Johann Gottfried Herder
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder

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Erster Teil

Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können?

Erster Abschnitt

Schon als Tier hat der Mensch Sprache. Alle heftigen und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starke Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde, unartikulierte Laute. Ein leidendes Tier sowohl als der Held Philoktet, wenn es der Schmerz anfället, wird wimmern, wird ächzen, und wäre es gleich verlassen, auf einer wüsten Insel, ohne Anblick, Spur und Hoffnung eines hülfreichen Nebengeschöpfes. Es ist, als obs freier atmete, indem es dem brennenden, geängstigten Hauche Luft gibt; es ist, als obs einen Teil seines Schmerzes verseufzte und aus dem leeren Luftraum wenigstens neue Kräfte zum Verschmerzen in sich zöge, indem es die tauben Winde mit Ächzen füllet. So wenig hat uns die Natur als abgesonderte Steinfelsen, als egoistische Monaden geschaffen! Selbst die feinsten Saiten des tierischen Gefühls (ich muß mich dieses Gleichnisses bedienen, weil ich für die Mechanik fühlender Körper kein besseres weiß!), selbst die Saiten, deren Klang und Anstrengung gar nicht von Willkür und langsamen Bedacht herrühret, ja deren Natur noch von aller forschenden Vernunft nicht hat erforscht werden können, selbst die sind in ihrem ganzen Spiele, auch ohne das Bewußtsein fremder Sympathie zu einer Äußerung auf andre Geschöpfe gerichtet. Die geschlagne Saite tut ihre Naturpflicht: sie klingt, sie ruft einer gleichfühlenden Echo, selbst wenn keine da ist, selbst wenn sie nicht hoffet und wartet, daß ihr eine antworte.

Sollte die Physiologie je so weit kommen, daß sie die Seelenlehre demonstrierte, woran ich aber sehr zweifle, so würde sie dieser Erscheinung manchen Lichtstrahl aus der Zergliederung des Nervenbaues zuführen; sie vielleicht aber auch in einzelne, zu kleine und stumpfe Bande verteilen. Lasset sie uns jetzt im Ganzen, als ein helles Naturgesetz annehmen: Hier ist ein empfindsames Wesen, das keine seiner lebhaften Empfindungen in sich einschließen kann; das im ersten überraschenden Augenblick, selbst ohne Willkür und Absicht, jede in Laut äußern muß. Das war gleichsam der letzte, mütterliche Druck der bildenden Hand der Natur, daß sie allen das Gesetz auf die Welt mitgab: »Empfinde nicht für dich allein: sondern dein Gefühl töne!«, und da dieser letzte schaffende Druck auf alle von einer Gattung einartig war, so wurde dies Gesetz Segen: »Deine Empfindung töne deinem Geschlecht einartig und werde also von allen wie von einem mitfühlend vernommen!« Nun rühre man es nicht an, dies schwache, empfindsam Wesen! So allein und einzeln und jedem feindlichen Sturme des Weltalls es ausgesetzt scheinet, so ists nicht allein: es steht mit der ganzen Natur im Bunde! Zartbesaitet, aber die Natur hat in diese Saiten Töne verborgen, die, gereizt und ermuntert, wieder andre gleichzart gebaute Geschöpfe wecken und, wie durch eine unsichtbare Kette, einem entfernten Herzen Funken mitteilen können, für dies ungesehene Geschöpf zu fühlen. Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache. Es gibt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist.

Daß der Mensch sie ursprünglich mit den Tieren gemein habe, bezeugen jetzt freilich mehr gewisse Reste als volle Ausbrüche; allein auch diese Reste sind unwidersprechlich. Unsre künstliche Sprache mag die Sprache der Natur so verdränget, unsre bürgerliche Lebensart und gesellschaftliche Artigkeit mag die Flut und das Meer der Leidenschaften so gedämmet, ausgetrocknet und abgeleitet haben, als man will; der heftigste Augenblick der Empfindung, wo und wie selten er sich finde, nimmt noch immer sein Recht wieder und tönt in seiner mütterlichen Sprache unmittelbar durch Akzente. Der auffahrende Sturm einer Leidenschaft, der plötzliche Überfall von Freude oder Froheit, Schmerz und Jammer, wenn sie tiefe Furchen in die Seele graben, ein übermannendes Gefühl von Rache, Verzweiflung, Wut, Schrecken, Grausen usw., alle kündigen sich an und jede nach ihrer Art verschieden an. So viel Gattungen von Fühlbarkeit in unsrer Natur schlummern, so viel auch Tonarten. – Ich merke also an, daß je weniger die menschliche Natur mit einer Tierart verwandt, je ungleichartiger sie mit ihr am Nervenbaue ist: desto weniger ist ihre Natursprache uns verständlich. Wir verstehen, als Erdentiere, das Erdentier besser als das Wassergeschöpf und auf der Erde das Herdetier besser als das Waldgeschöpf; und unter den Herdetieren die am meisten, die uns am nächsten kommen. Nur daß freilich auch bei diesen Umgang und Gewohnheit mehr oder weniger tut. Es ist natürlich, daß der Araber, der mit seinem Pferde nur ein Stück ausmacht, es mehr versteht als der, der zum erstenmal ein Pferd beschreitet; fast so gut, als Hektor in der Iliade mit den seinigen sprechen konnte. Der Araber in der Wüste, der nichts Lebendiges um sich hat als sein Kamel und etwa den Flug umirrender Vögel, kann leichter jenes Natur verstehen und das Geschrei dieser zu verstehen glauben als wir in unsern Behausungen. Der Sohn des Waldes, der Jäger, versteht die Stimme des Hirsches und der Lappländer seines Renntiers – doch alles das folgt oder ist Ausnahme. Eigentlich ist diese Sprache der Natur eine Völkersprache für jede Gattung unter sich, und so hat auch der Mensch die seinige.

Nun sind freilich diese Töne sehr einfach; und wenn sie artikuliert und als Interjektionen aufs Papier hinbuchstabiert werden, so haben die entgegengesetztesten Empfindungen fast einen Ausdruck. Das matte Ach ist sowohl Laut der zerschmelzenden Liebe als der sinkenden Verzweiflung; das feurige O sowohl Ausbruch der plötzlichen Freude als der auffahrenden Wut, der steigenden Bewunderung als des zuwallenden Bejammerns; allein sind denn diese Laute da, um als Interjektionen aufs Papier gemalt zu werden? Die Träne, die in diesem trüben, erloschnen, nach Trost schmachtenden Auge schwimmt – wie rührend ist sie im ganzen Gemälde des Antlitzes der Wehmut; nehmet sie allein, und sie ist ein kalter Wassertropfe, bringet sie unters Mikroskop und – ich will nicht wissen, was sie da sein mag! Dieser ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der auf der vom Schmerz verzognen Lippe so rührend stirbt – sondert ihn ab von allen seinen lebendigen Gehülfen, und er ist ein leerer Luftstoß. Kanns mit den Tönen der Empfindung anders sein? In ihrem lebendigen Zusammenhange, im ganzen Bilde der wirkenden Natur, begleitet von so vielen andern Erscheinungen sind sie rührend und gnugsam; aber von allen getrennet, herausgerissen, ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern. Die Stimme der Natur ist gemalter, verwillkürter Buchstabe. – Wenig sind dieser Sprachtöne freilich; allein die empfindsam Natur, sofern sie bloß mechanisch leidet, hat auch weniger Hauptarten der Empfindung, als unsre Psychologien der Seele als Leidenschaften anzählen oder andichten. Nur jedes Gefühl ist in solchem Zustande, je weniger in Fäden zerteilt, ein um so mächtiger anziehendes Band: die Töne reden nicht viel, aber stark. Ob der Klageton über Wunden der Seele oder des Körpers wimmere? Ob dieses Geschrei von Furcht oder Schmerz ausgepreßt werde? Ob dies weiche Ach sich mit einem Kuß oder einer Träne an den Busen der Geliebten drücke? Alle solche Unterschiede zu bestimmen, war diese Sprache nicht da. Sie sollte zum Gemälde hinrufen; dies Gemälde wird schon vor sich selbst reden! Sie sollte tönen, nicht aber schildern! – Überhaupt grenzen nach jener Fabel des Sokrates Schmerz und Wohllust: die Natur hat in der Empfindung ihre Ende zusammengeknüpft, und was kann also die Sprache der Empfindung anders als solche Berührungspunkte zeigen? – Jetzt darf ich anwenden.

In allen Sprachen des Ursprungs tönen noch Reste dieser Naturtöne; nur freilich sind sie nicht die Hauptfäden der menschlichen Sprache. Sie sind nicht die eigentlichen Wurzeln, aber die Säfte, die die Wurzeln der Sprache beleben.

In einer feinen, spät erfundnen metaphysischen Sprache, die von der ursprünglichen wilden Mutter des menschlichen Geschlechts eine Abart vielleicht im vierten Gliede und nach langen Jahrtausenden der Abartung selbst wieder Jahrhunderte ihres Lebens hindurch verfeinert, zivilisiert und humanisiert worden: eine solche Sprache, das Kind der Vernunft und Gesellschaft, kann wenig oder nichts mehr von der Kindheit ihrer ersten Mutter wissen; allein die alten, die wilden Sprachen, je näher zum Ursprunge, enthalten davon desto mehr. Ich kann hier noch nicht von der geringsten menschlichen Bildung der Sprache reden, sondern nur rohe Materialien betrachten. Noch existiert für mich kein Wort, sondern nur Töne zum Wort einer Empfindung; aber sehet! in den genannten Sprachen, in ihren Interjektionen, in den Wurzeln ihrer Nominum und Verborum wieviel aufgefangene Reste dieser Töne! Die ältesten morgenländischen Sprachen sind voll von Ausrüfen, für die wir später gebildeten Völker oft nichts als Lücken oder stumpfen, tauben Mißverstand haben. In ihren Elegien tönen, wie bei den Wilden auf ihren Gräbern, jene Heul- und Klagetöne, eine fortgehende Interjektion der Natursprache; in ihren Lobpsalmen das Freudengeschrei und die wiederkommenden Halleluias, die Shaw aus dem Munde der Klageweiber erkläret und die bei uns so oft feierlicher Unsinn sind. Im Gang, im Schwunge ihrer Gedichte und der Gesänge andrer alten Völker tönet der Ton, der noch die Krieges- und Religionstänze, die Trauer- und Freudengesänge aller Wilden belebet, sie mögen am Fuße der Cordilleras oder im Schnee der Irokesen, in Brasilien oder auf den Karaiben wohnen. Die Wurzeln ihrer einfachsten, würksamsten, frühesten Verben endlich sind jene ersten Ausrüfe der Natur, die erst später gemodelt wurden, und die Sprachen aller alten und wilden Völker sind daher in diesem innern, lebendigen Tone für Fremde ewig unaussprechlich!

Ich kann die meisten dieser Phänomene im Zusammenhange erst später erklären; hier stehe nur eins. Einer der Verteidiger des göttlichen Ursprunges der SpracheSüßmilchs Beweis, daß der Ursprung der menschlichen Sprache göttlich sei, Berlin 1766, S. 211. findet darin göttliche Ordnung zu bewundern, daß sich die Laute aller uns bekannten Sprachen auf etliche zwanzig Buchstaben bringen lassen. Allein das Faktum ist falsch und der Schluß noch unrichtiger. Keine einzige lebendigtönende Sprache läßt sich vollständig in Buchstaben bringen und noch weniger in zwanzig Buchstaben; dies zeugen alle Sprachen sämtlich und sonders. Die Artikulationen unsrer Sprachwerkzeuge sind so viel, ein jeder Laut wird auf so mannigfaltige Weise ausgesprochen, daß z. E. Herr Lambert im zweiten Teil seines Organon mit Recht hat zeigen können, wie weit weniger wir Buchstaben als Laute haben und wie unbestimmt also diese von jenen ausgedrückt werden können. Und das ist doch nur aus der deutschen Sprache gezeiget, die die Vieltönigkeit und den Unterschied ihrer Dialekte noch nicht einmal in eine Schriftsprache aufgenommen hat: viel weniger wo die ganze Sprache nichts als solch ein lebendiger Dialekt ist. Woher rühren alle Eigenheiten und Sonderbarkeiten der Orthographie, als wegen der Unbehülflichkeit, zu schreiben, wie man spricht? Welche lebendige Sprache läßt sich ihren Tönen nach aus Bücherbuchstaben lernen? Und welche tote Sprache daher aufwecken? Je lebendiger nun eine Sprache ist, je weniger man daran gedacht hat, sie in Buchstaben zu fassen, je ursprünglicher sie zum vollen, unausgesonderten Laute der Natur hinaufsteigt, desto minder ist sie auch schreibbar, desto minder mit zwanzig Buchstaben schreibbar, ja oft für Fremdlinge ganz unaussprechlich. Der Pater Rasles, der sich zehn Jahr unter den Abenakiern in Nordamerika aufgehalten, klagt hierüber so sehr, daß er mit aller Aufmerksamkeit doch oft nur die Hälfte des Worts wiederholet und sich lächerlich gemacht – wie weit lächerlicher hätte er mit seinen französischen Buchstaben beziffert? Der Pater Chaumonot, der fünfzig Jahr unter den Huronen zugebracht und sich an eine Grammatik ihrer Sprache gewagt, klagt demohngeachtet über ihre Kehlbuchstaben und ihre unaussprechlichen Akzente: oft hätten zwei Wörter, die ganz aus einerlei Buchstaben bestünden, die verschiedensten Bedeutungen. Garcilasso di Vega beklagt sich über die Spanier, wie sehr sie die peruanische Sprache im Laute der Wörter verstellet, verstümmelt, verfälscht, und aus bloßen Verfälschungen den Peruanern das schlimmste Zeug angedichtet. De la Condamine sagt von einer kleinen Nation am Amazonenfluß, ein Teil von ihren Wörtern könnte nicht, auch nicht einmal sehr unvollständig, geschrieben werden. Man müßte wenigstens neun oder zehn Silben dazu gebrauchen, wo sie in der Aussprache kaum drei auszusprechen scheinen. La Loubère von der siamschen Sprache: »Unter zehn Wörtern, die der Europäer ausspricht, versteht ein geborner Siamer vielleicht kein einziges: man mag sich Mühe geben, soviel man will, ihre Sprache mit unsern Buchstaben auszudrücken.« Und was brauchen wir Völker aus so entlegnen Enden der Erde? Unser kleine Rest von Wilden in Europa, Estländer und Lappen usw., haben oft ebenso halbartikulierte und unschreibbare Schälle als Huronen und Peruaner. Russen und Polen, solange ihre Sprachen geschrieben und schriftgebildet sind, aspirieren noch immer so, daß der wahre Ton ihrer Organisation nicht durch Buchstaben gemalt werden kann. Der Engländer, wie quälet er sich, seine Töne zu schreiben, und wie wenig ist der noch, der geschriebnes Englisch versteht, ein sprechender Engländer? Der Franzose, der weniger aus der Kehle hinaufholet, und der Halbgrieche, der Italiener, der gleichsam in einer höhern Gegend des Mundes, in einem feinern Äther spricht, behält immer noch lebendigen Ton. Seine Laute müssen innerhalb der Organe bleiben, wo sie gebildet worden: als gemalte Buchstaben sind sie, so bequem und einartig sie der lange Schriftgebrauch gemacht habe, immer nur Schatten!


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