Johann Gottfried Herder
Briefe zu Beförderung der Humanität
Johann Gottfried Herder

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Dritte Sammlung.

(1794.)

 

27.

Sie fürchten, daß man dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde;S. das Ende des vorigen Briefes. – H. könnten wir nicht das Wort ändern? Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe?

Menschen sind wir allesammt und tragen sofern die Menschheit an uns, oder wir gehören zur Menschheit. Leider aber hat man in unserer Sprache dem Wort Mensch und noch mehr dem barmherzigen Wort Menschlichkeit so oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwäche und falschem Mitleid angehängt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achselzucken zu begleiten gewohnt ist. »Der Mensch!«Adelung hat sogar dem verbannenswürdigen Ausdruck »das Mensch« einen Artikel einräumen müssen. – H. sagen wir jammernd oder verachtend und glauben einen guten Mann aufs Lindeste mit dem Ausdruck zu entschuldigen: »es habe ihn die Menschlichkeit übereilt.« Kein Vernünftiger billigt es, daß man den Charakter des Geschlechts, zu dem wir gehören, so barbarisch hinabgesetzt hat; man hat hiemit unweiser gehandelt, als wenn man den Namen seiner Stadt oder Landsmannschaft zum Ekelnamen machte. Wir also wollen uns hüten, daß wir zu Beförderung solcher Menschlichkeit keine Briefe schreiben.

Der Name Menschenrechte kann ohne Menschenpflichten nicht genannt werden; beide beziehen sich auf einander, und für beide suchen wir ein Wort. So auch Menschenwürde und Menschenliebe. Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch sein wird, hat seinem größten Theil nach keine Würde; man darf es eher bemitleiden als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Werth und Würde gebildet werden. Das schöne Wort Menschenliebe ist so trivial worden, daß man meistens die Menschen liebt, um Keinen unter den Menschen wirksam zu lieben. Alle diese Worte enthalten Theilbegriffe unseres Zwecks, den wir gern mit einem Ausdruck bezeichnen möchten.

Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten und Neuern die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unsers Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsers Bestrebens, die Summe unsrer Uebungen, unser Werth sein; denn eine Angelität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsers Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Thierheit, zur Brutalität zurück.

Sollte das Wort Humanität also unsre Sprache verunzieren? Alle gebildeten Nationen haben es in ihre Mundart aufgenommen; und wenn unsre Briefe einem Fremden in die Hand kämen, müßten sie ihm wenigstens unverfänglich scheinen; denn Briefe zu Beförderung der Brutalität wird doch kein ehrliebender Mensch wollen geschrieben haben.


28.

Gern nehme ich mit Ihnen das Wort Humanität in unsre Sprache, wenigstens im Kreise unsrer Gesellschaft, auf; der Begriff, den es ausdrückt, noch mehr aber dessen Geschichte scheint ihm das Bürgerrecht zu geben.

So lange der Mensch, dies wunderbare Räthsel der Schöpfung, sich seinem sichtbaren Zustande nach betrachtete und sich dabei mit dem, was in ihm lag, mit seinen Anlagen und Willenskräften oder gar mit äußern Gegenständen der dauernden Natur verglich, so ward er auf das Gefühl der Hinfälligkeit, der Schwäche und Krankheit zurückgestoßen; daher in mehreren morgenländischen Schriften dieser Begriff dem Namen unsers Geschlechts ursprünglich beigesellt ist. Der Mensch ist von Erde, eine zerbrechliche, von einem flüchtigen Othem durchhauchte Leimhütte; sein Leben ist ein Schatte, sein Loos ist Mühe auf Erden.

Schon dieser Begriff führte zur Menschlichkeit, d. i. zum erbarmenden Mitgefühl des Leidens seiner Nebenmenschen, zur Theilnahme an den Unvollkommenheiten ihrer Natur, mit dem Bestreben, diesen zuvorzukommen oder ihnen abzuhelfen. Die Morgenländer sind so reich an Sittensprüchen und Einkleidungen, die dies Menschengefühl als Pflicht einschärfen oder als eine unserm Geschlecht unentbehrliche Tugend empfehlen, daß es sehr ungerecht wäre, ihnen Humanität abzusprechen, weil sie dies Wort nicht besaßen.

Die Griechen hatten für den Menschen einen edleren Namen: ἄνϑρωπος, ein Aufwärtsblickender, der sein Antlitz und Auge aufrecht empor trägt, oder wie Plato»Kratylos«, 17. Beide Deutungen des Wortes sind irrig. – D. es noch künstlicher deutet, Einer, der, indem er sieht, auch überzählt und rechnet. Sie konnten indessen ebenso wenig umhin, in diesem aufrechtblickenden, vernunftartigen Geschlecht alle die Mängel zu bemerken, die zum bedauernden Mitgefühl, also zur Humanität und zur Gesellung führen. In Homer und allen ihren Dichtern kommen die zärtlichsten Klagen über das Loos der Menschheit vor. Erinnern Sie Sich der Worte Apoll's, wenn er die armen Sterblichen beschreibt:Ilias, XXI. 464 ff. – D.

»Wie sie, gleich den Blättern des Baums, jetzt grünen und frisch sind,
Von den Früchten der Erde sich nährend, dann aber in Kurzem
Welken und fallen entseelet dahin.«

Oder wenn Jupiter selbst die unsterblichen Rosse Achills bedauert, die um ihren Gebieter trauern:Daselbst, XVII. 442 ff. – D.

                                  »Er sprach im Innern der Seele:
»Arme, warum doch gaben wir Euch dem Könige Peleus,
Einem Sterblichen, Euch, die niemals altern und sterben?
War's, mit den unglückseligen Menschen Euch leiden zu sehen?
Denn elender ist nirgend ein Wesen, als es der Mensch ist,
Keines von allen, die über der Erde sich regen und athmen.««

In demselben Ton singen ihre lyrischen Dichter.

Nächst der Selbsterhaltung ward es also die erste Pflicht der Menschheit, den Schwächen unserer Nebengeschöpfe beizuspringen und sie gegen die Uebel der Natur oder die rohen Leidenschaften ihres eignen Geschlechts in Schutz zu nehmen. Dahin ging die Sorge ihrer Gesetzgeber und Weisen, daß sie in Worten und Gebräuchen den Menschen diese unentbehrlichen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmenschen anempfahlen und dadurch das älteste Menschen- und Völkerrecht gründeten. Religion war's, vom Morde sich zu enthalten, dem Schwachen beizuspringen, dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen, des Verwundeten zu pflegen, den Todten zu begraben. In Religion wurden die Pflichten des Ehebundes, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern, des Einheimischen gegen die Fremden eingehüllt und allmählig dies Erbarmen auch auf Feinde verbreitet.Heyne hat diesen Zweck alter griechischer Institute in mehreren seiner Opuscula academica vortrefflich gezeigt. – H. Was Poesie und gesetzgebende Weisheit begonnen hatten, entwickelte die Philosophie endlich; und wir haben es insonderheit der Sokratischen Schule zu danken, daß in Form so mannichfaltiger Lehrgebäude die Kenntniß der Natur des Menschen, seiner wesentlichen Beziehungen und Pflichten das Studium der erlesensten Geister ward. Was Sokrates bei den Griechen that, brachten bei andern Völkern Andre zu Stande; Confucius z. B. ist der Sokrates der Sineser, Menu der Indier worden; denn überhaupt sind die Gesetze der Menschenpflicht keinem Volk der Erde unbekannt geblieben. In jeder Staatsverfassung aber hat sie nach Lage und Zeit das sogenannte Bedürfniß des Staats theils befördert, theils aufgehalten und verderbt.

Unter den Römern also, denen das Wort Humanität eigentlich gehört, fand der Begriff Anlaß gnug, sich bestimmter auszubilden. Rom hatte harte Gesetze gegen Knechte, Kinder, Fremde, Feinde; die obern Stände hatten Rechte gegen das Volk u. s. w. Wer diese Rechte mit größter Strenge verfolgte, konnte gerecht sein, er war aber dabei nicht menschlich. Der Edle, der von diesen Rechten, wo sie unbillig waren, von selbst nachließ, der gegen Kinder, Sclaven, Niedre, Fremde, Feinde nicht als römischer Bürger oder Patricier, sondern als Mensch handelte, der war humanus, humanissimus, nicht etwa in Gesprächen nur und in der Gesellschaft, sondern auch in Geschäften, in häuslichen Sitten, in der ganzen Handlungsweise. Und da hiezu das Studium und die Liebe der griechischen Weltweisheit viel that, daß sie den rauhen, strengen Römer nachgebend, sanft, gefällig, billig denkend machte, konnte den bildenden Wissenschaften ein schönerer Name gegeben werden, als daß man sie menschliche Wissenschaften nannte? Gewiß war von ihnen die Philosophie nicht ausgeschlossen;Ernesti's Rede De humanitatis disciplina ist hierüber bekannt. – H. vielmehr war sie dieser bildenden Wissenschaften Erzieherin und Gesellin, bald ihre Mutter, bald ihre Tochter gewesen.

Da bei den Römern also die Humanität zuerst als eine Bezähmerin harter bürgerlicher Gesetze und Rechte, als die eigentliche Tochter der Philosophie und bildenden Wissenschaften einen Namen gewonnen hat, der sich mit diesen nachher weiter vererbte, so lassen Sie uns ja Namen und Sache ehren! Auch in den abergläubigsten, dunkelsten Zeiten erinnerte der Name humaniora an den ernsten und schönen Zweck, den die Wissenschaften befördern sollten; diesen wollen wir, da wir menschliche Wissenschaften doch nicht wohl sagen können, mit und ohne dem Wort Humanität, nie vergessen, nie aufgeben. Wir bedürfen dessen ebensowol als die Römer.

Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die Geschichte! Es kam eine Zeit, da das Wort Mensch (homo) einen ganz andern Sinn bekam; es hieß ein Pflichtträger, ein Unterthan, ein Vasall, ein Diener.Daher noch der Ausdruck: »Er ist ein homo!« »Du homo!« u. s. w. – H. Wer dies nicht war, der genoß keines Rechts, der war seines Lebens nicht sicher; und Die, denen jene dienenden Menschen zugehörten, waren Uebermenschen. Der Eid, den man ihnen ablegte, hieß Menschenpflicht (homagium), und wer ein freier Mann sein wollte, mußte durch den Mannrechtsbrief beweisen, daß er kein homo, kein Mensch sei. Wundern Sie Sich nun, daß dem Wort Mensch in unsrer Sprache ein so niedriger Begriff anklebt? Seiner Abstammung selbst heißt es ja nichts anders als ein verachteter Mann, Mennisk, ein Männlein.Weder Wachter noch Adelung haben diesen Ursprung der Endung im Wort Mennisk bemerkt; er scheint aber der wahre; denn wenn man das Wort Mensch nach niedersächsischer, d. i. der alten und ächten Art ausspricht, so heißt es Mens-ch (Mensk), d. i. ein elender, unbewehrter Mann, ein Männlein. – H. [Diese Behauptung ist irrig. Die Ableitung hat nichts weniger als verkleinernde Bedeutung. – D.]

Auch Leute, Leutlein wurden nur als Anhängsel des Landes betrachtet, das sie bebauen mußten, auf welchem sie starben. Der Fürst, der Edle war Herr und Eigentümer über Land und Leute, und seine Säckelträger, Kanzlisten, Capellane, Vasallen und Clienten waren homines, Menschen oder Menschlein, mit mancherlei Nebenbestimmungen, die ihnen blos das Verhältniß gab, nach welchem sie ihm angehörten.S. hierüber Du Fresne, Glossarium, unter Homo. Er nennt Homines Denariales, Chartularii, Ecclesiastici, Fiscales, Regii, de Corpore, Pertinentes, Commendati, Casati, Feudales, Exercitales, Franci, Romani, Ligii, de manu mortua, de suis manibus, de manupastu etc. – H. Lassen Sie uns ja zum Begriff der Humanität bei Griechen und Römern übergehen; denn bei diesem barbarischen Menschenrecht wird uns angst und bange!


29.

Das Hauptgut wollen wir ja nicht vergessen, das uns die tiefere Betrachtung der Menschennatur für alle Zeiten erworben hat; es ist die Erkenntniß unsrer Kräfte und Anlagen, unsers Berufes und unsrer Pflicht. Eben in dem, wodurch der Mensch von Thieren sich unterscheidet, liegt sein Charakter, sein Adel, seine Bestimmung; er kann sich davon so wenig als von der Menschheit selbst lossagen. Dies ist das wahre studium humanitas, in welchem uns Griechen und Römer vortrefflich vorgegangen sind; Schande, wenn wir ihnen nachbleiben wollten!

Der Mensch hat einen Willen, er ist des Gesetzes fähig: seine Vernunft ist ihm Gesetz. Ein heiliges, unverbrüchliches Gesetz, dem er sich nie entziehen darf, dem er sich nie entziehen soll. Er ist nicht etwa nur ein mechanisches Glied der Naturkette, sondern der Geist, der die Natur beherrscht, ist theilweise in ihm. Jener soll er folgen; die Dinge um ihn her, insonderheit seine eignen Handlungen soll er dem allgemeinen Principium der Welt gemäß anordnen. Hierin ist er keinem Zwange unterworfen, ja, er ist keines Zwanges fähig. Er constituirt sich selbst; er constituirt mit andern ihm Gleichgesinnten nach heiligen, unverbrüchlichen Gesetzen eine Gesellschaft. Nach solchen ist er Freund, Bürger, Ehemann, Vater, Mitbürger endlich der großen Stadt Gottes auf Erden, die nur ein Gesetz, ein Dämon, der Geist einer allgemeinen Vernunft und Humanität beherrscht, ordnet, lenkt.

Doch warum spreche ich und lasse nicht lieber den menschenfreundlichen Kaiser sprechen, der in seinen Betrachtungen über sich selbst mehr als in seiner Statue vor dem Capitol als Gesetzgeber der Welt dem Menschengeschlecht sanftmüthig groß gebietet?

Marc-Antonin über sich selbst.Der griechische Titel der Schrift lautet: »Τὰ εἰς ἑαυτόν.« Die erste der folgenden Stellen steht daselbst I. 8. – D.

»Von Apollonius habe ich gelernt, frei zu sein und ohne Wankelmuth unbeweglich; auf nichts anders, auch mit dem kleinsten Seitenblick hinzusehen als auf die Vernunft; immer Derselbe zu sein, unter den heftigsten Schmerzen, beim Verlust eines Kindes, in langwierigen Krankheiten. Wie in einem lebendigen Muster habe ich an ihm deutlich ersehen, wie derselbe Mann sehr strenge und doch auch nachgebend sein könne. Ich habe von ihm gelernt wie man von Freunden sogenannte Gefälligkeiten annehmen könne, daß man ihnen weder verhaftet werde, noch solche gefühllos zurückweisen dürfe.« –

Daselbst. I. 9. – D. »Vom Sertus lernte ich Wohlwollen; ich empfing das Muster einer väterlichen Hausverwaltung und den Sinn, nach der Natur zu leben. Ich lernte ernst sein ohne Steifheit, mich in Freunde schicken ohne Laune, Unwissende und vom Wahn Geleitete dulden. An ihm sah ich, was Gefälligkeit gegen Jedermann sei; denn sein Umgang war angenehmer als alle Schmeichelei, und doch blieb er zu eben der Zeit bei Allen in Achtung.« –

Daselbst, l. 14. – D. »Von meinem Bruder Severus lernte ich Verwandte, Recht und Wahrheit lieben. Durch ihn lernte ich einen Thrasea, Helvidius, Cato, Dion und Brutus kennen; ich empfing die Idee eines Staats, der nach gleichen Gesetzen und Rechten verwaltet wird, einer Regierung, die der Freiheit ihrer Unterthanen die höchste Achtung erweist. Von ihm lernte ich standhaft und ohne Scheu die Philosophie hochschätzen; gutthätig sein auf die beste, reichste Weise; jederzeit das Beste hoffen und auf die Liebe der Freunde trauen; es ihnen gestehen, worin man mit ihnen unzufrieden sei; was man wolle oder nicht wolle, sie nicht errathen lassen, sondern es ihnen klar sagen.« –

»Marc-Antonin über sich selbst«. IV. 4. – D. »Haben wir den Verstand mit einander gemein, so ist uns auch die Vernunft gemein, durch die wir vernünftig sind. Ist dieses, so ist uns auch die Vernunft gemein, die vorschreibt, was wir zu thun und nicht zu thun haben. Ist dies, so haben wir auch ein gemeinschaftliches Gesetz. Ist das, so sind wir Bürger und nehmen an einem gemeinschaftlichen Staate Theil. Dieser Staat ist die Welt; denn was für einen andern Staat könnte Jemand nennen, an dem das ganze Menschengeschlecht Theil nehme? Aus diesem gemeinschaftlichen Staat also haben wir Alle denselben Verstand, dieselbe Vernunft, dieselbe gesetzgebende Vernunft; denn woher hätten wir sie sonst? Wie das Irdische an mir, das Feuchte, das Luftige, das Feurige jedes aus der Quelle seines Elements kommt und dahin gehört, so muß auch der Verstand irgend woher sein und dazu gehören.« –

Daselbst, IV. 23. – D. »Was Dir füglich ist, o Weltall, ist auch mir bequem. Nichts kommt mir zu frühe, nichts zu spät, was Dir recht ist. Alles ist mir Frucht, o Natur, was Deine Horen mir bringen. Aus Dir kommt Alles, in Dir ist Alles, in Dich kehrt Alles zurück. Wenn Jener sagte: »O Du geliebte Cekropsstadt!« sollte ich nicht sagen: »O Du geliebte Gottesstadt?«« –

Daselbst, V. 30. – D. »Der Geist des Weltalls ist ein Gemeinheitstifter. Das Schlechtere hat er des Bessern wegen hervorgebracht, das Bessere harmonisch zu einander geordnet. Du siehest, wie er unter-, wie er zusammenordnete, wie er jedem Dinge nach Würde das Seinige zutheilte und die edelsten Wesen zum einstimmigen Wohlwollen, zum Gleichsinn gegen einander verknüpft hat.« –

Daselbst, V. 1. – D. »Stehst Du des Morgens ungern auf, so ermuntere Dich mit dem Gedanken: »Ich erwache zum Werk des Menschen! Sollte ich mit Unwillen dran gehen, das zu thun, deshalb ich geboren, dazu ich in die Welt kommen bin?« »Die Ruhe ist aber angenehm.« Bist Du zum Genießen geboren? oder nicht vielmehr zum Thun, zum Wirken? Siehst Du nicht, wie Gewächse, Vögel, Ameisen, Spinnen, Bienen die Welt auf ihrem Platze mitzieren? und Du, ein Mensch, wolltest Deinen Menschenberuf nicht erfüllen? Du eilst nicht zu dem, was Deine Natur von Dir fordert? – Du liebst Dich also nicht selbst, da Du Deine Natur und ihr Gesetz nicht liebst. Andre, die ihre Kunst lieben, zehren sich in Ausübung derselben ab, sie vergessen Speise und Trank;Wörtlich: »ohne Bad und Speise«. – D. Du aber schätzest Deine Menschennatur geringer als der Drechsler die Drehekunst, der Tänzer die Tanzkunst, der Geizige das Geld, der Ehrsüchtige ein Wenig Ehre. – Scheinen Dir Arbeiten zum gemeinen Wohlsein zu geringe, als daß sie gleichen Fleißes bedürften?« –

A. a. O., VI. 30. – D.}»Siehe zu, daß Du nicht verkaisert werdest; nimm die Tinctur nicht an! Denn das geschieht leicht. Erhalte Dich einfach, gut, unverfälscht, ernsthaft, prachtlos, rechtliebend, gottverehrend, sanftmüthig, liebend die Deinigen, tapfer zu jedem wohlanständigen Werk! Kämpfe, daß Du Der bleibest, zu dem Dich die Philosophie machen wollte! Verehre die Götter, erhalte die Menschen! Kurz ist das Leben, und es giebt nur eine Frucht des irdischen Lebens: ein heiliges Gemüth und zum Wohl der Gesellschaft dienende Werke.« –

Daselbst, VI. 19. – D. »Glaube nicht, daß, wenn Dir etwas schwer dünkt, es dem Menschen unmöglich sei; und was dem Menschen je möglich war, das halte auch Dir möglich!« –

Daselbst, VI. I4. – D. »Gegen unvernünftige Thiere, überhaupt auch bei allen vorkommenden vernunftlosen Dingen und Geschäften betrage Dich als Einer, der Vernunft hat, großmüthig und frei! Gegen Menschen aber, als gegen vernünftige Wesen, betrage Dich mit gemeinschaftlicher, geselliger Vernunft!« –

Daselbst. VIII. 59. – D. »Die Menschen sind um einander willen da. Belehre sie also, oder ertrage sie!« –

Daselbst, XI. 18. – D. »Fange endlich einmal an, ein Mensch zu sein; hüte Dich aber ebensowol, den Menschen zu schmeicheln, als über sie zu zürnen! Beides ist wider die Pflicht der Gesellschaft; Beides ist schädlich.« –

Daselbst, XII. 11. – D. »Welche Macht und Würde hat der Mensch! Nichts zu thun, als was die Gottheit selbst billigen würde, und Alles aufzunehmen, was ihm Gott anweist.« –

Daselbst, XII. 35.– D. »Mensch! Du warst in diesem großen Staate Gottes ein Mitbürger; was kümmert es Dich, daß Du es nur fünf Jahre lang warst? Was nach Gesetzen geschieht, thut Niemandem Unrecht. Was ist denn Schreckliches darin, daß Dich nicht ein Tyrann noch ein ungerechter Richter, sondern die Natur wegruft, die Dich in diesen Staat einführte? eben wie den Schauspieler, den der Prätor dung, der Prätor auch von der Schaubühne entläßt. »Aber die fünf Acte des Stücks sind von mir noch nicht geendet, sondern nur drei.« Wohl! Im Leben sind drei Acte auch ein Stück. Was ein Ganzes sein soll, bestimmt Der, der einst Compositeur, jetzt Auflöser des Spiels ist. Du bist keins von beiden. Geh also zufrieden fort! auch er entläßt Dich zufrieden.«

So spricht Marc-Antonin auf allen Blättern. Wir wollen nicht sagen: »Heiliger, bitte für uns!« sondern: »Menschlicher Kaiser, sei uns ein Muster!«


30.

Wer vermag die Würde, von solchen Dingen, dem Geiste
Ihrer Erfindung gemäß, ein LiedIm Lateinischen steht: »vermag ein würdiges Lied«. – D. zu dichten? Und wer hat
Kraft im Busen und Worte der Zunge, zu strömen ein Loblied
Jenem vortrefflichen Mann, der solche Schätze der Wahrheit,
Die sich sein Herz erworben, uns zum Geschenke gelassen?
Möcht' es auch Einer wagen, von sterblichem Blute geboren?
Wenn der Dinge Gewicht, die sein hoher Geist uns entdeckt hat,
Ihren vortrefflichen Werth wir bedenken, so war er ein Gott uns,
Ja, ein Gott war's, ruhmvoller Memmius, welcher zuerst uns
Jenen erhabenen Weg des Lebens gezeiget, den jetzt wir
Weisheit nennen, und der durch ihre Hilfe das Leben
Aus dem Dunkel der Nacht, aus wogenden Fluthen gerettet
Und in den friedlichen Port, in klares Licht es gestellt hat.
Nimm die Erfindungen Andrer, die man für göttlich erkannt hat:
Ceres pflanzte die Aehren; es lehrte die Sterblichen Bacchus
Den gekelterten Most aus der Rebe drücken, da dennoch
Ohne Gebrauch von diesen Dingen das Leben bestehn mag,
Wie man's an Völkern ersieht, die jetzt noch ihrer entbehren.
Ist die Brust Dir nicht rein, so suchst Du vergebens ein Glück Dir,
Denkest umsonst an Lebensgenuß. Drum scheint er ein Gott uns,
Und mit mehrerem Recht als jene, von dem in die Herzen
Aller Völker so süßer Trost für das Leben geflossen.
Sollte Dir aber dünken, es gingen des Hercules Thaten
Diesen weit noch voran, so würdest Du gröber Dich irren;
Denn was hat des Nemeïschen Löwen gefürchteter Rachen
Schreckbares jetzt für uns? und der Zahn des arkadischen Keilers?
Was aus Kreta der Stier? was des Lernäischen Sumpfes
Giftige Pest, die Hydra, mit zischenden Nattern umgürtet?
Was kann die Riesenbrust des dreifachen Geryon, was die
Rosse, die Flammen schnauben, die über Thraciens Felder
Auf die bistonischen Fluren und auf die fruchtreichen Saaten,
Wo sich Ismarus hebt, Tod brachten und wildes Verderben?
Wodurch möchten der Stymphaliden gebogene Krallen
Uns noch fürchterlich werden? wodurch der hesperische Drache,
Der, um den Baum gewunden in ungeheuren Kreisen,
Tod aus den Augen blitzend, die goldenen Aepfel bewachet?
Was möcht' dieser uns schaden an seiner atlantischen Küste,
An dem unwirthbaren Ufer, wo Keiner von uns den Fuß hin-
Setzet, das der Barbar selbst zu betreten sich scheuet!
Also verhält es sich auch mit den übrigen Abenteuern.
Hätte sie Keiner bestanden, wer möchte sie jetzt noch bestehen?
Niemand, wie ich glaube. Was sollten sie Schaden uns bringen?
Noch ist voll die Welt von Ungeheuern, es herrschet
Noch in den Thälern, den Wäldern, den tiefen Klüften der Berge
Raubbegierige Wuth; allein was gehet sie uns an?
Aber welche Gefahr und welche tödtende Zwietracht
Schleicht sich in eine Brust, die von Leidenschaften nicht rein ist!
Wie zerfleischen das Herz die ängstlichen, scharfen Begierden!
Wie zernaget die Sorge den Menschen! wie quälet die Furcht ihn!
Welche Verwüstungen richtet der Stolz nicht an und die Geilheit
Und der Uebermuth, das Prassen, die niedrige Faulheit!
Alles dieses hat er, mit Waffen nicht, aber mit Worten,
Tief aus dem Herzen hinweggeräumet und selber gebändigt;
Und ihm gebührete nicht der Dank, der Göttern gebühret,
Ihm, dem Manne, der selbst mit Götterzunge von ihnen
Oft gesprochen und ganz der Dinge Natur uns enthüllt hat?
Auf die Spuren von seinem Pfade tret' ich.

So pries ein römischer Dichter, Lucrez, einen seiner Lieblinge der Vorwelt,Mit diesem Lobe Epikur's beginnt Lucrez sein fünftes Buch. Herder's Freund Knebel war damals mit einer Uebersetzung des Dichters beschäftigt. – D. und er hat mehrere derselben als Genien unsers Geschlechts, als Götter und Sterne an den Himmel gesetzt, weil sie Lebensweisheit und Humanität unter den Menschen gegründet oder befördert haben. Keiner seiner edeln Mitbürger ist ihm hiebei in Wort und That nachgeblieben.

Viele Oden des Horaz, noch mehr aber seine Sermonen und sogenannten Satiren sind feine Bearbeitungen der Menschheit; sie haben alle, wenigstens mittelbar, zum Zweck, einen Umriß in das rohe Gebilde des Lebens zu bringen, die Ideen und Sitten jener Person, dieser Stände nach dem Richtmaaß des Wahren und Guten, des Anständigen und Schönen zu ordnen. Persius, Juvenal, Lucan und Andre wirken dahin, Jeder nach seiner Weise; vor Allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann, seine Gesänge mit einem zarten Druck der Menschenliebe. Unmöglich ist's, daß ein Mann oder Jüngling, dem das Innere dieser Heiligthümer aufgeschlossen wird, sein Inneres nicht durchdrungen und zu einer Form gebildet fühlte, die ihm vielleicht wenige neuere Schriften gewähren. Es ist, als ob jenen großen Autoren die Menschheit reiner vorstand, oder als ob sie mehr Kraft gehabt hätten, auch unter allen Unarten der Zeit ihre wahre Gestalt lebhafter anzuerkennen, stärker und reiner zu schildern; wozu denn nebst vielem Andern auch ihre Sprache und der Begriff beitrug, den sie sich von Poesie machten.

Doch nicht bei Poesie allein blieb diese Bildung stehen; trotz alles Harten und Drückenden zeigt sie sich auch in der römischen Geschichte. Man lese im Cornelius des Atticus, in Sallust Catilina's, in Tacitus Agricola's Leben, vor Allen aber den Letzten, den wegen seiner dunkeln Härte so berüchtigten Tacitus: und man müßte ein entschiedner Barbar sein, wenn man in ihnen die tiefen Züge ächter Humanität nicht bemerkte. Tacitus beschreibt die grauenvollsten Zeiten, die lasterhaftsten Charaktere; er deckt einen Abgrund von Sitten und einer Regierungsform auf, vor dem man schaudert: zeige man in ihm aber ein einziges Gemälde solcher Unthaten und verderbten Seelen, das er nicht in das Licht gestellt hätte, dahin es gehört! Livia, Tiber, Sejan, Caligula, Claudius, und wie die Unmenschen weiter heißen; gegentheils jede unterdrückte Sprosse des Guten, die sich auf diesem abscheulichen Boden zeigte: Alle sind von ihm, wenn auch nur mit einem Wort, in einem Zuge, dem unparteiischen Mit- oder Gegengefühl nahe gebracht; sie stehen auf ewig in der Classe menschlicher, halb- und unmenschlicher Wesen, wo sie stehen sollten. Wer uns keine Umschreibung, sondern eine Uebersetzung dieses Geschichtschreibers ganz in seinen Umrissen, in seiner Physiognomie gäbe, könnte nicht anders als den Sinn der Menschheit auch für unsre Zeit tausendfach erwecken und bilden.

Lassen Sie uns also glauben, daß Jung und Alt in beiden Geschlechtern, wenn es die Schriften der Alten in ihrem Geist liest, nicht anders als zur Humanität bearbeitet werden könne. Die barbarische Rinde des Herkommens, die uns von außen angesetzt ist, muß einigermaßen gebrochen werden, wenn wir andre Menschen zu einer andern äußerst verderbten Zeit männlicher denken, würdiger sprechen hören. Wir werden aus unserm Todesschlafe geweckt und lernen in strengern Umrissen kennen:

»Quid sumus, aut quidnam victuri gignimur, ordo
Quis datus, aut metae quam mollis flexus et unde,
Quis modus argento, quid fas optare, quid asper
Utile nummus habet, patriae carisque propinquis
Quantum elargiri deceat, quem te Deus esse
Jussit et humana qua parte locatus es in re. –
Discite, o miseri, et causas cognoscite rerum!
«Persius, III. 66–72. Herder hat den ersten Vers an den Schluß gesetzt. Vgl. Herder's Werke, VIII. 101. – D.


31.

Die Griechen hatten das Wort Humanität nicht; seit aber Orpheus sie durch den Klang seiner Leyer aus Thieren zu Menschen gemacht hatte, war der Begriff dieses Worts die Kunst ihrer Musen. Ich bin weit entfernt, die griechischen Sitten und Verfassungen zu jeder Zeit und allenthalben als Muster zu preisen; das kann indessen nicht geleugnet werden, daß das

»Emollit mores nec sinit esse feros«Ovid schreibt dies dem »didicisse fideliter artes« zu (Ex Ponto, II. 9. 48). – D.

mittelbar oder unmittelbar der Endzweck gewesen, auf den ihre edelsten Dichter, Gesetzgeber und Weise wirkten. Von Homer bis auf Plutarch und Longin ist ihren besten Schriften bei einer großen Bestimmtheit der Begriffe eine so reizende Cultur der Seele eingeprägt, daß, wie sich an ihnen die Römer bildeten, sie auch uns kaum ungebildet lassen mögen.

Einzelne Blätter, die mir über die Humanität einiger griechischen Dichter und Philosophen in die Hände gekommen sind, sollen Ihnen zu einer andern Zeit zukommen; jetzt bemerke ich nur, daß wenn in spätern Zeiten bei irgend einem Schriftsteller, er sei Geschäftsmann, Arzt, Theolog oder Rechtslehrer, eine feinere, ich möchte sagen classische Bildung sich äußerte, diese meistens auch auf classischem Boden, in der Schule der Griechen und Römer erworben, der Sprößling ihres Geistes gewesen. Wie die griechische Kunst unübertroffen und in Absicht der Reinheit ihrer Umrisse, des Großen, Schönen und Edlen ihrer Gestalten allen Zeiten das Muster geblieben, fast also ist's auch, Weniges ausgenommen, mit den Vorstellungsarten des menschlichen Geistes. Was wir kraus sagen und verwickelt denken, gaben sie hell und rein an den Tag; ein kleiner Satz, eine schlicht vorgetragene Erfahrung enthält bei ihnen, wenn man's zu finden weiß, oft mehr als unsre verworrensten Deductionen. Die Probleme, welche dieDie Worte »welche die« fehlen im ersten Drucke. – D. neuere Staatskunst verwickelt vorträgt, sind in der griechischen Geschichte hell und klar auseinandergesetzt und durch die Erfahrung längst entschieden. Die Kritik des Geschmacks endlich, ja die reinste Philosophie des Lebens, woher stammen sie, als von den Griechen? In den schönsten Seelen dieser Nation bildeten sie sich; hie und da hat sich ihr Geist schwesterlichen Seelen mitgetheilt. So lange uns also die Griechen nicht geraubt, und da sie bisher dem Sturz der Zeiten, der Vertilgung wilder Barbaren und Schwärmer entronnen sind, wird wahre Humanität nie von der Erde vertilgt werden.

Immer wird mir wohl, wenn ich auch in unsern Zeiten einen reinen Nachklang der Weisheit griechischer und römischer Musen höre. Eine Ausgabe, eine Uebersetzung, eine wahre Erläuterung dieses oder jenes Dichters, Philosophen und Geschichtschreibers halte ich für ein Bruchstück des großen Gebäudes der Bildung unsers Geschlechts für unsre und die zukünftigen Zeiten. Eine verständige Stimme, die über unsre jetzige Weltlage aus alter Erfahrung spricht, ist mir mehr, als ob ein Barde weissagte.


32.

Aus Ihren Briefen, meine Freunde, ziehe ich mir Folgendes:

1. Das weiche Mitgefühl mit den Schwächen unsers Geschlechts, das wir gewöhnlicherweise Menschlichkeit nennen, macht die ganze Humanität nicht aus. Zu rechter Zeit, am rechten Ort ziert es den Menschen allerdings, da Sympathie in reinem Verstande, d. i. eine lebhafte, schnelle Versetzung in den Zustand des Fehlenden, Irrenden, Leidenden, Gequälten, der zarteste Kitt der Vereinigung ähnlicher Geschöpfe und unter Menschen das lindeste Band ihrer Verbindung ist. Nichts stößt mehr zurück als gefühllose, stolze Härte. Ein Betragen, als ob man höheren Stammes und ganz andrer oder gar eigner Art sei, erbittert Jeden und zieht dem Uebermenschen das unvermeidliche Uebel zu, daß sein Herz ungebrochen, leer und ungebildet bleibt, daß Jedermann zuletzt ihn haßt oder verachtet.

So nothwendig indessen eine menschliche Lindigkeit und Milde gegen die Fehler und Leiden unsrer Nebengeschöpfe bleibt, so muß sie doch, wenn sie zu weich und ausschließend wird, den Charakter erschlaffen und kann eben dadurch die härteste Grausamkeit werden. Ohne Gerechtigkeit besteht Billigkeit nicht; eine Nachsicht ohne Einsicht der Schwächen und Fehler ist eine Verzärtelung, die eiternde Wunden mit Rosen bedeckt und eben dadurch Schmerzen und Gefahr mehrt.

2. Auch ist Humanität Ihnen nicht blos jene leichte Geselligkeit, ein sanftes Zuvorkommen im Umgange, so viel Reize dies auch dem täglichen Leben gewährt. Vielmehr ist sie, subjectiv betrachtet,

3. Ein Gefühl der menschlichen Natur in ihrer Stärke und Schwäche, in Mängeln und Vollkommenheiten, nicht ohne Thätigkeit, nicht ohne Einsicht. Was zum Charakter unsers Geschlechts gehört, jede mögliche Ausbildung und Vervollkommung desselben, dies ist das Object, das der humane Mann vor sich hat, wornach er strebt, wozu er wirkt. Da unser Geschlecht selbst aus sich machen muß, was aus ihm werden kann und soll, so darf Keiner, der zu ihm gehört, dabei müssig bleiben. Er muß am Wohl und Weh des Ganzen Theil nehmen und seinen Theil Vernunft, sein Pensum Thätigkeit mit gutem Willen dem Genius seines Geschlechts opfern.

4. Zum Besten der gesammten Menschheit kann Niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll; Jeder also muß den Garten der Humanität zuerst auf dem Beet, wo er als Baum grünt oder als Blume blüht, pflegen und warten. Wir tragen Alle ein Ideal in und mit uns, was wir sein sollten und nicht sind; die Schlacken, die wir ablegen, die Form, die wir erlangen sollen, kennen wir Alle. Und da, was wir werden sollen, wir nicht anders als durch uns und Andre, von ihnen erlangend, auf sie wirkend, werden können, so wird nothwendig unsre Humanität mit der Humanität Andrer eins, und unser ganzes Leben eine Schule, ein Uebungsplatz derselben. »Was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich ist, was wohllautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob; dessen befleißigt Euch!« sagt selbst ein Apostel.Paulus, an die Philipper, 4. 8. – D.

5. Alle Einrichtungen der Menschen, alle Wissenschaften und Künste können, wenn sie rechter Art sind, keinen andern Zweck haben, als uns zu humanisiren, d. i. den Unmenschen oder Halbmenschen zum Menschen zu machen und unserm Geschlecht zuerst in kleinen Theilen die Form zu geben, die die Vernunft billigt, die Pflicht fordert, nach der unser Bedürfniß strebt. Daß die Wissenschaften, die man humaniora nennt, zum leeren Zeitvertreib oder zu eitelm Putz ausgeartet sind, ist ein Mißbrauch, den schon ihr Name straft. Ursprünglich war dies nicht also. Vollends Künste und Wissenschaften, die den angebornen Stolz, die freche Anmaßung, das blinde Vorurtheil, die Unvernunft und Unsittlichkeit stärken, verschleiern, schmücken, beschönen, sollte man brutalisirende Künste und Wissenschaften nennen, werth, von Sclaven getrieben zu werden, damit auf ihnen die menschliche Thierheit ruhe.

Es freut mich, daß Sie den Dichter, der den unmenschlichen Achill besang, aus der Reihe humanisirender Weisen nicht ausschließen wollen; das Theater der Alten und ihre Gesetzgebung wird davon gewiß auch nicht ausgeschlossen sein. Das Gemüth läutert, hebt und stärkt sich durch die Betrachtung: »Wir sind Menschen, nichts mehr, aber auch nichts Minderes, als dieser Name sagt.«


Nachschrift.
Fragment eines Gespräches des Lords Shaftesbury.

Theokles. Kann eine Freundschaft so heroisch sein als die gegen das menschliche Geschlecht? Halten Sie die Liebe gegen Freunde überhaupt und gegen unser Vaterland für nichts? Oder glauben Sie, daß die besondre Freundschaft ohne solche erweiterte Neigung und ohne das Gefühl der Verbindlichkeit gegen die Gesellschaft bestehen könne?

Philokles. Daß man Verbindlichkeiten gegen das menschliche Geschlecht habe, wird Niemand leugnen, der auf den Namen eines Freundes Anspruch macht. Schwerlich würde ich Dem nur den Namen Mensch zugestehen, der nie Jemanden Freund genannt oder nie selbst Freund geheißen hat. Aber wer sich als ein wahrer Freund bewährt, der ist Mensch genug und wird es der Gesellschaft an sich nicht fehlen lassen. Für meine Person sehe ich so wenig Großes und Liebenswürdiges an dem menschlichen Geschlecht und habe eine so gleichgiltige Meinung von dem großen Haufen der Gesellschaft, daß ich mir sehr wenig Vergnügen von der Liebe zu beiden versprechen kann.

Th. Rechnen Sie denn Güte und Dankbarkeit unter die Handlungen der Freundschaft und des Wohlwollens?

Ph. Ohne Zweifel; sie sind ja die vornehmsten.

Th. Gesetzt also, der Verpflichtete entdeckte Fehler an seinem Wohlthäter, würde dies jenen von seiner Dankbarkeit lossprechen?

Ph. Nicht im Geringsten.

Th. Oder macht es die Ausübung der Dankbarkeit weniger angenehm?

Ph. Mich dünkt vielmehr das Gegentheil. Denn wenn mir's an allen andern Mitteln der Vergeltung fehlte, so würde ich mich freuen, wenigstens dadurch meine Dankbarkeit gegen meinen Wohlthäter sicher zeigen zu können, daß ich seine Fehler als ein Freund ertrüge.

Th. Und was die Güte betrifft, sagen Sie mir, mein Freund, sollen wir denn blos Denen Gutes thun, die es verdienen? Etwa blos einem guten Nachbar oder Verwandten, einem guten Vater, Kinde oder Bruder? Oder lehrt Natur, Vernunft und Menschlichkeit uns nicht vielmehr, einem Vater, blos weil er Vater, einem Kinde, blos weil es Kind ist, Gutes zu thun? Und so in jedem Verhältniß des menschlichen Lebens.

Ph. Ich glaube, das Letzte ist das Richtigste.

Th. O Philokles! Bedenken Sie also, was Sie sagten, da Sie die Liebe gegen das menschliche Geschlecht der menschlichen Gebrechen wegen verwarfen und den großen Haufen seines elenden Zustandes wegen verachteten! Sehen Sie nun, ob diese Gesinnung mit der Menschlichkeit bestehen kann, die Sie sonst so hoch schätzen und ausüben. Wo kann Edelmuth stattfinden, wenn nicht hier? Wo können wir je Freundschaft beweisen, wenn nicht an diesem Hauptgegenstands derselben? Gegen wen werden wir treu und dankbar sein, wenn nicht gegen das menschliche Geschlecht und gegen die Gesellschaft, welcher wir so stark verpflichtet sind? Welche Gebrechen oder Fehler können eine solche Unterlassung entschuldigen oder in einem dankbaren Herzen je das Vergnügen vermindern, welches aus liebevoller Erwiderung empfangener Wohlthaten entspringt? Können Sie, blos aus guter Lebensart, aus einem natürlich guten Temperament Vergnügen daran finden, Höflichkeit, Gefälligkeit, Dienstfertigkeit zu beweisen, Gegenstände des Mitleidens selbst aufsuchen und, wo es in Ihrer Macht steht, selbst Unbekannten dienen? kann es auch in fremden Ländern oder, wenn's Auswärtige betrifft, auch hier Sie entzücken, Allen, die es bedürfen, auf die leutseligste, freundschaftlichste Art zu helfen, zu rathen, beizustehen? Und sollte Ihr Vaterland oder, was noch mehr ist, Ihr ganzes Geschlecht weniger Wohlwollen von Ihnen fordern können, weniger Achtung von Ihnen verdienen als einer von jenen Gegenständen, die Ihnen von ungefähr in den Wurf kommen?

Ph. Ich befürchte, daß ich auf diese Art nie ein Freund oder Liebhaber werde. Eine Liebe gegen eine einzelne Person kann ich so ziemlich fassen; aber diese zusammengesetzte, allgemeine Art von Liebe, ich gestehe es, Theokles, ist mir zu hoch. Ich kann das Individuum, aber nicht die ganze Gattung, ich kann nichts lieben, wovon ich nicht irgend ein sinnliches Bild habe.

Th. Wie, Philokles? Sie könnten nie anders lieben als auf diese Art? War Palämon's Charakter Ihnen gleichgiltig, da er Sie zu dem langen Briefwechsel vermochte, der Ihrer neuerlichen persönlichen Bekanntschaft voranging?

Ph. Ich kann dies nicht leugnen; und jetzt, dünkt mich, verstehe ich Ihr Geheimniß und begreife, wie ich mich dazu vorbereiten muß. Denn eben wie ich damals, als ich Palämon zu lieben anfing, mich genöthigt sah, mir eine Art von materiellem Gegenstande zu bilden, und immer ein solches Bild im Kopf hatte, so oft ich an ihn dachte, ebenso muß ich's in diesem Falle zu machen suchen.

Th. Mich dünkt, Sie könnten immer so viel Gefälligkeit gegen das menschliche Geschlecht haben als gegen die alten Römer, in welche Sie, aller ihrer Fehler ungeachtet, doch immer verliebt gewesen sind, besonders unter der Vorstellung eines schönen Jünglings, der Genius des Volks genannt.

Ph. Wäre mir's möglich, meiner Seele ein solches Bild einzudrücken, es möchte nun das menschliche Geschlecht oder die Natur bedeuten, so würde das vermuthlich auf mich wirken und mich zum Liebhaber nach Ihrer Art machen. Noch besser aber, wenn Sie es so veranstalten könnten, daß die Liebe zwischen uns wechselseitig würde; wenn Sie mich überreden könnten, zu glauben, dieser Genius sei nicht gleichgiltig gegen meine Liebe und fähig, sie zu erwidern.

Th. Gut! ich nehme die Bedingung an. Morgen, wenn die östliche Sonne, wie die Dichter sagen, mit ihren ersten Strahlen den Gipfel jenes Hügels vergoldet, dann wollen wir, wenn's Ihnen beliebt, mit Hilfe der Nymphen des Hains dieser unsrer Liebe nachspüren, erst den Genius des Orts anrufen und dann versuchen, ob wir nicht wenigstens eines schwachen, fernen Anblicks des höchsten Genius und der ersten Urschönheit gewürdigt werden. Sollte es Ihnen glücken, nur einmal diese zu sehen, so stehe ich dafür, alle jene widrigen Züge und Häßlichkeiten sowol der Natur als des menschlichen Geschlechts werden augenblicks verschwinden. Ihr Herz wird ganz mit der Liebe erfüllt werden, die ich Ihnen wünsche.


So weit dies Gespräch. Wie Theokles seinen Zweck bewirkt habe, mögen Sie in der vortrefflichen Rhapsodie: »Die Moralisten«, beim edeln Shaftesbury selbst lesen.Meiner Gesinnung nach ist es eines der schönsten Verdienste Spalding's, daß er zu jener Zeit, 1745, in seiner Lage, uns Shaftesbury's »Moralisten« bekannt machte. Mehr als dreißig Jahre nachher ist zuerst die Uebersetzung des ganzen Shaftesbury gefolgt: »Shaftesbury's philosophische Werke«. Leipzig 1776-1779. – H.


33.

Mit Recht nennen Sie Shaftesbury einen edeln Schriftsteller, ob ihn gleich hie und da sein Stand, ich möchte sagen seine Lordschaft übereilte. Sein zuweilen zwangvoller Stil, manche Späße, die er sich über die Geistlichkeit erlaubte, sein Einfall, »Witz und Humor zum Prüfstein aller, auch der ernstesten Wahrheit zu machen,« haben Tadler und Widerleger gnug gefunden; über seinen Kunstgeschmack wäre auch Manches zu sagen. Die bessere philosophische Seele aber, die in ihm wohnte, sein honestum und decorum in der Moral, hundert feine Bemerkungen über Grundsätze, Sitten, Composition und Lebensweise sind nach allem Tadel unwiderlegt geblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein unbefangener honnetter Mann diesen Schriftsteller ohne innige Achtung aus der Hand legen sollte; und für Jünglinge wünschte ich in unsrer Sprache zum übersetzten Shaftesbury eine Zugabe, »wie Shaftesbury zu lesen, und was in ihm zu berichtigen sein möchte.« Wie Leibniz, so hielten Diderot, Lessing, Mendelssohn von diesem Virtuoso der Humanität viel; auf die besten Köpfe unsers Jahrhunderts, auf Männer, die sich fürs Wahre, Schöne und Gute mit entschiedner Redlichkeit bemühten, hat er auszeichnend gewirkt.

Und doch, mein Freund, dünkt mir sein System der Moral unzureichend, sofern es sich blos auf das decorum et honestum als auf ein Gefühl gründet. Es kommen starke Stellen darüber, auch als Pflicht, als Gesetz betrachtet, in ihm vor; im Ganzen aber, scheint mir's, hat er, um seine Moral liebenswürdig zu machen, mit der menschlichen Natur etwas zu sehr getändelt. Hier muß man hinter Allem doch endlich mit der stoischen Philosophie zum alten Wort Gottes zurückgehen: »Du sollst! Du sollst nicht!« sofern uns dies nicht Convenienz, Geschmack und Vergnügen, sondern Pflicht und Vernunft vorhält.

Neulich kam mir ein Lehrgedicht zu Handen, wo mir zuerst folgende Stelle in die Augen fiel:

»Sei liebreich mit Vernunft; nur weise Huld ist ächt,
Giebt Jedem, was sie soll, und kränket Keines Recht.
Kein Schimmer äußrer Macht, kein Geld, das Sclaven rühret,
Hält den Gerechten ab, zu thun, was ihm gebühret.
Gleich feurig zu dem Schutz des Edlen als des Knechts,
Ist er der treue Freund des menschlichen Geschlechts.
Unfähig zu der Kunst, die den Vertrag verdrehet,
Hält er dem Fürsten Wort wie Dem, der nackend gehet;
Bei ihm ist, was Du hast, so sicher als bei Dir,
Das ihm geliehne Gut zieht er dem eignen für;
Im kleinsten Werk getreu, verschwiegen bis zur Bahre,
Und zu des Freundes Dienst bereit bis zum Altare.
Hört, Bürger der Natur, den Inhalt aller Pflicht:
Lernt die Gerechtigkeit! vergesset Gottes nicht!«

Gereizt durch diese Stelle, schlug ich weiter zurück und fand die Geschichte der Humanität so vorgetragen:

»Vernunft, der Gottheit Strahl, der rohen Völkern schien,
Hieß aus des Waldes Nacht sie in die Städte ziehn,
Gab Ordnung und Gesetz, schuf Menschen aus Barbaren,
Gebot den Wilden selbst, Verträge zu bewahren.
Dies hob der Weisen Ruhm in Griechenland empor
Und rief aus Scythien den Anacharsis vor.
So war der Menschheit Recht der Leitstern alter Weisen;
Doch Keiner wagte sich, es Andern anzupreisen.
Die Welt verdankt Dir's nie, unsterblicher Sokrat!
Dein Fuß betrat zuerst den ungebahnten Pfad.
Der alte Philosoph, vertieft in Zahl und Sternen,
Erhielt von Dir die Kunst, sich selbst beschaun zu lernen.
Es sah der Mensch das Licht, das längst in ihm gebrannt,
Und das, vom Wahn umwölkt, nur Trägheit nicht erkannt.
Da fühlte sich Athen und lernte Platon's Lehren,
Des Weisen von Stagir',Aristoteles. – D. des Epiktet's verehren;
Da tratest Du auch auf, erhabner Epikur,
Der Tugend ächter Freund und Kenner der Natur.

»Verehrungswürd'ges Rom! groß durch erfochtne Kronen,
Noch größer durch den Geist gepriesner Ciceronen.
O Rom, Europa selbst, von Deiner Herrschaft Joch
Vorlängst entlediget, ehrt Dein Gesetze noch!
Aus Quellen der Natur sind Deines Rechtes Lehren
Ursprünglich hergeführt; sie müssen ewig währen!
Die Nacht der Barbarei verfinsterte dies Licht,
Die Welt verwilderte und sah die Tugend nicht.
Ein schwarzes Wunderthier, der Ketzereifer, siegte,
Der Dummheit Tugend hieß und mit der Wahrheit kriegte,
Bis ihr verstärkter Glanz der Welt mehr Einsicht gab;
Da fielen der Vernunft die schweren Fesseln ab.«

Der Dichter nennt Baco, Grotius, Pufendorf u. A. mit verdientem Ruhm; er geht die Pflichten durch gegen Seele und Leib, gegen Gott und Andre. Ueber Irrthum und Unwissenheit, Klugheit und Thorheit, über die Verbindlichkeit zur Wissenschaft und zu allgemeinen Begriffen, über Erfahrung, Vernunft, Geschichte, Fabel, Selbsterkenntnis als Mittel zu Besserung des Verstandes und Willens enthält sein Gedicht schöne Stellen. Desgleichen über einzelne Pflichten, die Mäßigkeit, Sittsamkeit, Gnügsamkeit, Verbindlichkeit zur Arbeit, über Pflichten in Glück und Unglück, über die Dankbarkeit gegen Gott, das Vertrauen auf die Vorsehung, über gesellige Hilfe, Sanftmuth, Großmuth, Wahrheitliebe, Freigebigkeit u. s. w., wobei sowol die entgegenstehenden Laster als die Grenzen der Tugend bemerkt oder geschildert werden. Es sind Lehren in ihm, die der Jugend Gedächtnißsprüche werden sollten, indem sie die Grundfesten aller moralischen Wahrheit enthalten, z. B.

    »Es ward ein gleicher Trieb in Aller Herz gelegt
Und allen Sterblichen die Regel eingeprägt:
»Du sollst das Gute thun, Du sollst das Böse lassen!«
In diesen Götterspruch läßt das Gesetz sich fassen,
Das die Natur uns schrieb. Er hält ein Recht in sich:
Beginne, denke, flieh, begehre, schweige, sprich!

    »Nicht Erz, das Rost verzehrt, nicht Blätter, die veralten,
Kein Stein hat dies Gesetz der Menschen aufbehalten!
Der Allmacht Tochter grub mit ewig heller Schrift
Es in die Seelen ein, die nie Verwesung trifft.
Ein ewiges Gebot, darin ich wandeln müßte,
Wenn, welches ferne sei! ich auch von Gott nichts wüßte!«

Zu wünschen wäre es, daß der Verfasser sich durchaus auf diesem strengen Pfade gehalten hätte. Da er aber das sogenannte System der Vollkommenheiten als Grund der Moral annimmt, so wird sein Gebäude hie und da schwankend. Allerdings vervollkommt uns die Ausübung der Pflicht; nicht aber müssen wir sie thun, um über Gewinn an Vollkommenheiten zu markten. Das Gebot heißt: »Du sollst!« nicht: »Du wirst!« welches blos eine höfliche Bettelei wäre.

Sie halten vielleicht dies schöne Lehrgedicht für ein Manuscript; leider ist's seit seiner Bekanntmachung im Jahr 1758 für Viele ein Manuscript geblieben. Es heißt: Lichtwer's »Recht der Vernunft«, und scheint unsrer poetischen Welt so veraltet, wie Haller's, Hagedorn's, Kästner's, Uz', Witthof's, ja überhaupt die Lehrgedichte. Unser Publicum ist jung; es liebt Tändeleien der Jugend.


34.

Die Blätter über die Humanität Homer's, die Sie zu sehen wünschen, nehme ich aus einer unvollendeten größern Schrift, die ihr Verfasser Ionien genannt hat, deren weitern Inhalt ich aber hier nicht zu verrathen habe.

Ueber die Humanität Homer's in seiner Iliade.

Wir kommen allmählig wieder in die Zeiten zurück, da man von Homer's Rohheit nicht gnug reden konnte. In Frankreich warf man ihm vormals nur Mangel an Geschmack vor; in Deutschland scheint es ein Lieblingsgesichtspunkt zu werden, in den Sitten seiner Helden, mithin wol gar in Homer selbst Mangel an Bildung, an moralischem Geschmack zu finden und dies unsterbliche Gedicht endlich nur als die »historische Tradition wilder Zeiten« zu behandeln, die, wie man sich ausdrückt, Homer's glühende Einbildungskraft aufnahm und feststellte. So viel Wahres dieser Gesichtspunkt in manchem Betracht zeigen mag, so zeigt er gewiß nicht alles Wahre, und sein weniges gewiß nicht auf die nützlichste Weise. Dazu gehört keine Kunst, hie und da Uebereinstimmung der Zeiten, die er besang, mit Völkern, die auf einer, wie uns dünkt, niedrigern Stufe der Cultur leben, zu finden, diese gefundene Aehnlichkeit zu übertreiben und dabei das Auge vor allem sittlichen Gefühl, insonderheit aber vor der Kunst und Weisheit zuzuschließen, die Homer unstreitig auf die Composition seines Gedichts gewandt hat.

Bei jeder Kunstcomposition fragt man: »Wozu hat sie der Künstler componirt? was war dabei seine Idee? und wie setzte er die Theile seines Werks zusammen?« Sind Homer's Rhapsodien die rohe Stimme eines griechischen Barden, der einem rohen Volk Märchen aus roheren Zeiten vorsingt, um diese mit ihren Unförmlichkeiten ja nicht untergehen zu lassen, warum wandte man Jahrtausende hindurch auf ihn so viele Mühe? Waren die Griechen, die Römer und unter andern Nationen die feinsten Denker, waren unter den Griechen Gesetzgeber, Künstler, Weise, Dichter nicht abergläubig und blödsinnig, daß sie aus einer Tradition vergangener Unmenschlichkeiten so viel Wesens machten und einen unreinen Schlamm in so viel Bäche ableiteten? Das hieße ja die Unmenschheit oder Halbmenschheit um so gefährlicher festhalten, weil sie mit Homer's Farben geschmückt war.

Fragt man bei jeder Geschichte, bei jedem Drama: »Wer spricht dies? wann, wozu spricht er's? in welchem Charakter handelt er? wozu stellte ihn der Geschichtschreiber oder Dichter auf?« wie? und bei der größten Composition der Welt wollte man nicht also fragen?

Was besingt Homer? Nicht den Trojanischen Krieg, nicht eine Geschichte alter Zeiten als solche, auch nicht Achilles' Geschichte, sondern

                                            »Den Zorn, des Peleiden Achilles
Schädlichen Zorn, der tausend Jammer den Griechen gebracht hat
Und viel tapfere Seelen der Helden zum Orcus hinabstieß,
Ihre Leiber den Hunden und allem Gevögel zum Raube
Gab.«Ilias. I. 1–5. – D.

Wahrlich, das heißt doch den Unmuth Achills, er möge gerecht oder ungerecht sein, nicht unbedingt preisen. Sogleich bezeichnet ihn der Dichter als eine verderbliche Plage der Götter, die um so bedauernswürdiger war, weil sie blos aus einem unseligen Zwist entstand, den sein Held mit dem Könige Agamemnon hatte.

Und wer ist Schuld an diesem Zwiste? Homer eröffnet sein Gedicht mit einer Erzählung, die keinen Leser oder Zuhörer im Zweifel lassen kann. Ein Vater, ein Priester Apoll's, ein schonenswürdiger, unantastbarer Greis kommt unter dem Schutz seines Gottes, um seine geraubte Tochter zu bitten. Er spricht weder Mitleid noch Erbarmen an; er will sie nur, und zwar überreichlich, loskaufen. Seine kurze Bitte ist so geziemend, so artig; und welche harte, ungeziemende Antwort giebt der König der Griechen dem flehenden Alten!Daselbst, I. 26–32. –D.

»Alter! daß ich Dich nie bei den hohlen Schiffen erblicke!
Treff' ich ferner Dich an, es sei, Du weilest noch jetzo,
Oder Du kehrest ein ander Mal wieder, so möchte der Goldstab
Mit dem Kranze des Gotts Dich nicht mehr schützen. Die Tochter
Geb' ich nicht los, bis einst in unsrer Wohnung in Argos
Sie, von ihrem Geburtsland fern, bei Spindel und Webstuhl
Und mein Lager bedienend, veraltet. Du aber entfliehe!
Reize mich nicht zum Zorn, wenn noch Dein Leben Dir lieb ist!«

Nicht den Vater, den Fremden, den Bittenden, den Greis beleidigt diese Antwort allein; sie beleidigt den Gott in seinem Priester und ist wirklich die Rede eines übermüthigen Atriden.

Nun steigt der Gott vom Olymp; die Pfeile fliegen, die Menschen sterben, die Holzstöße flammen; Achill, den die Noth des Heers jammert, ruft die Versammlung zusammen, um die Ursache auszukunden, warum ein Gott auf sie Alle jetzt also ergrimmt, sei. Kann Achill edler auf den Schauplatz gebracht werden als also? Der Hirte der Völker war durch seinen Trotz ihr Verderben worden: sein königliches Herz machte sich keinen Vorwurf, ob er vielleicht an ihrem Untergange Schuld sei, noch suchte er Mittel dagegen; den großherzigen Achill allein kümmert die Sache des Ganzen.

Als Solcher erscheint er sofort in seinen Reden, unbefangen, wie es die Großherzigkeit ist, und gerade. Da der weiseste Seher sich nicht erkühnt, zu sprechen, weil er sich vor dem Unwillen des Mächtigsten, dessen Gemüthsart ihm bekannt ist, fürchtet, nimmt ihn Achill für das gemeine Beste in Schutz, worauf denn der Uebermuth des Königs zuerst auf den Seher, sogleich, nach einer sehr billigen Rede des Achilles, auf Diesen herfällt. Und da Achill nicht geschaffen war, sich vor der Versammlung oder sonst schmähen, beleidigen, das Seine sich rauben zu lassen, am Wenigsten aber vom stolzen Dünkel eines übermüthigen Atriden, so entbrennt der Zwist, so folgt die Erbitterung, bei der, ich wage es zu sagen, Achill auch im wildesten Feuer gerecht bleibt. Pallas erscheint ihm zu rechter Zeit, ihn bei der blonden Haarlocke zu ergreifen; und als der unbesonnene Fürst, auch nachdem er Zeit zu besserer Ueberlegung gehabt hatte, sein unbefugtes Machtwort vollführt und ihm sein Eigenthum, seine geliebte Briseïs raubt, beträgt sich Achill gegen die Herolde mit einer hohen Mäßigung. Ungern, wie Briseïs dahingeht, sehn wir sie hingehn und setzen uns mit dem Gekränkten weinend ans Ufer. Da hören wir ihn der Mutter klagen und theilen mit ihr den Jammer um einen so herrlichen Sohn, den bei einem kurzen Leben ohne seine Schuld diese öffentliche Beleidigung, dieser Gram, dieser Unmuth treffen mußte. Mit Freuden sehen wir den Vater der Götter den großen Wink thun und den Gekränkten in Schutz nehmen.

Wenn nun, ganze Gesänge der Iliade hindurch, unschuldige, tapfre, edle Männer, wenn liebe Söhne, junge Gatten, blühende Jünglinge fallen, wer ist an ihrem Tode, wer an der Trauer, den Thränen, dem Verlust ihrer Eltern und Gatten und Bräute Schuld? Achilles nicht; er streitet blos nicht mit und kann und darf als ein öffentlich und ungerecht Gekränkter nicht mitstreiten. Unmuthig sitzt er in seinem Zelt, und seine Myrmidonen murren zuletzt um ihn her, daß er sie nicht zum Streit führe. Der übermüthige König allein ist's, der dadurch die Völker stürzt, daß er nicht nur jenen Helden beleidigte, sondern sogleich auch, im Wahn seines Ruhms, zu zeigen, daß er Achill's nicht bedürfe, seine geliebten Völker zur Schlachtbank hinführt.

Unglaublich ist's, wenn man es nicht sähe, mit welcher moralischen Zartheit Homer dies Alles einleitet und beschreibt. Ebendieselbe Mutter des Beleidigten, die den höchsten Gott anfleht, hatte dem Dichter Raum gemacht, einen falschen Traum vom Himmel kommen zu lassen, der dem Könige einbilde, er könne jetzt, dem Achill zum Trotz, Troja im Hui erobern.

Dagegen erhebt sich nun freilich der alte Nestor,

                                                        »Und sagte mit Weisheit:
»Hätte den Traum von allen Achäern ein Andrer erzählet,
Würden wir sagen: »Du lügst!« und ihn unwillig verschmähen;
Aber ihn sah der König.«Ilias, II. 80–82. – D

Und sogleich steht der König von seinem Sitz auf. stützt sich auf seinen über Alles gepriesenen Scepter, hat sogar eine herrliche List erdacht, die Anhänglichkeit der Griechen an ihn, an seinen Bruder Menelaus und dessen Weib Helena zu prüfen, überzeugt, daß sie sich ihm nicht anders als zum Opfer geben würden. Die königliche Persuasion mißräth; der kluge Ulysses, mit dem noch unveralteten Scepter Agamemnon's in der Faust, kann sie kaum wieder zu ihren verlassenen Sitzen bringen, wo denn Thersites aufsteht und er allein, auf die unschicklichste Art, der Sache Achill's erwähnt.

So Mancherlei über diesen häßlich-lächerlichen Thersit geschrieben worden, so steht Jedermann das vor Augen, daß den Edelsten der Schlechteste, den Herrlichsten der Häßlichste allein und aufs Niedrigste vertheidigt. Jeder gönnt Diesem die Schläge des Ulysses; es ist aber große Weisheit des Homer's, daß er sie dem Thersites zukommen läßt, indeß alle Fürsten des Heers, deren keiner Agamemnon's Betragen gegen Achill loben konnte, dazu schwiegen. Allen bekommt dies Schweigen, die ganze Iliade hindurch, sehr unwohl, ihren Völkern aber noch übler.

Es wird in einem andern Capitel davon die Rede sein, wie Homer, der überhaupt keinen Groll gegen ein menschliches Geschöpf, geschweige gegen den König seiner Griechen hegt, den Agamemnon allenthalben nicht nur geschont, sondern, wo er irgend konnte, königlich und festlich ausgeschmückt habe. Zum Treffen läßt er ihn ziehen.

»Ganz an Augen und Haupt dem donnerbewaffneten Zeus gleich,
Um den Gürtel dem Mars, an Brust und Schultern dem Meergott;
Wie der führende Stier sich in der versammelten Heerde
Ausnimmt, unter den Rindern der Erst' und Größte von Ansehn.«Ilias, II. 478–481. – D.

Er läßt ihn den tapfersten Kriegern, einem Diomedes sogar, Verweise geben; doch das Alles thut nichts zur Sache. Nach vielen erlittenen Niederlagen muß der alte Nestor mit dem Bekenntniß doch heraus:Daselbst. IX. 105–111. – D.

              »Ich denke noch heute, so wie ich schon vormals
Dachte, zur Zeit, o König, als Du die junge Briseïs
Aus des erzürnten Achilles Gezelten gewaltsam entführtest,
Nicht nach unserm Ermessen: ich rieth es mit vielen und starken
Gründen Dir ab; doch Du, vom hohen Muthe bemeistert,
Kränktest die Ehre des Helden, der selbst von Göttern geehrt war.
Und noch hast Du bei Dir den Siegslohn, den Du ihm raubtest.«

Er schlägt zur Aussöhnung Geschenke und schmeichelnde Worte vor; Achilles schlägt sie aus, und muß sie ausschlagen; ja, wäre Agamemnon selbst in sein Zelt gekommen, er hätte einen bösen Weg daraus gefunden. Nun hatte Dieser Raum, seine Wunder der Tapferkeit und Oberherrschaft zu erweisen, die aber alle da hinausgingen, daß nach Niederlagen von allen Seiten die Mauer der Griechen erstürmt ward und Hektor, ans Schiff des Protesilaus greifend, ausrief: »Bringt Feuer!« Hier war das Ziel. Nicht Agamemnon's Geschenke, noch eines schlauen Ulysses Reden: Achilles' eigner Entschluß, mit welchem sich seines Freundes Patroklus Thränen verbanden, hemmte die äußerste Gefahr des Heeres. Jetzt gab Achill dem Patroklus seine Waffen, mit dem gemessenen Befehl, wie weit er gehen sollte. Als Patroklus diesen überschritten hatte und den Feinden erlag, als Hektor, in die Waffen Achill's zu seinem eignen Verderben gekleidet, dastand und die Nachricht vom Tode des Freundes, endlich auch seine kaum noch erbeutete Leiche ins Lager kam: da war aller Groll dahin; im Himmel und auf der Erde war Friede. In neue Waffen gekleidet, erscheint er in der Versammlung; und wie klein ist gegen ihn Agamemnon, ob er sich gleich noch jetzt zur Entschuldigung seines Fehlers in einem Märchen von der Ate dem Jupiter gleichstellt. Wie groß dagegen ist Achilles und wie zart! zart in den Klagen um seinen Freund, in den Klagen an seine Mutter, groß in der Versöhnung mit seinem Feinde, in der Anordnung des Begräbnisses seines Freundes:

»Laßt Patroklus' Gebein, des Menötiaden, uns sammeln
Mit sorgfältiger Wahl; es ist nicht schwer zu erkennen.
Dieses legen wir bei in goldner Urne, bis ich auch
Sinke zum Hause des Pluto.
Dann erhöhn wir den Hügel zum Grabmal; aber ich wünsch' ihn
Nicht von stolzer Größe, nur mäßig. Breiter und höher
Möget Ihr, Freund', ihn künftig erbaun, so Viele von Euch mich
Ueberleben!«Ilias, XXIII. 239–248. – D.

Groß endlich in den Kampfspielen, in der Ueberwindung sein selbst, da er den Leichnam Hektor's zurückgiebt, in der Behandlung Priamus' dabei, groß von Anfange des Gedichts bis zu Ende. Scherzend spricht er zu Priamus:

»Greis, wie schläfst Du so unbekümmert, kein Uebel befürchtend!
Wenn Dich allhier Agamemnon entdeckt und die andern Achäer!«Die Stelle lautet in der Ilias (XXIV. 650–655) wesentlich anders. – D.

Dies ist das letzte Mal, da Agamemnon's in der Ilias gedacht wird; wie tief steht er unter Achill, in dessen Zelte sein Feind ruhig schläft!

Ich weiß wohl, daß man die gedrohte Mißhandlung am Leichnam Hektor's dem Achilles hoch aufnimmt; aber preist sie Homer? und verhindern sie die Götter nicht selbst, denen Achilles sogleich wie ein Kind gehorcht? Und was hatte Hektor mit Patroklus' Leiche im Sinn, über die ein so hitziger Kampf war?

Man ist gewohnt, Achill und Hektor zum Nachtheil des Ersten zu vergleichen; nach welchem Maaßstabe? Nicht nur waren es verschiedene Charaktere, und zu Achill's Charakter gehörte, was er war, untrennbar, sondern Hektor war auch ein Trojaner. Daß in Troja, dem alten asiatischen Königssitze, ein größerer Reichthum, eine weichere Lebensart herrschte, als in den meisten griechischen Staaten sein konnte, zeigt sich in mehreren Stellen der Iliade; der Charakter des ersten Trojaners mußte diesem Zustande gemäß sein. Der Spiegel Homer's, in welchem sich alle Dinge der Welt gleich klar und rein darstellen, zeigt alle Gestalten gleich menschlich und milde. Bei völligen Gegensätzen scheint eine Vergleichung kaum möglich; und doch wirft Homer auf alle, wo irgend er kann, den milden Strahl der Menschheit.

Sein Gedicht endet, ehe Troja erobert wird, ehe wir also die Gräuelthaten der Griechen in dieser eroberten Stadt gewahr werden. Selbst sein Held hatte das gute Schicksal, die schreckliche Folge seiner Tapferkeit nicht zu erleben; er fiel, wie wir aus Andern wissen, im Thore von Troja. Und bei Homer, sobald Achill mit seinen neuen Waffen dahergeht, geht er zum Tode. Dies weissagt ihm seine Mutter, seine weinenden Rosse, der sterbende Hektor, und er selbst weiß es. Sein Leben ist an Patroklus' Leben geknüpft; ein Hügel soll sie decken und eine goldne Urne Beider Asche am Troischen Strande vereinen.

Was überhaupt der Glaube an ein Schicksal, was die Thaten der Götter, ihre Hilfe und Feindschaft gegen Völker und Menschen in die Composition Homer's an Ruhe, Milde und hoher Ergebenheit bringen, ist unsäglich. Man nehme diese göttliche Farce, wie Manche sie genannt haben (μῶρον), aus seiner Iliade, und das Ganze wird widrig oder platt, wie fast alle politische Geschichte. Und doch ist alles Zuwirken der Götter bei ihm so menschlich, so natürlich! Nirgend ein zerstörendes Wunder; allenthalben nur der Gang des Menschengemüths, der Menschenkräfte, sofern er ans Zufällige, ans Unvorgesehene, ans Unendliche reicht. Was zumal die Götter über die Sterblichen und über Achill's Rosse sprechen, die einem Sterblichen dienen, ist seelezerschneidend.

Menschlicher Homer, wie liebe ich Dich in allen Deinen Formen und Gestalten! Auch Paris, auch die Sünderin Helena hast Du nicht verschmäht und Beide in das schönste Licht gestellt, in welchem sie stehen konnten. Nicht vergessen sind ihre Brüder Kastor und Pollux; ihr Menelaus sammt Ulyß sind mit allen Würden geschmückt, deren sie auf der Ebne vor Troja fähig waren. So Ajax, Diomed, Idomeneus, Nestor; Jeder erscheint an seinem Orte, zu seiner Zeit in der Rennbahn des Ruhmes; kurz oder lange leuchtet sein Schein, aber er geht nach Verdienst auf und nieder.

Drei Lehren drückst Du schweigend vor allen uns ins Herz:

1. »Discite justitiam, miseri, et non temnere divos!«Virgil's Aeneïs. VI. 620, wo moniti statt »miseri« steht. – D. welches ich hier so übersetzen möchte:

»Lernt, Ihr Fürsten, gerecht sein und treffliche Männer verehren!«

Dies lehrt uns mit seinem Uebermuth der prächtige Agamemnon in der ganzen Iliade. Er grenzt an alle Ausschweifungen, die Aristoteles' Ethik kannte, an die Habbegierde (Akolasie), den Neid, die Schamlosigkeit und Beifallgebung, die Prahlsucht; doch grenzt er nur daran; denn der weise Homer hat ihn vor jedem Zuge des Verächtlichen bewahrt. Er ist und bleibt bei ihm ein unsträflicher König. Achilles dagegen besitzt den Kern dessen, was die Griechen Tugend nannten, Großherzigkeit (μεγαλοψυχία) und edlen Stolz, hohes Selbstgefühl und die äußerste Wahrheitliebe. Er ist freigebig und auf eine anständige Art prächtig, höflich in seinem Zelt und bis zur Scham bescheiden, dabei gebildeter als alle Griechen; denn er war Chiron's Zögling und ergetzte mitten im Unmuth sein schwerbeladnes Herz durch Töne. Der wärmste Freund seines Freundes, an Stärke, Tapferkeit, Schönheit und Ruhmliebe über alle Griechen erhaben. Und an diesem gottgeliebten Sohn einer Göttin und eines Helden zeigt uns Homer μῆνιν.

2. Die erschreckliche Plage des harten, obwol gerechten Unmuths. Achill konnte ihm nicht entweichen; denn der Vorfall, der ihn dazu reizte, drang auf ihn, ohne daß er ihn suchte. Er kann die ganze Iliade hindurch als Achill nicht anders handeln, als er handelt. Das Unangenehme aber dieses Unmuths für ihn und für Andre entwickelt der Sänger durch Worte aus des guten Phönix, ja aus Achills eignem Munde und durch Erfolge in lauter lebendigen Situationen. Sogar das herbeieilende letzte Schicksal des Edelzürnenden sehen wir in diese Reihe der Dinge verflochten, in diesen ihm unvermeidlichen Unfall. Konnte ein zarterer Punkt des menschlichen Herzens und Lebens zarter behandelt werden, als es der Dichter gethan hat? Gemeine Seelen wissen nichts vom edeln, göttlichen Unmuth; wie manchem größeren Gemüth aber ist er die Klippe des Glücks, seiner Brauchbarkeit fürs gemeine Wesen, des häuslichen und täglichen Wohlseins, ja endlich des Lebens selbst worden! Mehr als ein Gekränkter hat die Klagen angestimmt, die Achill am Ufer des Meers seiner Mutter zuseufzte; er konnte aber keinen andern Trost hören, als Jenem die Göttin selbst zu geben vermochte.

3. Endlich, welch eine böse Sache ist der Krieg! Und wie mißlich ist jede Regierungsart unter den Menschen, so unumgänglich sie ist im Kriege und Frieden! Beides hat uns Homer so vorzüglich und hell dargelegt, daß wir auch hier den Meister sehen, der in die rohesten Dinge Weisheit und Menschlichkeit brachte.


35.

»Sohn! Dir werden die siegende Stärke nach ihrem Gefallen
Pallas und Juno verleihn; Du aber bezähme des Herzens
Stolz aufwallenden Muth! denn gütige Triebe sind edler.«

Diese Lehre läßt Homer den alten Peleus seinem Achilles auf den Zug vor Troja mitgeben,Ilias, IX. 254–256. – D. und die ganze Iliade ist eigentlich ein Lob der Philophrosyne,An der angeführten Stelle heißt es: »φιλοφροσύνη γὰρ ἀμείνων«. – D. d. i. gefälliger, menschenfreundlicher Gesinnung; Unmuth ist dem Homer eine Plage des Lebens, selbst wenn es ein gerechter, göttlicher Unmuth μῆνις wäre. Er frißt am Herzen und nagt ab die Blüthe des Lebens; bei den menschlichsten Gesinnungen wird der Gekränkte wider seinen Willen ein Unmensch. Die älteste griechische Philosophie ging dahinaus, das Gemüth der Menschen vor jedem Aeußersten zu bewahren; die älteste Philosophie der Griechen aber war bei den Dichtern. Mit Rechtschaffenheit, Ruhm und Gesundheit ein heiteres, frohes Leben führen zu können, stellten sie als den höchsten Wunsch der Sterblichen dar und warnten vor jedem Uebermaaße, vor jeder zu hart angesessenen Neigung. Wie klar muß es in der Seele Homers gewesen sein, da er, sein ganzes Gedicht hindurch, gleichsam die Wage Jupiter's in der Hand haltend, die Neigungen und Charaktere der Menschen gegen einander im Streit und in Folgen abwog! Der Schild Achilles' zeigt bei ihm, wie er sich die Welt dachte; unbefangen sah er ihre mancherlei, einander oft nahe entgegengesetzten Scenen, fröhliche und traurige, ruhige und stürmische Scenen, und schildert sie, wie dort Vulcan sie hämmerte, glänzend und unvergänglich. Wem Homers Muse den Nebel vom Auge nimmt, gewinnt über die Dinge der Welt gewiß eine große, weise und am Ende fröhliche Aussicht.

Wie Achill mit seiner Leyer den Unmuth sich zu zerstreuen suchte, so war es das Amt der lyrischen Dichter, der Menschen Herz zur Mäßigung in Glück und Unglück zu stimmen und es zur Freude, Freundschaft und Heiterkeit zu ermuntern. Leider sind die meisten derselben untergegangen; die übrig gebliebenen Reste aber zeigen diese Bestimmung. Pindar selbst, ob er gleich laute Siege besingt, hat so manchen Spruch in seinen Gesängen, der zur Mäßigung im Glück, zum behutsamen Gebrauch des Lebens einladet, so manchen, der dem Unmuthe zuvorzukommen sucht oder nach Erfahrungen desselben die Seele des Kämpfers edel erquickt.

Das feine Echo der Griechen, wie einer unserer Freunde ihn nannte,Brief 11 (S. 60). – D. Horaz, thut ein Gleiches. Es wäre zu wünschen, daß er in seiner wohlgefälligen, einschmeichelnden Art auch uns eigen werden könnte; vielleicht ist dies aber unmöglich; denn die meisten seiner Oden sind zu künstlich eingelegte musivische Arbeit.

Mehrere derselben, wissen Sie, sind nach dem Lateinischen in Musik gesetzt; ich wollte, daß auch aus den für uns nicht ganz brauchbaren Oden alle rein menschliche Strophen, alle beruhigende, tröstende, aufheiternde Sprüche und Empfindungen latein componirt würden. Stellen aus Virgil desgleichen. Ich erinnere mich aus Luther, daß ihm einige Worte der sterbenden Dido in der Musik einen unvergeßbaren Eindruck gemacht hatten; wem würden nicht jene ewigen Sprüche der Alten, mit welchen sie im einfachsten, kräftigsten Ausdruck das Menschengemüth stärken, einen nach- und widertönenden Eindruck geben? Durch Musik ist unser Geschlecht humanisirt worden; durch Musik wird es noch humanisirt. Was dem Unmuthigen, dem Lichtlos-Verstockten die Rede nicht sagen darf, sagen ihm vielleicht Worte auf Schwingen lieblicher Töne.

Wenn dies von Gesängen der Alten gilt, sollte es nicht viel mehr von Sprachen gelten, deren Genius uns vertraulicher und näher Laute des Trostes und der Weisheit zulispelt? Kein Zweifel. In den Dichtern der Italiener, Spanier, Gallier schlummern Töne, die, wenn sie durch Musik und Anwendung zur Weisheit des Lebens würden, Völker und Stände menschlich machen müßten.

Auch in unsern lyrischen Dichtern sind Strophen, die der Sokratischen Schule würdig sind; warum leben sie so wenig im Ohr der Nation? warum schlafen sie mit ihren Erfindern vergessen im Staube? Die Ursache ist leicht zu finden: weil nur ein so kleiner Theil unsrer Nation cultivirt ist und bei einem andern die scheinbare Cultur zu einem falschen Schmuck fremder Ueppigkeit geworden ist. Wir wollen es uns nicht bergen; man spricht viel von Cultur und Aufklärung; man affectirt und fürchtet sie sogar, vielleicht weil man an sich selbst weiß, daß sie nicht tief geht, daß sie selten von rechter Art ist. Denn wirklich gebildete Gemüther, in dem Verstande, wie Griechen und Römer dies Wort uns zugebracht haben, können am Nutzen der ächten Bildung nicht zweifeln.

Doch wo gerathe ich hin? Lassen Sie uns schnell zu unsrer Materie, zu dem unverfänglichen Wunsch nach Compositionen schöner Stellen aus lateinischen Dichtern zurückkehren! Oft, gar oft, wenn ich geistliche Musiken über lateinische Mönchsworte hörte, regte sich das Verlangen in mir, auch altrömische Stellen mit solcher Musik begleitet zu hören; und als in Reichardt's »Todtenfeier auf Friederich« nach Lucchesini's Worten altrömische Tugenden eine nach der andern auf des Unsterblichen Grab auch in Tönen sich zudrängten, ward der Wunsch aufs Neue in mir lebendig. Strophen aus Horaz (z. B. Buch I. Ode 7. V. 21–32; B. II. Ode 10. V. 13–24) oder ganze Stücke mit zweckmäßiger Abwechselung (wie vielleicht B. I. Ode 9, 24, 26; B. II. Ode 3, 11, 14, 16, 19, 20; B. III. Ode 2, 9, 21; B. IV. Ode 7; Epode 7) würden der Musik nothwendig den eigentümlichen Schwung geben, der ihr bei unsern verbrauchten Silbenmaaßen zu finden oft schwer wird. Der Hörer würde dadurch gewissermaßen in die römische Welt oder wenigstens in Zeiten seiner Jugend versetzt, in welchen er Horaz zuerst lieben lernte.

Wie glücklich war überhaupt dieser Dichter! Nicht nur im Leben, sondern auch in der Reihe von Wirkungen, die ihm nach seinem Tode das Schicksal anwies. Die lyrischen Dichter der Griechen sind untergegangen; er fast allein hat uns mehrere Formen ihrer Gedanken, ihrer Empfindungen, ihres Ausdrucks, ihrer Silbenmaaße in seinen Nachbildungen gerettet; und was damit für ein Schatz gerettet sei, hat die Zeitfolge erwiesen. Die Pindarische Form, die Form der griechischen SkolienTischlieder. – D. und Chöre war und blieb den Sprachen Europa's unanwendbar; in der Horazischen Form erhob sich die Ode, selbst zu einer Zeit, da die Nationalsprachen der europäischen Völker ungebildet dalagen. In allen Ländern schlossen sich die Geister des Gesanges dem Venusinischen Schwan an und drückten zuerst in der geliehenen lateinischen Sprache Gesinnungen aus, die sie in ihrer Landessprache noch nicht auszudrücken vermochten. Wie niedrig ist's, was Balde u. A. deutsch sangen! wie edler, wo sie das von Horaz geheiligte Werkzeug der Sprache anwenden konnten!Vgl. Herder's Werke, III. 221 f. – D. Ohne ihn hätten wir keinen Sarbievius, dessen Oden, von Götz u. A. wiederum in unsre Sprache übertragen, immer noch den römisch-griechischen Geist athmen.Ebendaselbst, S. 338 ff. – D. Gehen Sie in diesem Gesichtspunkt die Sammlungen durch, die GruterDer »Deliciae poëtarum Germanorum, Belgarum, Gallorum, Italorum« in zehn Bänden unter dem Namen Rhanutius Gerus herausgab – D. u. A. von den lateinischen Dichtern der Italiener, Gallier, Belgen, Deutschen, Dänen, Schotten, Engländer u. s. w. gegeben haben; unter vielem Wortgeklingel werden Sie unstreitig wahre »delicias« finden. Jeder edlere Dichter vergaß gleichsam den Lauf der Dinge um ihn her; über die Vorurtheile seines Landes, seiner Secte, seines Ordens hinausgesetzt, mußte er gleichsam mit dem römischen Dichter auch römisch denken. Was späterhin in unsrer Sprache eben auch durch die Horazische Form geweckt und in ihr vorgetragen sei, darf ich Ihnen aus Klopstock, Götz, Uz, Ramler u. A. nicht anführen. Horaz ist Sänger der Humanität gleichsam vorzugsweise, die Form seiner Gedanken ist das erwählte Lieblingsmaaß der lyrischen Muse worden. O daß wir also schon Stellen, wie solche: Vitae summa brevis – Nil desperandum – Tu ne quaesieris – Felices ter et amplius – Quodsi Threïcio – Linquenda tellus – Aequam memento – Rebus angustis – Eheu fugaces – Tecum vivere amem, tecum obeam libens – in lateinischer Sprache componirt hörten!

Hier eine von Sarbiev's unschätzbaren Oden, auch in der Form des Römers:In dessen Lyrica, IV. 28. – D.

                            An die Weisheit.

Die Du, höchste Vernunft, weise die Schickung lenkst,
Wie zuweilen der Ernst Deiner Verfügungen
    Uns ergetzet, ergetzen
        So die menschlichen Spiele Dich?

Mit freigebiger Hand streuest Du Güter aus.
Und wir raffen sie auf, wenn sie gefallen sind.
    Wie die Jugend die Nüsse
        Mit kurzweiligem Zanke rafft.

Wer jetzt Kronen erhascht, bricht sie; wer Scepter kriegt,
Sieht sie wieder entführt, eh er sie tragen kann.
    Welt! so schwankst Du, zerrissen
        Von den Händen der Mächtigen.

Was das geizige Glück unter die Völker theilt,
Ist ein Pünktchen. O laß, Weisheit, ich flehe Dir,
    Mich, indeß sie so zanken,
        Mit Dir lachen und fröhlich sein!


36.

Ein zweites Fragment aus der Handschrift Ionien handelt von der Humanität Homer's in Ansehung des Krieges und der Kriegführenden seiner Iliade. Lassen Sie es jetzt statt meines Briefes gelten!


Selbst in dem Heldengedicht, das größtenteils Thaten der Krieger besingt, dachte Homer über Krieg und Frieden menschlich. Nicht nur, daß er jenen so oft den thränenreichen, männerfressenden, verderblichen, harten, bösenΔακρυόεις, πολύδακρυς, πολυδάκρυτος, φϑισήνωρ, ὀλοός, ϑρασύς, νακός – D. Krieg nennt, er läßt keine Gelegenheit vorbei, ihn seiner Natur nach, mit allen begleitenden Uebeln, durch Thatsachen zu schildern.

1. Die Iliade beginnt mit einem Greise, der um seine geraubte liebe Tochter vergebens fleht; und bald wird es nicht verschwiegen, daß die Griechen alle benachbarten Küsten und Inseln geplündert, daß sie die neun Jahre her großentheils vom Raube gelebt haben. Schon fault das Holz an ihren Schiffen, die Seile vermodern:

»Ihre Weiber daheim und unerzogene Kinder
Schmachten, sie wiederzusehn.«Ilias, II. 136 f. – D.

Daher denn, als Agamemnon ihnen den Vorschlag that, nach neun Jahren vergeblicher Arbeit wieder die Schiffe zu besteigen und

»zu fliehn zum werthen Geburtsland,«Ilias, II, 140 – D

so hatte er kaum das Wort gesprochen, als die Versammlung es in freudigem Ernst befolgte:

         »Der Staub stieg unter den Füßen der Männer
Wallend empor, und Einer ermahnte den Andern zur Eile,
Daß sie die Schiff' erreichten und bald ins Wasser sie zögen.«Daselbst, II, 150-152. – D

Nur durch vieles Zureden und durch den gebietenden Stab des Königs konnte die kriegssatte Schaar wieder in die Versammlung, durch neue dringende Vorstellungen von Schande, Ruhm und Hoffnung wieder ins Feld gebracht werden.

2. Denn es hatte sich zur Last des Krieges auch die Plage der Pest gefunden; eben sie unterläßt Homer nicht im Anfange der Iliade schreckhaft zu zeichnen:

                                                »Die Völker aus Argos
Fielen bei Haufen dahin; die scharfen Pfeile des Gottes
Flogen tödtend umher im ganzen achäischen Kriegsheer,
Daß man täglich die Leichen, gethürmt in Haufen, verbrannte.«Daselbst, I. 382-384, 52. Herder hat die Verse willkürlich verbunden – D

Denn wem ist unbekannt, daß ansteckende Krankheiten das gewöhnliche Gefolge aller Kriegsheere sind und elender metzeln als das Schwert des Feindes?

3. Als die Göttin endlich im Busen der Griechen die Streitlust wieder erweckt,

»Daß sie nach unablässigem Kampf und Schlachten sich sehnen,«

und ihnen der Krieg wiederum viel süßer dünkt,

                                                                  »als vormals
Ihnen die Rückfahrt schien zum werthen Lande der Heimath,«Daselbst, II. 451-454. – D

will der Dichter dem blutigen Gefechte noch durch eine billige Auskunft zuvorkommen. Menelaus und Paris, deren Sache es eigentlich allein ist, um deren willen Menschen hingeopfert werden, sollen durch einen Zweikampf den Zwist entscheiden.

            »Ihn hörten mit Freude die Griechen und Trojer,
Hoffend, das Ende zu sehn des Elend bringenden Krieges.«Daselbst, III. 111 f. – D

4. Da dies Mittel aber nicht gelang und die Heere gegen einander ziehen müssen, von wem läßt sie der Dichter empören? Die Trojer von Mars, den sein Vater Jupiter selbst späterhin also anredet:Ilias, V. 890–893. – D.

»Wisse, Dich hass ich am Meisten von allen Bewohnern des Himmels;
Denn Du findest nur Lust an Zank und Kriegen und Schlachten.
Aehnlich bist Du der Mutter am unerträglichen Starrsinn,
Der nie weichet und kaum von mir durch Worte gezähmt wird.«

Die Griechen regt Pallas auf, und mit beiden Aufregern sind

»Das Schrecken, die Furcht, die rastlos wüthende Zwietracht,
Schwester des menschenverderbenden Mars und seine Gehilfin,
Die erst klein sich immer erhebt, bis endlich ihr Haupt sich
Hoch in Wolken verbirgt, indem sie die Erde bewandelt;
Diese durcheilte die Heer' und säte zu beider Verderben
Streitgier unter sie aus und mehrte der Krieger Getümmel.«Daselbst,IV. 440–445. – D.

Sind diese Namen hier allegorische Kunstwerke? Gespenster sind's, die Homer eben deswegen schreckhaft einführt, weil durch Personen, die in bestimmten Umrissen erscheinen, die Wirkung nicht hervorzubringen war, die er hervorbringen wollte. So scheint er zu andrer Zeit den Zorn, die Schadenfreude, das schrecklich ergreifende Todesverhängniß zu personificiren, zu gleichem Endzweck, unsere Begriffe nämlich zu verwirren durch diese unumschriebenen Wortlarven. Der Zorn ist ihm wie ein Rauch,Daselbst. XVIII. 110. Herder faßt die Vergleichung irrig auf. Der Zorn lodert rasch doch auf, wie der Rauch rasch in die Höhe steigt. – D. und die Zwietracht erhebt sich gleichergestalt zwischen Himmel und Erde. Von allen Künstlerideen weggesehen, wie wahr und wie gräßlich! Aus einem Nichts entspringt die Zwietracht und wird in Kurzem unermeßlich. Nie umschrieben in ihrem Wesen, kommt sie vielleicht aus einer Kammer hervor und durcheilt Staaten, durcheilt Heere, sät Verderben und Streitgier umher, immer das Haupt in hohen, unabsehlichen Wolken verborgen. Selten wissen die Menschen, weshalb sie streiten; je länger aber, desto hartnäckiger hadern sie; denn von Schritt zu Schritt wächst die unersättliche Eris.

5. »Jetzo trafen sie nah auf einem Raume zusammen,
Schild und Lanzen begegneten sich und Kräfte der starken
Eisengepanzerten Männer. Es stießen die bäuchigen Schilde
Wechselnd gegen einander, und ward ein schrecklich Getöse.
Laut ertönte zugleich das Jammern und Jauchzen der Krieger,
Schlagender und Erschlagner; es strömte von Blute die Erde.«Ilias, IV. 446–451. – D.

Da sich Homer's Iliade einem großen Theil nach mit diesem Gemetzel beschäftigt, so wird das Menschengemüth des Dichters hier vorzüglich fühlbar. Seine Todte läßt er nie als Thiere fallen; er bezeichnet, so viel er kann, in einigen Versen als Menschenfreund ihr trauriges Schicksal. Dieser wird nie mehr zu seinen geliebten Eltern, zu seinen Brüdern, seiner Gattin, seinen Kindern wiederkehren; Jener hat Reichthum, Wohlstand, eine glückliche Ruhe verlassen, die er nie mehr genießen wird. Einen Andern zeichnet er als Künstler, als einen geschickten, schönen, gottbegabten Mann; seine Kunst ist dahin, seine Schönheit verwelkt, der Götter Gaben werden mit der Asche begraben. Jenen hat falsche Hoffnung, eine trügliche Weissagung ins Feld gelockt; der Tod ergreift ihn, schwarze Nacht umhüllt sein Auge. Und ferner. Mehrere dieser Erinnerungen sind so zart, daß sie Inschriften zu den Grabmälern der Erschlagenen sein könnten, wenn arme Kriegserschlagene Grabmal und Urne erhielten.

6. Merkwürdig ist hiebei, daß Homer dieses zärtliche Andenken am Meisten den Trojanern schenkt. Er, ein Grieche, der den Ruhm griechischer Helden verewigen wollte, war zugleich ein Asiat, ein Ionier, ein Mensch, und ich möchte sagen ein Bedaurer des Trojanischen Schicksals. Weit entfernt von der barbarischen Kleinmuth, seine Feinde verunglimpfend zu belügen, zeichnet er ihr zarteres Gemüth, die größere Weichlichkeit ihres Klima, ihre Familienneigungen, ihre Künste, ihr Wohlbehagen zu Friedenszeiten in Zügen, an denen sich offenbar das Auge des Dichters selbst ergetzte. Die armen Trojaner sind ihm eine Heerde Schafe, die von Wölfen angefallen wird;Daselbst, XVI. 352 ff. – D. unter ihnen sind viele fremde Bundsgenossen, die am Schicksal der bedrängten Königsstadt nur aus nachbarlichem Mitleid Theil nehmen. Uns den inneren Wohlstand Troja's zu zeigen, unser Herz für die Bedrängten mitfühlend zu machen, führt er seinen edlen Hektor im Anfange des Treffens in die Stadt zurück. Er zeigt uns Priamus' und seiner Söhne Wohnungen, zeigt uns die Helena selbst in einer zwar erniedrigten, aber nicht unwürdigen Gestalt; so die Aeltesten der Stadt, so endlich Andromache und ihr Kind. Rührender ist wol kein Abschied geschildert worden, als den Hektor von ihnen Beiden nahm; und es ist eine Ueberkritik der Grammatiker, daß in der Andromache Rede einige Verse zu allgemein und zu viel sein sollen.Ilias, VI. 433–439 verwarfen die Alexandrinischen Grammatiker mit vollem Rechte. – D. Bei dem Dichter spricht sie im Namen aller Trojanischen Frauen, für sie und ihre verwaisten, gefangenen Kinder. Auch hat sich Homer wohl gehütet, uns die Unthaten selbst zu erzählen, die dieser traurige Abschied nur vorahnt, ob sich gleich der Grund seiner ganzen Odyssee, die unglückliche Rückfahrt der Griechen, großenteils auf sie bezog. Weder mit der Gräuelthat des Ajax vor dem Bilde der Pallas, noch mit des Priamus, der Polyxena und Andrer unwürdigem Morde hat seine Muse sich befleckt; die Künstler und tragischen Dichter nahmen ihre Vorstellung dieser Scenen aus andern sogenannten cyklischen Dichtern. Hektor's letzter Gang nach Troja ist bei Homer in jedem Schritte groß und heilig. Der Edle will die zornige Göttin versöhnen und seine geliebte Vaterstadt entsündigen; daher er auch den Missethäter Paris ins Feld fordert, bis am Skäischen Thore endlich, an diesem Unglücksorte, der traurige Abschied die Scene endet.Vielmehr trifft dort Paris noch mit Hektor zusammen (VI. 514–529). – D.

Homer war Keiner von Denen, die ihrem Lieblingshelden die ganze Welt aufopfern. Seinen Achilles kleidet er in gottähnliche Größe, Hektor dagegen in alle Würde und Zierde des Vertheidigers seiner Geburtsstadt. Beide Helden konnten in dem menschenverderblichen Kriege nicht auf einmal glänzen; indeß Jener also einige Tage ruht, läßt er Diesen sein Glück aufs Höchste treiben, bis er durch Anlegung der Waffen Achill's die Nemesis reizt und dem Tode ein Opfer dasteht. So übertrieb Patroklus seine Bestimmung und sank, nicht von Hektor, sondern zuerst von Apollo selbst rückwärts getroffen, daß Achill's Waffen von ihm fielen. So sollte, hinter Homers Iliade, Achilles, da sein Ziel erreicht war, auch sinken. Das Schicksal aller Dreien, der edelsten Männer, ist in einander verwebt, und der Tod Eines ein Verkündiger vom Tode des Andern. Im Leben und Tode ehrt Jupiter den Hektor. Da er vom Zorn der Juno ihn nicht erretten kann, opfert er seinen eignen geliebten Sohn Sarpedon mit ihm zugleich auf, und seinen Leichnam entzieht er der Rache Achill's auf die edelste Weise.

Und wie den Hektor, so hat Homer den alten Priamus und alle seine Kinder geehrt. DeiphobusSoll »Helenus« heißen. Vgl. Ilias, VI. 76; VII. 44 f. – D. ist vom Apoll begeistert, wie Keiner im griechischen Heere; selbst Paris' Vorzüge werden bei allem Tadel, der ihm gebührt, nicht verschwiegen.

7. Warum untersagt Priamus bei dem Begräbniß der Erschlagenen seinem Heer die weinende Trauerklage?Ilias, VII. 427. Der Vers fällt in eine große Einschiebung. – D. Offenbar lag dies Verbot in der Situation der Trojaner. Sie, eine Versammlung asiatischer, weicherer Völker, an die laut weinende Trauerklage mehr noch als die Griechen gewöhnt, sie, die in der Nähe ihrer Verwandten, Kinder und Weiber, vor Troja's Mauern ihre nächsten Freunde und Landsleute bestatten und in ihrem Tode ihr eignes Schicksal voraussahen, sie hatten ein solches Verbot nöthiger als die härteren Griechen, die der angreifende Theil waren und fern von den Ihrigen nur ihre Mitstreiter begruben. Um Patroklus' Leiche weinen die Griechen, insonderheit die Myrmidonen, am Heftigsten Achilles; auch Briseïs weint und die übrigen Weiber, letzters aber

»Um Patroklus zum Schein, im Grund' um eigenes Elend.«Daselbst, XIX. 302. – D.

8. Noch mehr zeigt die Menschlichkeit Homer's sich in der Weisheit, mit der er über das Schicksal des Krieges dachte. Alles Kriegsunglück läßt er durch Fehler entstehen, durch Fehler und Leidenschaften der Götter und Menschen. Das alte Troja wird vom Jupiter dem Eigensinn eines unversöhnlichen Weibes aufgeopfert, die eine Reihe ihrer Lieblingsstädte hingeben will, wenn Jupiter hier nur ihren Willen erfüllt. Die keuscheste, stolzeste Göttin erröthet nicht, ihre Umarmung zum Netz des Betruges zu machen, aus tiefem Groll lieblos Liebe zu heucheln, mit geborgtem Schmuck an offnem Tage aus der Gattin eine berückende Buhlerin zu werden, nur damit einige Trojaner mehr bluten, indeß ihr bestochener Kümmerling, der Schlaf, dem schicksalwägenden Gott die Augen zuschließt. Das Aeußerste der Rache eines Weibes! Gegen Troja stehen zwei Weiber, für Troja zwei Männer; wer zweifelt, wenn es auf Haß ankommt, welche Partei zum Ziel gelangen werde? Ging es in den hartnäckigsten Kriegen der Erde je anders?

In der menschlichen Scene hangen, wie vorher gezeigt worden, der Griechen Unfälle bei Homer lediglich vom Stolz und Wahn des Königes ab, dem keiner der rathgebenden Fürsten sich zu widersetzen getraute. Ein falscher Traum ist seine belehrende Gottheit; sonst erscheint ihm keine, deren mehrere doch Andern erscheinen, während der ganzen Iliade. Dieser falsche Traum heißt Dünkel, dem Agamemnon, schon seinem Namen nach ein Jupiter auf Erden, zum Verderben seines Volkes gehorcht. Den ältesten Rathgeber besticht er damit, daß der Traum in seiner Gestalt erschienen sei; andre Fürsten schweigen oder wetteifern thöricht mit Achilles' Ruhme. So kommt durch Einen, durch Wenige das ganze Heer an den Rand des Abgrundes. Zu spät wird gesprochen, zu spät geweint; und unter diesem Allen ist und bleibt Agamemnon der sorgsamste Hirte der Völker. O Homer, so oft ich von Neuem Deine Iliade lese, finde ich in ihr neue Züge der ordnenden Weisheit, Klugheit und Menschenliebe, mit der Du wilde Verhältnisse eines rohen Zeitalters erzählst. Und keine Lehre, keine Warnung entfließt Deinen Lippen, als ob sie die Deinige wäre; jedes Laster, jede Thorheit, jede Leidenschaft selbst lehrt und warnt.


Diderot über die Einfalt in Homer.Aus der Abhandlung: »De la poésie dramatique«, hinter der Komödie: »Le père de famille«, S. 276 ff. der Ausgabe Amsterdam 1572. – D.

»Die Natur hat mir Geschmack an der Einfalt gegeben, und ich bemühe mich, diesen Geschmack durch das Lesen der Alten vollkommner zu machen. – O mein Freund, wie schön ist die Einfalt! Wie übel haben wir gethan, uns davon zu entfernen!

»Wollen Sie hören, was der Schmerz einem Vater eingiebt, der jetzt seinen Sohn verloren hat? Hören Sie den Priamus! – Wollen Sie wissen, wie sich ein Vater ausdrückt, der dem Mörder seines Sohns fußfällig fleht? Hören Sie eben den Priamus zu den Füßen des Achilles! –

»Was ist in diesen Reden? Kein Witz, aber so viel Wahrheit, daß man fast glauben sollte, man würde ebensowol als Homer darauf gefallen sein. Wir aber, die wir die Schwierigkeit und das Verdienst, so einfältig zu sein, ein Wenig kennen, mögen diese Stellen nur lesen, mögen sie mit Bedacht lesen und hernach alle unsre Schreibereien nehmen und ins Feuer werfen. Das Genie läßt sich fühlen, aber nicht nachahmen.«


Was Diderot hier von Homer's Einfalt sagt, möchte ich von seiner Humanität sagen. Man lese seine Beschreibungen des Todes der Erschlagnen, man lese Hektor's Abschied von seinem Weibe und Kinde; man bemerke jeden Zug, mit dem der Dichter des Achill's erwähnt, insonderheit wenn er ihn selbst redend einführt, auch was er hie und da über das Glück und Unglück des menschlichen Lebens, über Reichthum, Ehre, Adel der Seele und des Geschlechts, über Gerechtigkeit, Tapferkeit, Geduld, Weisheit, Mäßigung, Sanftmuth, Gastfreundschaft, Verschwiegenheit, Treue, Wahrheit, über die Verehrung der Götter, die Ergebung in den Willen des Schicksals, und die ihnen entgegengesetzten Thorheiten und Laster einstreut: welch eine Schule der Humanität ist in ihm!


37.

Lessing's »Emilia Galotti« hat mich wieder einmal ins Theater gelockt; wie zufrieden, ja gesättigt bin ich hinausgegangen! Ein Theaterstück muß gesehen, nicht gelesen werden; denn wenn es ist, was es sein soll, so ist ja eben auf die Vorstellung Alles berechnet. Ich kann mir nicht einbilden, daß, wenn Stücke dieser Art, aber auch keine andre als solche, wöchentlich nur einmal, auf die leidlich vollkommenste Weise gegeben würden, und diese Stücke lauter Stände und Situationen unsrer Welt, wie dieses, enthielten, das Publicum ungebildet, unerleuchtet bleiben könnte.

Bei der zweiten Ausgabe des Diderot'schen »Theaters« bezeugte Lessing diesem Schriftsteller öffentlich seine Dankbarkeit als dem Manne, der an der Bildung seines Geschmacks großen Antheil habe. »Denn,« fährt er fort, »es mag mit diesem auch beschaffen sein, wie es will, so bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderot's Muster und Lehren eine ganz andre Richtung würde bekommen haben. Vielleicht eine eignere, aber doch schwerlich eine, mit der am Ende mein Verstand zufriedener gewesen wäre,« und setzt sodann weiter den Einfluß ins Licht, den Diderot's Stücke, insonderheit sein »Hausvater«, auf das deutsche Theater gehabt habe.

Sie wissen, wie viel Diderot darauf hielt, daß Stände aufs Theater gebracht werden sollten, und was Lessing in seiner »Dramaturgie« dabei zu erinnern fand. Natürlich können Stände ohne bestimmte Charaktere auf dem Theater keine Wirkung thun; aber bilden sich die Charaktere der Menschen nicht in und nach Ständen? und welcher Stand hätte auf den Charakter mehr Einfluß als der Stand eines Prinzen? Hier hatte also Lessing ein weites Feld, das philosophische Allgemeine, dadurch Aristoteles die Poesie von der nackten Geschichte unterscheidet, als Philosoph und Dichter zu bearbeiten. Er zeigt den Charakter des Prinzen in seinem Stande, den Stand in seinem Charakter, beide von mehreren Seiten, in mehreren Situationen. Nicht nur bringt er den Prinzen in seiner gegenwärtigen Gemüthsstimmung mit den verschiedensten Personen, Männern und Weibern, mit Künstler und Kanzler, Kammerherr und Kammerdiener, mit einer Geliebten, die er jetzt nicht geliebt haben, und einer andern, die jetzt von ihm eben nicht geliebt sein will, mit dem Vater, der Mutter, dem Bräutigam derselben, ja mit sich selbst in Gespräch und Handlung; er unterläßt auch keine Gelegenheit, in jeder dieser Situationen eigentlich nach dem Ringe zu rennen und, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, das Prinzliche dabei zu charakterisiren. Niemand wird unverschämt gnug sein, deshalb das Stück eine Satire auf die Prinzen zu nennen; denn nur dieser Prinz, ein italienischer, junger, eben zu vermählender Prinz ist's, der sich diese Späße giebt und bei Marinelli andre zuläßt. Auch ist sein Stand, seine Würde, selbst sein persönlicher Charakter in Allem zart gehalten und mit wahrer Freundlichkeit geschont. Am Ende des Stücks aber, wenn der Prinz sein verächtliches Werkzeug selbst verachtend von sich weist und dabei ausruft: »Gott! Gott! – Ist es zum Unglücke so Mancher nicht genug, daß Fürsten Menschen sind? Müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« und die unschuldige Braut dabei im Blut liegt, der Vater, ihr Mörder, sich eben vor diesen Fürsten als vor seinen Richter stellt, Marinelli, der Unterhändler dieses Gewerbes, sich noch bedenkt, den Dolch aufzuheben: wer ist, dem, wenn in solcher Situation der Vorhang sinkt, nicht noch andre Gedanken, außer dem, den der Prinz sagt, in die Seele strömen? Nothwendig fragt man sich: »Wie wird das Gericht über den alten Odoardo ablaufen? Wie lange wird Marinelli entfernt sein? d. i. wie bald wird er, wenn sein Dienst abermals brauchbar ist, wiederkehren?« u. s. w.

Es ist vielleicht das höchste Verdienst der Poesie, insonderheit des Drama, Stände und Charaktere aller Art, wenn mir das niedrige Gleichniß erlaubt ist, an dem feinsten Spieß aufs Langsamste am Feuer eigner Thorheiten, Neigungen und Leidenschaften umzuwenden. In der Seele des Zuschauers werden diese Stände und Charaktere dadurch gar oder, mit einem edleren Ausdruck, geründet. Man sieht, was an der Figur Ernst oder Scherz, Wort oder That ist; man blickt auf den Grund hinunter und greift das Beständige oder Unstatthafte ihres Charakters, ihre Versatilität und innere Ehrlichkeit gleichsam mit Händen.

Die alte Tragödie ging darauf hinaus, durch Darstellung unerwartet schrecklicher Königsunfälle und Katastrophen die Urtheile der Menschen zu berichtigen, ihre Grundsätze zu sichern und das poco più und poco meno der Leidenschaften, der Furcht und des Mitleids dem Zuschauer auf ächter Wage vorzuwägen. Die neuere Tragödie, wenn sie gleich ihren Bogen nicht so scharf spannen und ihre Keule so rasch schwingen kann als die alte, hat dennoch mit ihr einerlei Endzweck. Sie spricht zum innersten Gefühl, zur treuesten Ehrlichkeit des Menschen; die Uebelthat kann sie auch jenseit der Gesetze verfolgen, so wie das Lustspiel die Thorheit auch jenseit der Gesetze straft. Beide sind Sprecherinnen vor dem erhabensten Richterstuhl unsers Geschlechts, vor der Humanität selbst, und ventiliren, bescheinigen und gegenbescheinigen vor ihr auf die schärfste, freieste Weise.

Lessing kannte diesen Proceß über die innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs Genaueste; sein Tellheim ist ein von allen Seiten geprüfter, militärischer Charakter; Alles, was um ihn steht, was ihm begegnet, sichtet ihn das ganze Stück hindurch moralisch. Wen solche Komödien und Trauerspiele nicht bearbeiten können, der möchte durch Worte schwerlich zu bearbeiten sein.

Man rückt Lessingen vor, daß er die zarteste Weiblichkeit, das über allen Ausdruck Reizende je ne sais quoi des schönen Geschlechts nicht gekannt und solches ebensowol in der Emilie als der Minna, der Recha als der Orsina verfehlt habe. Sie sind, sagt man, bei ihm Kinder oder Männer, Helden oder schwache Geschöpfe. Ich kann über diesen Punkt nicht entscheiden. Sollte es aber keinen Unterschied geben, wie ein weiblicher Charakter im Roman und auf der Bühne erscheinen darf? Das neuere Theater ist bei allen Völkern Europa's, vorzüglich Spaniern und Franzosen, aus romanhaften Erzählungen und Sitten entstanden; sollte es diese nicht ablegen dürfen? ja, sollte es sie endlich nicht ablegen müssen, da diese fremde Schminke aus der wirklichen Welt theils schon verbannt ist, theils in Manchem offenbar ihrer Verbannung zueilt? Das Theater der Alten kannte diese romantische Schminke nicht, und doch waren ihre Weiber Weiber.

Wie dem auch sei, in diesem Stück getraute ich mir den Charakter der Emilie, Orsina, geschweige der Claudia völlig vertheidigen zu können; ja, es bedarf dieser Vertheidigung nicht, da sich hier Alles in der Sphäre eines Prinzen, um seine Person, um seine Liebe, Treue und Affection dreht. Wer kennt die Uebermacht dieses Standes beim schönen Geschlechte nicht? und wer darf es der Emilie in diesen Augenblicken einer solchen Situation verargen, wenn sie den Dolch ihres Vaters einer künftigen Gefahr vorzieht? Das flatternde Vögelchen (verzeihen Sie das naturhistorische Gleichniß!) fürchtet nicht etwa nur den anziehenden Hauch der nahen, großen, glänzenden Schlange; es fühlt denselben schon, sieht ihren auf sie gerichteten Blick – oder ohne Gleichniß, sie glaubt sich schon umschlungen von tausend feinen Netzen liebenswürdiger Eigenschaften, weiß, wie der Prinz ihre Empfindungen der Religion selbst vorm Altar störte, und wagt wie eine Heilige den Sprung in die Fluth. Wie verstandvoll hat Lessing das Herz der Emilie mit Religion verwebt, um auch hier die Stärke und Schwäche einer solchen Stütze zu zeigen! Wie überlegt läßt er den Prinzen sie am heiligen Ort aufsuchen, sie in der Kapelle vor aller Welt anreden, und stellt die schwache Mutter, den strengen grollhaften Fürstenfeind Odoardo neben sie. Ihr Tod ist lehrreich schrecklich, ohne aber daß dadurch die Handlung des Vaters zum absoluten Muster der Besonnenheit werde. Nichts weniger! Der Alte hat ebensowol als das erschrockene Mädchen in der betäubenden Hofluft den Kopf verloren; und eben diese Verwirrung, die Gefahr solcher Charaktere in solcher Nähe wollte der Dichter schildern.

So erlaube ich auch der Orsina, die nothwendig mit Mäßigung gespielt werden muß, ihre Verhöhnung des Marinelli, selbst ihre höllische Phantasie im siebenten Auftritte des vierten Acts. Wenn sie nicht den Mund öffnet, wer soll ihn öffnen? Und sie darf's, die gewesene Gebieterin eines Prinzen, die in seiner Sphäre an Willkür gewöhnt ist. Als eine Beleidigte, Verachtete muß sie anjetzt übertreiben und bleibt in der größten Tollheit die redende Vernunft selbst, ein Meisterwerk der Erfindung.

So auch das Uebereilen des Plans, das Hineintappen des Prinzen und vor Allem seine unbescholtene Rechtfertigkeit, Alles veranlaßt, gebilligt und am Ende doch, nachdem der Plan verunglückt, nichts befohlen, nichts gethan zu haben. In wenigen Tagen, fürchte ich, hat er sich selbst ganz rein gefunden, und in der Beichte ward er gewiß absolvirt. Bei der Vermählung mit der Fürstin von Massa war Marinelli zugegen, vertrat als Kammerherr vielleicht gar des Prinzen Stelle, sie abzuholen. Appiani dagegen ist todt; Odoardo hat sich in seiner Emilie siebenfach das Herz durchbohrt, so daß es keines Bluturtheiles weiter bedarf. Schrecklich!

Als ich voll dieses Eindrucks nach Hause kam, fiel Diderot mir in die Hand, und zwar folgende Stelle:Die folgende Stelle ist aus der S. 163, in der Note, angeführten Abhandlung: »De la Poésie dramatique«, S. 232–235, genommen. – D.

»Der SchauplatzBei Diderot steht: »Le Parterre de la Comédie« – D. ist der einzige Ort, wo sich die Thränen des Tugendhaften und des Bösen vermischen. Hier läßt sich der Böse wider Ungerechtigkeiten aufbringen, die er selbst begangen hätte; hier hat er bei Unglücksfällen Mitleiden, die er selbst veranlaßt hätte; hier ergrimmt er gegen Personen von seinem eigenen Charakter. Aber der Eindruck ist geschehen, und er bleibt, auch wider unsern Willen; der Böse geht also aus dem SchauplatzeDiderot: »de sa loge«. – D. weit weniger geneigt, Uebels zu thun, als wenn ihm ein ernster und strenger Redner eine Strafpredigt gehalten hätte.

»Der Dichter, der Romanschreiber, der Schauspieler dringen verstohlnerweise ans Herz und treffen es um so gewisser und stärker, je weniger es den Streich vermuthet, je mehr Blöße es folglich giebt. Die Unglücksfälle, durch die man mich rührt, sind erdichtet: was thut das? Sie rühren mich doch. Jede Zeile in dem »Ehrlichen Manne, der sich der Welt entzogen«, im »Dechant von Killerine«, im »Cleveland« erregt in mir ein zärtliches Teilnehmen an den Unglücksfällen der Tugend und kostet mich Thränen. Könnte es eine unseligere Kunst geben als die, die mich zum Mitschuldigen des Lasterhaften machte? Aber wo ist auch eine schätzbarere Kunst als die, die mich unvermerkt für das Schicksal des rechtschaffenen Mannes einnimmt, die mich aus der ruhigen und süßen Fassung, in der ich mich befand, reißt, um mich mit ihm umherzutreiben, mich in die Höhlen zu versetzen, in die er flüchten muß, mich zum Mitgenossen der Unfälle zu machen, durch die es dem Dichter beliebt, seine Beständigkeit auf die Probe zu stellen?

»Wie sehr ersprießlich würde es für die Menschen sein, wenn sich alle Künste der Nachahmung einen gemeinschaftlichen Gegenstand wählten und sich einmal mit den Gesetzen dahin verbänden, uns die Tugend liebenswürdig und das Laster verhaßt zu machen! Des Philosophen Pflicht ist es, sie dazu einzuladen; er muß sich an den Dichter, an den Maler, an den Tonkünstler wenden und ihnen auf das Nachdrücklichste zurufen: »O Ihr von höheren Fähigkeiten, warum hat Euch der Himmel begabt?« Wird er gehört, so werden gar bald die Mauern unsrer Paläste nicht mehr von Gemälden der schändlichsten Wollust bedeckt sein; unsre Stimmen werden nicht länger die Verkündigerinnen des Lasters sein, und Geschmack und Tugend werden dabei gewinnen. –

»Ich habe manchmal gedacht, daß man gar wohl die wichtigsten Stücke der Moral auf dem Theater abhandeln könnte, ohne dadurch dem feurigen und reißenden Fortgange der dramatischen Handlung zu schaden. –

»Nicht Worte, sondern Eindrücke will ich aus dem SchauplatzeDiderot: »du théâtre«. – D. mitnehmen. – Das vortrefflichste»Le poëme excellent« steht im Französischen. – D. Gedicht ist dasjenige, dessen Wirkung am Längsten in mir dauert.

»O dramatische Dichter! Der wahre Beifall, nach dem Ihr streben müßt, ist nicht das Klatschen der Hände, das sich plötzlich nach einer schimmernden Zeile hören läßt, sondern der tiefe Seufzer, der nach dem Zwange eines langen Stillschweigens aus der Seele dringt und sie erleichtert. Ja, es giebt einen noch heftigern Eindruck, den sich aber nur Die vorstellen können, die für ihre Kunst geboren sind und es vorauswissen, wie weit ihre Zauberei gehen kann:Diderot: »si vous présentez toute la magie«. – D. diesen nämlich, das Volk in einen Stand der Unbehäglichkeit zu setzen, so daß Ungewißheit, Bekümmerniß, Verwirrung in allen Gemüthern herrschen, und Eure Zuschauer den Unglücklichen gleichen, die in einem Erdbeben die Mauern ihrer Häuser wanken sehen und die Erde ihnen einen festen Tritt verweigern fühlen.«


38.

Als Swift über »Gulliver's Reisen« brütete, schrieb er an Pope: »Ich habe ganze Nationen, ganze Professionen und Zünfte immer gehaßt; meine Liebe geht nur auf einzelne Personen. Z. B. ich hasse die Zunft der Rechtsgelehrten, aber ich liebe den Rath N., den Richter N. N. So habe ich's, von meiner eignen Profession nichts zu sagen, mit den Aerzten, mit den Soldaten, den Engländern, Schotten, Franzosen u. s. w. Vornehmlich aber hasse und verabscheue ich das Geschöpf, der Mensch genannt, obschon ich den Johann, den Peter, Thomas u. s. w. von Herzen liebe. An dieses System habe ich mich, unter uns gesagt, nun viele Jahre her gehalten und werde mich immer daran halten. Ich habe Materialien zu einer Abhandlung gesammelt, welche zeigen soll, daß man den Menschen unrecht durch ein vernünftiges Thier definirt, und daß man blos ein vernunftfähiges Thier setzen sollte. Auf dies starke und feste Fundament der Misanthropie, wiewol nicht nach Timon's Manier, gründet sich das ganze Gebäude meiner Reisen; und ich werde nimmer ruhig sein, bis alle ehrliche Leute hierüber meiner Meinung sind. Die Sache ist so klar, daß sie keinen Widerspruch leidet; ja, ich will Hundert gegen Eins setzen, daß Sie und ich in dem Punkte übereinstimmen.«

Diese Uebereinstimmung war ein freundschaftlicher Wahn oder ein Compliment, das der von seiner Meinung durchdrungene Swift sich selbst machte. Pope schien ihm Recht zu geben, äußerte aber zugleich, daß er Maximen schreiben wollte, die Rochefoucault's Grundsätzen insgesammt entgegengesetzt wären; wogegen Swift in noch härteren Ausdrücken den Rochefoucault, als seinen Liebling, in welchem er seinen ganzen Charakter gefunden, heftig in Schutz nimmt.

Bei Swift nämlich war diese Menschenfeindschaft nicht witzige Laune, sondern ein bittrer Ernst, wie seine Schriften, wie sein Leben es zeigt. Er hatte einen so tiefen Groll gegen die menschliche Gesellschaft gefaßt, daß selbst seine Menschenfreundschaft, seine strenge Sorge für die von der Natur und dem Staat verwahrlosten Unglücklichen sich in dies rauhe Gewand kleidete; er schien ein Zuchtmeister, auch wenn er ein wohlwollender Freund war.

Es hieße Worte verschwenden, wenn man über das von Swift aufgestellte Paradoxon in der Form disputiren wollte; Jedermann sieht, was in ihm wahr oder übertrieben sei.

Eine andre, oft aufgeworfene Frage: ob es besser sei, von den Menschen zu gut oder zu schlimm zu denken, d. i. den Menschen zu schmeicheln oder sie mit Schärfe zu behandeln, führt, wie mich dünkt, ihre Auflösung auch mit sich. Man muß Keins von Beiden, und eben hierin besteht die Philosophie und Kunst des Lebens. Alle Uebertreibungen sind ebenso unwahr als schädlich; meistens fallen sie auch zusammen und lösen einander auf. Young z. B., der in seiner Schrift »Ueber die Originalwerke« den armen Swift heftig und in der Gestalt des Menschenfreundes selbst menschenfeindlich angriff, hat sich gegen das von ihm verehrte Geschlecht ebenso versündigt, da er ihm in seinem jetzigen Zustande die Würde des Seraphs anschmeicheln, als Swift, da er es zum Yahoo erniedrigen wollte.Vgl. Herder's Werke, II. S. 291. – D. Jener, um sein System zu verfolgen, ward gezwungen, den Lorenzo zu einem Teufel zu machen, damit der erdichtete Engel in sein Licht träte; Dieser mußte seine vernünftigen Pferde mit allen Vollkommenheiten schmücken, die er doch nur im Menschengeschlecht kannte. Dem guten Rousseau ist es in seinen Uebertreibungen nicht anders gegangen; in der Phantasie ein Idealist fürs Gute, mußte er in einzelnen Urtheilen und im Betragen des Lebens ein leidendes Kind werden.

Zwischen zwei Aeußersten giebt es keinen andern Weg der Vernunft und Rechtschaffenheit als die Mittelstraße. Man sage so viel Gutes, man schreibe so viel Böses vom Menschen, als man wolle, lediglich kommt's auf den Gebrauch an, den man von beiderlei Urtheilen macht, wie man sie durch thätige Güte und Weisheit zusammen vereint.

Das edlere Schauspiel der Griechen hatte zum Zweck, zwischen beiden Extremen eine weise und tugendhafte Mitte im Menschen zu befestigen; o, hätten wir Menander's und Philemon's Schauspiele! Die übriggebliebenen wenigen Stellen und Sprüche zeigen, daß in ihnen der Mensch von allen Seiten betrachtet und zur Lehre aufgestellt worden, wie es denn auch Terenz, der halbirte Menander,Wie ihn Cicero nannte. – D. klar an den Tag legt.

Sprüche aus Philemon.Herder nahm diese 32 Sprüche aus der Sammlung der Bruchstücke des Menander und Philemon von Clericus (Le Clerc), und zwar sämmtlich aus den ohne Angabe des Stückes angeführten. In des Hugo Grotius »Excerpta ex Tragoediis et Comoediis Graecis« finden sich nur 14 derselben. Der Spruch: »Den Armen hass' ich« gehört eigentlich dem Menander an, ward aber, nach dem Vorgange von Grotius, von Clericus irrig dem Philemon zugeschrieben. – D.

Beschwerlich ist ein unverständiger
Zuhörer; vor Dir sitzend, tadelt er
Aus Thorheit nie sich selbst.


Viel leichter, eine Krankheit, als den Gram
Ertragen.


Der Seele Kummer wird durch Rede leicht.


Wer unter uns dort außerhalb der Stadt
Der Menschen Gräber sieht, der sage sich:
»Auch Jeder Dieser sprach einst zu sich selbst:
»Ich werde, wenn die Zeit kommt, schiffen, pflanzen,
Die Mauer brechen und besitzen.« Jetzt
Besitzen sie ein Grab.«


Ihr Götter, welch ein wohlgeartet Thier
Ist eine Schnecke! Kommt auf ihrem Gange
Sie einem bösen Nachbar nah, sie hebt
Ihr Haus und wandert weiter. Darum wohnt
Sie sorgenlos, weil sie die Bösen immer flieht.


Er ist ein Knecht, hat aber Fleisch und Blut
Wie Du; denn Keiner ward durch die Geburt ein Knecht;
Unglücklich Schicksal macht zum Sclaven nur.


Ein böser Diener wird der Strafe nicht entgehn,
Du aber sei der Strafe Büttel nicht!


Dein Wort, o Freund, hat Deine schöne That
Geschmäht; des Reichen That hat Bettlers Wort vernichtet
Rühmst Du die Gabe selbst, die Du dem Freunde gabst,
So warst in Thaten Du ein Feldherr und im Wort
Ein Mörder.


Sprich nicht: »Das will ich geben.« Denn wer spricht,
Der giebt noch nicht und hindert Andrer Gaben.


Mit rechter Unterscheidung gieb und nimm!


Das kleineste Geschenk, es wird das größeste,
Wenn Du's wohlmeinend giebst.


Den Armen hass' ich, der dem Reichen schenkt;
Er schilt das Glück die Unersättliche.


Sei einem Alten, der da fehlt, nicht hart!
Ein alter Baum ist zu verpflanzen schwer.


Im Alter kommt der Reichthum uns zu gut;
Er führt den Alten glücklich an der Hand.


Was grämest Du Dich, Freund? Du weißt es ja,
Daß, eben wenn das Glück den Menschen lacht,
Zu jedem Unglück es die Pforte finde.
Auch über Keines Unglück freue Dich!
Denn Alles mischt und kehrt das Schicksal um.


Nie schilt das Glück! Du weißt, zu böser Zeit
Gehn auch der Götter Sachen selbst nicht wohl.


Gesundheit ist mein erster Wunsch, der zweite
Glück im Geschäft, der dritte Freude, dann
Noch einer: Keinem je verpflichtet sein!


Erst sieht, bewundert, dann betrachtet man
Und fällt in Hoffnung und zuletzt in Liebe


»Sag an, wie soll ich Gott gedenken mir?«
Daß er, der Alles sieht, unsichtbar sei.


»Was machst Du, Syra? Wie befind'st Du Dich?«
Kannst Du noch also fragen einen Greis?Im Griechischen steht: »einen Greis oder eine Greisin«, da die sprechende Syra eine alte Frau ist. – D.
Ein Greis ist nimmer wohl. Man sagt mit Recht,
Und kann es sagen: »Auch der Tod ist gut.«


»Was ist es denn? warum will er mich sehn?«
Ist's, wie die Kranken, wenn der Schmerz sie quält
Und sie den Arzt erblicken, besser sind?
So der Betrübte: siehet er den Freund
Nur neben sich, gleich lindert sich sein Gram.


Auf Erden lebt kein Mensch, nicht Einer lebt,
Der Böses nicht erfuhr, wie oder noch
Erfahren wird. Nur wer, was ihm begegnet,
Aufs Leichtste nimmt, nur der ist weis' und glücklich.


Erkenne, was der Mensch ist! und Du wirst
Doch glücklich sein. Hier hörst Du Einen todt,
Dort ist ein Anderer geboren; Diese
Gebar nicht, Jenem ging es übel; Der
Hat Husten, Jener weint. Das Alles bringt
Die Menschheit mit sich; fliehe nur den Gram!


Viel Unglück ist in vielen Häusern, das,
Wenn man es gut erträgt, uns Gutes bringt.


Der Menschen viele machen sich das Uebel
Noch größer, als es ist. Dem starb ein Sohn,
Dem eine Mutter, Dem, beim Jupiter!
Gar ein Verwandter. Nähm' er's, wie es ist,
So starb ein Mensch. Das ist an sich das Uebel.
Nun aber ruft er aus: »Das Leben ist für mich
Kein Leben mehr! Er ist dahin! Ich werd' ihn
Nie wieder sehn!« Er sieht den Unglücksfall
Allein in sich und häuft auf Uebel Uebel.
Wer Alles mit Vernunft betrachtet, wie
Es an sich selbst und nicht für ihn nur sei,
Empfängt das Glück und hält das Unglück fern.


In Traurigkeit sein selbst noch Meister sein,
Dies ist's, was mich erhält und was den Menschen macht.


Wir armen Menschen! Unser Dasein ist
Ein Leben ohne Leben. Meinungen
Beherrschen uns, seit wir Gesetze fanden.
Der Vor- und Nachwelt Meinungen. Wir suchen
Dem Uebel zu entgehn und finden uns
Zum Uebel Vorwand.


Wer, was er sagen soll, nicht saget, der
Ist immer lang, und spräch' er nur zwei Silben.
Wer gut sagt, was er saget, ob er viel
Und lang auch spräche, der spricht nie zu lang.
Sieh den Homer! Er schrieb viel tausend Worte,
Und wem schrieb er zu viel?


Wenn, was wir haben, wir nicht brauchen, und
Was wir nicht haben, suchen, ach, so raubt
Das Glück uns jenes, dieses wir uns selbst.


Gerecht ist nicht, der Niemand Unrecht thut;
Der ist's, der Unrecht thun kann und nicht will.
Nicht Der, der kleinen Raubes sich enthält;
Der ist's, der großen Raub mit Muth verschmäht,
Wenn er ihn haben und behalten kann.
Nicht Der ist's, der dies Alles nur befolgt;
Der ist's, der ungeschminkten, reinen Sinns
Sein ein Gerechter und nicht scheinen will.


So viele Künste es, o Laches, gab,
Kein Lehrer, alle lehrte sie die Zeit.
Nicht Körper nur, es wachsen mit der Zeit
Auch Dinge!

Endlich den Hauptspruch:

Ἄνϑρωπος ὢν τοῦτ' ἴσϑι καὶ μέμνησ' ἀεί.
Du bist ein Mensch; das wiss' und denke stets daran!


39.

Neben den Griechen ist schwer zu stehen, und doch haben auch wir Stücke, die neben ihnen stehen können und dürfen.

                    Menschentugend.

Die Ohren und die Herzen willig her,
Ihr Menschen! Euer Gott hat mich gelehrt,
Was Tugend sei; ich lehr' es, Menschen, Euch!

        Dem Nackenden von zweien Linnen eins
Um seine Blöße selbst ihm schmiegen, und
Von zweien Broden eins dem Hungrigen
Darreichen, und aus seinem Quell dem Mann,
Der frisches Wasser bittet, einen Trunk
Selbst schöpfen, flöss' er noch so tief im Thal.

        Ihr meine lieben Menschen! Tugend ist:
Dem Hilfedürftigen zuvor mit Gold
Und Weisheit kommen; seine Seele sehn
Und seinen Kummer messen; und sich freun,
Daß etwa Gold und etwa Weisheit ihn
Der Freude wiederbringen; ihn auch nicht,
Wer seines Kummers Ueberwinder war,
Erfahren lassen.

                            Menschen! Tugend ist:
Und wenn die Bösen alle gegen Euch
In ihrer Bosheit wütheten und sich
Verschworen hätten alle gegen Euch,
Von Menschenliebe nicht zu Menschenhaß
Hinübergehen, immer, immer gut
Den Bösen sein, dem undankbaren Mann
Exempel werden edler Dankbarkeit.

        Ihr meine lieben Menschen! Tugend ist:
Dem Gotterschaffenen Erhalter sein,
Lebendigen das Leben fristen, rohen Stoff
Umwenden, so daß er durch Euren Fleiß
Einst Leben zu dem Leben bringen muß.

        Ihr meine lieben Menschen! Tugend ist:
Die Summe jedes Guten, welches Gott
In seine Welt gelegt, an seinem Theil
Vermehren, wenn und wo und wie sie nur
Vermehret werden kann. Vermehrest Du
Die Summe dieses Guten, dann, o dann,
Sei König oder Bettler, Du gefällst
Dem Schöpfer alles Guten, Deinem Gott.

        Du willst ihm nicht gefallen? wie? Du willst
Des Guten Summe nicht vermehren? willst
Des Bösen, welches Gott in seiner Welt
Zum Guten lenkt, Vermehrer sein? Sei es!
Du wirst Dich schämen einst und es bereun.

So unser Gleim in seinem »Halladat oder rothen Buche«,Das Gedicht steht im II. Theile von Gleim's »Halladat oder Das rothe Buch« (Hamburg 1774) unter Nr. XIV und trägt daselbst die Ueberschrift: »Die Tugend«. Herder giebt es im Obigen verkürzt wieder. Im Original stehen statt Strophe 1 V. 3 fünf Verse; hinter Str. 4 folgen sechzehn, hinter Str. 6. V. 7 drei, hinter Str. 7. V. 4 fünf, und am Schlusse noch vierzehn Verse. Außerdem weicht der Herder'sche Text im Einzelnen ab. Str. 1. V. 1 steht bei Gleim a. a. O.: »Ohren und Herzen«; Str. 1. V. 3: »Was Tugend ist. Ein Feuerfunke fiel« u. s. w.; Str. 3. V. 6: »wiederbringen, und ihn nicht; Str. 4. V. 5: »zum Menschenhaß«; Str. 6. V. 2: »Die Summe dieses Guten«; Str. 7. V. 1: »Ha! dem gefallen willst du nicht? du willst«. Der 5. V. der 7. Str. ist von Herder wegen der Auslassung hinter V. 4 derselben Strophe anders gewendet. – Am 31. Januar schrieb Herder an Gleim: »Den dritten Theil (meiner »Briefe der Humanität«) schließen Sie.« Ueber die spätere Bearbeitung des »Halladat« vgl. Gleim's Brief an Herder vom 11. März 1801. – D. dem wir jetzt lieber einen andern Namen geben wollen; es enthält Blätter zum ächten Koran der Menschengüte. Und dieser Lehrer spricht nicht nur, er thut auch also.

 


 


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