Johann Gottfried Herder
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder

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Ein stummer Mensch, in dem Verstande, wie es die Tiere sind, der auch nicht in seiner Seele Worte denken könnte, wäre das traurigste, sinnloseste, verlassenste Geschöpf der Schöpfung und der größeste Widerspruch mit sich selbst! Im ganzen Universum gleichsam allein, an nichts geheftet und für alles da, durch nichts gesichert, und durch sich selbst noch minder, muß der Mensch entweder unterliegen oder über alles herrschen, mit Plan einer Weisheit, deren kein Tier fähig ist, von allem deutlichen Besitz nehmen oder umkommen! Sei nichts oder Monarch der Schöpfung durch Verstand! Zertrümmere oder schaffe dir Sprache! Und wenn sich nun in diesem andringenden Kreise von Bedürfnissen alle Seelenkräfte sammlen, wenn die ganze Menschheit, Mensch zu sein, kämpfet – wieviel kann erfunden, getan, geordnet werden!

Wir gesellschaftlichen Menschen denken uns in einen solchen Zustand nur immer mit Zittern hinein: »Ei, wenn der Mensch sich gegen alles auf so langsame, schwache, unhinreichende Art erst retten soll – durch Vernunft, durch Überlegung? Wie langsam überlegt diese und wie schnell, wie andringend sind seine Bedürfnisse, seine Gefahren!« – Es kann dieser Einwurf freilich mit Beispielen sehr ausgeschmückt werden, er streitet aber immer gegen eine ganz andre Spitze, als die wir verteidigen. Unsre Gesellschaft, die viele Menschen zusammengebracht, daß sie mit ihren Fähigkeiten und Verrichtungen eins sein sollen, muß also von Jugend auf Fähigkeiten verteilen und Gelegenheiten ausspenden, daß eine für der andern gebildet werde. So wird der eine Mensch für die Gesellschaft gleichsam ganz Algebra, ganz Vernunft; so wie sie am andern bloß Herz, Mut und Faust braucht: der nutzt ihr, daß er kein Genie und viel Fleiß, jener, daß er Genie in einem und in allem andern nichts habe. Jedes Triebrad muß sein Verhältnis und Stelle haben, sonst machen sie kein Ganzes einer Maschine. – Aber daß man diese Verteilung der Seelenkräfte, da man alle andre merklich erstickt, um in einer andre zu übertreffen, nicht in den Zustand eines natürlichen Menschen übertrage! Setzet einen Philosophen, in der Gesellschaft geboren und erzogen, der nichts als seinen Kopf zu denken und seine Hand zum Schreiben geübet, setzet ihn mit einmal aus allem Schutz und gegenseitigen Bequemlichkeiten, die ihm die Gesellschaft für seine einseitigen Dienste leistet, hinaus, er soll sich selbst in einem unbekannten Lande Unterhalt suchen und gegen die Tiere kämpfen und in allem eigner Schutzgott sein – wie verlegen! Er hat dazu weder Sinne noch Kräfte, noch Übung in beiden! Vielleicht hat er in den Irrgängen seiner Abstraktion Geruch und Gesicht und Gehör und rasche Erfindungsgabe – und gewiß jenen Mut, jene schnelle Entschließung verloren, die sich nur unter Gefahren bildet und äußert, die in steter, neuer Würksamkeit sein will, oder sie entschläft. Ist er nun in Jahren, wo der Lebensquell seiner Geister schon stillesteht oder zu vertrocknen anfängt, so wird es freilich ewig zu spät sein, ihn in diesen Kreis hineinbilden zu wollen – aber ist denn das der gegebne Fall? Alle die Versuche zur Sprache, die ich anführe, werden durchaus nicht gemacht, um philosophische Versuche zu sein, die Merkmale der Kräuter nicht ausgefunden, wie sie Linné klassifizieret; die ersten Erfahrungen sind nicht kalte, vernunftlangsame, sorgsam abstrahierende Experimente, wie sie der müßige, einsame Philosoph macht, wenn er der Natur in ihrem verborgnen Gange nachschleicht und nicht mehr wissen will, daß, sondern wie sie würke? Daran war eben dem ersten Naturbewohner am wenigsten gelegen. Mußte es ihm demonstriert werden, daß das oder jenes Kraut giftig sei? War er denn so mehr als viehisch, daß er hierin nicht einmal dem Vieh nachahmte? Und wars nötig, daß er vom Löwen angefallen würde, um sich vor ihm zu fürchten? Ist seine Schüchternheit mit seiner Schwachheit und seine Besonnenheit mit aller Feinheit seiner Seelenkräfte verbunden nicht gnug, ihm einen behaglichen Zustand von selbst zu verschaffen, da die Natur selbst sie dazu für gnugsam erkannt? Da wir also durchaus keinen schüchternen, abstrakten Stubenphilosophen zum Erfinder der Sprache brauchen, da der rohe Naturmensch, der noch seine Seele so ganz, wie seinen Körper, aus einem Stück fühlet, uns mehr als alle sprachschaffende Akademien und doch nichts minder als ein Gelehrter ist – was wollen wir diesen denn zum Muster nehmen? Wollen wir einander Staub in die Augen streuen, um bewiesen zu haben, der Mensch könne nicht sehen?

Süßmilch ist hier wieder der Gegner, mit dem ich kämpfe. Er hat einen ganzen AbschnittAbschn. 3. darauf verwandt, um zu zeigen, »wie unmöglich sich der Mensch eine Sprache hat fortbilden können, wenn er sie auch durch Nachahmung erfunden hätte«! Daß das Erfinden durch bloße Nachahmung ohne menschliche Seele Unsinn sei, ist bewiesen, und wäre der Verteidiger des göttlichen Ursprungs dieser Sache demonstrativ gewiß gewesen, daß es Unsinn sei, so traue ich ihm zu, daß er gegen ihn nicht ein Menge von halbwahren Gründen zusammengetragen hätte, die jetzt gegen eine menschliche Erfindung der Sprache durch Verstand sämtlich nichts beweisen. Ich kann unmöglich den ganzen Abschnitt, so verflochten mit willkürlich angenommenen Heischesätzen und falschen Axiomen über die Natur der Sprache er ist, hier ganz auseinandersetzen, weil der Verfasser immer in einem gewissen Licht erschiene, in dem er hier nicht erscheinen soll – ich nehme also nur so viel heraus, als nötig ist, nämlich, daß in seinen Einwürfen die Natur einer sich fortbildenden menschlichen Sprache und einer sich fortbildenden menschlichen Seele durchaus verkannt sei.

»Wenn man annimmt, daß die Einwohner der ersten Welt nur aus etlichen tausend Familien bestanden hätten, da das Licht des Verstandes durch den Gebrauch der Sprache schon so helle geschienen, daß sie eingesehen, was die Sprache sei, und daß sie also an die Verbesserung dieses herrlichen Mittels haben können anfangen zu denken, so...S. 80. 81.« Aber von allen diesen Vordersätzen nimmt niemand nichts an. Mußte mans erst in tausend Generationen einsehen, was Sprache sei? Der erste Mensch sahe es ein, da er den ersten Gedanken dachte. Mußte man erst in tausend Generationen so weit kommen, es einzusehen, daß die Sprache zu verbessern gut sei? Der erste Mensch sahe es ein, da er seine ersten Merkmale besser ordnen, berichtigen, unterscheiden und zusammensetzen lernte, und verbesserte jedesmal unmittelbar die Sprache, da er so etwas von neuem lernte. Und denn, wie hätte sich doch durch tausend Generationen hin das Licht des Verstandes durch die Sprache so helle aufklären können, wenn im Ablauf dieser Generationen sich nicht schon Sprache aufgeklärt hätte. Also Aufklärung ohne Verbesserung! Und hinter einer Verbesserung tausend Familien hinunter noch der Anfang zu einer Verbesserung unmöglich? Das heißt mit Widersprüchen gespielt!

»Würde aber nicht, als ein ganz unentbehrlich Hülfsmittel dieses philosophischen und philologischen Collegii, Schrift müssen angenommen werden?« Nein! denn es war durchaus kein philosophisch und philologisch Kollegium, diese erste natürliche, lebendige, menschliche Fortbildung der Sprache. Und was kann denn der Philosoph und Philolog in seinem toten Museum an einer Sprache verbessern, die in alle ihrer Würksamkeit lebt?

»Sollen denn nun alle Völker auf gleiche Weise mit der Verbesserung zu Werke gegangen sein?« Ganz auf gleiche Weise, denn sie gingen alle menschlich, so daß wir uns hier in den wesentlichsten Rudimenten der Sprache einen für alle anzunehmen getrauen. Wenn das aber das größte Wunder sein soll, daß alle Sprachen acht partes orationis haben§ 31. 34., so ist wieder das Faktum falsch und der Schluß unrichtig. Nicht alle Sprachen haben von allen Zeiten herunter achte gehabt, sondern der erste philosophische Blick in die Bauart einer Sprache zeigt, daß diese achte sich auseinander entwickelt. In den ältesten sind Verba eher gewesen als Nomina und vielleicht Interjektionen eher als selbst regelmäßige Verba. In den spätern sind Nomina mit Verbis gleich zusammen abgeleitet; allein selbst von der griechischen sagte Aristoteles, daß auch in ihr dies anfangs alle Redeteile gewesen und die andern sich nur später durch die Grammatiker aus jenen entwickelt. Von der huronischen habe ich ebendasselbe gelesen, und von den morgenländischen ists offenbar – ja was ists denn endlich für ein Kunststück, die willkürliche und zum Teil unphilosophische Abstraktion der Grammatiker in acht partes orationis? Ist die so regelmäßig und göttlich als die Form einer Bienenzelle? Und wenn sies wäre, ist sie nicht durchaus aus der menschlichen Seele erklärbar und als notwendig gezeigt?

»Und was sollte die Menschen zu dieser höchst sauren Arbeit der Verbesserung gereizet haben?« O durchaus keine saure, spekulative Stubenarbeit! durchaus keine abstrakte Verbesserung a priori! und also auch gewiß keine Anreizungen dazu, die nur in unserm Zustande der verfeinerten Gesellschaft stattfinden. Ich muß hier meinen Gegner ganz verlassen. Er nimmt an, daß »die ersten Verbesserer recht gute philosophische Köpfe gewesen sein müßten, die gewiß weiter und tiefer gesehen, als die meisten Gelehrte jetzt in Ansehung der Sprache und ihrer innern Beschaffenheit zu tun pflegen.« Er nimmt an, daß »diese Gelehrte überall erkannt haben müßten, daß ihre Sprache unvollkommen und daß sie einer Verbesserung nicht nur fähig, sondern auch bedürftig sei«. Er nimmt an, daß »sie den Zweck der Sprache haben gehörig beurteilen müssen usw., daß die Vorstellung dieses zu erlangenden Gutes hinlänglich, stark und lebhaft gnug gewesen sein müsse, um ein Bewegungsgrund zur Übernehmung dieser schweren Arbeit zu werden«. Kurz, der Philosoph unsres Zeitalters wollte sich nicht einen Schritt auch aus allem Zufälligen desselben hinauswagen, und wie konnte er denn nach solchem Gesichtspunkt von der Entstehung einer Sprache schreiben? Freilich, in unserm Jahrhundert hätte sie so wenig entstehen können, als sie entstehen darf!

Aber kennen wir denn nicht jetzt schon die Menschen in so verschiednen Zeitaltern, Gegenden und Stufen der Bildung, daß uns dies so veränderte große Schauspiel nicht sichrer auf die erste Szene schließen lehrte? Wissen wir denn nicht, daß eben in den Winkeln der Erde, wo noch die Vernunft am wenigsten in die feine, gesellschaftliche, vielseitige, gelehrte Form gegossen ist, noch Sinnlichkeit und roher Scharfsinn und Schlauheit und mutige Würksamkeit und Leidenschaft und Erfindungsgeist – die ganze ungeteilte menschliche Seele am lebhaftesten würke? am lebhaftesten würke, weil sie noch auf keine langweilige Regeln gebracht, immer in einem Kreise von Bedürfnissen, von Gefahren, von andringenden Erfordernissen ganz lebt und sich also immer neu und ganz fühlt. Da, nur da zeigt sie Kräfte, sich Sprache zu bilden und fortzubilden! Da hat sie Sinnlichkeit und gleichsam Instinkt gnug, um den ganzen Laut und alle sich äußernde Merkmale der lebenden Natur so ganz zu empfinden, wie wir nicht mehr können, und wenn die Besinnung alsdenn eins derselben lostrennet, es so stark und innig zu nennen, als wirs nicht nennen würden. Je minder die Seelenkräfte noch entwickelt und jede zu einer eignen Sphäre abgerichtet ist, desto stärker würken alle zusammen, desto inniger ist der Mittelpunkt ihrer Intensität; nehmet aber diesen großen unzerbrechlichen Pfeilbund auseinander und ihr könnt sie alle zerbrechen, und denn läßt sich gewiß nicht mit einem Stabe das Wunder tun, gewiß nicht mit der einzigen kalten Abstraktionsgabe der Philosophen je Sprache erfinden – war das aber unsre Frage? Drang jener Weltsinn nicht tiefer? Und waren bei dem beständigen Zusammenstrom aller Sinne, in dessen Mittelpunkt immer der innere Sinn wachte, nicht immer neue Merkmale, Ordnungen, Gesichtspunkte, schnelle Schlußarten gegenwärtig, und also immer neue Bereicherungen der Sprache? Und empfing also zu dieser, wenn man nicht auf acht partes orationis rechnen will, die menschliche Seele nicht ihre besten Eingebungen, solange sie noch ohne alle Anreizungen der Gesellschaft sich nur selbst desto mächtiger anreizte, sich alle die Tätigkeit der Empfindung und des Gedankens gab, die sie sich nach innerm Drang und äußern Erfordernissen geben mußte – da gebar sich Sprache mit der ganzen Entwicklung der menschlichen Kräfte.

Es ist für mich unbegreiflich, wie unser Jahrhundert so tief in die Schatten, in die dunkeln Werkstätten des Kunstmäßigen sich verlieren kann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der uneingekerkerten Natur erkennen zu wollen. Aus den größesten Heldentaten des menschlichen Geistes, die er nur im Zusammenstoß der lebendigen Welt tun und äußern konnte, sind Schulübungen im Staube unsrer Lehrkerker, aus den Meisterstücken menschlicher Dichtkunst und Beredsamkeit Kindereien geworden, an welchen greise Kinder und junge Kinder Phrases lernen und Regeln klauben. Wir haschen ihre Formalitäten und haben ihren Geist verloren, wir lernen ihre Sprache und fühlen nicht die lebendige Welt ihrer Gedanken. Derselbe Fall ists mit unsern Urteilen über das Meisterstück des menschlichen Geistes, die Bildung der Sprache überhaupt. Da soll uns das tote Nachdenken Dinge lehren, die bloß aus dem lebendigen Hauche der Welt, aus dem Geiste der großen würksamen Natur den Menschen beseelen, ihn aufrufen und fortbilden konnten. Da sollen die stumpfen, späten Gesetze der Grammatiker das Göttlichste sein, was wir verehren, und vergessen die wahre göttliche Sprachnatur, die sich in ihrem Herzen mit dem menschlichen Geiste bildete, so unregelmäßig sie auch scheine. Die Sprachbildung ist in die Schatten der Schule gewichen, aus denen sie nichts mehr für die lebendige Welt würket, drum soll auch nie eine helle Welt gewesen sein, in der die ersten Sprachbildner leben, fühlen, schaffen und dichten mußten. – Ich berufe mich auf das Gefühl derer, die den Menschen im Grunde seiner Kräfte und das Kräftige, Mächtige, Große in den Sprachen der Wilden und Wesen der Sprache überhaupt nicht verkennen – daher fahre ich fort:


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