke hatten gleiten lassen, da faßte sich Emil Kubinke doch ein Herz und sagte, weil gerade so eine Bank ganz weiß und hell im Scheine einer nahen Laterne stand, daß er sich hier ein wenig niederlassen wollte.

»Nee, auf die Bank setz ick mir nich, da sitzen wir so auf 'n Präsentierteller«, sagte Hedwig, und auch Männe schüttelte den Kopf, daß seine Ohren nur so klatschten. Nein, mit dieser Bank war er gar nicht einverstanden.

Und ohne daß Hedwig auch nur einen Schritt gemacht hätte, bog Männe in einen kleinen Seitenweg ein und faßte vor einer andern Bank Posto, die da ganz verdeckt im Schutz der Büsche stand und die Emil Kubinke nie und nimmer gefunden hätte. Und seltsam, vielleicht daß diese so angenehme und vorteilhafte Bank andere auch nicht gefunden hatten, vielleicht, daß unsichtbar aber deutlich kenntlich ein Schild mit dem Wort ›Reserviert‹ über der Bank schwebte und die Liebespaare zurückschreckte – so wie in den Wirtshäusern immer gerade auf dem besten und gemütlichsten Tisch der zinnerne Herold mit dem Banner ›Reserviert‹ steht ... – seltsam, diese Bank war leer und schien gerade auf Hedwig und Emil Kubinke gewartet zu haben. Jedenfalls knarrte sie höchst beifällig, als sie sich auf ihr niederließen; und sicherlich galt dieser Gruß als einem alten Bekannten auch Männe, der gleich unter den Sitz gekrochen war und den Kopf mit geschlossenen Augen auf die Pfoten gelegt hatte, als wäre es jetzt für ihn schicklicher, nichts mehr zu hören oder zu sehen.

»Sie sagen auch, Herr Kubinke, im Dunkeln is jut Munkeln«, meinte Hedwig und stieß Emil Kubinke mit dem Ellenbogen an.

Also – wir können es beschwören – daß Emil Kubinke es nicht gesagt hatte, und gar nicht daran gedacht hatte, es zu sagen. An so etwas dachte Emil Kubinke heute gleich am ersten Abend, da er mit Hedwig zusammen war, überhaupt nicht.

Nein, Emil Kubinke wollte mal das Terrain sondieren.

»Können Sie denn jeden Abend so fortgehen, Fräulein Hedwig?« fragte er.

»Mit eenmal nich!« versetzte Hedwig. »Wenn ick mir den ganzen Tag abrackere, denn wer ick doch wohl det noch dürfen.«

»Wo gehn Sie denn nächsten Sonntag hin?« fragte Emil Kubinke nach einer kleinen Verlegenheitspause, denn die Nähe seiner Nachbarin verwirrte ihn doch.

»Wo's schön is und nischt kost«, meinte Hedwig, und dann schwieg sie wieder.

»Ach, ich möchte mal gern wieder ins Theater gehen.«

»Nee, da war ick schon!« meinte Hedwig und pustete durch die Nase.

»Ja, ich sehe schon immer in der Zeitung nach, ob sie nicht mal Schillers Wilhelm Teil geben. Den möcht ich zu gern sehen«, sagte Emil Kubinke. »Kommen Sie da mit, Fräulein?«

»Nich in de Hand!« versetzte Hedwig. »Ins Theater bringn mich keine zehn Pferde mehr. Des is mir zu jraulich. Wie ick da war, da habn sie auch ein Stück von Schiller gegeben, und da habn se eene drin köppen wolln. So wat kann und kann ick nich sehn. Aber zum Schluß, verstehn Se, da muß ihr ihr Freund denn noch gerettet haben, denn da kam sie doch mit ihm mindestens sechsmal vorn Vorhang gezottelt.«

»Wie hieß denn das Stück?« fragte Emil Kubinke.

»Ja, des könn'n Se wirklich nich von mir verlangen, daß ich des ooch noch behalte. Aber es muß doch schon ein sehr altes Stück gewesen sein, denn wie die Frauen da gingen, mit die weiten Röcke und den hohen weißen Kragen, so gehn sie heute doch nur noch auf die Maskenbälle.«

Bei dem Wort ›Maskenball‹ tauchte plötzlich vor Emil Kubinke die rotblonde Pauline in ihrer ganzen liebenswürdigen Anmut auf, und auf einen Augenblick rückte dieses Bild ihm seine Nachbarin in weite Ferne. Dann aber bekam doch wieder die greifbare Wirklichkeit mit ihrer siegenden Verlockung ihr Recht, und Pauline sank zurück nach ganz weit hinten in das dunkle Jenseits der Dinge.

Emil Kubinke war jetzt still geworden, und auch Hedwig unterlag langsam der weichen Werbung der Frühlingsnacht. »Wie alt sind Sie denn, Fräulein Hedwig?« fragte Emil Kubinke.

»Ich gehe im einundzwanzigsten Lebensjahr«, meinte Hedwig.

»Na, da könn'n Se doch bald heiraten.«

Und Emil Kubinke fühlte, daß er mit dem Wort ›Heiraten‹ das Gespräch in das richtige Fahrwasser brachte.

»Ach – wat hab ick denn da schon!« meinte Hedwig. »Nee – ick heirat mal überhaupt nich, und zieh denn zu meine Kinder.«

»So so«, meinte Emil Kubinke.

»Ja, und wie alt sind Sie denn, Herr Kubinke?«

»Ich bin zweiundzwanzig.«

»Und sind noch nicht beim Militär?«

»Nein, sie haben mich bisher nicht haben wollen. Aber jetzt, im Sommer, muß ich mich noch mal stellen; und wenn sie mich dann nich nehmen, dann brauch ich überhaupt nicht, Fräulein Hedwig.«

»Passen Se auf, Herr Kubinke«,meinte Hedwig trocken, denn Witz hatte sie, und sie sah den kleinen Emil Kubinke so von Kopf bis Fuß von der Seite an, »passen Se auf, Herr Kubinke, wenn's los geht, dann kriegn Se 'n Sack mit Kartoffeln, und dann müssen Se mit schmeißen.«

Ach, mit dem Militär also war das nichts! Emil Kubinke fühlte, daß er mit seinem Gespräch in eine Sackgasse gekommen war. Das mit dem Heiraten war doch so eine hübsche Einführung gewesen.

»Mein Kollege, Herr Tesch«, sagte er, um wieder einzulenken, »der hat jetzt 'ne Freundin.«

»Wissen Sie«, sagte Hedwig, »Ihren Herrn Tesch können Sie sich an den Hut stecken, samt seine Freundin. Ich möchte nur Sonntag das sind, was der sich in de Woche einbildt.«

Armer Kubinke! Mit Herrn Tesch und seiner Freundin, das war nun auch nicht der rechte Weg zu Hedwigs Herzen.

»Ja«, sagte Emil Kubinke, und er wollte nun von der Gemütsseite sich Hedwig nähern, »ja, ich sollte ja eigentlich gar nicht Barbier werden.«

»Aber ein Barbier hat's doch sehr gut. Mindestens so gut wie'n Schlächter!« meinte Hedwig und verstummte schnell, denn sie fühlte, daß sie das nicht hätte sagen dürfen.

»Nein«, sagte Emil Kubinke, »ich habe ja 'ne gute Schule besucht, und wenn's nach mir gegangen wäre, wäre ich ja für mein Leben gern Musiker geworden, und mein Vater, der wollte doch sogar, daß ich Arzt werden sollte.«

»Ach, Sie war'n wirklich in die hohe Schule?« fragte Hedwig erstaunt und ungläubig. »Das habe ich ja janich jeahnt von Ihnen. Nee, wissen Se, ick bin man bloß in de Pantinenschule jegangen, und meine Mutter zu Hause, die hat mir halb tot geschlagen, aber jelernt hab ick deswegen doch nischt.«

Ach Gott, wenn Emil Kubinke aufrichtig sein sollte, dann mußte er sich sagen, daß es ihm ja eigentlich nicht viel besser gegangen war.

»Ja, aber mein Vater, wissen Sie, der starb dann, wie ich zwölf Jahre alt war, und Geld war auch nicht da.«

»Ich hab überhaupt nur 'n Stiefvater«, sagte Hedwig leise.

»Wirklich?« rief Emil Kubinke mitfühlend.

»Nee, nee, jetzt müssen wir jehn«, meinte Hedwig und rührte sich, und im Augenblick raschelte auch Männe unter der Bank.

»Ach, bleiben Sie doch noch«, bat Emil Kubinke und machte zärtliche Augen. »Es ist doch sowieso ein angebrochener Vormittag.«

»Aber nich mehr so lange«, sagte Hedwig und wandte kaum minder zärtlich den Kopf zu ihm.

Und wie sie das tat, rückte Emil Kubinke näher und legte zaghaft ihr den Arm um die feste und doch weiche Taille.

»Nicht so dicht ran, Herr Kubinke!« meinte Hedwig abwehrend und verschämt, und setzte sich plötzlich in einem kurzen Ruck mit ihrer ganzen Körperfülle dem halb beglückten und halb erstaunten Emil Kubinke auf den Schoß.

Ja, Emil Kubinke hielt sich sogar durch diese Gunst für besonders bevorzugt. Aber sicherlich hätte das Hedwig in der gleichen Lage bei jedem andern ebenso gemacht. Denn im Grunde war ihr ja der Barbier wirklich herzlich gleichgültig. Aber wenn sie den Schlächter auch nicht gefunden hatte, so war das doch kein Grund, daß sie einen Abend wie den heutigen nun deswegen einfach verlieren sollte.

»Sie tragen wohl kein Korsett, Fräulein Hedwig«, meinte Emil Kubinke, denn er fühlte plötzlich die ganze Weichheit und die ganze Frische ihres Körpers.

»Nee, – weißt du, – ich möcht am liebsten garnischt anziehn. Das is ma allens noch viel zu ville.«

»Ach«, seufzte Emil Kubinke und preßte, so gut es ging, die dralle blonde Hedwig an sich, drückte selig seinen Kopf an ihren weichen Busen, während seine zitternden Hände an der jungen Gestalt entlangglitten.

»Nu kiek eener den Kleinen an!« rief Hedwig, halb mitleidig, halb lächelnd und halb nachgebend, »der jeht in de Kirche und pfeift.«

Und dann warf sich Hedwig mit ihrem ganzen Körper auf Emil Kubinke, nahm ihn zwischen ihre festen Arme und küßte ihn, daß ihm fast die Luft ausging. Denn, wenn sie sich auch aus Emil Kubinke ja herzlich wenig machte, so war ihr doch die Liebe an sich eine sehr sympathische Institution. Und so Richard Dehmel singt: Nur in kurzen Röcken läßt sich lieben, – so war Hedwig zwar die Existenz dieses verdienstvollen Barden bisher völlig unterschlagen worden, aber die strittige Angelegenheit hatte sie im Prinzip in weitgehendster Weise a priori vor jeder Erkenntnis begriffen; und wirklich, sie trug kaum etwas, was der Liebe hinderlich war. Und außerdem war es keineswegs ihre Art, in wichtigen Fragen bei eitel theoretischen Erörterungen stehen zu bleiben.

Und als Emil Kubinke Furcht hatte, daß ihn die da drüben von der nächsten Bank aus sehen könnten, da flüsterte ihm Hedwig lächelnd zu: »Die machen es ja auch nicht anders.« Und wenn Hedwig auch nicht in allem recht hatte, was sie sagte, hierin war sie bestimmt nicht auf dem Holzweg.

Männe aber lag muckstill unter der Bank. Denn er wußte von früher, daß es besser für ihn war, sich nicht um Hedwigs Privatangelegenheiten zu kümmern.

Aber dann sagte Hedwig, daß es nun die höchste Zeit wäre, daß sie nun gehen müßte, und im Augenblick sprang Männe auf und begann zu bellen.

»Menschenskind, halt's Maul«, rief Hedwig den Dackel an und zog Emil Kubinke mit einem lustigen Ruck vom Sitz empor. Denn für Hedwig war ja die Liebe durchaus keine nachdenkliche und sentimentale Sache, sondern schlicht und einfach die erfreulichste Geschichte von der Welt.

Männe aber setzte sich wieder vor den beiden her in Bewegung. Hedwig hing sich bei Emil Kubinke ein; und drüben in den Gärten begann sogar zum Abschied eine Nachtigall zu flöten. Und Emil Kubinke war glücklich, ganz erregt und froh und dankbar. Hedwig jedoch lehnte keineswegs ihren blonden Kopf mehr schmachtend an seine Schulter; und sie dachte auch nicht daran, mit Emil Kubinke in dem leisen Tempo der Verliebten durch die duftende Frühlingsnacht dahinzuschleichen, sondern sie schritt rüstig aus, hatte den Kopf hoch und ließ die Augen nach rechts und links marschieren, ob sie nicht doch noch irgendwo ihren Gustav Schmelow mit dem langen Laster, der Emma, erblickte. Und Hedwig summte während des Schreitens schöne Lieder, wie das: ›Wenn die Vögel schlafen gehn, abends um halb neune‹, mit einer Unzahl von Versen, die Emil Kubinke, der eine keusche Seele war, aus ihrem Mund aufs tiefste verletzten. Und Hedwig hörte nur damit auf, um ein Lied von der Mutter und Tochter anzustimmen.

›O Tochter – was hast du getan?
Nu hast du ein Kind und kein Mann. –
Und hab ich ein Kind und kein Mann,
So jeht det ja keinen was an.‹

Aber auch dieses Lied behagte Emil Kubinke sehr wenig. Denn im gewöhnlichen Leben schätzen ja Männer die Unschuld der Frauen sehr hoch ein – wenn sie es auch am liebsten sehen, daß sie ihnen gegenüber zeitweise keinen Gebrauch davon machen.

Doch ehe es Emil Kubinke dachte, da hatten sie die verschwiegenen Lindenwege mit ihren Reihen von Lichtchen schon hinter sich, und das erste Haus kam wieder groß, grau und einsam mit schwarzen Scheiben im Schein der Laterne ihnen entgegen. Und die Neubauten mit den phantastischen Gerüsten und den dunklen Löchern kamen, und die Lagerplätze mit ihrem nächtlichen Wirrwarr und dem Geheul der Hunde, die gegen die Lattenzäune ansprangen. Dann aber lag auch schon wieder die Nebenstraße vor ihnen, – einsam, halbhell, kaum belebt und träumend mit ihren kleinen atmenden Vorgärtchen. Hinten jedoch zog sich schon das breite Leuchten der Hauptstraße hin, ganz weiß, ganz hell; und oben zwischen den beiden Häuserreihen schwebte, – wie ein grüner Mond – wieder die erste Bogenlampe. Vorhin war der Weg Emil Kubinke endlos lang vorgekommen. Wie kurz er jetzt war, kaum zehn Minuten!

»Nu jeh man!« sagte Hedwig und blieb an der Ecke stehen.

»Aber kommst du denn nich mit?« fragte Emil Kubinke ganz erstaunt.

»Wo denken Se denn hin, Herr Kubinke«, versetzte Hedwig würdevoll, denn sie stand schon wieder bei dem ›Sie‹ – das ging nämlich bei Hedwig schnell, sehr schnell, fast so schnell wie das ›Du‹ – »wo denken Se denn hin, wenn sie uns hier zusammen sehn! Hier kenn' sie mich ja wie 'n bunten Hund! Nee, nee, det dürfen wir nich! Auf keinen Fall!«

»Kommst du morgen?« fragte Emil Kubinke.

»Dieses weniger«, meinte Hedwig. »Morgen abend jeh ick mit meine Freundin.«

»Aber übermorgen?«

»Det kann eher sein«, meinte Hedwig, denn sie sagte sich, daß Versprechen ja zu nichts verpflichtet.

»Hast du mich denn noch lieb?« fragte Emil Kubinke. Er war noch nicht beim ›Sie‹.

»Ja, ja«, sagte Hedwig abwehrend, denn Emil Kubinke wollte sie noch einmal küssen. »Du bist der allerbeste – wenn die andern nich zu Hause sind. – Aber nu jeh man!«

Und wie Emil Kubinke ein kleines Stück fort war, da rief Hedwig ihm ganz laut nach:

»Jute Nacht, Herr Kubinke! Bleiben Se hübsch gesund, falln Se nich in'n Briefkasten!«

Jetzt war Hedwig schon wieder vollkommen beim ›Sie‹.

Dann jedoch ging Hedwig mit Männe ganz langsam noch einmal in anderer Richtung die helle Straße hinauf; vielleicht, daß sie Gustav Schmelow hier attrappieren könnte.

Als aber Emil Kubinke durch den Hausgang schritt, da begegnete ihm der Vizewirt Herr Piesecke, der irgendwie noch knurrig und geheimnisvoll herumwirtschaftete. Und daß der kaum seinen Gruß erwiderte, das machte Emil Kubinke ziemlich wenig, und er nickte dafür, als er über den Fliesenweg ging, als ob die mehr Verständnis für die verschwiegenen Freuden seines Herzens hätten, ganz vergnügt und vertraulich dem Apoll von Belvedere und dem Meister Dante zu, die weiß mitten zwischen dunklen Tannenbüschen und Lebensbäumen auf dem Hof – er glich in all der Nacht einer tiefen Zisterne – weiß und still dahingeisterten. Doch als Emil Kubinke dann oben in seinem Bett lag, da sann er noch eine ganze Weile, und er hörte jetzt ganz leise Regentropfen gegen die Dachfenster pochen, und er kämpfte mit sich, ob er nicht – in jenem Mitteilungsbedürfnis, das der jungen Liebe eigen ist, – Herrn Tesch wecken und ihm sein Abenteuer erzählen sollte. Er lächelte vor sich hin und dachte an die Süßigkeiten von Frauengunst und Frauenliebe, die ihm eigentlich das erste Mal in seinem Leben so recht zuteil geworden waren. Aber, ehrlich gestanden, er wunderte sich insgeheim und verstohlen doch etwas, warum er dessen bei Hedwig nicht ganz so froh hatte werden können, wie er das immer ersehnt hatte.

Zur gleichen Zeit jedoch standen an der nämlichen Ecke, an der Emil Kubinke von Hedwig rührenden Abschied genommen hatte, das lange Laster, die Emma, und Gustav Schmelow mit seiner weißen Schürze, und sie übten unentwegt das schöne alte Lied: ›Noch einen Kuß, bevor wir scheiden!‹

Pauline, die rotblonde Pauline hingegen, tanzte zu eben jener Stunde als Ritterin im Hohenzollerngarten mitten im Saal, gerade unter der Kaiserbüste mit einem langen, großkarierten Engländer, auf dessen Zylinder die Worte ›Komische Maske‹ standen; also gerade unter der Kaiserbüste tanzte sie, links herum einen köstlichen Walzer nach den schönen Klängen des beliebten:

Rosen, Tulpen, Nelken,
Alle Balumen welken.
Marmor, Stahl und Eisen briecht –
Aber unsre Lübe – niecht.

Und Hedwig, unsere gute, dralle Hedwig, die doch die ersten Regentropfen von ihrer Forschungsreise heimgescheucht hatten, stand unten im Hausgang an der Kellertreppe vor dem Vizewirt Herrn Piesecke.

»Na, Fräulein Hedwig, wo kommen Sie denn jetzt noch so spät in de Nacht her?« fragte Herr Piesecke väterlich besorgt und streichelte Hedwig mit seinen rauhen Fingern die Backe.

»Von meine Freundin«, meinte Hedwig.

»Na, na?« sagte Herr Piesecke und versuchte Hedwig plötzlich an sich zu ziehen.

Aber Hedwig wehrte sich.

»Nicht doch, Herr Piesecke«, rief sie lachend, »jehn Se doch bei Ihre Frau! Hände weg, Herr Piesecke, oder es gibt eens drauf!«

Herr Piesecke war aber nun einmal durchaus nicht der Mann, der sich etwa durch einfache Drohungen von irgendeinem Vorhaben abbringen ließ.

Also ward jedem das, was er wollte und was ihm frommte. Hedwig, Emma, Pauline, Emil Kubinke, Gustav Schmelow – und sogar Herrn Piesecke. Und hiermit schließt und endet jener denkwürdige achtzehnte April des Jahres 1908 und zugleich mit ihm für unsern Emil Kubinke die kurze Liebesepisode: Hedwig.


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