Johann Gottfried Herder
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder

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Dritter Abschnitt

Der Brennpunkt ist ausgemacht, auf welchem Prometheus' himmlischer Funke in der menschlichen Seele zündet: beim ersten Merkmal ward Sprache. Aber welches waren die ersten Merkmale zu Elementen der Sprache?

I. Töne

Cheseldens BlinderPhilos. Transact. – Abridgment – auch in Cheseldens Anatomy, in Smith-Kästners Optik, in Buffons Naturgeschichte, Enzyklopädie und zehn kleinen französischen Wörterbüchern unter aveugle. zeigt, wie langsam sich das Gesicht entwickle, wie schwer die Seele zu den Begriffen von Raum, Gestalt und Farbe komme, wieviel Versuche gemacht, wieviel Meßkunst erworben werden muß, um diese Merkmale deutlich zu gebrauchen; das war also nicht der füglichste Sinn zu Sprache. Zudem waren seine Phänomene so kalt und stumm, die Empfindungen der grobern Sinne wiederum so undeutlich und ineinander, daß nach aller Natur entweder nichts oder das Ohr der erste Lehrmeister der Sprache wurde.

Da ist z. E. das Schaf. Als Bild schwebet es dem Auge mit allen Gegenständen, Bildern und Farben auf einer großen Naturtafel vor – wie viel, wie mühsam zu unterscheiden! Alle Merkmale sind fein verflochten, nebeneinander – alle noch unaussprechlich! Wer kann Gestalt reden? Wer kann Farben tönen? Er nimmt das Schaf unter seine tastende Hand – das Gefühl ist sicherer und voller, aber so voll, so dunkel ineinander. Wer kann, was er fühlt, sagen? Aber horch! das Schaf blöket! Da reißt sich ein Merkmal von der Leinwand des Farbenbildes, worin so wenig zu unterscheiden war, von selbst los, ist tief und deutlich in die Seele gedrungen. »Ha!« sagt der lernende Unmündige wie jener Blindgewesene Cheseldens, »nun werde ich dich wiederkennen – du blökst!« Die Turteltaube girrt! Der Hund bellet! Da sind drei Worte, weil er drei deutliche Ideen versuchte, diese in seine Logik, jene in sein Wörterbuch! Vernunft und Sprache taten gemeinschaftlich einen furchtsamen Schritt, und die Natur kam ihnen auf halbem Wege entgegen – durchs Gehör. Sie tönte das Merkmal nicht bloß vor, sondern tief in die Seele hinein! Es klang! Die Seele haschte – da hat sie ein tönendes Wort!

Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet, und selbst ein Blinder und Stummer, siehet man, müßte Sprache erfinden, wenn er nur nicht fühllos und taub ist. Setzet ihn gemächlich und behaglich auf eine einsame Insel: die Natur wird sich ihm durchs Ohr offenbaren. Tausend Geschöpfe, die er nicht sehen kann, werden doch mit ihm zu sprechen scheinen, und bliebe auch ewig sein Mund und sein Auge verschlossen, seine Seele bleibt nicht ganz ohne Sprache. Wenn die Blätter des Baumes dem armen Einsamen Kühlung herabrauschen, wenn der vorbeimurmelnde Bach ihn in den Schlaf wieget und der hinzusäuselnde West seine Wangen fächelt – das blökende Schaf gibt ihm Milch, die rieselnde Quelle Wasser, der rauschende Baum Früchte – Interesse gnug, die wohltätigen Wesen zu kennen, Dringnis gnug, ohne Augen und Zunge in seiner Seele sie zu nennen. Der Baum wird der Rauscher, der West Säusler, die Quelle Riesler heißen. – Da liegt ein kleines Wörterbuch fertig und wartet auf das Gepräge der Sprachorgane. Wie arm und sonderbar aber müßten die Vorstellungen sein, die dieser Verstümmelte mit solchen Schällen verbindetDiderot ist in seinem ganzen Briefe sur les sourds et muets kaum auf diese Hauptmaterie gekommen, da er sich nur bei Inversionen und hundert andern Kleinigkeiten aufhält.!

Nun lasset dem Menschen alle Sinne frei; er sehe und taste und fühle zugleich alle Wesen, die in sein Ohr reden – Himmel! Welch ein Lehrsaal der Ideen und der Sprache! Führet keinen Merkur und Apollo als Opernmaschinen von den Wolken herunter – die ganze vieltönige, göttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse! Da führet sie alle Geschöpfe bei ihm vorbei: jedes trägt seinen Namen auf der Zunge und nennet sich, diesem verhülleten sichtbaren Gotte! als Vasall und Diener. Es liefert ihm sein Merkwort ins Buch seiner Herrschaft, wie einen Tribut, damit er sich bei diesem Namen seiner erinnere, es künftig rufe und genieße. Ich frage, ob je diese Wahrheit: »Eben der Verstand, durch den der Mensch über die Natur herrschet, war der Vater einer lebendigen Sprache, die er aus Tönen schallender Wesen zu Merkmalen der Unterscheidung sich abzog«, ich frage, ob je diese trockne Wahrheit auf morgenländische Weise edler und schöner könne gesagt werden als: »Gott führte die Tiere zu ihm, daß er sähe, wie er sie nennete! Und wie er sie nennen würde, so sollten sie heißen!« Wo kann es auf morgenländische, poetische Weise bestimmter gesagt werden: Der Mensch erfand sich selbst Sprache! – aus Tönen lebender Natur! – zu Merkmalen seines herrschenden Verstandes! – Und das ist, was ich beweise.

Hätte Engel oder himmlischer Geist die Sprache erfunden: wie anders, als daß ihr ganzer Bau ein Abdruck von der Denkart dieses Geistes sein müßte? Denn woran könnte ich ein Bild, von einem Engel gemalt, kennen als an dem Englischen, Überirdischen seiner Züge? Wo findet das aber bei unsrer Sprache statt? Bau und Grundriß, ja selbst der erste Grundstein dieses Palastes verrät Menschheit!

In welcher Sprache sind himmlische, geistige Begriffe die ersten? Jene Begriffe, die auch nach der Ordnung unsres denkenden Geistes die ersten sein müßten – Subjekte, notiones communes, die Samenkörner unsrer Erkenntnis, die Punkte, um die sich alles wendet und alles zurückführt – sind diese lebende Punkte Elemente der Sprache? Die Subjekte müßten doch natürlicherweise vor dem Prädikat und die einfachsten Subjekte vor den zusammengesetzten, was da tut und handelt vor dem, was es handelt, das Wesentliche und Gewisse vor dem Ungewissen, Zufälligen vorhergegangen sein. – Ja, was man nicht alles schließen könnte, und – in unsern ursprünglichen Sprachen findet durchgängig das offenbare Gegenteil statt. Ein hörendes, aufhorchendes Geschöpf ist kennbar, aber kein himmlischer Geist: denn – tönende Verba sind die ersten Machtelemente. Tönende Verba? Handlungen und noch nichts, was da handelt? Prädikate und noch kein Subjekt? Der himmlische Genius mag sich dessen zu schämen haben, aber nicht das sinnliche menschliche Geschöpf; denn was rührte dies wie wir gesehen, inniger als diese tönenden Handlungen? Und was ist also die ganze Bauart der Sprache anders als eine Entwickelungsweise seines Geistes, eine Geschichte seiner Entdeckungen! Der göttliche Ursprung erklärt nichts und läßt nichts aus sich erklären; er ist, wie Bako von einer andern Sache sagt, heilige Vestalin – Gott geweihet, aber unfruchtbar, fromm, aber zu nichts nütze!

Das erste Wörterbuch war also aus den Lauten aller Welt gesammlet. Von jedem tönenden Wesen klang sein Name: Die menschliche Seele prägte ihr Bild drauf, dachte sie als Merkzeichen – wie anders, als daß diese tönenden Interjektionen die ersten wurden, und so sind z. E. die morgenländischen Sprachen voll Verba als Grundwurzeln der Sprache. Der Gedanke an die Sache selbst schwebte noch zwischen dem Handelnden und der Handlung; der Ton mußte die Sache bezeichnen, so wie die Sache den Ton gab; aus den Verbis wurden also Nomina und nicht Verba aus den Nominibus. Das Kind nennet das Schaf als Schaf nicht, sondern als ein blökendes Geschöpf und macht also die Interjektion zu einem Verbo. Im Stufengange der menschlichen Sinnlichkeit wird diese Sache erklärbar, aber nicht in der Logik des höhern Geistes.

Alle alte, wilde Sprachen sind voll von diesem Ursprunge, und in einem philosophischen Wörterbuch der Morgenländer wäre jedes Stammwort mit seiner Familie, recht gestellet und gesund entwickelt, eine Karte vom Gange des menschlichen Geistes, eine Geschichte seiner Entwicklung und ein ganzes solches Wörterbuch die vortrefflichste Probe von der Erfindungskunst der menschlichen Seele – ob aber auch von der Sprach- und Lehrmethode Gottes? Ich zweifle!

Indem die ganze Natur tönt, so ist einem sinnlichen Menschen nichts natürlicher, als daß sie lebt, sie spricht, sie handelt. Jener Wilde sahe den hohen Baum mit seinem prächtigen Gipfel und bewunderte: der Gipfel rauschte! Das ist webende Gottheit! Der Wilde fällt nieder und betet an! Sehet da die Geschichte des sinnlichen Menschen, das dunkle Band, wie aus den Verbis Nomina werden – und den leichtesten Schritt zur Abstraktion! Bei den Wilden von Nordamerika z. B. ist noch alles belebt: jede Sache hat ihren Genius, ihren Geist, und daß es bei Griechen und Morgenländern ebenso gewesen, zeugt ihr ältestes Wörterbuch und Grammatik – sie sind wie die ganze Natur dem Erfinder war, ein Pantheon! ein Reich belebter, handelnder Wesen!

Indem der Mensch aber alles auf sich bezog, indem alles mit ihm zu sprechen schien und würklich für oder gegen ihn handelte, indem er also mit oder dagegen teilnahm, liebte oder haßte und sich alles menschlich vorstellte; alle diese Spuren der Menschlichkeit drückten sich auch in die ersten Namen! Auch sie sprachen Liebe oder Haß, Fluch oder Segen, Sanftes oder Widrigkeit, und insonderheit wurden aus diesem Gefühl in so vielen Sprachen die Artikel! Da wurde alles menschlich, zu Weib und Mann personifiziert; überall Götter, Göttinnen, handelnde, bösartige oder gute Wesen! Der brausende Sturm und der süße Zephyr, die klare Wasserquelle und der mächtige Ozean – ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben, den Verbis und Nominibus der alten Sprachen, und das älteste Wörterbuch war so ein tönendes Pantheon, ein Versammlungssaal beider Geschlechter, als den Sinnen des ersten Erfinders die Natur. Hier ist die Sprache einer alten, einfältigen, wilden Nation ein Studium in den Irrgängen menschlicher Phantasie und Leidenschaften, wie ihre Mythologie. Jede Familie von Wörtern ist ein verwachsnes Gebüsche um eine sinnliche Hauptidee, um eine heilige Eiche, auf der noch Spuren sind, welchen Eindruck der Erfinder von dieser Dryade hatte. Die Gefühle sind ihm zusammengewebt; was sich beweget, lebt; was da tönet, spricht – und da es für oder wider dich tönt, so ists Freund oder Feind, Gott oder Göttin, es handelt aus Leidenschaften wie du!


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