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Emma

Wie seltsam und in sich verschieden sind doch die Nacht und der Schlaf. Sein und Nichtsein in eins. Wir ertrinken und wissen nicht, wann; wir tauchen empor und wissen nicht, ob es Stunden oder Jahre waren, da wir auf dem Grund des Gewässers blieben. Durch Reiche, Zeiten und Länder sind wir gewandert, durch Wälder, die im Nebel mitzogen; Schlachten haben wir geschlagen; geflohen sind wir; in unergründliche Abgründe gestürzt; haben uns hoch in die Lüfte erhoben, schwebend und kreisend wie Adler unter den Wolken. Weiß war unser Schlaf, hell und licht; oder rot wie von einer brennenden Stadt. Schwarz war er wie wehende Trauerfahnen und dumpfe Trommelklänge. Wir können uns nur aus ihm emporringen, mühselig wie aus Trümmern und Steinen, und er kann verflogen sein wie die Feder, die der Wind fortbläst. Ein neuer Tag kann nach ihm beginnen und alles vordem ausgelöscht sein – oder das Gestern kann sich wie ein Kette hinterher schleppen. Und all das ist wie Schicksal; wir haben keine Macht darüber. Wir erwachen lächelnden Herzens und wissen nicht warum, – und wir erwachen dumpf und angstvoll und verstehen nicht, woher uns diese Beklemmungen kommen. Wir wollten das trübe Gestern vergessen, und es steht nur um so klarer vor unserer Seele; wir wollten an das helle Gestern das Heut anknüpfen, aber das Gestern ist uns entglitten ...

So ging es auch Emil Kubinke.

Er war gestern eingeschlafen, oben in seiner Dachkammer unter dem schrägen Fenster, wie ein Kind, mit einem Lächeln um den Mund und mit dem unklaren Empfinden, daß er aus jenem Kampf als Sieger hervorgegangen wäre. Ach, die Jugend! sie weiß ja noch nicht, daß diese Siege nur Pyrrhussiege sind, und daß in diesem Kampf der Sieger endlich doch nur der Unterlieger ist...

Er war eingeschlafen mit dem heimlichen Gedanken, daß die Welt doch vollendet sei und für ihn nun in alle Ewigkeit so bleiben müsse. Das verschlossene Buch, Weib genannt, hoffte er nun für alle Zeiten entsiegelt zu haben, und er meinte von nun an nach Lust und Laune darin blättern zu können. Ach, die Jugend! sie weiß ja nicht, daß wir dieses Buch nie entsiegeln, daß es sich immer wieder schließt, daß es für uns mit jedem Jahr nur immer dichter umschnürt und mehr petschiert wird, und daß wir Sterblichen zum Schluß aus dem Leben gehen, müde und mutlos, während das Buch bleibt: unenträtselt, ungelöst, unentsiegelt, ewig neu und frisch und lockend und unberührt.

Ja, er erwachte, Emil Kubinke, mürrisch und unfroh, in grauer Dämmerung, trübselig, ohne zu wissen, weshalb, dumpf in der Erinnerung an peinliche Träume, die versunken waren, von denen er nichts mehr wußte, und die ihn doch noch quälten.

Herr Tesch plantschte in all dem Grau mit weißem Oberkörper am Waschbecken und pfiff sich eins. Der Regen sickerte aus hängenden Wolken gegen das schräge Fenster, die Dächer draußen waren blank und feucht, an den Dachziegeln rieselte es herunter, und aus den Schornsteinen quälte sich der Rauch und sank doch gleich in den Hof hinein. Auf dem Schellenbaum des Telephons aber saß eine große Drossel und schüttelte das Wasser von den Federn. Und weit hinten stand immer noch die Figur auf dem Dachfirst und hielt ruhig ihren vergoldeten Reifen in Händen, als ob sie sagte: man hat mich hier hingestellt, und ich harre aus, ob Sonne oder Regen, Morgengrauen oder Einsamkeit der Sterne.

»Na, Herr Kollege«, rief Herr Tesch und rieb das breite Handtuch hin und her auf seinem Rücken, »nanu mal ran an de Arbeit. Denken Se, es is de dicke Hedwig von Markowskis!«

Emil Kubinke war verletzt, denn seine Gefühle waren ihm heilig.

»Na«, sagte Herr Tesch, »tun Se doch nich so, Herr Kolleje, ich hab Ihn' ja jesehn!«

»So«, sagte Emil Kubinke, »mich? Wo denn? –«

»Na, wo meinen Se wohl? – Da uff den Platz da hinten – Sie sind ja janz dicht an meine Bank vorbeijejangen. Aber Sie waren so heftig bei de Sache, daß Se natürlich auf mich jarnich jeachtet hab'n.«

Emil Kubinke war ganz rot geworden.

»Na ja«, meinte er dann, und in seiner Stimme lag doch so etwas wie ein geheimer Stolz, »wir sind zusammen 'n bißchen spazierengegangen.«

»Des soll vorkommen«, meinte Herr Tesch, zog das Hemd über den Kopf und stocherte mit erhobenen Armen in den weißen Ärmeln umher. »Des – soll – vorkommen«, sagte er noch einmal, als er oben glücklich den Kopf aus dem Halsloch herausgearbeitet hatte.

»Na ja«, sagte Emil Kubinke, »da is doch nichts dabei.«

»Nee«, meinte Herr Tesch, »dabei is nischt ... Aber wissen Se, der Chef sieht des ins Haus nich jerne.«

Als Emil Kubinke herunterkam, unterwarf er seine Person noch einmal einer langwierigen Prüfung im Spiegel, denn er fühlte, daß er jetzt seine volle männliche Schönheit einsetzen mußte, und er band den grüngestreiften Schlips noch einmal, und er kräuselte die armseligen Härchen seines Schnurrbarts. Und als das – trotz aller Kunstfertigkeit auf diesem Gebiet – ihn nicht befriedigte, nahm er noch schnell einen Wattebausch voll »Ziedornin« und ölte die Oberlippe ein, daß sie ganz rot wurde und abscheulich brannte. Aber das ertrug Emil Kubinke gern, denn nichts garantiert ja in gleichem Maße männliche Unwiderstehlichkeit wie ein flotter Schnurrbart.

Und die ersten Kunden erschienen mit schweren Tritten, und sie hingen ihre braunen Velvetmützen kaum an die Kleiderrechen, sondern behielten sie in der Hand – so eilig hatten sie es. Herr Ziedorn aber, der Chef, strich mit seinem markanten Männerkopf immer um Emil Kubinke herum und bemühte sich sichtlich, irgend etwas herauszufinden, das er ihm vorwerfen könnte. Und endlich, als Emil Kubinke einen Kunden Herrn Ziedorns Meinung nach nicht schnell genug vom Stuhl spediert hatte und dem anderen nicht schnell genug die Serviette vorgebunden hatte, sagte Herr Ziedorn:

»Na, Herr Kubinke, bei de Mächens scheinen Se ja fixer zu sein!« Denn er hatte gestern abend Emil Kubinke mit Hedwig vor der Tür stehen sehen.

»Wissen Se, Meester«, sagte der Kunde, und seine Stimme kam ganz tief so aus der Magengegend her, »des kann man keen' Menschen nich iebel nehm. Wenn ick de Wahl habe zwischen 'n Mächen un meene Arbeet, jeh ick immer zu 's Mächen.«

Aber Herr Ziedorn ging nicht auf diesen Ton ein. Aus der Morgenkundschaft machte er sich gar nichts. Er fühlte sich den Herren mit den Zylindern und den Siegelringen innerlich weit mehr verwandt.

Als der erste Herr wieder kam – er trug sogar, weil Frühling im Kalender stand, einen echten Straßburger Panamahut mit grünweißem Seidenband – da packte Emil Kubinke seine Sachen zusammen und ging zur Kundschaft. Zuerst einmal zu Herrn Max Löwenberg. Sein Herz aber schlug einen lustigen Trommelwirbel, denn er hoffte, doch wenigstens mit der dicken Hedwig bei Markowskis einige flüchtige Zärtlichkeiten tauschen zu können und mit einem langen Blick die Erinnerungen an den gestrigen Abend zu erneuern.

So stolperte Emil Kubinke über den Hof, das weiße Fliesenweglein zwischen Luther und dem Apoll von Belvedere dahin, die beide mit tropfenden Nasen im Regen standen. Die Korkenziehertreppe stürmte er hinauf, immer zwei Stufen auf einmal und den Kopf weit vor. Nicht mit einem Gedanken dachte dabei Emil Kubinke an die rotblonde Pauline oder gar an die lange, weiße Emma. Denn ähnlich wie wir nicht zwei oder drei Melodien auf einmal im Kopf haben können, und wie immer die eine die andere ablösen muß, so können wir auch nicht drei Frauen auf einmal im Herzen haben, und wir müssen immer warten, bis die eine die andere ablöst.

Aber nichts wäre ja so langweilig, als wenn die Wetterprognosen einträfen, oder wenn etwa überhaupt die Dinge so kämen, wie wir sie erwarten. Denn einzig das bunte Spiel des Zufalls ist es ja, das ein wenig Farbe in das Grau des Alltags bringt. Und so also lief auch Emil Kubinke in seinen Liebesgedanken jetzt gerade gegen die lange Emma an, die auf ihrem Treppenabsatz stand und einen blauen Cheviotrock ausbürstete, daß die Wolken flogen ... gerade gegen die lange, blonde Emma, an die er auch nicht mit einem Gedanken gedacht hatte.

»Na, Herr Kubinke, Sie haben 's wohl sehr eilig«, meinte die und lachte Emil Kubinke entgegen und blinzelte ihm aus den Augenwinkeln zu.

»Ja«, sagte Emil Kubinke. Und als seine Blicke dabei auf Emma ruhten, gefiel sie ihm doch ausnehmend, mit ihren großen, schlanken Gliedern, in dem hellen Kattunkleid und mit ihrem weißblonden Kopf und mit ihren Sommersprossen überm Nasenrücken. Und die erste Melodie schickte sich an, zu verdämmern und zu verschweben. »Ja«, sagte er, »ich muß zu Löwenbergs.«

»Ach so«, sagte Emma. »Ich dachte, Herr Kubinke, Se wollen zu de Hedwig, weil Se 's so eilig haben.«

»Welche Hedwig?« meinte Emil Kubinke lächelnd, und allein schon in seiner Stimme lag das stolze Geständnis des glücklichen Liebhabers.

»Na, tun Se sich doch nich so, Herr Kubinke, ich habe Sie doch jestern jesehn.«

»Mich? – Wo denn?«

»Na, wo denn wohl?! – Wissen Se, Herr Kubinke, Sie sind doch so 'n kleener reizender Mensch, – ick würde an Ihre Stelle doch nich mit den Trampel, die Hedwig, jehn! Da könn' Sie doch ne janz andere kriejen wie die Hedwig«, meinte Emma mit mütterlicher Anteilnahme.

»So«, sagte Emil Kubinke – und der Don Juan erwachte in ihm – »wissen Sie vielleicht 'ne Bessere für mich?«

»Ach Jott, da brauchen Se sich doch bloß ma umzusehn.«

»Sehn Se«, sagte Emil Kubinke, »sehn Se, Fräulein Emma, wenn Sie 's noch wären!«

»Det könnte Ihnen wohl jefallen«, sagte Emma und nahm den blauen Rock vom Haken.

»Und Ihnen?« meinte Emil Kubinke, denn er hatte jetzt an Hedwig gelernt, Frauen richtig zu behandeln.

»Mit eenmal kiekt 'n Been raus«, rief Emma lachend und schlug die Küchentür zu, doch nur, um sie gleich wieder ein ganz klein wenig zu öffnen. »Atjöh, Herr Kubinke«, rief sie dann und setzte dazu ihr schönstes Lächeln auf. »Auf Wiedersehn!«

Emil Kubinke schritt langsam zur Tür von Löwenbergs hinüber. Und er war sanft beglückt und erstaunt zugleich – verwundert, warum die lange Emma, für die er doch bisher kaum vorhanden gewesen, plötzlich so überaus entgegenkommend sich gezeigt hatte. Ach! Emil Kubinke wußte eben nicht, daß Frauen wie Kinder sind, wie Kinder, die sich zwar aus einer Puppe nichts machen, die es aber doch nicht wollen und es nicht sehen können, daß ein anderes Kind damit spielt.

Bei Löwenbergs schrie Goldhänschen, und Pauline lief mit dem Staubtuch umher und reinigte die Ritterburg. Und da sie erst um halb sieben nach Hause gekommen war, und da sie seit gestern früh kein Bett gesehen hatte, so glich sie ein wenig einem müden und abgeflatterten Schmetterling. Und selbst ihre schöne Frisur, die ihr Emil Kubinke mit soviel Kunst und Sorgfalt erbaut hatte, das graziöse Gebilde aus Gold- und Kupferfäden, war eingesunken, und einzelne Strähnen hatten sich schon gelöst und flatterten ihr um die Stirn, Ohren und Nacken. Nur Paulines große, feucht schimmernde braune Augen erzählten noch davon, wie schön es doch gestern gewesen war, und welche Triumphe die ›Ritterin‹ im Hohenzollerngarten gefeiert hatte. Die ›Königin der Nacht‹ hätte nicht annähernd so viel getanzt, und bei der Kaffeepause wäre sie sogar sitzen geblieben, wenn sie nicht ihrem Herrn noch schnell gesagt hätte, daß er die Freundin auch mitnehmen sollte.

»Na, Herr Kubinke«, sagte Pauline, und der Ton ihrer Stimme war gar nicht so verheißungsvoll wie gestern abend, »warum haben Sie denn nich jewartet?«

»Ach, wie ich Ihre Herrschaft jehört habe, da bin ich doch lieber jegangen«, sagte Emil Kubinke.

»So!« sagte Pauline noch kühler denn vorher.

»Na, haben Se sich denn nu auch amüsiert?« fragte Emil Kubinke.

»Wat fragen Se denn, Herr Kubinke! Das interessiert Sie ja doch nich«, sagte Pauline und schluckte. »Des is Ihn' ja doch janz jleich, ob ich mir amüsiert habe oder nich.« Wenn sie erregt war, nahm es nämlich Pauline mit der deutschen Sprachlehre nicht so genau.

»Aber Fräulein Pauline!« stotterte Emil Kubinke, und er hatte ein sehr böses Gewissen.

»Na natürlich, die Hedwig gefällt Ihn' ja besser wie ich. Ich hab Sie ja noch hinten jehn sehn, wie ich bin auf de Straße jekommen. – Sie wollte wohl nicht länger warten?«

»Aber Fräulein Pauline!« meinte Emil Kubinke und machte seine schönsten Augen. »Da bin ich wirklich ganz unschuldig dazu gelangt. Nicht wahr, – wir sind so ins Jespräch jekommen, und da bin ich ein Stückchen mit ihr auf und ab gegangen. Denn Sie werden doch selbst sagen, daß ich mich nicht mit dem Mädchen hier hinstellen kann, wo mich jeder kennt. – Und wie ich dann schnell wieder umjekehrt bin, da waren Sie wohl doch schon weg.«

Emil Kubinke fühlte, daß er das sagen mußte. Denn wenn er auch erst Rekrut in Liebesdingen war, so ahnte er doch, daß es durchaus unratsam ist, sich einer Frau wegen mit all den anderen zu überwerfen, da man nie wissen kann, wie sehr man in Zukunft der anderen noch benötigt.

»Ach«, sagte Pauline, und ihre Augen wurden um einen Schimmer freundlicher, »nee, Herr Kubinke, wenn ich Ihnen alles jlaube, das glaube ich Ihnen nu doch nich.«

Aber im Ton der Stimme war schon zu hören, daß die rotblonde Pauline es nur zu gern glauben möchte und daß sie nur noch, um es wirklich zu tun, auf eine neue Versicherung wartete.

Und daran ließ es Emil Kubinke nicht fehlen. Und Pauline nickte und lächelte und sagte, es wäre sehr schön gewesen gestern, und er hätte mitkommen sollen. Und da erschien schon Herr Löwenberg – denn heute war Badetag – und zog als flatternder Araber den Gang entlang. Und Pauline huschte, Emil Kubinke zuwinkend, schnell nach dem Salon.

Man mache bitte hieraus, daß seine Aussagen nicht ganz den Geschehnissen entsprechen, meinem Freund Emil Kubinke nicht etwa einen Vorwurf. Denn erstens, Hand aufs Herz, wer von uns hätte denn anders gesprochen? Und fürder: was ist Wahrheit? Doch nur das, was geglaubt wird. Und Pauline glaubte es, wollte es glauben. Und als Emil Kubinke Pauline gegenüberstand, und wieder gefangen war von dieser hellen und goldfarbigen Schönheit, die gerade durch die leichte Ermattung doppelt hilfsbedürftig erschien und doppelte Zärtlichkeiten heischte, da hatte er vielleicht gar nicht empfunden, daß er irgend etwas Unwahres sprach; denn da gab es nur eine Wahrheit für ihn, eben diese helle und goldfarbene Person mit den großen braunen Augen, die so dankbar und freundlich ihn ansehen konnten, – und alles andere lag weit hinten und war schon wieder zur Lüge geworden.

Aber als das schöne, glatte Kinn des Herrn Max Löwenberg blank und sauber unter dem Messer Emil Kubinkes hervorging und Herr Max Löwenberg sich sehr befriedigt mit dem Handrücken über die Backe gefahren war, und als er sogar ganz wider seine Art Emil Kubinke als Lohn ein paar englische Zigaretten eingehändigt hatte, und als Emil Kubinke davontrottete, da tauchte doch jetzt endlich in ihm wieder das Bild der kleinen, drallen, blonden Hedwig auf. Und Pauline und die lange Emma sanken von neuem ins Dunkel hinab. Denn, wenn Pauline und Emma eben nur zarte und zärtliche Schatten in ihm waren, da war ja Fleisch und Blut und Hand und Fuß, und Küsse und Berührungen, da war ein Stück Leben, Erfahrung und Erkenntnis. Und all das zog und zerrte an geheimen Fäden zu sich hin.

Und Emil Kubinke konnte gar nicht schnell genug hier die Korkenziehertreppe hinauf kommen.

Trotzdem möchte ich bitten, wolle niemand meinem Freunde Emil Kubinke deswegen Unbeständigkeit vorwerfen. Denn – was können wir denn nun einmal dafür: in unserem Herzen ist eben eine Waage, und die steht nie still. Und wenn eine Schale unten ist und man meint, sie wird ewig da bleiben, und die andere ewig in der Höhe schweben ... ehe wir es uns versehen, fällt da oben irgend etwas ins Gewicht, und sie, die eben noch fest unten lag, steigt empor. Einen Augenblick balancieren wohl die beiden Schalen, aber dann bleibt die andere Siegerin, nur um vielleicht schon in einer Stunde wieder Besiegte zu sein. Was können wir Armen denn dafür, daß in unserem Herzen eine Waage ist?!

Und so klingelte Emil Kubinke bei Markowskis, und das Spiel der Waage da drinnen und das schnelle Hinaufstürmen über die Treppe, es hatte sein Herz so in Verwirrung gesetzt, daß es ebenso hastig und heftig; schlug, wie die Klingel, die ganz kurz Schlag auf Schlag folgen ließ.

»Herrjeh!« schrie Hedwig drinnen, und Männe bläffte, »herrjeh, ick komme ja schon!« Und dann riß sie die Tür auf. »Na, Sie könn' wohl auch nich dafür?!«

»Tag, Hedwig«, sagte Emil Kubinke und versuchte ein freundliches Gesicht zu machen. »Tag, Hedwig. Was machst du denn? Gestern gut bekommen?«

»Äh, janz jut«, meinte Hedwig sehr gleichgültig und fuhr sich mit dem bloßen dicken Arm unter der Nase hin und her. »Nu jehn Se man rin, der Herr wartet.«

»Kommst du heute abend?« sagte Emil Kubinke leise.

»Der Herr hat schon zweimal nach Ihn' jefragt«, meinte Hedwig und machte sich am Spültisch zu schaffen.

»Wann biste denn heute abend unten?« fragte Emil Kubinke noch leiser und mit jenem bestechenden Ton in der Stimme, der den Reiz des Verbotenen noch erhöhen soll.

»Nee«, sagte Hedwig spitz und drehte sich in den Hüften, »mit Ihn' jeh ick überhaupt nich mehr! Sie werden jleich immer so jewöhnlich!«

»Aber Hedwig«, flüsterte Emil Kubinke eindringlich und war mit einem Schritt neben ihr, denn er fühlte, daß es sich um die Wahrung berechtigter Interessen handelte – »aber Hedwig!«

»Und was denken Se denn? Meinen Se denn, ick kann jeden Abend so runterjehn? Na, da würde mir ja de Herrschaft nett bringen!«

Möglich, daß Herr Markowski Emil Kubinkes Stimme vernommen hatte, möglich, daß ihn sonst irgendein Gelüste in die hinteren Regionen seiner Wohnung getrieben hatte ... kurz – er erschien, ein grauer Koloß in Unterhosen und Jägerhemd in der Tür, in seiner vollen Breite, mit seiner rauhen deutschen Männerbrust: »Na, junger Mann«, rief er, »nu mal ranjewienert! Wie lange soll ich 'n warten? Erzählen Se Hedwig das heute abend.«

»Ich bitte, Herr Markowski«, sagte Hedwig, – keineswegs über das Kostüm ihres Brotherrn indigniert, sondern nur schwer gekränkt ob des Verdachtes, daß ihr vielleicht Emil Kubinke irgend etwas heute abend zu erzählen hätte. »Ja – lassen Sie das!«

Emil Kubinke hatte sich indessen etwas warmes Wasser zum Rasierbecken geholt und war Herrn Markowski ziemlich mißgestimmt gefolgt. Merkwürdig, in der Liebe ging es immer anders, als man erwartete!

Und Emil Kubinke strich zittrig und unruhig über Markowskis feistes Gesicht mit dem Messer hin. Vorhin bei Herrn Löwenberg war ihm die Arbeit doch ganz anders von der Hand gegangen. Und auch Herr Markowski, der zwar in anerkennenswerter Großzügigkeit Emil Kubinke bei seiner Hedwig alles Gute gönnte, der aber gestern auf ›Beja Flor‹ statt auf ›Rosalinde‹ gesetzt hatte, weil ihm Herr Ziedorn diesen besonders feinen und überraschenden Tip gegeben hatte, mit dem geheimnisvollen Bemerken, es wäre da etwas im Werke, eine ganz große und todsichere Schiebung ... und der nun natürlich wieder sein Goldstück verloren hatte, ... ja, dieser Herr Markowski war tückisch wie ein Affe geworden; und auf Herrn Ziedorn, das »Ziedornin« und alles, was sonst noch mit Herrn Ziedorn in Verbindung stand, und selbst wenn es nur der harmlose Emil Kubinke war, darauf war er heute ganz besonders geladen, und er wartete nur eine Gelegenheit ab, um mit dieser Sippschaft anzubinden. Doch als er die nicht fand, trug er noch Emil Kubinke Grüße an seinen Herrn auf, und er möchte ihm im Mondschein begegnen. Und er entließ knurrend und brummend wie ein Bär Emil Kubinke.

Der jedoch war Menschenkenner genug, um nicht durch Redseligkeit Konflikte heraufzubeschwören.

In der Küche aber traf Emil Kubinke nochmals auf Hedwig, die sich gerade zum Reinemachen aus den Winkeln Besen, Handfeger und Müllschippe zusammensuchte, und sich bückend und neigend all die Rundlichkeiten ihres Körpers verriet. Da aber beschloß doch Emil Kubinke, noch einmal sein Glück zu versuchen.

»Du, Hedwig«, sagte er, – er konnte sich noch nicht wieder an das ›Sie‹ gewöhnen – »na wie ist es heute abend?«

»Det hab ich Ihn' doch schon einmal gesagt! Ick weeß jarnich, Sie loofen een' ooch nach wie 'n junger Hund, Herr Kubinke!«

Das traf. – Ach, gestern auf der Bank hatte sie ihn nur ›Emil‹ genannt. Aber so ganz wollte er die Schlacht nun doch nicht verloren geben.

»Und was machst du nächsten Sonntag?« fragte er. Hedwig belebte sich. »Nächsten Sonntag hab ick Ausgang«, sagte sie.

»Ach, können wir denn da nicht zusammen sein?«

»Nee«, sagte Hedwig, »nächsten Sonntag jeh ick mit Emma'n ins Strandschlößchen tanzen. Da bin ick so lange nich jewesen. Aber Sie könn' ja ooch hinkommen, wenn Se wollen. Von fünwe an sind wir immer bestimmt da. Se wer'n uns schon finden.«

Man wundert sich vielleicht, daß Hedwig gerade mit Emma ausging. Aber Hedwig und Emma waren dicke Freundinnen, sobald sie zusammenkamen, und gingen immer untergefaßt, und es fehlte nicht viel, so küßten sie sich sogar. Daß sie hintereinander herredeten, aneinander kein gutes Haar ließen, sich ihre Gustav Schmelows abspenstig machten und sich gegenseitig nicht übern Weg trauten, das tat ihrer Freundschaft gar keinen Abbruch. Und, unter uns, ich habe in meinem Leben noch nicht viele Freundschaften gesehen, die auf einer anderen Grundlage ruhten, als die von der dicken Hedwig und der langen Emma...

Und ferner wird man erstaunt sein, woher es kommt, daß Hedwig Emil Kubinke gegenüber ihren Sinn gewandelt und den schon Verstoßenen wieder in Gnaden aufgenommen hatte. Aber dem war ja gar nicht so; die Sache lag anders. – Nein, was man auch gegen Hedwig sagen mochte, in Geldsachen war sie sehr genau, und ihr Wahlspruch lautete von je: wenn einer so duslig is und for mir zahlen will, ... na denn lass'n doch das Verjniejen. Und ob das nun Emil Kubinke war oder sonst wer, der sich anheischig machte, für sie zu zahlen, das war der kleinen dicken Hedwig ganz gleichgültig, – wenn's nur überhaupt irgendwer war.

Emil Kubinke wußte das nicht. Und er war sehr erfreut – ganz rot war er vor Freude – und Hedwig sagte noch: »Atjöh, Herr Kubinke« und ging mit Schrubber und Besen nach vorn.

Und als Emil Kubinke, der ihr einen Augenblick nachgesehen, die Tür in der Hand hatte, da kam Männe, der sich so lange teilnahmslos verhalten hatte, an ihn herangewackelt, rieb sich an seinen Hosenbeinen und ließ sich den Kopf kraulen. Denn seit gestern abend betrachtete Männe Emil Kubinke als zur Familie gehörig.

Emil Kubinke aber nahm, freudiger Erwartungen voll, seine allmorgendliche Hetzjagd wieder auf – treppauf, treppab...

Er war jedoch kaum aus dem Haus, als die dicke Hedwig oben das Küchenfenster aufriß, mit ihrer ganzen Fülle sich weit hinauslehnte und über den Hof rief:

»Emma! Emma! Pst!«

»Was gibt's denn?« kam es nach einer Weile zurück.

»Kommste nächsten Sonntag mit tanzen nach 'n Strandschlößchen?«

»Des kann schon sein«, meinte Emma. »Mit wen willste 'n jehn?«

»Mit den kleenen Barbier! – Der Mensch is ssu verrückt!«

»Ach, mit den?!«

»Ja, ick hol dir denn ab. Aber sieh, daß de so jejen viere fertich bist.«

»Meine Frau is Sonntag nie zu Hause«, sagte die lange Emma.

»Na denn kommste«, rief Hedwig. »Und den Barbier, den könn' wir ja nachher immer noch versetzen.«

»Wird jemacht«, lachte die lange Emma und klappte das Fenster zu...

Und gerade, als ob es der Frühling wußte, daß Emil Kubinke Sonntag nach dem Strandschlößchen gehen wollte, und daß Hedwig und Emma ihre neuen Glockenhüte aus braunem Knitterstroh mit Moosrosen aufsetzen wollten, und daß sie die durchbrochenen Batistblusen anziehen wollten, die sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten, und die braunen Faltenröcke ... gerade als ob er wußte, daß sie recht lange im Freien bleiben würden, gerade als ob er das gewußt hatte, bemühte er sich, noch alles bis dahin so schön wie möglich zu machen. Tag und Nacht war er an der Arbeit: Erst schickte er noch ein paarmal tüchtige, warme Regenschauer hinab, damit alles, auch alles plötzlich sproßte und sich auftat, an Büschen und Bäumen, in Rasen und Beeten. Und dann ließ er die Sonne kommen, warm und mild, und ganz goldhell, damit sie jedes Blättchen streichelte, glättete und entfaltete, damit sie ein leichtes Grün dem jungen Laub gab und hundert Farben den neuen Blüten, Gelb den Forsythien, Rosa dem Rotdorn, Weiß dem Weißdorn und Blau den Hyazinthen und die züngelnden Flammenfarben den Tulpen. Und jedes Blättchen rückte der Frühling zurecht, damit es so schön und behaglich in der Sonne träumen könnte.

Ja, was hatte der Frühling nicht alles noch bis Sonntag zu tun! Man sollte gar nicht glauben, daß ein einzelner das fertigbringen konnte! Da waren zuerst einmal die vier Baumreihen die Straße entlang; und da gab es Lindenbäume, an deren Zweige und Zweiglein ganze Fächer von goldgrünen Blättern zu setzen waren. Da gab es Ahorn, der mit Büscheln gelber Blütchen zu verzieren war, und sogar Kastanien, ein paar Kastanien dazwischen, deren Knospen so ganz vorsichtig ausgewickelt werden mußten, und deren junge Blätter in diesen Tagen so schlaff und hilflos waren, daß der Frühling schon recht sehr aufpassen mußte, daß sie der Regen nicht abschlug. – Und dann die vielen, vielen Rüstern straßauf, straßab! Was er mit denen für eine Arbeit hatte! Da hieß es, ganz schnell die braunen Blütchen in grünliche, flatternde Früchte umwandeln, und dann erst konnte er hier und da ein paar Blätter anstecken, klein, zart und bescheiden.

Und damit die Leute, die hier die Straße entlanggingen, auch wirklich an ihn glaubten, da mußte der Frühling noch von weit draußen einen gelben Schmetterling herbeiholen und ihn in der Sonne so fröhlich zwischen den Straßenbahnen über den Asphalt flattern heißen, als wäre hier noch die alte saftige Frühlingswiese von einst. Denn daß die Leute in die paar letzten kümmerlichen Vorgärten sahen, das wagte der Frühling gar nicht zu hoffen. Und doch waren an der Häuserwand sogar Fliederbüsche, die schon ganz grün waren und schon Knospen mit einem matten Schimmer von Blau zeigten. Und die kleinen verschnittenen Hecken schienen dem Frühling gesagt zu haben, daß sie sich jetzt in der hellen Sonne ihres wirren und dornigen Gezweiges schämten. Und er hatte begonnen, mit Blüten, Blättern und Blättchen es zu bemänteln.

Aber das, was der Frühling hier beim Hauptquartier von Emil Kubinke und Hedwig, Emma und Pauline zu tun hatte, das war noch ein Kinderspiel gegen das, was es da draußen für ihn zu schaffen gab. Da waren die vielen angelegten Straßen mit ihren Laubwegen, und überall gab es Arbeit. Da waren ein paar einsame Pappeln zwischen den Bauplätzen, zwischen den Laubenkolonien, und die mußten in einen zarten grünen Schleier eingefangen werden. Da waren Obstbäume zwischen alten grauen Holzzäunen, und sie mußte der Frühling in weiße und rosige Korallenstöcke verwandeln. In den Gartenwinkeln hatte er Veilchen zu verstecken, daß man sie nur ahnte, nicht sah; und auf die Sandplätze hatte er Huflattich und Ehrenpreis zu setzen. Und was hatte er gar um den See zu tun! Er hatte die Weiden, die zum Wasser hingen, in gelbe und grüne Netze zu verspinnen; der Erlenkette hatte er einen braunroten Schimmer zu geben und einen mattgrünen Duft; und am Rande des Wassers hatte er das Schilf sprießen zu lassen, mit scharfen Spitzchen, und darüber ein paar gelbe Dotterblumen zu öffnen. Und in den Gartenlokalen, da hatte er sich der hohen Rüstern und Kastanien und der weißen Birken ganz besonders anzunehmen. Denn sie sollten doch schon grüner ausschauen als die in der Straße.

Ja – all das wurde dem Frühling recht schwer gemacht. Denn es war doch hier im Reiche Emil Kubinkes, im Lande von Hedwig, Emma und Pauline, nicht so, wie weit draußen in Wald und Feld, wo er Schlüsselblumen, Anemonen und Löwenzahn nur so ausstreuen konnte. Oder gar wie unten im Süden, wo der Frühling aus dem vollen wirtschaften konnte, mit Blütenreichtum, Düften und Farben. Nein – eigentlich war es doch recht kümmerlich, was ihm hier zu Gebote stand. Und desto mehr, meine ich, müssen wir anerkennen, was der Frühling alles aus diesem Wenigen, diesen paar Ärmlichkeiten hervorzuzaubern wußte.

Ja, ich glaube, der Frühling hatte auch die Wege zu kehren und die Fontäne aufzuschrauben, die gestrichenen Gartenstühle zu trocknen und die Kegelbahnen auszubessern. Bei allem mußte er dabei sein. Er mußte selbst dem Puppenspieler helfen, die Bühne aufzustellen, und die Schießbuden, die Würfelbuden und das Karussell.

Nur auf dem hochherrschaftlichen Hof beim Gartenhaus, da hatte der Frühling nichts zu tun, – da vertrat ihn nämlich Herr Piesecke in Hemdsärmeln. Mit weißer Lackfarbe strich er den Apollo von Belvedere, Dante und Luther an und versöhnte ihre innerlichen Gegensätze, so daß sie alle gleich blank im Licht standen. Die staubigen Thuja und Tannenbäumchen spritzte Herr Piesecke ab, daß sie wieder fast grün erschienen, während Frau Piesecke die Fliesenwege schrubberte. Und dann nahm Herr Piesecke höchstselbst eine große Tüte Grassamen ›Tiergartenmischung‹, band sich Bretter unter die Füße, streute den Grassamen über den schwarzen Boden hin und trampelte auf ihm mit seinen Brettern herum wie ein Tanzbär.

Und die Mädchen lagen allenthalben in den Fenstern und sahen Herrn Piesecke interessiert zu.

»Herr Piesecke! Hör'n Se uff mit de Arbeet!« rief Hedwig ihm zu, »es is jleich zwölwe.« Denn seit neulich abend stand Hedwig mit Herrn Piesecke besonders gut.

»Jleich zwölwe?« rief Herr Piesecke hinauf und trampelte ruhig weiter, »nee, da könn' noch verschiedene Menschen sterben, bis es zwölwe is.«

Ja – auf dem Hof vertrat den Frühling Herr Piesecke in Hemdsärmeln.

Und das war auch gut. Denn sonst wäre der Frühling bis Sonntag sicherlich nicht fertig geworden. An was hatte er nicht alles zu denken! Er mußte sehen, daß es nach Sonnenuntergang nicht wieder kalt wurde und daß jedesmal ein bißchen Abendrot am Himmel stand, damit auch die Menschen für morgen an ihn glaubten. Die jungen Wildenten, die drolligen gelben Watteballen, die Sonntag im Strandschlößchen das Entzücken der Kinder bilden sollten, hatte er warm zuzudecken. Und der Nachtigall da hinten bei dem Platz hatte der Frühling noch ein paar Nachhilfestunden im Gesang zu geben, damit es ihr noch viel besser gelänge, die Herzen zu verführen.

Und wenn es auch bei Hedwig und dem Hilfsbriefträger Herrn Schultze solcher Mittel nicht bedurfte, so gab es doch noch einige andere Paare in der Gegend, die auf Nebendinge wie Blumenduft und Nachtigallenklage angewiesen waren, um den Mut zur Sprache ihrer Herzen zu finden. Und auch auf sie wollte der Frühling nicht verzichten ...

Ja, die kleine dralle Hedwig und der Hilfsbriefträger Herr Schultze hatten sich gefunden. Auf die einfachste Weise der Welt. So wie eben verwandte Seelen sich zusammenfinden. Denn als Hedwig am nächsten Tag Männe in die Abendluft führte, da hatte sich Herr Schultze, der gerade von der neunten Bestellung kam, zu ihr gesellt, mit den Worten: »Fräulein, Ihr Hund hat sich woll de Beene abjeloofen?« – »Jrade so wie Sie, Herr Schultze«, hatte Hedwig erwidert. Und so waren sie, hiervon ausgehend, langsam in medias res gelangt. Um halb zehn hatte Herr Schultze sie drüben an der Ecke erwartet. Denn Hedwig hielt es durchaus nicht für schicklich, allein und nur in Männes Begleitung den Spuren des immer noch gesuchten Gustav Schmelow zu folgen. Dazu brauchte sie schon männlichen Schutz. Und da war ihr der Hilfsbriefträger Herr Schultze schon viel lieber als Emil Kubinke. Denn der wußte doch wenigstens, was er wollte ...

Allen sandte also der Frühling seine Grüße: Emma und Gustav Schmelow, Hedwig und Herrn Schultze, Herrn Piesecke machte er sogar zu seinem Stellvertreter, und auch Emil Kubinke spürte den Frühling in seinem Blut, wenn er des Abends nach Geschäftsschluß auf die Straße irrte und vergebens seine Blicke nach Hedwig wandern ließ. Und wenn dann all die lustigen Paare der Quadrille an ihm vorüberwirbelten, sich suchten und zusammenschlossen, hinaustanzten und sich verloren, und er so ganz einsam zwischen all den lachenden Gesichtern umherschwankte, so sehnsüchtig, wie es nur die Jugend sein kann, – ja, dann spürte er den Frühling schon.

Nur an Pauline konnte der Frühling mit seinen Grüßen nicht recht herankommen. Denn da Pauline letzthin auf dem Maskenball gewesen war, so sagte Frau Betty Löwenberg jeden Abend ihrem Mann, daß sie die ganze Woche nicht vor die Tür gekommen wäre. Und Herr Max Löwenberg mußte seinen Londoner Zylinder noch einmal abbürsten. Pauline aber saß dann Abend für Abend bei Goldhänschen und bewachte dessen friedlichen Kinderschlummer, während zur gleichen Zeit Frau Betty Löwenberg vom Nerzjackett der Frau Cäcilie Schlesinger zum Pariser Modellhut der Frau Julie Mannheimer überging, der ohne Zweifel um zwanzig Jahre zu jung für sie war ...

Und als der Sonntag kam und die Menschen auf die Straße gingen, da waren doch alle ganz erstaunt und sagten, daß es wirklich über Nacht grün geworden wäre. Wir aber wissen es ganz genau, daß der Frühling bald eine Woche gebraucht hatte, und er hätte es auch in dieser Zeit kaum fertig gebracht, wenn ihm nicht seine langjährige Routine hierin zugute gekommen wäre.

Ja, das war mal so ein richtiger Sonntag, ein Tag, der so schön war, so strahlend und ungetrübt von früh an, daß ihn wochentags jeder als eine persönliche Beleidigung empfunden hätte. Die Straßen lagen lang, hell und blank, und das letzte kleine, eingegitterte Bäumchen an der Bordschwelle war mit mindestens zehn grünen neuen Blättchen aufgeputzt. Und die Spatzen waren schon am frühen Morgen so verliebt in der Sonne, daß sie sich beinahe von der Straßenbahn überfahren ließen und erst in der letzten Sekunde zu der Jungfrau mit dem Merkurstab hinaufschwirrten, um dort weiter piepsend, schreiend und flügelschlagend durcheinander zu wirbeln. Und alle Bahnen waren von früh an voll mit geputzten Menschen, und jeder hatte ein Kind auf dem Schoß, und sogar vorn auf der Plattform standen die Liebespaare, ließen sich den Wind um die Nase wehen und lächelten dabei einander an. An den Ecken hatten sich junge Leute in der Sonne postiert und warteten rauchend auf Freunde, um mit ihnen hinauszuziehen; oder andere, mit der Uhr in der Hand, standen da, keineswegs gleichgültig mit der Zigarre, und sie blickten sehnlichst straßauf, straßab nach hellen Kleidern, ob das vielleicht ihr Gang wäre, bis ihnen doch mit einemmal ein frischgewaschenes Sonntagsgesicht unter dem neuen Strohhut entgegenlächelte.

Und dann kommen die Familien. Etwelche in Breitformation, etwelche in Sektionskolonnen, und die blanken, knarrenden Speichen der Kinderwagen blitzen in der Sonne vor ihnen her wie die Feldzeichen vor den Kohorten. Nirgends ein Arbeitswagen, nirgends ein Geschäftsrad, – der Asphalt so lang und hell und grau, ... und nur die Wallfahrt von geputzten Menschenkindern, und nur in der Sonne diese Bahnen, eine nach der anderen, die hinausstreben, angefüllt bis auf den letzten Platz. Nirgends ist eigentlich Schatten. Gerade von Südosten her fällt das Licht ein; breit wie ein Strom zieht es zwischen den hellen Häuserreihen in den vier Baumlinien dahin, und nur in den Nischen der Fenster liegt so etwas wie Dunkelheit, und nur auf dem Bürgersteig zittert das Widerspiel der ersten grünen Blättchen, und nur wie matte, bläuliche Monde sind in regelrechten Abständen, mitten zwischen den Straßenbahnschienen, die Umrisse der Bogenlampen aus der Höhe hingezeichnet. – Aber kein Mensch sehnt sich auch nach Schatten, alle gehen sie so recht behäbig in der Sonne dahin, die sie so lange entbehrt haben. Und Menschenkinder von den beiden Polen her, die sich eigentlich gar nichts zu sagen haben, sehen sich mit Blicken an, die sehr vielsagend sind. Und andere, die jetzt noch ganz steifleinen nebeneinander herziehen, empfinden schon, daß es nicht immer so bleiben wird. Und selbst die würdigen Familienväter lassen ihre Augen etwas länger denn sonst auf der rundlichen Gattin und der wohlgestuften Kinderschar ruhen.

Ganz im Hintergrund jedoch, da steht er selbst, der Frühling, und er betrachtet Seiendes und Werdendes mit behaglichem Lächeln, und er ist ganz zufrieden mit sich, und er reibt sich die Hände und sagt:

Na – wie habe ich das wieder gemacht?!

Und er lächelt sogar mit einem Sonnenstrahl in den Laden des Herrn Ziedorn hinein, allwo Emil Kubinke im weißen Jackett steht und mit langen Strichen die blanke Klinge um die Gesichter der Kunden führt. Und er nickt dem Ungeduldigen zu und sagt: Warte nur bis heute nachmittag, Emil Kubinke, bis heute abend, da bin ich ja auch noch da ...

Und dann kommt noch um zwei der letzte Kunde hereingestürzt und bedeutet, daß er nur eine Sekunde Zeit hätte, da er um einviertel drei am Potsdamer Platz sein müßte. Und als er rasiert ist, besieht er sich noch zwei Minuten lang sehr genau im Spiegel, ob er auch ja schön, sauber und unwiderstehlich sei, während doch das Fräulein aus dem Wäschelager von Tietz schon an der Normaluhr steht und mit dem Sonnenschirm auf das Pflaster pickt.

Und Emil Kubinke schließt den Laden, und er ißt seine Portion Schweinebraten mit Gurkensalat nicht einmal auf, trotzdem das sonst seine Leibgerichte sind, – denn junge Liebe verlegt anfangs stets den Appetit. Und dann geht er so ganz langsam über den Hof fort, zwischen dem blanken Luther und dem Apoll von Belvedere dahin, und er lauscht einen Augenblick, ob er etwas von Hedwigs Küche her vernehme. Aber da alles mucksstill bleibt, schleicht er hinauf, sich umzuziehen. Oben aber in Emil Kubinkes Kammer brütet die warme Sonne, und man hört ordentlich, wie es vor Wärme in den Dachsparren knackt und zieht. Die Luft ist dabei ganz grau und von den tanzenden Stäubchen durchzogen; und zudem kein Geräusch von unten her und kein Zwitschern eines Vogels vom Dach aus: Nur blanke Sonne, nur weiße Wände, die bunten Bildchen aus den Witzblättern, grauer Boden, und die trüben, schrägen Fenster, in die der blaue Himmel und die weiße Sonne sehen.

Und Emil Kubinke setzt sich auf den Bettrand, zieht seinen Koffer unter dem Bett vor, schnürt ihn auf, guckt hinein, auf seine paar Hemden, paar Kragen, den Anzug und die Bücher, stützt die Ellbogen auf die Knie und nimmt den Kopf zwischen die Hände und fängt so an zu träumen, ohne selbst zu wissen, was er träumt. Von Hause träumt er, von der Schule, von seinem Vater; er sieht ein Stück Wald, in dem er einmal war; den Turnsaal; seinen ersten Chef; er geht des Abends bei Schneegestöber spazieren; er steht auf einer Bühne, die Geige im Arm, und verbeugt sich und erblickt tausend Hände – nur Hände, die sich ineinander bewegen. Er sieht die dicke Hedwig in ihrer Kammer, nackt bis zu den Hüften, und Herrn Ziedorn, der mit dem Zylinder bei ihr steht. Und plötzlich liegt Emil Kubinke auf dem Bett, den Kopf im Genick und den Mund halb offen, und schläft. Er weiß, daß er schläft; er weiß, daß er eigentlich eine Verabredung hat, aber er kann sich nicht hochreißen. Es ist ihm, als hätte man ihn mit Stricken an das Bett gebunden. Ja, der Frühling, der macht schon müde ...

Emil Kubinke fühlt, daß er schläft, aber immer wieder, wenn er sich ermuntern will, streckt der Sandmann die Hand aus, schüttelt ein Körnchen nach, und Emil Kubinke sinkt wieder herab wie durch gurgelndes Wasser ...

Und die Sonne rückt ganz herüber, marschiert immer weiter nach Westen hin, und ihre Strahlen gehen vom Boden fort und kriechen langsam die Wand hoch, verweilen auf den Jüttners, den Heilemanns, den galanten Damen Rezniceks, die Herr Tesch als Kunstkenner ganz besonders hoch einschätzt, und dann kommen sie in die grauen Balken und Sparren hinein, die sich ordentlich über diesen neuen Besuch zu verwundern scheinen.

Aber unten auf dem Bett liegt Emil Kubinke der Länge lang und schnarcht.

Und Hedwig in weißer Bluse öffnet ihr schmales Kammerfenster und ruft über den Hof: »Pst! Emma!«

Und Emma öffnet drüben ihr schmales Kammerfenster und guckt mit ganz seifenglänzendem Gesicht herüber: »Ick komme jleich!«

»Wasch dir man nich de Haut runter, Emma,« ruft Hedwig.

»Machen wir nich!« sagt Emma.

»Sage mal, nimmste nachher des braune Jackett mit?« fragt Hedwig.

»Ja«, meint Emma, »det nehm ick.«

»Denn wer' ick's man auch nehmen«, sagt Hedwig.

Denn Hedwig und Emma gehen immer als Schwestern.

»Hast du denn schon den kleenen Barbier jesehn?« fragt Emma gleichgültig und trocknet sich die Arme ab.

»Ick nich«, sagt Hedwig.

»Ach der Kleene, – weeßte – der looft uns schon nach, da hab ick jar keene Bange.« Und damit klappt Emma ihr Kammerfenster zu.

»Mach man, Menschenskind! Ick warte denn unten«, ruft Hedwig noch. Und dann klappt auch ihr Fenster.

 

Und der Hof liegt wieder ganz still, sonntäglich still – man hört nicht sprechen, nicht lachen. In die weiße Zisterne glänzt das Licht des Himmels hinein. Oben aber auf dem Bett liegt Emil Kubinke der Länge lang und schnarcht ...

Dann aber treffen sich die lange Emma und die dicke Hedwig auf dem Hof, auf den Fliesenwegen, und sie zupfen noch einander an den braunen Faltenröcken herum, und sie rücken die braunen Strohglocken mit den Moosrosen zurecht, und sie ziehen die weißen Garnhandschuhe über die roten Finger, daß sie ein paar Hände bekommen wie Sergeanten. Die Sammetjackettchen nehmen sie unter den Arm und ziehen los, mit glänzenden Gesichtern und leuchtenden Augen. Und während sie durch die Kellertreppe, durch den Nebeneingang klappern, singen sie schon: »Schatz, mach Kasse, – du bist zu schade fors Jeschäft!« und wippen in den Hüften.

Emil Kubinke aber liegt oben auf dem Bett und schnarcht.

Und wenn es das Schicksal gut mit Emil Kubinke gemeint hätte, so hätte es ihn jetzt schlafen lassen, bis in den Abend hinein, bis er ganz erstaunt in dem dunklen Raum hochgefahren wäre. Und dann wäre es ihm vielleicht zu spät gewesen, noch fortzugehen. Aber das Schicksal meint es eben nicht gut mit Emil Kubinke, und es schickt nachmittags gegen sechs eigens Herrn Tesch in die Dachkammer hinauf, um Emil Kubinke zu wecken.

»Herr Kolleje, stehn Se uff!« ruft Herr Tesch.

Emil Kubinke wirft die Beine vom Bett, sitzt da, stützt die Knie und starrt verständnislos Herrn Tesch an, der den Strohhut sehr unternehmungslustig auf dem Ohr hat. Und dann gähnt Emil Kubinke aus tiefstem Herzen. Die ganze Zeitrechnung ist ihm abhanden gekommen, und er weiß kaum, wo er ist.

»Na, ich denke, Sie wollten wegjehn?« fragt Herr Tesch.

»Ich?« sagt Emil Kubinke, und ganz langsam dämmert es in ihm, daß er doch für heute nachmittag irgend etwas vorgehabt hat.

»Ja,« meint Herr Tesch, »Sie haben's doch jesagt, Kolleje.«

Das ist nun nicht richtig. Emil Kubinke hat Herrn Tesch nicht ein Wort gesagt, sondern die dicke Hedwig hat ihm das gesteckt. Aber Herr Tesch liebt es, diplomatisch vorzugehen.

»Ach ja«, sagt Emil Kubinke unschlüssig, »da muß ich mich ja noch anziehen.«

»Na, denn machen Se man schon. Sie wer'n jewiß erwartet«, meint Herr Tesch.

Und eigentlich hat nun Emil Kubinke keine rechte Lust mehr, aber er fürchtet die Spöttereien des Kollegen, und er beginnt sich zu waschen, seinen Rock zu bürsten, bindet seinen besten Schlips um den ganz hohen neuen Kragen, glättet seine Haare, nimmt den Strohhut, während Herr Tesch auf seinem Schließkorb sitzt und sich eins pfeift.

Niemand wird verstehen, welches Interesse Herr Tesch daran hat, daß Emil Kubinke seine Verabredung einhält. Aber vielleicht wird sich doch dieser und jener erinnern, daß Herr Tesch unter ›Innig 185‹ in der Morgenpost eine kleine Anzeige gemacht hatte, die einen bedeutsamen Widerhall in den Reihen der Interessentinnen gefunden hatte. Und da Herr Tesch eine von diesen Damen – es war die nicht unbemittelte Waise mit Kind – zu heute nachmittag um halb sieben auf eine erneute persönliche Rücksprache zu sich gebeten hatte, – so kann man es Herrn Tesch nicht verargen, wenn er darauf Wert legte, daß Emil Kubinke hierbei nicht anwesend war. Vor allem, da Herr Tesch als Kavalier der Dame ja Diskretion zugesichert hatte.

Und Emil Kubinke mustert sich im Spiegel, und er ist ganz zufrieden. Und dann pendelt er die Korkenziehertreppe hinab. Herr Tesch aber bleibt pfeifend auf dem Schließkorb sitzen.

Als Emil Kubinke dann über den Hof geht, steht oben Pauline am Fenster. Und sie will Emil Kubinke etwas zurufen, etwas sehr Angenehmes vielleicht. Aber Emil Kubinke sieht gar nicht auf und schwindet die Kellertreppe hinab. Jetzt hat ihn schon ganz die Erwartung.

Man kann nun wähnen, daß hier Emil Kubinke besonders unklug handelte; aber ich meine, daß keiner von uns anders gehandelt hätte. Ach Gott, wie oft stolpern wir die Kellertreppen hinunter, irgendwelchen fragwürdigen Hoffnungen nach, während vielleicht unser rotgoldnes Glück oben am Fenster steht und uns zu sich winken würde, wenn wir uns nur die Mühe nähmen, uns nach ihm umzusehen ...

Draußen aber steht nun die Sonne schon ganz tief unten und blinzelt mit schrägen, langen Strahlen in die Straße hinein, gibt nur noch der einen Seite ihr goldenes Licht, während alles andere schon im blauen Schatten liegt. Und hinten am Ende ist eine weiße, gezackte Wolkenwand vorgelagert, wie ein Gebirgszug, und ein paar weiße Federn ziehen von hier aus über den blauen Himmel. Warm ist es, ohne einen Lufthauch, und die Menschen sind rot und pusten. Alles kommt jetzt schon wieder zurück. Die Straßenbahnen sind ganz mit Passagieren vermauert, gefüllt bis zum letzten Platz. Und die Kinderwagen sind auch schon auf dem Rückzug. Die Kleinen, die erst so munter vorweg gelaufen sind, schleifen jetzt quarrend an der Hand der Großen nach, hängen an Mutters Rockzipfel oder sie liegen quer über Vaters Schulter wie ein Bund Flicken. Die größeren Kinder aber singen ›Am Brunnen vor dem Tore‹ und ›Nun ade, du mein lieb Heimatland‹. Die Kommis gehen bescheiden und gesittet mit ihren Mädchen, aber die Soldaten stampfen mit ihren Nagelschuhen dahin, als wäre Parade auf dem Tempelhofer Felde. Und zwischen je zwei Knöpfen des Waffenrocks schaut immer eine Zigarre hervor.

All das jedoch trabt dahin, – all das ist vergnügt, daß nun endlich der Sommer kommt. Und von den nicht zu fernen Gartenlokalen dringen in das Gesumm die abgerissenen Klänge der Musikkapellen herüber, die die ›Winterstürme, die dem Wonnemond wichen‹, mit dem ›Präsentiermarsch‹ abwechseln lassen. – Aber mitten dazwischen Emil Kubinke.

Und wenn er auch fühlt, daß er in Ehren bestehen kann – denn sein Kragen ist ganz neu, noch nie gewaschen und sehr hoch, und sein weißer, blütenweißer Strohhut hat noch keinen Regen bekommen und glänzt ordentlich vor Leim – ja, wenn Emil Kubinke auch fühlt, daß er in Ehren bestehen kann, so empfindet er es doch schmerzlich, daß er bei der großen Quadrille heute noch nicht engagiert hat. Ach – er weiß keineswegs bestimmt, ob die Tänzerin, auf deren Tanzkarte er sich für heute hat vormerken lassen, auch jetzt noch auf den Verspäteten warten wird, oder ob sie es nicht vorgezogen hat, einem andren in die Arme zu fliegen.

So marschiert Emil Kubinke ungeduldig dahin, schwimmt gegen den Strom, die langen Wege, die Alleen entlang. Immer stärker klingt die Musik von den Lokalen am See. Immer dichter wird das Gewühl. Die Liebespaare und die Kinder haben sich verhundertfacht, haben sich wie die Köpfe der Hydra mit sich selbst multipliziert. Noch ist es hell. Die Sonne hat zwar schon gute Nacht gesagt, aber der Himmel leuchtet wie weißglühendes Metall, und die paar Federwolken sind rosig überstrahlt, während die große, dräuende Wolkenwand da hinten ganz scharlachfarben ist. Die Eisenbahnzüge ziehen im Bogen an baumbesetzten, noch unbebauten Straßenzügen als vielgliedrige, feurige Schlangen dahin, und die Mondsichel rückt drüben am Himmel empor, steht mitten zwischen den zarten Wipfeln zweier Pappeln.

Ach, da ist ja schon das Strandschlößchen! Da unten liegt es. In der russischen Schaukel kreischen die Mädchen mit fliegenden Röcken, und das Karussell dreht sich ganz bunt zwischen einer Mauer von Kindern in der Dämmerung. Und Meta Schultze schwebt ganz schräg auf dem Holzschimmel wie eine richtige Reitdame immer im Kreis umher und lächelt sauer. Eine Kapelle spielt irgendwo, – ein Mittelding zwischen Kindergeschrei und Teppichklopfen. Und dazwischen geht's: ›Grrr! krattabum – Bataillon!‹ – die Kegelbahn. – Unter den Bäumen, den hohen Rüstern, herrscht schon unsichere Dämmerung, in der es durcheinander gleitet und wogt und rauscht; und während doch draußen noch ein weißes Licht alles ganz klar macht, werden hier unten schon die alten Petroleumlampen angezündet, rötliche, blakende Lichter im tonigen Dunkel, flackernde Kreise im Halbschatten. Von fern glänzt dazu noch der Spiegel des Wassers, in dem sich ein roter Himmel wiederfindet, und über den die Lichter von den anderen Lokalen schon die ersten zitternden Brücken bauen. Die grünen Tische stehen hier in langen Reihen unter den Bäumen, und überall sitzen Familien, sitzen Pärchen, sitzen Soldaten, sitzt alt und jung. Dienstmädchen gehen schon auf den Wegen, paarweise, weiß und blond, haben ihre Augen überall. Und andere versprechen allen Männern mit Blicken die schönsten Dinge, während sie am Arm des einen hängen. Reihenweise sind auf den Tischen die Weißbiergläser, die Kaffeetassen und die Seidel und die Teller mit den Napfkuchenresten. Die Aushilfskellner stürzen schwitzend ihren Groschen nach, und Hausdiener mit blauen Schürzen ziehen mit ganzen Körben voll klirrenden Geschirrs ab. Wenn die Musik schweigt, hört man vom Tanzsaal ein paar Töne. Und immer sieht man an hohen, hellen Scheiben die Umrisse von tanzenden Paaren entlangfahren, ganz spukhaft und lächerlich. Sobald die Kapelle aber wieder beginnt, glaubt man, es gewittert in der Ferne.

Emil Kubinke wandert zwischen den Gängen auf und nieder, läßt sich schieben und treiben, sieht nach jedem Tisch. Aber so viele Mädchen auch da in den weniger beleuchteten Ecken sitzen, so viele ihren Arm auf die Schulter des Freundes lehnen und ihm teilnahmsvoll in die Augen blicken, so viele singend und summend, paarweise und zu dreien, weiß, rosa und hellblau, flatternden Wimpeln gleich, die an einer Schnur wehen, in der Dämmerung die Wege auf und nieder trotten, – nirgends ist die, auf deren Tanzkarte sich Emil Kubinke schon vorgemerkt hat. –

Und die Kinder beginnen schon ihre Stocklaternen anzuzünden, die wie große, bunte Schmetterlinge durch das Halbdunkel schweben. Mütter rufen: »Emma, Marie, Karl, Justav, na machste nu endlich!« teilen Katzenköpfe aus, stupsen Jungen in Kniehosen vor sich her – »na du, komm mir man nach Hause!« – Das Karussell dreht sich unermüdlich im Licht. Eine neue Meta Schultze sitzt auf dem Schimmel. Die Schaukel fliegt. Die Mädchen kreischen. – Kasperle spielt in einer Ecke sein letztes Spiel: – »Seid ihr auch alle da?« In der Schießbude brüllt der Löwe, pinken die Schmiede, wirbelt die Trommel, aber das tanzende Ei ist noch unbeschädigt. – Und an der Würfelbude weint Marie Polzin bittre Tränen: sie wollte durchaus die blaue Glasschale mit den Blumen gewinnen. Aber dazwischen immer: ›Grrr – krattabum – Bataillon!‹ – die Kegelbahn. –

Emil Kubinke setzt sich bescheiden an irgendeinen Tisch, allwo noch ein Stuhl frei ist. Da sitzen schon Leute. Großmutter Neuendorf mit einer Kapotte und einem alten Longschal mit Mottenlöchern. Schriftsetzer Ziebland, Frau Luckow, Frau Ziebland, Frau Braunack; Erna, Hermann, August und Karl aus der zweiten Klasse der Hundertsiebenunddreißigsten und aus der fünften Klasse der Hundertundachtzehnten.

»Au, Mutta!« ruft August, »ick hab wat Feines jesehn! Een' janz kleen' Mann – sehr alt war er und so verjniecht – uff zwe Stöcker is er jejangen – immer so – beede Beene kaputt!«

»Nach so etwas brauchst du noch jarnich hinzusehen«, sagt Frau Luckow belehrend, und sie kann sich nicht enthalten, ihre Hand nach August hin ausgleiten zu lassen.

»Na, weene man nich, Aujust«, sagt Herr Ziebland, »Vater kommt ooch jleich mit Weißbier und Wurscht!«

»Jott, Frau Waldowski«, ruft Frau Postschaffner Luckow, »wo kommen Sie'n her? Wo ist denn Ihre Emma? Is det Mächen ooch hier?«

»Haben Se denn nich jehört? – Nee? nee? Meine Emma is doch schon seit vierzehn Tage wech!«

»Keene Ahnung! Wirklich?!« ruft Frau Ziebland.

»Na, un wat habn Se'n da jetan?« fragt Frau Luckow. »Ham Se se denn?«

»Ach nee«, sagt Frau Waldowski sehr ruhig. »Aber wissen Se, – ick hab ihr jleich als unbekannt verzogen bei de Polizei abjemeldet.«

»Na, denn is man jut«, sagt Herr Ziebland und langt nach dem Weißbierglas.

Emil Kubinke sitzt still an einem Tischende und trinkt sein Bier.

Es ist indessen dunkler geworden – merkwürdig, seltsam, unheimlich, drückend dunkel, – so ganz schnell, so ganz rapide und plötzlich. Die Bäume verschränken sich zu großen Zelten, und die Musik rasselt blechern.

Und mit einemmal geht ein Rauschen und Drehen durch die Zweige, und sie biegen sich und knarren; junge Blätter und die grünen Ulmenfrüchte werden abgerissen und jagen wirbelnd herunter. Draußen auf der Allee wälzt sich eine Staubwolke ganz schnell entlang, rund wie eine Welle, sie rollt die Straße hinab, dick, kraus und schwer, und vor ihr, wie drei Herolde, laufen und kreisen auf der scharfen Krempe drei niegelnagelneue Strohhüte, und drei Schatten von laufenden Menschen, drei Paar fliegender Rockschöße jagen mitten in der Staublawine mit vorgestreckten Armen. Und wo die Lawine hingelangt, da bleiben die Menschen wie verdattert stehen, stemmen sich gegen den Wind, strecken die Arme von sich und machen die Augen zu. Und der Wind zerrt den Frauen und Mädchen an den dünnen Frühlingskleidern, preßt die Röcke gegen sie, läßt sie sich krausen und flattern, zeichnet die sonst verhüllten Figuren mit allen Rundungen, macht aus der Mode von 1908 fußfreie griechische Gewänder der Perikleischen Epoche.

Und dann kommt es drüben von der Seeseite heran. Die Häuser dahinter sind schon ganz in grau gehüllt. Man sieht, wie der Regen übers Wasser kommt, in großen Huschen und Sprüngen. Er schlägt ordentlich hinein, daß es nur so spritzt. Und da, da ist er auch schon! Er prasselt und saust durch die Blätter, durch das dünne Laub; er trommelt auf die Tische; er platscht mit schweren Tropfen in die Kaffeetassen, in die Bierseidel, in die Weißbiergläser; er rieselt an den Baumstämmen herunter; der Boden schlürft ihn nur so ein. Man kreischt, man duckt sich, aber die Tropfen treffen in den Hals, ins Genick, auf die Arme, im Augenblick sind die dünnen Blusen durchweicht. Kinder hüpfen jubelnd im Regen, mit offenen Mündern und schnappen nach den großen Tropfen, Frauen flüchten, schlagen die Röcke hoch, zeigen die Waden, Liebespaare ducken sich, unter Schirme, kriechen ganz zusammen unter den schwarzen Dächern, auf die der Regen trommelt. Ganze Tischreihen werden leer, und nur der Regen tanzt noch auf ihnen sein Menuett über die Gläser hin.

Die Musikkapelle aber spielt ruhig weiter, das patriotische Potpourri, ›Deutschland, Deutschland über dies‹. Das Karussell dreht sich im flackernden Licht; und in all dem Getümmel: ›Grrr – krattabum – Bataillon!‹ – die Kegelbahn.

»So'n Wetter, lieber jar keens«, sagt Herr Ziebland.

»Jetzt dreescht's tüchtig«, ruft Hermann.

»Au, Mutter, kiek mal, et regnet Blasen«, quietscht Erna.

»Det is nur ne Husche«, meint Frau Luckow.

»Jestrenge Herren rejiern nich lange«, quäkt Großmutter Neuendorf langsam und zieht den Longschal fester um den alten Leib.

»Kellner, zahlen!« ruft Herr Ziebland.

»Wer hat denn den Schirm?« fragt Frau Braunack erstaunt.

» Ich hab 'n jarnich jesehn!« sagt Hermann.

» Ick ooch nich!« ruft Emil.

»Jroßmutter hat'n jehabt«, piepst Erna.

»Nee, nee«, zetert Frau Neuendorf, »ick hab'n ieberhaupt nich zu Jesichte jekricht.«

»Jawohl, Jroßmutter«, kreischt Frau Ziebland, »Erna hat recht – Sie hab'n den Schirm zu1etzt in Ihre verfluchtijen Klauen jehabt!«

»Kellneer – zahlen!« ruft Herr Ziebland nochmals und gibt damit seine Absicht kund, die letzten drei Seidel nicht schuldig zu bleiben. Dann aber steht er auf. Solch einen billigen Sonntag hat er lange nicht gehabt.

»Na, Kinder, kommt man«, sagt er, »meint ihr, ick wer den nachloofen?«

Emil Kubinke, der gerade an einem Baumstamm sitzt, ist ziemlich geschützt gegen den Regen, und nur hin und wieder klatscht solch ein schöner schwerer Tropfen auf den Kopf seines neuen Strohhuts.

Und Frau Ziebland, Frau Braunack, Frau Postschaffner Luckow streben mit hochgeklappten Röcken nach dem Ausgang, geführt von Herrn Ziebland; und Großmutter Neuendorf humpelt, mit ihrer Kapotte auf dem spärlichen Dutt, ihrem Morchelgesicht und ihrem Umschlagetuch, auf ihren alten schiefen Hacken hinten nach.

Sie hat den Schirm wirklich nicht in ihre ›verfluchtijen Klauen‹ gehabt...

Aber Frau Postschaffner Luckow hatte doch die Wahrheit gesagt: es war nur eine Husche. Und auch Großmutter Neuendorf sollte recht behalten: gestrenge Herren regieren nicht lange.

Richtig – bald sickert es nur noch von den Bäumen herab, einzeln klatscht es zu Boden; und plötzlich scheint es wieder ganz hell zu werden; der Himmel bekommt lange, lichte Streifen. Auf den grünen Tischen blitzen kleine Teiche. Die abgeschlagenen Blätter glänzen. Es riecht nach frischem Laub, nach den Säften der Bäume, nach Erde, nach gesunder, frischer Feuchtigkeit. Kellner irren schimpfend zwischen leeren Stuhlreihen. Die Musik macht Pause, schüttet die Posaunen aus. – Aus dem Saal kommen Pärchen, die sich da hineingeflüchtet haben, lachend, mit roten Gesichtern, reiben mit Taschentüchern an Stühlen herum, suchen wieder nach ihren Winkeln. Aber während der Platz doch erst einem Schachbrett bei Anfang der Partie glich, mit den schönen, langen Reihen der Steine, gleicht er jetzt einer Endstellung: hie und da und da drüben nur noch, scheinbar wahllos und sinnlos, ein paar weiße und ein paar schwarze Figuren.

Emil Kubinke sitzt immer noch ruhig bei seinem Gläschen Bier und freut sich über den Duft der Bäume und über die schöne frische Abendluft. Er ist ganz zufrieden, daß er Hedwig nicht getroffen hat. Er träumt vor sich hin und lauscht den Melodien, die in ihm kommen und gehen, ohne daß er dazu etwas tut. – Endlich löst sich in ihm doch alles in Tönen, sein Frohsinn, seine Trauer und seine Beschaulichkeit – und das ist eigentlich das Beste, was der kleine Emil Kubinke hat; – das liebt Emil Kubinke sehr. Wenn er die Töne hört, ist er Philosoph. Dann ist ihm Hedwig gleichgültig und Herr Ziedorn, die Rasiermesser, die Trinkgelder und die Kunden. Und dann verschwindet beinahe die Erinnerung an Paulines goldblonde Flechten. Dann gibt es keine Liebe, kein Begehren, keine Sorgen, keine schadhaften Beinkleider, dann ist alles schattenhaft verschwommen und ist nur dazu vorhanden, um von seinen Melodien überhaucht und überspült zu werden. Das ist das Allerbeste, was der kleine Emil Kubinke hat; – von je – von der Schulbank an – ist seine Insel, sein Reich. Überall anders ist er in Feindesland ...

Und wenn es das Schicksal gut mit Emil Kubinke gemeint hätte, so hätte es ihn auf seiner Insel jetzt ruhig gelassen. Aber ich sagte schon einmal, daß das Schicksal es unerklärlicherweise gerade auf Emil Kubinke abgesehen hatte, und plötzlich erinnerte es sich also wieder, daß es doch mit Emil Kubinke irgend etwas vorhatte. Seit einer Stunde und länger, seit Herrn Teschs Dazwischenkunft, hat das Schicksal gar nicht mehr an Emil Kubinke gedacht. Darum also läßt es jetzt hinterrücks plötzlich einen Auflauf entstehen, einen Krawall, eine Szene, ein Gewühl und Getümmel, das sich von den Stufen, die zum Saal führen, bis zum Ausgang des Lokals dahinschiebt, und das so lärmvoll ist, daß es die Melodien Emil Kubinkes eben übertönen muß.

Doch an der Spitze dieses Auflaufs schiebt man einen Mann mit abgerissenem Kragen, hängendem Schlips, gelockerten Ärmeln dahin, dürr wie die Vernunft, grau wie die Theorie, mit hageren Wangen und langen Haarsträhnen. Und seine Augen rollen begeistert, und seine Hände machen große Bewegungen, denn er fühlt sich als Märtyrer, als Prediger in der Wüste und trägt gottergeben die Schickung. Ein Kellner aber ist rechts von ihm und einer links als Eskorte. Und ein Hausknecht in Hemdsärmeln drängt ihn vor sich her. Er jedoch achtet ihrer nicht und schüttet die Schale seines gerechten Zornes hernieder auf dieses lästerliche Gesindel.

»Ich aber sage euch«, brüllt er mit Löwenstimme, »redet mir nicht von der Heilsarmee! Nur der, so im Geiste des Herrn wandelt, darf von ihr sprechen. Denn kommen wird das Tier mit den Hörnern und Klauen ...«

Die Kinder johlen: »Kneetschke! Kneetschke! –«

»Lassen Se doch den Mann los«, ruft jemand, »der is ja harmlos.« – »Ach, des is ja mein verrückter Schneider aus de Fregestraße!« ruft ein anderer.

»Den kenn ick, der is immer so, wenn er een' in de Krone hat«, meint ein dritter.

»Komm doch, wat siehst'n daran?« sagte Emma und zerrt Hedwig am Ärmel.

»Nee, nee, sowat muß ick imma sehn, sowat macht mir Laune«, sagt Hedwig bestimmt und will sich losreißen.

»Du, Hedwig, bleib doch mal da!« ruft Emma. »Da in de Ecke da sitzt doch dein kleener Barbier!«

»Ach, Herr Kubinke«, meint Hedwig sehr freundlich – denn sie hat noch nicht Abendbrot gegessen. »Da sind Sie ja! Wir hab'n schon so lange auf Ihn' jewartet.«

»Ja«, sagte Emma, »wir hab'n Ihn' doch noch jarnich jesehn! Sind Se denn schon lange hier?«

Emil Kubinke ist sehr erfreut. Denn vor ihm stehen plötzlich nicht etwa die lange Emma und die kleine, dralle Hedwig mit den gestreiften Kattunkleidern und den geplatzten Lackschuhen, sondern zwei richtige Damen; und nur durch die weißen Sergeantenhandschuhe und durch die roten Arme, die aus den Blusen kommen – die Haut ist in lauter Landkärtchen gesprungen – wird Emil Kubinke erinnert, daß es doch wirklich nur Hedwig und Emma sind, diese zwei Damen mit den Moosrosen auf den Strohglocken, den Faltenröcken, den Sammetjäckchen, den durchbrochenen Mullblusen ... diese Damen, die ihm so freundlich entgegenlachen.

»Ick jeh nachher noch nach 'n Hohenzollernjarten!« sagt Hedwig. »Jar keen Betrieb hier heute.«

»Na, bleib doch hier«, sagt Emma und pufft Hedwig heimlich in die Seite, »da drüben is ja ooch nischt los.«

Eigentlich möchte ja Emma auch ganz gern noch in den Hohenzollerngarten gehen, aber sie weiß nicht, ob nicht Emil Kubinke nur für das Strandschlößchen engagiert ist.

»Na, wenn de nich willst«, meint Hedwig langsam, »denn könn' wer ja ooch wieder in 'n Saal jehn. Wat solln wir denn hier draußen?«

»Kommen Se mit, Herr Kubinke?« sagt Emma mit einem schiefen Blick. »Hören Se den Walzer?!« Und dabei schassiert die lange Emma auf der Stelle hin und her.

Emil Kubinke will nun gern sagen, daß es jetzt gerade hier draußen, bei dieser Frische und diesem Duft, sehr angenehm ist, viel lohnender als in dem dumpfen Saal. Aber er weiß, daß man bei Frauen immer in Kleinigkeiten nachgeben muß, wenn man Großes erreichen will. Und so ruft er den Kellner heran und geht dann, mitten zwischen Hedwig und Emma, die so schön rechts und links ihn streifen, zum Saal. Er weiß nicht, wie er sich dabei benehmen soll, denn er will doch nicht gern der langen Emma die Geheimnisse seiner Seele verraten. Und außerdem ist auch die Waage seines Herzens munter in Bewegung, schwankt auf und nieder zwischen der dicken Hedwig und der langen Emma, und wenn er nach rechts schaut, so will sie sich für Hedwig, und wenn er nach links schaut, für die Emma entscheiden. Aber da Emil Kubinke, – wer weiß, weshalb – mehr nach links als nach rechts sieht, so gibt das Zünglein der Waage immer bestimmter für die lange Emma den Ausschlag.

Und jeder von uns hätte die gleiche Wahl getroffen. Denn – während die kleine dralle Hedwig des Wochentags in ihrem einfachen Kattunkleid, mit der Schürze, mit bloßem Kopf und bloßen Armen, in sich vollkommen ist und noch mitten in dem blassen Großstadtgetümmel den gesunden Hauch von Wäldern und Wiesen ausatmet, so erinnert sie jetzt sonntags, wenn man sie überhaupt dann beachtet, in ihrem braunen Rock, der zu stramm sitzt, mit diesen Armen, mit dem runden, roten Gesicht, mit dem breiten Mund, mit dem feisten Nacken, mit allem, was so um sie herumquabbelt, an eine schlecht gestopfte Leberwurst.

Die lange Emma aber, trotz ihrer Sommersprossen, kann anziehen was sie will – es kleidet sie, sitzt wie angegossen; ja, man erkennt dann erst, was sie überhaupt ist. Sie trägt es nicht wie eine Modedame, sondern mehr noch: mit der Grazie einer Probiermamsell. Wer Hedwig sonntags sieht, sagt sich: die wird nochmal plätten lernen! Aber wer Emma sonntags sieht, sagt sich: die wird schon nochmal Karriere machen! Auf dem Markt der Liebe nämlich, allwo jedes Kilogramm und jeder Zentimeter mehr oder weniger gut und gern tausend Mark bedeuten, ist die lange Emma reichlich mit zwanzigtausend Mark höher akkreditiert als Hedwig. – Ja, ja ... die Figur der Frau ist eben ihr Schicksal. Die eine lernt plätten, aber die andere macht Karriere ...

Und Emma ist schon in der Lehre. Denn sie dient bei einer Sängerin, die nicht singt, aber vorgibt, in Gesang auszubilden, die alt an Jahren, grau an Haaren, aber jung an Herzen ist, ihre zahlenden und nichtzahlenden Verehrer gut scheidet und trennt, auf daß keine Verwirrungen entstehen, und die so für Emma eine ganz vorzügliche Schule bildet. Und wenn es Emma bisher in dieser Schule noch nicht so sehr weit gebracht hat, wenn sie sich kaum im ersten Larvenzustand ihrer Entwicklung befindet, noch fast roh und ungeformt ist und sich mit Ihren neunzehn Jahren ihrer eigentlichen Mission noch nicht einmal bewußt ist, so scheinen sie doch ihre Anlagen zu Bedeutendem zu bestimmen.

Bei der langen Emma brauchte man, wenn man sie auch nur einmal sonntags sah, gar kein besonders firmer Meteorologe zu sein, um ihr eine günstige Prognose zu stellen. Und, wenn sie auch heute abend noch auf der Speisekarte sich todsicher ›Schnitzel mit Bratkartoffeln‹ aussucht, – dadurch braucht niemand daran irre zu werden, daß sie in drei Jahren bei so vorgeschrittener Saison es dem Pöbel überlassen wird, noch ›Faisan aux truffes‹ zu essen.

Heute natürlich ist die lange Emma noch im ersten Larvenstadium, und sie weiß so viel von ihrer Zukunft, wie die Raupe davon weiß, daß man mit bunten Flügeln über blühende Felder in Duft, Sonne und Wind dahinflattern kann. Heute ist Emma noch beim Schnitzel, heute geht sie noch ins Strandschlößchen tanzen, heute ist sie noch bei Emil Kubinke. Und wenn sie auch von ihrer Herrin nur die durchbrochenen Strümpfe trägt und sonntags nur ihre gestickten Hemden anzieht, – noch hat sie kaum ihre allerallererste Häutung hinter sich ...

Wie Emma aber plötzlich ihren Arm in den Emil Kubinkes schiebt, da besinnt sich doch Hedwig auf ihre älteren Rechte, und sie faßt auf der anderen Seite Emil Kubinke unter und hängt sich fest an ihn. Und vom Saal her klingt der scharfe Rhythmus eines amerikanischen Tanzes, und Emma und Hedwig sind wie elektrisiert und zerren den braven Emil Kubinke ordentlich die Stufen hinauf.

»Komm, Hedwig«, ruft Emma, »det is de Schinkenpost!«

Und schon haben die beiden Mädchen sich um die Taillen gefaßt und schwenken los. Rechts rum – links rum –, daß die braunen Röcke flattern.

Emil Kubinke aber steht ganz verdattert allein und blickt in den Saal.

Der ist groß, blau von Rauch, und an jedem Ende hält ein riesiger Schüttofen Wache, ein schwarzes Kanonenrohr mit Sezessionsschnörkeln, Germane Nr. 17. Der rote Abendhimmel von draußen sieht noch durch die Fenster, und an den alten Bronzekronen von Anno dazumal schweben die grünen Grätzinkugeln. Von den Balken aber ziehen sich in dem Rauch Papiergirlanden mit bunten Fähnchen zu den Spiegeln, zu den weißen Kaiserbüsten, zu den gepreßten Zigarettenplakaten und den Fahrradaffichen. ›Frischer Maitrank‹ liest man an den Nischen und ›Echte Frankfurter Würstchen‹. An den Wänden ist kaum ein Stuhl frei, und zwischen breiten Menschenmauern drehen die Paare. Mitten in dem Gewirr aber, mitten drin wie eine Säule, ragt bewegungslos bis in die schwarzen Bartspitzen der Tanzmeister, kühl bis ans Herz hinan, mitten in diesem Sturm der Gefühle, der ihn umtost. Emma und Hedwig umkreisen ihn und lachen ihm vertraulich entgegen.

»Nur Mächens? – des gibt's eijentlich nich«, sagt der Tanzmeister würdig und verweisend. Dann erhebt er die Hand. »Die Herren zur Kasse!« – Die Musik schweigt wie abgeschnitten. Alles steht wie angemauert. Man sieht, wie sie schwitzen und in den Seitentaschen nach den Groschen krabbeln. Der Tanzmeister schreitet, sich verbeugend, die Reihen ab. Weh dem, der von der Stelle geht! Er hebt die Hand mit dem Siegelring wieder. – »Woiterrr!«

Und der Pianist mit der roten Nase haut von neuem, ohne den Kopf zurückzudrehen, mit seinen Riesenhänden auf den alten Mahagoniflügel ein, daß das Bierseidel auf dem Deckel nur so tanzt und daß man jede Sekunde glaubt, der alte Mahagoniflügel müßte in den Vorderbeinen einknicken wie ein geschlagener Stier.

Die Paare aber beginnen im gleichen Augenblick sich wieder zu drehen wie die bunten Glassteinchen im Kaleidoskop. Herrgott, was wirbelt da nicht alles durcheinander! Stößt sich und pufft, schassiert und hopst, dreht sich im Kreis und walzt in den Ecken: Bäckergeselle und Kommis, Infanterist und Trainsoldat, Sergeant und Gefreiter, Annoncenakquisiteur und Schieber mit Lackschuhen und Lebemannscheitel, magere Schreiber und grauhaarige Ehrenbürger mit Arterienverkalkung, Studenten mit Schmissen und Rennfahrer im Sweater, der Grünkramhändler mit seiner Haushälterin und die Dirne mit ihrem ›Bräutjam‹, die reichen Jungen aus dem Westen, die Verse schreiben und Tennispreise bekommen, und der Monteur von Siemens, der in seinen breiten, dunklen Händen das Mädchen wie in einem Schraubstock hält.

Und was gibt es da nicht alles an Frauen! Vom blutjungen Ding an, das heute zum ersten Mal durchgebrannt ist und noch zweiundeinhalbes Jahr Zwangserziehung im Augustenheim vor sich hat, bis zur verheirateten Frau, die sich hier heimlich mit ihrem Liebhaber trifft. Dienstmädchen von sechzig Talern bis zu hundertfünfzig Talern, Verkäuferinnen, Gouvernanten und Telephonistinnen, Verhältnisse, die von eifersüchtigen Blicken bewacht werden, und Freundinnenpaare, die die Augen niederschlagen. Und überall dazwischen einfache Halbweltlerinnen, für die der Tanz das Leben ist. Was wirbelt da nicht alles durcheinander! Feste, sichere Existenzen, Ringende, Entwurzelte, Bürgerliche und Halbverbrecher, die sich von Tag zu Tag weiter flüchten, nur um vielleicht doch schon morgen dem Dagernautwagen des Lebens in die schwertbesetzten Speichen zu fallen. Die Lust, die Rhythmen des Tanzes halten alle diese verschiedenfarbigen Menschenseelen, die sonst himmelweit getrennt sind, zusammen wie mit eisernen Banden. Niemand wird gefragt, wer er ist, woher er kommt, wohin er geht – die gleichen Wellen durchfluten alle ...

Emil Kubinke steht an einem Pfeiler unter dem ›Frischen Maitrank‹ und sieht nur von all denen Emma und Hedwig, die hin und her sich drehen, schwenken, auftauchen und für Sekunden fast im Gewühl verschwinden – rechts rum, links rum, daß die braunen Faltenröcke fliegen.

»Nur Mächens? – Des jibt's eijentlich nich«, sagt der Tanzmeister und hebt die Hand mit dem Siegelring.

Und der Klavierspieler mit der roten Nase, der noch eben seine Riesenpranke in die Tastatur fallen lassen wollte – so schlägt der Löwe ein Büffelkalb –, läßt plötzlich die Hand wie gebannt in der Luft stehen und greift nach dem Bierseidel. Die Paare halten aufatmend und schleichen dann, zärtlich aneinander geschmiegt, rot und verliebt zu ihren Plätzen.

Emma und Hedwig, die noch ohne Musik ein paar Takte weiter schassiert sind, bleiben vor Emil Kubinke und dem ›Frischen Maitrank‹ stehen, feuerfarben wie Klatschmohn, und ihre diversen Busen schwanken auf und nieder.

»Ach Jott«, japst Emma, »mir schwitzt wie 'n Affe!«

»Hab dir doch nich«, meint Hedwig, »ich könnt nu de janze Nacht durch so tanzen.«

»Kann ich Ihnen vielleicht 'ne Flasche Limonade bestellen, Fräulein Emma?«

»Nee, nee – bloß nich –« sagt Emma und pustet. »Mit Limonade könn' Se mir jagen.«

»Durst hab ich jarkeen!« sagt Hedwig.

»Wir könn' ja auch zu Hause essen«, meint Emma und fächelt sich mit Frau Pamela Nansen-Gersdorffs duftendem Spitzentuch.

Und da nun Emil Kubinke merkt, daß er dem Mittagbrot zu wenig zugesprochen hat, so sagt er, sie wollten sich in eine Ecke setzen und sich etwas geben lassen. Denn, wenn Emil Kubinke auch sonst mehr als sparsam ist, so ist er doch Kaufmann genug, um zu wissen, daß zu jedem Geschäft ein Anlagekapital nötig ist.

»Kellner, ich esse eine Schinkenstulle«, ruft Emil Kubinke schnell, um sogleich das Niveau der Zeche zu bestimmen.

»Und mir bringen Sie – mir bringen Sie«, sagt Emma, »na bringen Se mir 'n Schnitzel mit Bratkartoffeln, Herr Höhne!«

»Is sehr schön, Fräulein Emma«, sagt Herr Höhne, und sein altes glattes Kellnergesicht glänzt dabei noch mehr als sein alter Kellnerfrack.

»Und mir, Herr Höhne«, sagt die runde Hedwig, und man sieht, wie sie dabei mit sich kämpft, – »mir bringen Se 'ne Schin – – –: ach, bringen Se mir lieber auch 'n Schnitzel mit Bratkartoffeln.«

»Und bitte drei Helle«, sagt Emil Kubinke bestimmt und so schnell, daß keine Zeit zum Widerspruch bleibt.

»Hast du vielleicht vorhin mit dem Bombenschmeißer da jetanzt?« fragt Emma.

»Nee, ick nich«, sagt Hedwig, »det wirst du wohl jewesen sein.«

»Ick? – Nee!« sagt Emma empört.

»Na wat hat denn der freche Mensch da immer rieberzulachen.«

Die Musik setzt wieder ein.

Und während zuerst nur zwei Paare einsam durch den weiten Raum sich drehen, wie zwei Planeten um die Sonne des Tanzmeisters, lösen sich plötzlich andere von der Menschenmauer los, rollen gleichsam von ihr ab, und ehe man es sich versieht, ist der ganze Raum mit wogenden Paaren gefüllt. Die beiden Mädchen aber singen: ›Ach Emil, ach schenk mir 'n Panamahut, der steht mir so jut, der steht mir so jut‹, lehnen sich an Emil Kubinke, und, während ihn Hedwig heimlich in die Seite pufft, will Emma nicht zurückstehen und tritt Emil Kubinke ganz vertraulich auf den Fuß. Und Emil Kubinke spitzt den Mund und pfeift mit den schönsten Trillern.

Der Tanzmeister hebt den Arm: »Die Herren zur Kasse.«

»Wenn Ihre Pfeife Junge kricht«, sagt Hedwig, »denn lassen Se mir bitte eene liejen!«

»Nee, die Hedwich«, quiekt Emma, »die is aber ooch immer jleich zu komisch!«

»Woiterrr!« ruft der Tanzmeister. Und schon haut der Klavierspieler mit der roten Nase mit seinen Riesenpranken – so schlägt der Löwe ein Büffelkalb – wieder in den alten Mahagoniflügel ein.

»Prost, Herr Kubinke!« sagt Emma freundlich, hebt ihr Glas und winkt fast unmerklich dabei mit dem Glas irgend jemand zu, der irgendwo in irgendeiner Ecke des Saals sitzt. Überhaupt haben Hedwig und Emma überall die Augen. Alles sehen sie, über jeden, der vorbeigeht, haben sie sich etwas zuzutuscheln oder zuzublinken, überall haben sie Bekannte, nicken und grüßen, hier förmlich, dort freundschaftlich, dort vertraulich und mit verständnisinnigen Blicken. Und immer, wenn Emil Kubinke fragt, dann sagen sie: »Das is 'n Schwager von der Aujuste in unsern Haus«, oder: »Des is der Bräutjam von der Paula, mit der ick verjangnen Herbst in die Ansbacher Straße zusammen jedient habe, – den kennen Sie ja doch nich.«

Emil Kubinke fühlt sich verraten und verkauft. Er empfindet, daß er hier in eine geheime Gesellschaft eingedrungen ist, mit ihren eigenen Abzeichen, ihrer eigenen Sprache; scheinbar kümmert sich keiner um den andern, und doch kennt jeder den andern. Und das Mädchen, das mit dem einen am Tisch sitzt und den Kopf an die Schulter des Mannes lehnt, verabredet mit den Augen mit einem anderen drei Tische davon ein Stelldichein, während sie ihren alten Liebhaber in dem einen Winkel des Saals genau beobachtet und ihrer Freundin am Fenster ein Zeichen gibt. So wie die Girlanden durch den Saal sich ziehen, hin und her, so spinnen sich – nur tausendmal feiner und verschränkter – Intrigen und Fäden zwischen den Paaren hin und her.

»Zur Kasse!« ruft der Tanzmeister.

Der Kellner bringt das Bestellte, und Emil Kubinke sieht mit resignierenden Blicken, wie Herr Höhne lächelnd vor ihn das einfache Schinkenbrot niedersetzt, während er Hedwig und Emma die Schnitzel mit den braunen Hügelchen von Bratkartoffeln zuschiebt.

Und die dicke Hedwig zieht die weißen Handschuhe aus, nimmt das Messer in die rote Faust und haut auf das Schnitzel ein. Und dann bricht sie Brot in Stücke und jagt die Soßenreste so lange über den Teller, bis der so blank ist, daß er gar nicht mehr abgewaschen zu werden braucht. Während Emma die Handschuhe anbehält und mit angezogenen Ellbogen das Schnitzel tranchiert, ganz leicht von oben herab. Emma soupiert schon.

»Sehr jut, aber 'n bisken kleen«, sagt die dicke Hedwig und nimmt noch ein Brötchen.

Emil Kubinke ist schwerhörig.

»Woiterrr –«, ruft der Tanzmeister und hebt die Hand.

Ein bescheidener Mann geht vorüber. Ganz harmlos, o-beinig und blond, und nickt den Mädchen zu.

Donnerwetter! sagt sich Emil Kubinke. Wer war denn das? Den Menschen kennst du doch–

»Sieh mal, der is ooch hier«, sagt Emma.

»Ach, das is eener von de Post«, meint Hedwig.

Und dabei sehen beide wie gebannt in eine andere Ecke des Saales, allwo sie plötzlich irgend etwas zu fesseln scheint.

Die Musik beginnt wieder.

»Kommen Se, Herr Kubinke«, ruft Emma, »jetzt müssen Se mit mir tanzen, det is det Neuste!« Und damit faßt Emma Emil Kubinke um und zieht ihn mit sich.

»Hilf mir ma' de Rolle drehn«, singt Emma und wiegt sich in den Hüften, »du bist so jung und stramm! Genier dich nich und zier dich nich, wir dreh'n det Ding zusamm'.«

Und nicht Emma allein singt das, sondern alle Mädchen. Der ganze Saal tönt plötzlich von schrillen Stimmen: ›Hilf mir mal de Rolle drehn!‹

Aber Emma und Emil Kubinke können nicht so recht in den Tanzraum hinein, denn gerade vor ihnen steht ein Mädchen mit einem Soldaten.

»Kennen Se vielleicht Jlasenapp von de sechste Kompagnie?« fragt das Mädchen den Soldaten. »Ja? – Na, dann bestellen Se ihm man, er braucht sich um den Jungen jarnich mehr zu kümmern, für den sorg ick jetzt janz alleene.«

»Wird jemacht!« sagt lachend der Soldat und faßt das Mädchen um die Taille und tanzt mit ihr los.

Aber Emil Kubinke ist plötzlich seltsam nachdenklich geworden, denn er hat im Augenblick die Kehrseite der Medaille gesehen ...

»Wat stehn Se denn, Herr Kubinke«, sagt Emma und faßt ihn um. »Nu ma los! – Eins – zwei – drei – na sehn Se, es jeht ja janz jut.«

Und Emil Kubinke dreht sich – rechts rum – links rum – und wenn er das auch nicht schlecht zustande bringt, denn der Sinn für Rhythmus liegt ihm im Blut, so hat er doch nicht die Übung, hier seine Tänzerin ohne Zusammenstöße durch das Gewühl zu leiten, und wenn er dem einen Paar ausweicht, kann er versichert sein, daß er ein anderes dabei mit den Ellbogen pufft.

Die lange, blonde Emma aber lacht ihm nur zu: »Ach, das wird schon werden, Herr Kubinke.«

»Zur Kasse!« ruft der Maitre und klappt den Mund auf wie eine Ofentür. Und die Hand des Klavierspielers saust nicht auf die Tastatur des alten Mahagoniflügels, sondern greift nach dem Bierseidel.

»Sie jlauben garnich, Herr Kubinke«, sagt Emma, während Emil nach dem Groschen sucht, und Emma hängt sich so recht warm und zärtlich bei ihm ein, »Sie jlauben garnich, was meine Freundin für 'ne jewöhnliche Person is! – Wie ein jebildter Mensch wie Sie überhaupt mit sie verkehren kann, das verstehe ich nich.«

Und währenddessen beobachtet Emma ein Paar in der anderen Ecke des Saales, ein Mädchen mit den Gliedern eines Schmieds und den Hüften eines Ackergauls, schwerste, hochblonde, uckermärksche Rasse. Also das ist jetzt Gustav Schmelow seine!

»Woiterrr!« ruft der Maitre und hebt die Hand.

Und die Musik rasselt los.

Und Emma packt Emil Kubinke – dieses Mal führt sie – und wirbelt ihn im Saal herum, daß ihm alles durcheinander schwimmt, ein Drehen und Fluten von Weiß, Schwarz und Rosa, ein Gemisch von allen Farben der Palette. Und oben kreisen die Grätzinkugeln wie Feuerwerkskörper. Und die Wände mit all den Menschen, mit all den Uniformen und weißen Kleidern kommen auf Emil Kubinke zu und weichen wieder von Emil Kubinke zurück. Und während das alles durcheinander wogt, gehen Emil Kubinkes Beine ganz von selbst, immer weiter. Humptata, humptata – im Dreivierteltakt ...

Da plötzlich sieht Emil Kubinke vor sich wie durch Schleier ein Paar mit weitgeschwungenen Armen kunstvoll linksrum auf der Stelle schwenken. Eine riesige Person ist das, mit Gliedern wie ein Schmied, mit den Hüften eines Ackergauls, schwerste, hochblonde, uckermärksche Rasse; und ein junger Mann, kaum weniger weißblond, kaum weniger massiv, mit gestreiftem Jackett und blauem Schlips, der durch einen Totenkopfring gezogen ist. Emil Kubinke sieht es, will noch bremsen – aber schon fliegt er gegen das Paar an, mit der ganzen entfesselten Zentrifugalkraft der fünfundsechzigsten Umdrehung.

Aber so fliegt ein Gummiball gegen eine Hauswand und wird von ihr zurückgeschnellt mit der eigenen Wucht, wie Emma und Emil Kubinke von Gustav Schmelow und seiner Partnerin zurückgeschleudert werden und sechs Schritt davon jämmerlich über ihre eigenen Beine stolpern.

»Sie Jüngling mit 'n Balkonkragen!« schreit Gustav Schmelow, »Sie könn' wohl ooch nich kieken? Sie hat woll der liebe Jott aus Versehn jeschaffen?«

»Ach, jehn Sie doch wech, Sie Schlächter-Ede! Passen Sie doch besser uff!«

»Mit so eene wie du, Emma, vastehste, red ick ieberhaupt nich«, meint Gustav Schmelow verächtlich.

So lange hat Emil Kubinke geschwiegen. Aber seine Dame läßt er nicht beleidigen.

»Jawohl! Sie können ja auch acht geben!« ruft er in männlicher Entrüstung.

Im Augenblick ist ein ganzer Kreis um die Streitenden. Aus allen Ecken und Enden des Saales laufen sie zusammen. Die Musik schweigt. Man hört nur das Johlen der Menge, die ein Schauspiel fordert.

»Jib doch dem Bengel eenfach eene rin!« sagt der uckermärksche Ackergaul.

»Ach wat, ick hab's janz jenau jesehn«, ruft ein Soldat, »die beiden haben jarnischt dafür jekonnt.«

»Passen Se uff, det ick Ihn' nich mal eens in de Schnauze schlage, Sie Schnauzenschläger, Sie Bartkratzer Sie!« ruft Gustav Schmelow und hält Emil Kubinke die Faust unter die Nase.

»Das wollen wir doch noch sehen! Sie Lümmel!« ruft Emil Kubinke, rot wie ein Puter, während ihn Emma wegzuzerren versucht. »Meinen Sie, ich hab vor Ihnen Angst?«

Der Tanzmeister drängt sich durch.

»Wenn Sie sich hier hauen wollen, meine Herren, jehn Se 'raus in 'n Jarten«, sagt er mit kühler Autorität, würdig bis in die Schnurrbartspitzen. »Haben Sie mich bitte verstanden?«

»Na, Herr Direktor«, meint Gustav Schmelow unterwürfig und sehr hochdeutsch. »Ich frage Sie: brauche ich mir das vielleicht gefallen zu lassen, wenn solch ein Mensch zu mir Lümmel sagt?«

»Geh doch fort«, sagt Emma und zerrt den aufgeregten Emil Kubinke am Ärmel. »Ich wäre mir für solche Leute doch viel zu schade.«

Emma ist nämlich sehr vornehm.

»Komm man raus, Jungeken, dir schlag ick de Kaldaunen kaputt«, ruft Gustav Schmelow hinterher.

»Hätten Sie ihm doch eene jejeben«, meint der Soldat vertraulich. »Wir hätten Ihn' ja jeholfen. Uff den Jungen, wissen Se, haben wir schon lang 'n Kieker, der macht hier immer so 'ne Zicken.«

In Wahrheit aber hatte der Soldat nicht auf den ›Jungen‹, sondern auf den uckermärkschen Ackergaul 'n Kieker. Denn er meinte, vom vorvorigen Sonntag her ältere Rechte zu haben.

Aber Emil Kubinke kann das nicht wissen. Und er kann auch nicht verstehen, warum Emma nun gerade dieses Paar antanzte; aber Emma sieht jetzt, daß die Sache mit Gustav Schmelow für alle Zeiten ein Ende hat.

Und wenn ihr das auch im Innersten nicht gleichgültig ist – denn Analphabeten, Schlächtergesellen und Stallknechte werden nun einmal von den Frauen am innigsten und tiefsten geliebt –, so trällert Emma doch ein ›Na, denn nich, lieber Mann, wat ick mir dafor koofe‹ vor sich hin und lehnt im Gehen – vielleicht sieht ihr Gustav Schmelow noch nach – ihre Wange zärtlich an die Wange Emil Kubinkes.

Hedwig kommt auch an, macht sich vom Arm des harmlosen, blonden, o-beinigen Postmenschen los, mit dem sie getanzt hat. Sie sieht blaß aus, die dralle runde Hedwig, und hält das Taschentuch an den Mund.

Ach, Hedwig hat keine Spitzentüchlein wie Emma, sondern nur ganz grobe, baumwollene Taschentücher.

»Wat warn da ebent los?« fragt Hedwig, »da war doch so 'n Radau?«

»Ach, wir sind da mit so 'n Paar zusammenjerannt, verstehste, und da is der Mensch doch jleich so jemein und ausfallend jeworden«, sagt Emma und blinkt mit den Augen Hedwig zu. »Ich hab's ihm aber jut jejeben, nich wahr, Herr Kubinke?«

»Ja«, sagt der kleine Emil Kubinke. Und im Augenblick versteht er nicht, was er eigentlich hier soll, was ihn die Emma und die Hedwig angehen, und das Strandschlößchen, und all die Menschen hier und das Geklimper und das Geklirr vom Büfett, und der Tanzmeister, und alles, alles ringsum. Was hat er hier bei all diesen Menschen verloren? Was soll er denn, er, Emil Kubinke, gerade hier? ...

»Du, mir is jarnich jut«, sagt Hedwig und drückt das Taschentuch an den Mund. »An den Schnitzel da muß was dranjewesen sin.«

»Ja«, sagt Emma, »du siehst auch janz käsig aus.«

Aber plötzlich dreht sich Hedwig um und macht sehr schnell, daß sie aus dem Saal kommt.

Emil Kubinke steht erstaunt und starr.

»Aber das Schnitzel sah doch vorzüglich aus«, sagt er sehr bedächtig.

Emma, die Hedwig auch einen Augenblick nachgesehen hat, wirft sich auf einen Stuhl und schlägt sich lachend mit den Händen auf die Knie. »Mensch!« schreit Emma und vergißt ganz ihre Vornehmheit, »Mensch! da muß ick aber lachen! Ick sage ja immer: et passieren die dollsten Jeschichten!«

Emil Kubinke aber schüttelt den Kopf und meint nachdenklich:

»Nein, ich bin ganz fest überzeugt: an dem Schnitzel war nichts.«

Ach ja, – wenn man so köstlich jung ist wie Emil Kubinke, kaum zweiundzwanzig Jahre, dann weiß man eben bei dem Drama der Liebe nur um die Exposition, nur um das Vorspiel mit seinen verlockenden Klängen, und man denkt auch nicht mit einem Gedanken daran, daß es eine Fortsetzung geben könnte, und daß diese Stücke eben nur zu oft als Lustspiel beginnen und als Tragödien enden ...

Und die Musik spielt wieder, und alles dreht sich und wirbelt vor Emil Kubinke. Und der blonde, harmlose, o-beinige junge Mann – er ist bei der Post – taucht von neuem in der Nähe Emil Kubinkes auf, so ganz still, bescheiden und schattenhaft, geht ein paarmal vorüber und verschwindet dann plötzlich. Er ist wie ausgelöscht, wie weggewischt, läßt nicht mal eine Lücke. Und Emil Kubinke vergißt ihn, und er setzt sich mit Emma wieder an einen Tisch, bestellt noch drei helle Bier bei Herrn Höhne mit seinem alten Kellnerfrack, für sich und seine Begleiterin, denn der Tanz und der Lärm, die Szene von vorhin haben Emil Kubinke durstig gemacht.

Aber das Glas für Hedwig steht und steht, und das helle Getränk verliert den Schaum, wird ganz schal und matt.

»Wo ist denn nur Hedwig?« fragt Emil Kubinke endlich.

»Wo soll se 'n sein? – In 't Hemde«, meint Emma und lacht.

»Ob ihr auch nichts ist?« fragt Emil Kubinke besorgt.

»Ach, die wird schon wiederkommen«, sagt Emma, »und wenn nich, brauchen wir uns auch nichts draus zu machen.« Und dabei rückt Emma ganz dicht an Emil Kubinke heran und lehnt sich an ihn.

»Na, wollen wir nicht auch bald gehen?« sagt Emil Kubinke, denn die Waage seines Herzens hat sich jetzt ganz für Emma entschieden, und er möchte das der Favoritin doch nicht gern hier vor allen Leuten zu erkennen geben.

»Wenn Se jehn wollen, Herr Kubinke«, sagt Emma und schassiert zum Takt der Musik, »können Se meinethalben ruhig jehn, – ich bleib immer bis zum Rausschmeißer.«

»Zur Kasse!« brüllt der Maitre bewegungslos bis in die Schnurrbartspitzen.

Emil Kubinke ist wütend über das Mädchen, über diese lange, blonde Emma. Er fühlt, daß sie sich über ihn lustig macht, daß sie mit ihm spielt, daß sie nach allen andern schaut, daß sie mit allen Vertraulichkeiten tauscht und Geheimnisse hat. Aber er kann nicht von ihr los, und immer wieder, wenn er sie ansieht, wenn die lange Emma ihn so aus den Augenwinkeln anlacht, möchte er ihr mit Gewalt den blonden Kopf zurückbiegen und sie küssen, so küssen, daß es ihr wehtut.

Und Emma zerrt ihn stets von neuem in das Tanzgewühl hinein. Und allmählich lernt Emil Kubinke, Beine und Augen richtig gebrauchen, jetzt auf der Stelle drehen, jetzt vorwärtswirbeln, jetzt halten.

Gustav Schmelow kommt noch ein paarmal vorübergewalzt, sieht den beiden mit den Augen eines bösen Stiers nach, aber sagt nichts. Und dann sieht ihn Emil Kubinke in einer Ecke sitzen, neben dem uckermärkschen Ackergaul, das Mädchen hat ihre Arme um Gustav Schmelows Kopf geschlungen, ist rot wie ein Krebs, hat ganz kleine Augen, und Gustav Schmelow klopft ihr mit breiter Zärtlichkeit die Kehrseite. Jetzt hat er sicher Emil Kubinke ganz vergessen, so wie Emil Kubinke selbst die dralle Hedwig ganz vergessen hat. Manchmal dämmert es in ihm zwar auf, daß er doch vorhin mit zwei Mädchen hier war. Aber dann wirbelt ihn Emma durch den Saal, und Emil Kubinke ist wieder die Erinnerung daran geschwunden. Es scheint, daß Emma die gleiche Macht besitzt wie die Alte in Andersens Schneekönigin. – Jaja, mit allem tritt Emma bei Emil Kubinke die Erbschaft der dicken runden Hedwig an, und sie trinkt sogar ihr Bier aus, damit Emil Kubinke nicht mehr durch das volle Glas an jene erinnert wird.

Und die Bilder wechseln. Neue Gesichter tauchen auf, alte verschwinden, Paare schleichen hinaus, mit brennenden Augen in die kühl-feuchte Luft, auch Gustav Schmelow zieht mit seinem uckermärkschen Ackergaul ab, ohne sich auch nur noch einmal nach Emma und Emil Kubinke umzusehen. Und andere kehren wieder zurück, nur um zu tanzen und dann von neuem schnell draußen irgendeinen Gartenwinkel zu suchen, der noch wie vor Erfindung der Öllampen dahinträumt.

Und manche, die vielleicht draußen keinen Platz fanden, oder die ihr Mädchen nicht bewegen konnten, mit ihnen hinauszugehen, zeigen auch hier in den Winkeln des Saales, daß sie ihr Mädchen gern haben.

Und wenn die sich auch zuerst sträubt, bald ist sie es, die immer wieder den Arm um den Nacken des Liebhabers legt. Aber keiner scheint es zu bemerken oder übel zu deuten, kaum daß einmal einer im Vorübertanzen ein lustiges Wort ruft.

Doch je mehr man sich der Mitternacht nähert, und je mehr sich die Menge lichtet, desto ausgelassener, lauter und lärmender wird es. Nur der Tanzmeister brüllt nach wie vor, würdig und unbeweglich bis in die schwarzen Schnurrbartspitzen – denn das gehört zu seinem Handwerk – sein ›Woiterrr‹ und ›zur Kasse die Herren!‹

Auch Emil Kubinke möchte so gern dem Beispiel der anderen folgen; denn endlich mag ja Tanzen gewiß auch etwas sehr Schönes sein – aber wer sich zu einem Essen eingeladen glaubt, der nimmt doch nicht gern den ganzen Abend mit der Vorspeise vorlieb – ja, auch Emil Kubinke möchte so gern einmal mit der langen Emma nur einmal eine Viertelstunde allein sein, aber sowie er Emma bittet, doch ein wenig mit ihm in den Garten zu gehen, sagt Emma: »Es muß ja nich jleich sein, Herr Kubinke!« und tanzt weiter.

Und wenn gar Emil Kubinke im Saal versucht, die lange Emma an sich zu ziehen, dann wird die ganz unannahbar und ruft: »Sie, Herr Kubinke, umärmeln laß ich mir hier nich. Lassen Sie des bitte unterwegens!«

Aber den nächsten Augenblick wirbelt sie schon mit Emil Kubinke im Saal umher: Rumptata, Rumptata ...

»Fräulein, wollen Sie nich ein Kind von mir –
Mit in Pflege nehmen?
Zwanzig Mark zahl ich monatlich dafür,
Sie brauchen sich nich zu schämen.«

Aber endlich kommt doch der letzte Galopp, und die wilde Jagd rast den Saal auf und nieder, und der Klavierspieler trommelt auf den alten Kasten los, daß seine Riesenpranken wie die Flügel eines Propellers gehen. Aber der alte Mahagonikasten ächzt und knackt nur in allen Fugen, doch er hält stand. Doch als der letzte Ton verklungen ist, da trinkt der Klavierspieler mit einem einzigen langen Zug sein Bier aus und klappt den Flügel zu. – Man sieht ordentlich, wie das alte morsche Instrument aufatmet, daß es für heute vorüber ist. Und singend und pfeifend, und lachend und küssend schieben sich die Paare aus dem Saal, während Herr Höhne mit einer Stange die Gasflammen ausdreht und zwei Hausdiener in Hemdsärmeln die Stühle auf die Tische packen.

Von draußen durch hohe Scheiben fällt plötzlich das matte grünliche Licht des halben Mondes auf die verödeten Dielen, auf denen noch ebensoviel schwerer und plumper, leichter und wuchtiger, zierlicher und spitzer Füße und Füßchen gewippt und gehopst, gedreht und geschleift, schassiert und gewalzt haben.

Fast als die letzten aber gehen Emma und Emil Kubinke aus dem Saal, denn Emma mußte doch erst noch Herrn Höhne adieu sagen.

Draußen ist es wundervoll kühl, der Duft vorn Regen hat sich noch nicht ganz verzogen, der ganze Garten liegt schön still und dunkel, und aus dem Dämmer schleicht hin und wieder ein Flüsterlaut oder das unbestimmte Leuchten einer weißen Bluse. Und doch fühlt man, daß oben der Himmel ganz hell ist, und daß über den Wipfeln der Mond steht mit seinem matten Schein, und daß über die tiefe Himmelsdecke einzelne Sterne wie Tautropfen ausgestreut sind.

Wo sind jetzt die Kinderwagen hin und die Familien und die würdigen Ehepaare?! – Längst sind sie alle in dem mächtigen Steinhaufen Berlin irgendwo untergekrochen. Und die meisten Liebespaare, die haben sich auch schon mit langen Küssen getrennt; oder sie sind entschwunden, ohne daß sie sich getrennt haben.

Schon sind die Straßen leer, und irgendwo hört man noch lachen. Ein Teil der Laternen ist gelöscht. Ganze baumbesetzte Wege sind dunkel und geheimnisreich, und nur der hochstehende Halbmond übergießt die weite dunkle Brandung der Wipfel mit seinen grünlichmatten Lichttropfen.

Emil Kubinke wandert still dahin mit der langen Emma, die so schön neben ihm im Takt einherschreitet. Der letzte Sonntagston der Kapellen ist auch schon verhallt, die letzten Straßenbahnen rattern weit in der Ferne irgendwo durch die Nacht dahin, und am Horizont schiebt sich mit seinen hellen Wagen der allerletzte Stadtbahnzug an den träumenden Alleen vorüber. Aber schon sendet der Werktag wieder seine ersten Grüße, schickt wieder seine ersten Vorposten Emil Kubinke und der langen Emma entgegen, – gleichsam, als wollte er sie erinnern, daß morgen doch wieder Arbeitstag ist.

Phantastisch von den grellen Gasätherlampen beleuchtet, kommt da ein fahrbares Gerüst auf sie zu; schwere Schritte hallen durch die Stille der Frühlingsnacht, schwere Stimmen tönen; einer kommandiert und andere machen sich irgendwie bei Fackelschein oben in der Höhe, an den Leitungsdrähten der Straßenbahn zu schaffen.

»Kinderchens«, ruft der Mann von oben den beiden zu, »jeht man nu nach Hause, es is Zeit, daß ihr ins Bett kommt.«

Emil Kubinke will aber noch nicht nach Hause gehen. Unwillkürlich steuert er nach jenem Platz hinüber, nach jener Insel, zu der ihn die Piloten Männe und Hedwig vor kaum acht Tagen so zielbewußt geleitet hatten.

Und er hofft auch heute jene verschwiegene Bank wiederzufinden. Aber sowie Emil Kubinke vom Wege abbiegen will, macht sich Emma von seinem Arm los und bleibt stehen.

»Nee, da woll'n wir man nich lang jehen, das is 'ne zu jrauliche Jegend!«

Und wenn dann Emil Kubinke wohl oder übel weitergeht und bei der nächsten Querstraße, bei dem nächsten Querweg, der so schön still und so einladend dunkel mit seinen duftenden Bäumen unter dem Halblicht des Mondes liegt, von neuem einzuschwenken versucht, dann zerrt ihn Emma immer wieder am Ärmel.

»Nee, da jeh ick nich lang, – das machen Se sich man ab!«

Ach ja, auch Emil Kubinke muß empfinden, daß der Schiffahrtsverkehr zur Insel Cythere bis zum heutigen Tage immer noch nicht so geregelt ist, wie wir es gern sähen. Und er muß so, ganz wider seinen Willen, mit Emma auf den herkömmlichen Wegen weiterziehen, zu seiner hochherrschaftlichen Dachkammer.

Und die Häuser kommen, lange helle Streifen, – und die Straßen mit den Linien der Schienen darin und der Perlenkette der Bogenlampen darüber, so weit, so einsam, scheinbar nur vorhanden, um den Schritt widerhallen zu lassen.

Aber Emil Kubinke kann es sich doch nicht versagen, kleine Pausen in das Marschtempo einzuschieben, die er damit auszufüllen sucht, die lange Emma an sich zu ziehen.

Emma jedoch ist nicht sehr für diese Intervalle eingenommen.

»Jehn Se weiter, Herr Kubinke, es kommt wer. Jott – mach'n Se doch nich immer so verliebte Nasenlöcher.«

Und damit ist dann die Emma schon wieder aus seinen Armen, und keine Macht der Welt will sie zurückzwingen. Doch sobald Emil Kubinke weitergeht, hängt sich die lange Emma von neuem, trällernd und ganz munter, als wäre nichts geschehen, an ihn; denn Emma besitzt die für Frauen so wichtige Kunst, sich keine Sekunde zu vergessen, und dadurch ist sie es eben, die stets die Oberhand behält.

»Sie, Herr Kubinke«, beginnt Emma nach einer Weile, »ist es wirklich wahr, Sie sollen doch so 'ne Menge Jeld haben?«

»Ich?!« ruft Emil Kubinke lachend, »wer sagt denn das?«

»Na, Sie sind doch in die jute Schule jejangen!«

»Ja«, sagt Emil Kubinke, »das is richtig; aber Geld haben wir nie gehabt!«

»Ach, das sagen immer alle; Sie reiches Aas, Sie werden schon jenug haben!« meint Emma, in einem Ton, der klar zu erkennen gibt, daß ihr Glaube an Emil Kubinkes Glücksgüter durch keinen Widerspruch zu erschüttern ist.

Und Emil Kubinke gibt sich auch kaum ernstliche Mühe, es zu tun, denn wer fühlt sich nicht geschmeichelt, wenn man ihn für reich hält, und wer von uns will vor einer Frau, um die er sich bewirbt, nicht mehr erscheinen als er ist?

Und Emil Kubinke denkt noch, daß ihm hier ein besonders glücklicher Zufall zu Hilfe kommt, um ihm die letzte Gunst der langen Emma zu erringen.

Ja, und als Emma jetzt Emil Kubinkes Arm zärtlicher preßt als vordem – denn Reichtum ist für Frauen immer eine angenehme Perspektive – da pfeift Emil Kubinke seelenvergnügt seine schönsten Triller.

Aber da ist ja schon ihr Haus; verödet liegt der Laden des gemütlichen Schlesiers mit seinen trüben Scheiben. Deutlich und vernehmbar schnarchen im matten Licht über der Tür die graue Dame mit dem Merkurstab und der Jüngling mit dem Amboß. Nur die Schilder ›Für Herrschaften‹ und ›Nebeneingang‹ leuchten ganz weiß und hell, als wollten sie sagen, daß sie auch in tiefer Mitternacht respektiert zu sein wünschen.

Emil Kubinke hält einen Augenblick vor dem Haus. Emma schließt aber ganz schnell auf und huscht mit schiefem Kopf die Kellertreppe hinunter.

»Nee, nee, hier können wir nich stehen bleiben, hier kennen se uns!« flüstert sie.

Aber unten im Dunkel des Hausgangs, da kann doch Emil Kubinke, als er die zärtliche Wärme ganz in seiner Nähe spürt, sich nicht enthalten, Emma an sich zu pressen und zu küssen, und mit leichtem Sträuben, »Nee, Mutter, der Maurer!« ergibt sich für eine kurze Minute Emma darein.

Doch als Emil Kubinke nun dringlicher werden will, da ist die lange Emma, beweglich wie eine Lazerte, ihm auch schon wieder aus den Armen geschlüpft, und Emil Kubinke steht in der kühlen, dumpfigen Dunkelheit allein und sieht kaum den Schimmer von Emmas Kleid.

»Nee, nee, hier nich! Herr Piesecke paßt sonntags immer uff«, tuschelt Emma und greift nach Emil Kubinkes Hand. »Wenn wir noch zusammen sein wollen, kommen Se lieber zu mir ruff, ich koche Ihnen noch 'ne Tasse Kaffee!«

Emil Kubinke schlägt das Herz bis an den Hals.

»Und Ihre Frau?« stottert er.

»Ach, die Olle is noch nich da, Sonntag kommt die nie vor dreie!«

Und damit schreitet Emma schon die Fliesenwege entlang. Der Hof liegt finster wie ein Brunnenschacht, und nur Luther, Dante und der Apoll von Belvedere leuchten aus der Nacht der Thujabüsche, und oben ist noch irgendwo ein Fenster hell.

Aber Emil Kubinke achtet gar nicht darauf, daß es Paulines Kammer ist; denn die goldrote Pauline und die kleine, dralle Hedwig, die ihn so schnöde verlassen hat, wo sind sie jetzt für Emil Kubinke?! – Irgendwo ganz unten, weit drüben im Jenseits aller Dinge!

Ganz leise schleicht Emil Kubinke hinter der langen Emma her, wie ein Dieb auf den Zehenspitzen, und Emma bedeutet ihm nur durch ein leichtes Summen, daß er jetzt keinen Laut von sich geben soll.

Und die Korkenziehertreppe steigt Emma hinan, und Emil Kubinke ist dicht neben ihr.

Aber als Emil Kubinke in die dunkle Küche kommt und ganz still mit fliegendem Atem steht, da lauscht Emma: »Sst, ick glaube, de Olle is doch schon da!«

Und noch bevor sich Emil Kubinke wieder zurückziehen kann, da hat ihn auch schon Emma bei der Hand gepackt, in ihre Kammer gestupst und die Tür hinter ihm geschlossen. Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht.

Und Emil Kubinke steht ganz mucksstill. Kein Glied regt er, wagt sich nicht zu rühren, weil er nicht weiß, ob er nicht vielleicht dabei den Waschständer umstoßen kann oder die Lampe.

Draußen aber läuft ein Lichtschein auf dem Flur entlang. Schritte hört Emil Kubinke, sprechen hört er, und dann klappert Emma in der Küche mit Geschirr und singt dazu ganz laut und schrill und falsch und unbekümmert:

»Den schönsten Platz,
den ich auf Erden hab,
das ist die Rasenbank
am Elterngrab!«

Man kann nicht sagen, daß das der Wahrheit entspricht, da beide Eltern von Emma am Leben sind, in der Blüte ihrer Jahre stehen und sich in Schmachtenhagen bei Oranienburg einer guten Gesundheit erfreuen.

Aber endlich, endlich erlöschen auch diese Töne, und Emil Kubinke, der immer noch reglos und zitternd im Dunkel steht, hört deutlich, wie die Klinke der Kammertür ganz leise heruntergedrückt wird ...


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