Johann Gottfried Herder
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder

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Ein menschliches, sinnliches Geschöpf liebe ich über diese Denkart. Ich sehe überall den schwachen, schüchternen Empfindsamen, der lieben oder hassen, trauen oder fürchten muß und diese Empfindungen aus seiner Brust über alle Wesen ausbreiten möchte. Ich sehe überall das schwache und doch mächtige Geschöpf, das das ganze Weltall nötig hat und alles mit sich in Krieg und Frieden verwickelt; das von allem abhangt und doch über alles herrschet. Die Dichtung und die Geschlechterschaffung der Sprache sind also Interesse der Menschheit und die Genitalien der Rede gleichsam das Mittel ihrer Fortpflanzung. Aber nun – wenn sie ein höherer Genius aus den Sternen hinuntergebracht – wie? Wurde dieser Genius aus den Sternen auf unsrer Erde unter dem Monde in solche Leidenschaften von Liebe und Schwachheit, von Haß und Furcht verwickelt, daß er alles in Zuneigung und Haß verflocht, daß er alle Worte mit Furcht und Freude bezeichnete, daß er endlich alles auf Begattungen bauete? Sahe und fühlte er, wie ein Mensch siehet, daß sich ihm die Nomina in Geschlechter und Artikel paaren mußten, daß er die Verba tätig und leidend zusammengab, ihnen so viel echte und Doppelkinder zuerkannte, kurz, daß er die ganze Sprache auf das Gefühl menschlicher Schwachheiten bauete? – Sahe und fühlte er so?

Einem Verteidiger des übernatürlichen Ursprunges ists göttliche Ordnung der Sprache, »daß die meisten Stammwörter einsilbig, die Verba meistens zweisilbig sind und also die Sprache nach dem Maße des Gedächtnisses eingeteilt sei«. Das Faktum ist nicht genau und der Schluß unsicher. In den Resten der für die älteste angenommenen Sprache sind die Wurzeln alle zweisilbige Verba, welches ich nun aus dem vorigen sehr gut erklären kann, da die Hypothese des Gegenteils keinen Grund findet. Diese Verba nämlich sind unmittelbar auf die Laute und Interjektionen der tönenden Natur gebauet, die oft noch in ihnen tönen, hie und da auch noch als Interjektionen aufbehalten sind; meistens aber mußten sie, als halbinartikulierte Töne, verlorengehen, da sich die Sprache formte. In den morgenländischen Sprachen fehlen also diese ersten Versuche der stammelnden Zunge; aber daß sie fehlen und nur ihre regelmäßigen Reste in den Verbis tönen, das eben zeigt von der Ursprünglichkeit und – Menschlichkeit der Sprache. Sind diese Stämme Schätze und Abstraktionen aus dem Verstande Gottes oder die ersten Laute des horchenden Ohrs? Die ersten Schälle der stammelnden Zunge? Das Menschengeschlecht in seiner Kindheit hat sich ja eben die Sprache geformet, die ein Unmündiger stammlet: es ist das lallende Wörterbuch der Ammenstube – wo bleibt das im Munde der Erwachsnen?

Was so viele Alten sagen und so viel Neuere ohne Sinn nachgesagt, nimmt hieraus sein sinnliches Leben, daß nämlich Poesie älter gewesen als Prose! Denn was war diese erste Sprache als eine Sammlung von Elementen der Poesie? Nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden Natur! Aus den Interjektionen aller Wesen genommen und von Interjektionen menschlicher Empfindung belebet! Die Natursprache aller Geschöpfe vom Verstande in Laute gedichtet, in Bilder von Handlung, Leidenschaft und lebender Einwürkung! Ein Wörterbuch der Seele, was zugleich Mythologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungen und Reden aller Wesen ist! Also eine beständige Fabeldichtung mit Leidenschaft und Interesse! – Was ist Poesie anders?

Ferner. Die Tradition des Altertums sagt, die erste Sprache des menschlichen Geschlechts sei Gesang gewesen, und viele gute musikalische Leute haben geglaubt, die Menschen könnten diesen Gesang wohl den Vögeln abgelernt haben. – Das ist freilich viel geglaubt! Eine große, wichtige Uhr mit allen ihren scharfen Rädern und neugespannten Federn und Zentnergewichten kann wohl ein Glockenspiel von Tönen machen, aber den neugeschaffnen Menschen mit seinen würksamen Triebfedern, mit seinen Bedürfnissen, mit seinen starken Empfindungen, mit seiner fast blind beschäftigten Aufmerksamkeit und endlich mit seiner rohen Kehle dahinsetzen, um die Nachtigall nachzuäffen und sich von ihr eine Sprache zu ersingen, ist, in wie vielen Geschichten der Musik und Poesie es auch stehe, für mich unbegreiflich. Freilich wäre eine Sprache durch musikalische Töne möglich (wie auch LeibnizOeuvres philosophiques publiés p. Raspe p. 232. auf den Gedanken gekommen!). Aber für die ersten Naturmenschen war diese Sprache nicht möglich, so künstlich und fein ist sie. In der Reihe der Wesen hat jedes Ding seine Stimme und eine Sprache nach seiner Stimme. Die Sprache der Liebe ist im Nest der Nachtigall süßer Gesang wie in der Höhle des Löwen Gebrüll, im Forste des Wildes wiehernde Brunst und im Winkel der Katze Zetergeschrei; jede Gattung redet die ihrige, nicht für den Menschen, sondern für sich, und für sich so angenehm als Petrarcas Gesang an seine Laura! Sowenig also die Nachtigall singt, um den Menschen, wie man sich einbildet, vorzusingen, sowenig wird der Mensch sich dadurch je Sprache erfinden wollen, daß er der Nachtigall nachtrillert. – Und was ists doch für ein Ungeheuer, eine menschliche Nachtigall in einer Höhle oder im Walde der Jagd?

War also die erste Menschensprache Gesang, so wars Gesang, der ihm so natürlich, seinen Organen und Naturtrieben so angemessen war als der Nachtigallengesang ihr selbst, die gleichsam eine schwebende Lunge ist, und das war – eben unsre tönende Sprache. Condillac, Rousseau und andre sind hier halb auf den Weg gekommen, indem sie die Prosodie und den Gesang der ältesten Sprachen vom Geschrei der Empfindung herleiten, und ohne Zweifel belebte Empfindung freilich die ersten Töne und erhob sie; so wie aber aus den bloßen Tönen der Empfindung nie menschliche Sprache entstehen konnte, die dieser Gesang doch war, so fehlt noch etwas, ihn hervorzubringen, und das war eben die Namennennung eines jeden Geschöpfs nach seiner Sprache. Da sang und tönte also die ganze Natur vor, und der Gesang des Menschen war ein Konzert aller dieser Stimmen, sofern sie sein Verstand brauchte, seine Empfindung faßte, seine Organe sie ausdrücken konnten. – Es ward Gesang, aber weder Nachtigallenlied noch Leibnizens musikalische Sprache, noch ein bloßes Empfindungsgeschrei der Tiere: Ausdruck der Sprache aller Geschöpfe, innerhalb der natürlichen Tonleiter der menschlichen Stimme!

Selbst da die Sprache später mehr regelmäßig, eintönig und gereihet wurde, blieb sie noch immer eine Gattung Gesang, wie es die Akzente so vieler Wilden bezeugen; und daß aus diesem Gesange, nachher veredelt und verfeinert, die älteste Poesie und Musik entstanden, hat jetzt schon mehr als einer bewiesen. Der philosophische EngländerBrown., der sich in unserm Jahrhunderte an diesen Ursprung der Poesie und Musik gemacht, hätte am weitsten kommen können, wenn er nicht den Geist der Sprache von seiner Untersuchung ausgeschlossen und minder auf sein System ausgegangen wäre, Poesie und Musik auf einen Vereinigungspunkt einzuschließen, auf welchem keine sich recht zeigen kann, als auf den Ursprung von beiden aus der ganzen Natur des Menschen. Überhaupt, da die besten Stücke der alten Poesie Reste dieser sprachsingenden Zeiten sind, so sind die Mißkenntnisse, die Veruntreuungen und die schiefen Geschmacksfehler ganz unzählig, die man aus dem Gange der ältesten Gedichte, der griechischen Trauerspiele und Deklamationen herausbuchstabiert hat. Wieviel hätte hier noch ein Philosoph zu sagen, der unter den Wilden, wo noch dies Zeitalter lebt, den Ton gelernt hätte, diese Stücke zu lesen! Sonst und gewöhnlich sieht man immer nur Gewebe des verkehrten Teppichs! Disiecti membra poetae! – Doch ich verlöre mich in ein unermeßliches Feld, wenn ich mich in einzelne Sprachanmerkungen einlassen wollte – also zurück auf den ersten Erfindungsweg der Sprache!
 

Wie aus Tönen, zu Merkmalen vom Verstande geprägt, Worte wurden, war sehr begreiflich; aber nicht alle Gegenstände tönen; woher nun für diese Merkworte, bei denen die Seele sie nenne? Woher dem Menschen die Kunst, was nicht Schall ist, in Schall zu verwandeln? Was hat die Farbe, die Rundheit mit dem Namen gemein, der aus ihr so entstehe wie der Name »Blöken« aus dem Schafe? – Die Verteidiger des übernatürlichen Ursprungs wissen hier gleich Rat: »Willkürlich! Wer kanns begreifen und im Verstande Gottes nachsuchen, warum grün, grün und nicht blau heißt? Ohne Zweifel hats ihm so beliebt!«, und damit ist der Faden abgeschnitten! Alle Philosophie über die Erfindungskunst der Sprache schwebt also willkürlich in den Wolken, und für uns ist jedes Wort eine qualitas occulta, etwas Willkürliches! – Nun mag mans nicht übelnehmen, daß ich in diesem Falle das Wort »willkürlich« nicht begreife. Eine Sprache willkürlich und ohne allen Grund der Wahl aus dem Gehirn zu erfinden, ist wenigstens für eine menschliche Seele, die zu allem einen, wenn auch nur einigen Grund haben will, solch eine Qual, als für den Körper, sich zu Tode streicheln zu lassen. Bei einem rohen sinnlichen Naturmenschen überdem, dessen Kräfte noch nicht fein gnug sind, um ins Unnütze hinzuspielen, der, ungeübt und stark, nichts ohne dringende Ursache tut und nichts vergebens tun will, bei dem ist die Erfindung einer Sprache aus schaler, leerer Willkür der ganzen Analogie seiner Natur entgegen; und es ist überhaupt der ganzen Analogie aller menschlichen Seelenkräfte entgegen, eine aus reiner Willkür ausgedachte Sprache.


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