Johann Gottfried Herder
Briefe zu Beförderung der Humanität
Johann Gottfried Herder

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Zweite Sammlung.

(1793.)

 

14.

Mehrmals finde ich in Ihren Briefen den Geist der Zeit genannt;Vgl. Brief 11. S. 60, Brief 12. S. 62. Herder setzt im Folgenden meist: »Geist der Zeiten«. – D. wollen wir uns einander nicht diesen Ausdruck aufklären? Ist er ein Genius, ein Dämon? oder ein Poltergeist, ein Wiederkommender aus alten Gräbern? oder gar ein Lufthauch der Mode, ein Schall der Aeolsharfe? Man hält ihn für Eins und das Andre. Woher kommt er? wohin will er? wo ist sein Regiment? wo seine Macht und Gewalt? Muß er herrschen? muß er dienen? kann man ihn lenken? Hat man Schriften darüber? Wie lernt man ihn aus der Erfahrung kennen? Ist er der Genius der Humanität selbst? oder dessen Freund, Vorbote, Diener?


15.

Warum sollte ich Ihnen auf Ihren lakonischen Brief nicht ebenso räthselhaft antworten, als Sie gefragt haben?

»Was ist der Geist der Zeiten?« Allerdings ein mächtiger Genius, ein gewaltiger Dämon. Wenn Averroës glaubte, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Seele habe, an welcher jedes Individuum auf seine Weise, bald thätig, bald leidend Theil nehme, so würde ich diese Dichtung eher auf den Geist der Zeit anwenden. Wir stehen Alle unter seinem Gebiet, bald thätig, bald leidend.

»Ist er ein Schall der Aeolsharfe? ein Lufthauch der Mode?« Die flüchtige Mode ist seine unächte Schwester; er ist ihr nicht gewogen, lernt aber auch von ihr und hat mit ihr zuweilen lehrreichen Umgang. Desto entschiedner haßt er seinen wahren Feind und Verleumder, den Geist des Aufruhrs, der Zwietracht, den unreinen, abgeschmackten Pöbelsinn und Wahnsinn. Wo dieser sich hören läßt, in welchen Gesellschaften und Kreisen er ihn auch nur vermuthet, flieht er vor ihm und verachtet selbst die Lehre aus seinem Munde. Die Stimme des geläuterten Zeitgeistes ist verständig, überredend, sanft, freundlich. Bald läßt er sich wie ein Laut auf der Aeolsharfe hören, bald tönt sie in vollen Chören. Der geläuterte Geist der Zeiten, möchte ich mit jenem alten BucheBuch der Weisheit, 7. 22 f. – D. sagen, ist »heilig, einig, mannichfalt, scharf und behende, rein und klar, ernst und frei, wohlthätig, leutselig, fest, gewiß, sicher. Er vermag Alles, sieht Alles und geht durch alle Geister, wie verständig, lauter und scharf sie sind.«

»Woher kommt er?« Wie sein Name sagt, aus dem Schooß der Zeiten. Der menschlichen Natur einwohnend, hatten ihn einst in unserm rauheren Klima die Pfäfferei und der wilde Kriegsgeist lange unterdrückt gehalten; sie schlossen ihn ein in Höhlen, Thürme, Schlösser und Klöster. Er entkam; die Reformation machte ihn frei; Künste und Wissenschaften, am Meisten aber die Buchdruckerei gaben ihm Flügel. Seine ernste Mutter, die selbstdenkende Philosophie, hat ihn, zumal an den Schriften der Alten, unterwiesen; sein ernster Vater, der mühsame Versuch, hat ihn erzogen und durch die Vorbilder der würdigsten, größten Männer gereift und gestärkt. Er ist kein Kind mehr, wiewol er bei jeder neuen Begebenheit ein Kind scheint; alle Erfahrungen voriger Zeiten sind in seine Seele gedrückt, sind auf seine Glieder verbreitet.

»Wohin will er?« Wohin er kommen kann. Er hat aus den vorigen Zeiten gesammelt, sammelt aus den jetzigen und dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht ist groß, aber unsichtbar; der Verständige bemerkt und nutzt sie; dem Unweisen wird sie, meistens zu spät, nur in erfolgten Wirkungen glaubhaft.

»Muß der Geist der Zeit herrschen oder dienen?« Er muß Beides an Stelle und Ort. Der Weise giebt ihm nach, um zu rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine sehr behutsame, sichre Hand gehört. Indessen wird er offenbar gelenkt, nicht von der Menge, sondern von wenigen, tiefer als andre blickenden, standhaften und glücklichen Geistern. Oft leben und wirken diese in der größten Stille; aber einer ihrer Gedanken, den der Geist der Zeiten auffaßt, bringt ein ganzes Chaos der Dinge zur Wohlgestalt und Ordnung. Glücklich sind Die, denen die Vorsehung solch einen erhabnen Platz gab, in welchem Stande sie auch leben; selten wird dieser Platz durch Mühe erstrebt, selten durch lautes Geräusch angekündigt, meistens nur in Folgen bemerkt; oft müssen die großen Lenker auch viel wagen, viel leiden.

»Hat man Schriften über den Geist der Zeiten?« Das weiß ich nicht; am Besten lernt man ihn aus Geschichten, die im Geist ihrer Zeiten geschrieben sind, und aus der Erfahrung kennen, wo Eins das Andre erläutert. Ohne nachdenkende Erfahrung versteht man die Bücher nicht; diese wiederum machen uns auf den lebendigen Geist der Zeiten aufmerksam. Das Rad rollt fort, ist immer dasselbe und zeigt immer eine andre Seite.

»Geist der Zeiten, ist er der Genius der Humanität selbst? oder dessen Freund, Vorbote, Diener?« Ich wollte, daß er das Erste wäre, glaube es aber nicht; das Letzte hoffe ich nicht nur, sondern bin dessen fast gewiß. Daß er ein Freund, ein Vorbote, ein Diener der Humanität werde, wollen auch wir an unserm unmerklich kleinen Theile befördern.


16.

Schwerlich wird unser Freund mit der rätselhaften Auflösung seines Räthsels befriedigt sein; also darf ich in einem offenern, wenn auch etwas schwerern Tone fortfahren.

Was Geist ist, läßt sich nicht beschreiben, nicht zeichnen, nicht malen; aber empfinden läßt es sich; es äußert sich durch Worte, Bewegungen, durch Anstreben, Kraft und Wirkung. In der sinnlichen Welt unterscheiden wir Geist vom Körper, und eignen Jenem alle das zu, was den Körper bis auf seine Elemente beseelt, was Leben in sich hält und Leben erweckt, Kräfte an sich zieht und Kräfte fortpflanzt. In den ältesten Sprachen also ist Geist der Ausdruck unsichtbarer strebender Gewalt; dagegen Leib, Fleisch, Körper, Leichnam entweder die Bezeichnung todter Trägheit oder einer organischen Wohnung, eines Werkzeuges, das der einwohnende Geist als ein mächtiger Künstler gebraucht.

Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfolgender in einander verketteter Zustände; sie ist ein Maaß der Dinge nach der Folge unsrer Gedanken; die Dinge selbst sind ihr gemessener Inhalt.

Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich äußern. Die Elemente der Begebenheiten sehen wir nie; wir bemerken blos ihre Erscheinungen und ordnen uns ihre Gestalten in einer wahrgenommenen Verbindung.

Wollen wir also vom Geist unsrer Zeit reden, so müssen wir erst bestimmen, was unsre Zeit sei, welchen Umfang wir ihr geben können und mögen. Auf unsrer runden Erde existiren auf einmal alle Zeiten, alle Stunden des Tages und Jahres, vielleicht auch alle Zustände des menschlichen Geschlechts; wenigstens können wir voraussetzen, daß sie existirt haben und existiren werden. Alle Modificationen wechseln auf ihr, haben gewechselt und werden wechseln, nachdem der Strom der Begebenheiten langsamer oder schneller die Wellen treibt.

Wenn wir uns demnach auf Europa bezirken, so ist Europa auch nur ein Gedankenbild, das wir uns etwa nach der Lage seiner Länder, nach ihrer Aehnlichkeit, Gemeinschaft und Unterhandlung zusammenordnen. Denken wir uns das einst oder jetzt katholische oder überhaupt das christliche Europa, so ist auch in ihm nach Ländern und Situationen der Geist der Zeit sehr verschieden. Er ändert sich sogar mit Classen der Einwohner, geschweige mit ihren Bedürfnissen, Neigungen und Einsichten. Ein einziger Umstand, eine vielleicht falsche oder übertriebene Nachricht, kurz, ein Wind und Wahn stimmt oft die Denkart und Meinung eines ganzen Volkes.

Wenn also unser Freund vom Geist der Zeiten als einem verständigen, scharfen, klaren Wesen sprach, so kann er damit nur die Grundsätze und Meinungen der scharfsichtigsten, verständigsten Männer gemeint haben. Sie machten sich vom Wahne des Pöbels los und lassen sich nicht nach jedem Winke lenken. So wenig ihrer hie und da sein mögen, um so fester sind sie in sich selbst, um so standhafter hangen sie mit andern zusammen und bilden allerdings eine Kette im Fortgange der Zeiten. Das Lesen der Alten und Neuern, Gespräche und eine gemeinschaftliche Bemerkung dessen, was vorgegangen ist und täglich vorgeht, binden sie fest und fester an einander; sie machen wirklich eine unsichtbare Kirche, auch wo sie nie von einander gehört haben. Diesen Gemeingeist des aufgeklärten oder sich aufklärenden Europa auszurotten, ist unmöglich; wozu wäre aber auch die unnütze Mühe? Je aufgeklärter er ist, gewiß desto weniger ist er schädlich. Wo er irrt, kann er nur durch Wahrheit, nicht durch Zwang gebessert werden; denn Geist allein kann mit Geist kämpfen.

Erlauben Sie mir zu Ende meines Briefes auch ein Räthsel. Irre ich nicht, so sind drei Hauptbegebenheiten oder Epochen Europa's, an denen dieser europäische Weltgeist haftet. Eine ist längst vorüber; sie dauerte fünf- bis achthundert Jahre und kommt hoffentlich nie wieder. Die zweite ist geschehen und geht in ihren Wirkungen fort; ihr Werth ist anerkannt und muß der Natur der Sache nach immer mehr anerkannt werden. Ueber der dritten brütet der Weltgeist, und wir wollen ihm wünschen, daß er in sanfter Stille ein glückliches Ei ausbrüten möge. Es ist aber ein gewaltig großes Straußenei; der glühende Sand und die allmächtige Sonne mögen es ihm ausbrüten helfen!


17.

Lassen Sie uns zusehen, ob ich Ihr Räthsel inne habe. Die erste Begebenheit, an welcher der europäische Zeitgeist haftet, ist die Bepflanzung unsers Welttheils nach den römischen Zeiten, die politische und religiöse Organisation der Völker, die jetzt Europa bewohnen. Sie ist der Einschlag zum Gewebe; die meisten zweifelhaften Fragen der folgenden Zeiten bezogen sich auf die Einrichtung, die damals gemacht ward. Einen Theil dieser Fragen hat die zweite große Begebenheit, die Wiederauflebung der Wissenschaften und die Reformation aufgelöst; vom elften bis zum sechzehnten Jahrhundert hat die Zeit über Vieles entweder schon entschieden und entscheidet noch, oder sie sammelt Kräfte und Athem, um künftig entscheiden zu können. Wahrscheinlich ist das die dritte Begebenheit, von der Sie reden.

Merken Sie Sich aber, mein Freund, Eins! Bei der Reformation war größtentheils von blos geistigen Gütern, von Freiheit des Gewissens und Denkens, von Glaubensartikeln und Religion die Rede; denn an den Gebrauch der Kirchengüter wollen wir nicht, können auch nicht allemal mit billigendem Vergnügen denken. Die fortgehende Cultur des Menschengeschlechts, die aus der Erweckung der Wissenschaften entsprang, ist auch ein geistiges Gut; man kann ihren Fortgang hemmen, aber nicht vernichten.

Eine andre Beschaffenheit scheint es mir mit der Reformation zu haben, von der jetzt die Rede sein soll; wie wäre es, wenn wir darüber den alten Reformator selbst hörten?

Luther's Gedanken von der Regimentsänderung.

»Des weltlichen Regiments Werk und Ehre ist, daß es aus wilden Thieren Menschen macht und Menschen erhält, daß es nicht wilde Thiere werden. Meinst Du nicht, wenn die Vögel und Thiere reden könnten und das weltliche Regiment unter den Menschen sehen sollten, sie würden sagen: »O Ihr Lieben, Ihr seid nicht Menschen, sondern Götter gegen uns«? Wer will dies Regiment nun erhalten, ohne wir Menschen, denen es Gott befohlen hat und die sein auch selbst wahrlich bedürfen? Die wilden Thiere werden's nicht thun, Holz und Steine auch nicht. Welche Menschen aber können's erhalten? Fürwahr, nicht allein die mit der Faust herrschen wollen, wie jetzt Viel' sich lassen dünken; denn wo die Faust allein soll regieren, da wird gewiß zuletzt ein Thierwesen draus, daß wer den Andern übermag, stoße ihn in den Sack; wie wir vor Augen wol Exempel gnug sehen, was Faust ohne Weisheit und Vernunft Gutes schafft. Darum sagt auch Salomo: »Weisheit müsse regieren und nicht die Gewalt. Weisheit ist besser denn Harnisch oder Waffen. Weisheit ist besser denn Kraft;«Prediger, 9. 16, 18. – D. daß kurzum nicht Faustrecht, sondern Kopfrecht regieren muß unter den Bösen sowol als unter den Guten.«

An einem andern OrtIn der Auslegung von Psalm 101. 6 (aus dem Jahre 1534). – D. sagt er: »Ehe das geschehen wird, daß Kaiser, Könige und Fürsten mit dem ganzen Reich dazu thäten, das Regiment zu bessern, so wollen wir den obersten Herrn aller Herren oben in den Wolken sehen kommen und mit ihm davon fahren. Indeß mag das Regiment, der böse Pelz, ein plumpes Regiment bleiben und (die Personat ungemenget!) Gott befohlen lassen sein, welchen er will hervorziehen und erheben. – Aenderung der Regiment und Rechte gehen ohn' groß Blutvergießen nicht ab, wie alle Historien zeugen; und ehe man in Deutschland eine neue Weise des Reichs anrichtet', so wäre es dreimal verheeret. – Wiewol mich auch zuweilen dünkt, daß die Regiment und Juristen wol auch eines Luther's dürften, aber ich besorge, sie möchten einen Münzer kriegen. – Darum ich nicht hoffen kann noch will, daß sie einen Luther kriegen werden. – So ist's nicht zu rathen, daß man es ändere; sondern flicke und pletze dran, wer kann, weil wir leben, strafe den Mißbrauch und lege Pflaster und Schweden auf die Blattern. Wird man die Blattern ausreißen mit Unbarmherzigkeit, so wird den Schmerzen und Schaden Niemand baß fühlen denn solche kluge Barbierer. – Das Aendern und Bessern sind zweierlei. Eines steht in der Menschen Händen und Gottes Verhängen, das Andre in Gottes Händen und Gnaden.«

Ferner sagt er:In der S. 74, Note 2, angeführten Auslegung zu Vers 1. – D. »Wenn das natürliche Recht und Vernunft in allen Köpfen steckte, die Menschenköpfen gleich sind, so könnten die Narren, Kinder und Weiber ebensowol regieren und kriegen als David, Augustus, Hannibal, und müßten PhormionesNach Cic. de Orat., II. 77, der »Phormiones« leere Schwätzer nennt nach jenem peripatetischen Philosophen, der den Hannibal über Feldherrnkunst belehren wollte. – D. so gut sein als Hannibales; ja, alle Menschen müßten gleich sein und Keiner über den Andern regieren. Welch ein Aufruhr und wüst Ding sollt' hieraus werden? Aber nun hat's Gott also geschaffen, daß die Menschen ungleich sind und Einer den Andern regieren, Einer dem Andern gehorchen soll. Zween können mit einander singen (d. i. Gott alle gleich loben), aber nicht mit einander reden (d. i. regieren). Einer muß reden, der Andre hören. Darum findet sich's auch also, daß unter Denen, die sich natürlicher Vernunft oder Rechts vermessen und rühmen, gar viel weidliche und große natürliche Narren sind; denn das edle Kleinod, so natürlich Recht und Vernunft heißt, ist ein selten Ding unter Menschenkindern. –

»Aber das ist der Teufel und Plage in der Welt, daß wir in allen Dingen, an leiblicher Stärke, Größe, Schöne, Gütern, Gesicht, Farbe u. s. w. unter einander ungleich sind; und allein in der Weisheit und Glück Alle wollen gleich sein, da wir doch am Allerungleichsten unter einander sind. Und was noch wol ärger ist, ein Jeglicher will hierin über den Andern sein, – und kann den schändlichen Narren und Klüglingen Niemand nichts Rechts thun, wie Salomon spricht:Sprichwörter, 26. 16. – D. »Ein Narr dünkt sich klüger sein denn sieben Weisen, die das Recht setzen.« –

»Also schreibt auch der Heide Plato, es sei zweierlei Recht, Justum natura, justum lege;Herder setzt dafür: »Naturrecht und Gesetzrecht.« Vorher läßt er »der Heide« weg. – D. ich will's das gesunde Recht und das kranke Recht nennen. Denn was aus Kraft der Natur geschieht, das gehet frisch hindurch, auch ohn' alles Gesetz, reißt auch wol durch alle Gesetze. Aber wo die Natur nicht da ist und soll's mit Gesetzen herausbringen, das ist Bettelei und Flickwerk; geschieht gleichwol nicht mehr, denn in der kranken Natur steckt. Als wenn ich ein gemein Gesetz stellete: man soll zwo Semmel essen und ein Nößel Wein trinken zur Mahlzeit. Kommt ein Gesunder zu Tische, der frisset wol vier oder sechs Semmel und trinket eine Kanne oder zwo und thut mehr, denn das Gesetz giebt. Kommt ein Kranker dazu, der ißt eine halbe Semmel und trinkt drei Löffel voll und thut doch nicht mehr an solchem Gesetze, denn seine kranke Natur vermag, oder muß sterben, wo er sollt' das Gesetz halten. Hie ist's nun besser, ich lass' den Gesunden ohn' alles Gesetz essen und trinken, was und wie viel er will; dem Kranken gebe ich Maaß und Gesetze, wie viel er kann, daß er dem Gesunden nicht nach müsse.

»Nun ist die Welt ein krank Ding und eben ein solcher Pelz, da Haut und Haar nicht gut an ist. Die gesunden Helden sind seltsam, und Gott giebt sie theuer, und muß doch regiert sein, wo Menschen nicht sollen wilde Thier' werden. Darum bleibt's in der Welt gemeiniglich eitel Flickwerk und Bettelei, und ist ein rechter Spital, da es beide, Fürsten und Herrn, und allen Regierenden fehlet an Weisheit und Muth, d. i. an Glück und Gottes Treiben, wie den Kranken an Kraft und Stärke. Darum muß man hie flicken und pletzen, sich behelfen aus den Buchstaben oder Büchern, mit der Helden Recht, Sprüchen und Exempeln, und müssen also der stummen Meister (d. i. der Bücher) Schüler sein und bleiben. Und machen's doch nimmermehr so gut, als daselbst geschrieben stehet, sondern kriechen hienach und halten uns dran als an den Bänken oder Stecken, folgen auch daneben dem Rath der Besten, so mit uns leben; bis die Zeit kommt, daß Gott wieder einen gesunden Helden oder Wundermann giebt, unter dessen Hand Alles besser gehet, oder ja so gut, als in keinem Buch stehet, der das Recht entweder ändert oder also meistert, daß es im Lande Alles grünet und blühet, mit Friede, Zucht, Schutz, Strafe, daß es ein gesund Regiment heißen mag; und dennoch daneben bei seinem Leben aufs Höchste gefürchtet, geehret, geliebt und nach seinem Tod ewiglich gerühmet wird. Und wenn's ein Kranker oder Ungleicher demselben wollt' nachthun und gleich oder besser sein, den hat Gott gewiß zur Plage der Welt geschickt, wie die Heiden auch schreiben: »Der Helden Kinder sind eitel Plagen.«Sprichwörtlich: »Ἀνδρῶν ἡρώων τέϰνα πήματα«. Aehnliche Sprüche finden sich bei Homer (Odyssee, II. 276 f.), Euripides und Demosthenes. – D.

»Denn was hilft große, hohe Weisheit und trefflich herzlich guter Muth oder Meinung, wenn's nicht die Gedanken sind, die Gott treibt und Glück dazu giebt? Es sind doch eitel Fehlgedanken und vergebliche Meinung, ja auch wol schädliche und verderbliche. Darum ist's sehr wohl geredt: »Die Gelehrten, die Verkehrten.« Item: »Ein weiser Mann thut keine kleine Thorheit.« Und zeugen alle Historien, auch der Heiden, daß die weisen und gutmeinenden Leute haben Land und Leute verderbet. Welches Alles gesagt ist von den selbstweisen oder kranken Regierenden, die Gott nicht getrieben, noch Glück dazu gegeben hat; und haben's doch wollen sein. Also ist ihnen das Regiment zu hoch gewest, haben's nicht können ertragen, noch hinausführen, sind also drunter erdruckt und umkommen, als Cicero, Demosthenes, Brutus u. s. w., die doch aus der Maaßen hochweise und verständige Leute waren, daß sie möchten heißen Licht in natürlichem Recht und Vernunft, und haben zuletzt das elende Klaglied singen müssen: »Ich hätt' es nicht gemeinet.« Ja, Lieber, das gute Meinen macht viel Leute weinen. Summa, es ist eine hohe Gabe, wo Gott einen Wundermann giebt, den er selbst regiert; derselb' mag ein König, Fürst und Herr heißen mit Ehren, er sei selbst Herr, wie David, Augustus u. s. w., oder Rath zu Hofe, wie Naëman zu Syrien.2. Könige, 5. – D. Darum spricht auch Salomo in seinem »Prediger«:10. 11. Bei Herder fehlen die Worte: »in seinem Prediger«, ebenso vorher: »wie David, Augustus u. s. w.« und »wie Naëman zu Syrien«. – D. »Zu laufen hilft nicht schnell sein; zum Streit hilft nicht stark sein; zum Reichthum hilft nicht klug sein; angenehm sein, dazu hilft nicht, Alles wohl können, sondern Alles liegt es an der Zeit und am Glück.« Was ist das anders gesagt, denn so viel: Weisheit mag da sein, hohe Vernunft mag da sein, schöne Gedanken und kluge Anschläge mögen da sein; aber es hilft nichts, wenn sie Gott nicht giebt und treibt, sondern gehet Alles hinter sich.« Soweit Luther.

18.

Luther war ein patriotischer großer Mann. Als Lehrer der deutschen Nation, ja als Mitreformator des ganzen jetzt aufgeklärten Europa ist er längst anerkannt; auch Völker, die seine Religionssätze nicht annehmen, genießen seiner Reformation Früchte. Er griff den geistlichen Despotismus, der alles freie, gesunde Denken aufhebt oder untergräbt, als ein wahrer Hercules an und gab ganzen Völkern, und zwar zuerst in den schwersten, den geistlichen Dingen den Gebrauch der Vernunft wieder. Die Macht seiner Sprache und seines biedern Geistes vereinte sich mit Wissenschaften, die von und mit ihm auflebten, vergesellschaftete sich mit den Bemühungen der besten Köpfe in allen Ständen, die zum Theil sehr verschieden von ihm dachten; so bildete sich zuerst ein populares literarisches Publicum in Deutschland und in den angrenzenden Ländern. Jetzt las, was sonst nie gelesen hatte; es lernte lesen, was sonst nicht lesen konnte. Schulen und Akademien wurden gestiftet, deutsche geistliche Lieder gesungen und in deutscher Sprache häufiger als sonst gepredigt. Das Volk bekam die Bibel, wenigstens den Katechismus in die Hände; zahlreiche Secten der Wiedertäufer und andrer Irrlehrer entstanden, deren viele, jede auf ihre Weise, zu gelehrter oder populärer Erörterung streitiger Materien, also auch zu Uebung des Verstandes, zu Politur der Sprachen und des Geschmacks beitrug. Wäre man seinem Geist gefolgt und hätte in dieser Art freier Untersuchung auch Gegenstände beherzigt, die zunächst nicht in seiner Mönchs- und Kirchensphäre lagen, daß man nämlich auf sie die Grundsätze anwendete, nach denen er dachte und handelte! Doch was nützt es, vergangne Zeiten zu lehren oder zu tadeln? Laßt uns seine Denkart, selbst seine deutlichen Winke und die von ihm ebenso stark als naiv gesagten Wahrheiten für unsre Zeit nutzen und anwenden! Ich habe mir aus seinen Schriften eine ziemliche Anzahl Sprüche und Lehren angemerkt, in denen er (wie er sich selbst mehrmals nannte) sich wirklich als Ekklesiastes, als Prediger und Lehrer der deutschen Nation darstellt. Neulich führte ich an, was er von der Regimentsveränderung dachte; laßt uns jetzt hören, was er vom Pöbel und von den Tyrannen hält.In der Schrift: Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können? (1527.) – D.

Luther's Gedanken vom Pöbel und von den Tyrannen.

»Die Heiden, weil sie von Gott nichts wußten, auchDie Worte »von Gott nichts wußten, auch« fehlen bei Herder. – D. nicht erkannt haben, daß weltliches Regiment Gottes Ordnung sei (denn sie haben's für ein menschlich Glück und That gehalten), die haben hie frisch drein gegriffen, und nicht allein billig, sondern auch löblich gehalten, unnütze, böse Obrigkeit absetzen, würgen und verjagen. – Es ist aber dahinten eine böse Folge oder Exempel, daß, wo es gebilligt wird, Tyrannen zu morden oder zu verjagen, reißt es bald ein, und wird ein gemeiner Muthwille draus, daß man Tyrannen schilt, die nicht Tyrannen sind, und sie auch ermordet, wie es dem Pöbel in Sinn kommt; als uns die römischen Historien wohl zeigen, da sie manchen feinen Kaiser tödteten, allein darum, daß er ihnen nicht gefiel oder nicht ihren Willen thät und ließ sie Herren sein. – Man darf dem Pöbel nicht viel pfeifen, er tollet sonst gern; und ist billiger, demselben zehn Ellen abbrechen, denn eine Hand breit, ja eines Fingers breit einräumen in solchem Fall. – Denn der Pöbel hat und weiß keine Maaße, und steckt in einem Jeglichen mehr denn fünf Tyrannen. – Gott spricht: »Die Rache ist mein, ich will vergelten!« – Ein böser Tyrann ist leidlicher denn ein böser Krieg; welches Du mußt billigen, wenn Du Deine eigne Vernunft und Erfahrung fragest. – Gott läßt einen Buben regieren um des Volks Sünde willen. Gar fein können wir sehen, daß ein Bube regiert; aber das will Niemand sehen, daß erBei Luther geht noch voran: »nicht um seiner Büberei willen, sondern«. – D. um des Volks Sünde willen regieret. – Laß Dich nicht irren, daß die Obrigkeit böse ist; es liegt ihr die Strafe und Unglück näher, denn Du begehren möchtest. –

»Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern, sind zwei Ding', so weit von einander als Himmel und Erde. Aendern mag leichtlich geschehen; Bessern ist mißlich und gefährlich. Warum? Es stehet nicht in unserm Willen oder Vermögen, sondern alleine in Gottes Willen und Hand. Der tolle Pöbel aber fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern daß nur anders werde; wenn's denn ärger wird, so will er abermal ein Anderes haben. So kriegt er denn Hummeln für Fliegen und zuletzt Hornissen für Hummeln. Und wie die Frösche vorzeiten auch nicht mochten den Klotz zum Herren leiden, kriegten sie den Storch dafür, der sie auf den Kopf hackte und fraß sie. Es ist ein verzweifelt, verflucht Ding um einen tollen Pöbel, welchen Niemand so wohl regieren kann als die Tyrannen; dieselbigen sind der Knittel, dem Hunde an den Hals gebunden. Sollten sie besserer Weise zu regieren sein, Gott würde auch ander Ordnung über sie gesetzt haben denn das Schwert und die Tyrannen. Das Schwert zeigt wohl an, was es für Kinder unter sich habe, nämlich eitel verzweifelte Buben, wo sie es thun dürften. –

In der Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541). – D. »Desgleichen will ich und kann auch nicht getröstet haben unsre Niphlim,Giganten, nach Luther zu 1. Mos., 6. 1. – D. die Tyrannen, Wuchrer und Schelmen unter dem Adel, die sich lassen dünken, Gott habe uns das Evangelium darum gegeben und vom geistlichen Gefängniß erlöset, daß sie mögen geizen, schinden und allen Muthwillen treiben, ihre Fürsten pochen, Land und Leute drücken und Alles in Allem sein wollen, das ihnen nicht befohlen, sondern verboten ist. Diese sind es, so dazu helfen, daß Gottes Zorn den Türken zum Drescher über uns, über sie selbst auch schicket, wo sie nicht Buße thun werden. Denn unmöglich ist's, daß Deutschland sollte stehen bleiben, auch untrüglich und unleidlich, wo solche Tyrannei, Wucher, Geiz, Muthwille des Adels, Bürgers, Bauers und aller Stände so sollten bleiben und zunehmen: es behielte zuletzt der arme Mann keine Rinde vom Brod im Hause und möchte lieber oder ja so gern mit der Weise unter dem Türken sitzen als unter solchen Christen.«

»Es stellen und zieren sich fast der mehrere Theil des Adels so lästerlich und so schändlich, daß sie damit dem gemeinen Mann böses Blut und argen Wahn machen, als sei der ganze Adel durch und durch kein Nutze. –

»Woher werden Tyrannen? Weil sie ihr Vertrauen auf ihre Macht setzen. Alle Weltweisen haben geklagt über die Beschwerung, so im Regiment ist, und daher pflegen auch die Tyrannen zu kommen, welche, wenn sie sehen, daß ihre Rathschläge und ihr Thun, das Alles sehr fein verordnet, keinen Fortgang oder Glück haben, oder daß ihnen Andre Widerstand thun, so werden sie gar toll und unsinnig und werden aus frommen Fürsten Tyrannen, die mit Gewalt und andrer Leute Schaden, welche sie meinen, daß sie ihnen im Wege liegen, sich unterstehen, hindurchzubrechen und damit ihre Gewalt zu erhalten; denn es sind nicht tapfere Helden, die sich selbst zwingen könnten, sondern hangen und folgen ihren Begierden nach. –

»Also werden auch zur Zeit des Antichrist's Etliche sein, welche so genau auf den Frommen Achtung geben werden, ob er etwas aus Unvorsichtigkeit rede oder thue, das sie entweder mit Gewalt oder mit List können verdrehen oder gewaltsamerweise auf so einen Verstand ziehen, der wider den heiligen Sitz der Bestie sei, damit sie alsobald nach Gewohnheit unsrer Papisten schreien können: »Zum Feuer!« da doch Derjenige, der es gesagt, entweder niemals daran gedacht oder es doch niemals hat öffentlich vorbringen wollen. Ja, wenn auch der Fromme etwas mit aller möglichsten Vorsicht geredet hat und sich keiner Gefahr befürchten können, so wird doch dieses der Gottlosen Amt sein, die besten Reden zu verlästern und in den unschuldigen Silben Gift, wie die Spinne in den Rosen, zu finden. Dieses thun sie ihrem Bedünken nach nicht aus unweiser Absicht (sintemal sie dieses aus der Erfahrung als eine gewisse Sache haben, daß es um ein tyrannisches Reich nicht gar zu sicher und glücklich stehe), wenn sie nur Diejenigen zu Grunde richten, die entweder als Schuldige können überwiesen oder doch der fälschlichen Anklage können verdächtig gemacht werden; sondern man müsse auch allen Andern zum Exempel und Schrecken Diejenigen plagen, die sich nichts weniger befürchtet, als daß sie einmal in dergleichen Fallstricke und Netze verfallen sollten. Daß also Niemand ist, der sich nicht für einem Tyrannen zu fürchten habe, wenn er sich gleich auf sein gut Gewissen verlassen kann und sich keines bösen Anschlags wider den Tyrannen bewußt ist.« So weit abermals Luther. Bewahre der Himmel uns vor solchen Zeiten! denn leider, es ist nur ein Ding Pöbelsinn und Tyrannei, mit zwei Namen genannt, wie die rechte und linke Seite.


19.

Treu' und Glaube ist der Eckstein aller menschlichen Gesellschaft. Auf Treu' und Glaube sind Freundschaft, Ehe, Handel und Wandel, Regierung und alle andre Verhältnisse zwischen Menschen und Menschen gegründet. Man untergrabe diesen Grund: Alles wankt und stürzt, Alles fällt aus einander.

Es giebt keine einseitigen Pflichten und einseitigen Rechte. Pflichten und Rechte gehören zusammen wie die obere und untere, wie die rechte und linke Seite. Was hier convex ist, ist dort concav, und bleibt dieselbe Sache, derselbe Körper.

Laßt Staaten, laßt Stände gegen einander Treu' und Glauben verlieren; wer seinen Pflichten entsagt, verliert die Rechte, die der Pflicht anklebten; er täuscht und wird getäuscht, er handelt einseitig: so wird man auch gegen ihn handeln.

Manche Vorzüge des Geistes und der Lebensweise hat man unsrer Nation absprechen wollen –, das Lob, das man ihr, das man ihren braven Männern, ihren guten Regenten und Helden durch alle Zeiten zugestand, war die sogenannte deutsche Biederkeit, Treu' und Glaube. Ihre Worte galten mehr als gesiegelte Briefe und Eidschwüre; der Herr baute auf seine Unterthanen, Unterthanen auf ihren Herrn; wenigstens ist dieses der Schild, den die meisten alten Sprüche und Apophthegmen der Deutschen vor sich tragen.

Laßt uns hören, was zu seiner Zeit der alte Luther darüber sagt:In seiner Auslegung von Psalm 101, 7 (im Jahre 1534). – D.

Deutsche, Deutschland!

»Es ist zwar eine gemein Klage in allen Ständen und Leben über falsche, verlogene Leute, wie man spricht: »Es ist keine Treu' noch Glauben mehr.« – Die alten Römer haben solch Laster an den Griechen fast getadelt, wie auch CiceroPro Flacco, 4. 9. – D. selbst sagt: »Ich gebe den Griechen, daß sie gelehrte, weise, kunstreiche, geschickte, beredte Leute sind; aber Treu' und Glauben achtet das Volk nicht.« – Wolan, es hat auch solch untreu falsch Volk itzt lange her seine Strafe gelitten vom Türken, der sie auch baar über bezahlet. Welschland hat's nachher auch gelernt, daß sie dürfen zusagen und schwören, was man will, und darnach spotten, wenn sie es halten sollen. Darum haben sie auch ihre Plage redlich, und müssen Beide, Griechen und Walen, Exempel sein des andern Gebots Gottes, da er spricht: »er solle nicht ungestraft bleiben, wer Gottes Namen mißbraucht.« Uns Deutschen hat keine Tugend so hoch gerühmet und, wie ich glaube, bisher so hoch erhoben und erhalten, als daß man uns für treue, wahrhaftige, beständige Leute gehalten hat, die da haben Ja Ja, Nein Nein lassen sein, wie deß viel Historien und Bücher Zeugen sind. – Wir Deutschen haben noch ein Fünklein (Gott woll' es erhalten und aufblasen!) von derselben alten Tugend, nämlich daß wir uns dennoch ein Wenig schämen und nicht gern Lügner heißen, nicht dazu lachen, wie die Walen und Griechen, oder ein Scherz draus treiben. Und obwol die welsche und griechische Unart einreißet (Gott erbarm's), so ist dennoch gleichwol noch das übrig bei uns, daß kein ernster, gräulicher Scheltwort Jemand reden oder hören kann, denn so er Einen Lügner schilt oder gescholten wird. Und mich dünkt (soll's dünken heißen), daß kein schädlicher Laster auf Erden sei denn lügen und Untreu beweisen; welchs alle Gemeinschaft der Menschen zertrennet. Denn Lügen und Untreu' zertrennet erstlich die Herzen; wenn die Herzen zertrennet sind, so gehen die Hände auch von einander; wenn die Hände von einander sind, was kann man da thun oder schaffen? – Darum ist auch in welschem Lande solch schändlich Trennen, Zwietracht, Unglück. Denn wo Treu' und Glauben aufhöret, da muß das Regiment auch ein Ende haben. Christus helf' uns Deutschen!«

20.

Ist Ihnen eine Ode Klopstock's zu Gesicht gekommen, die während des letzten nordamerikanischen Seekrieges erschienIm Musenalmanach von Voß auf das Jahr 1782. Die Ode erhielt in der zweiten Ausgabe von Klopstock's »Oden« manche Veränderungen. – D. und auch schon damals in der Art, diesen fürchterlichen Krieg zu führen, Spuren einer zunehmenden Humanität bemerkte? Sie wird Ihnen angenehm sein, auch nur als ein poetischer Traum, als das Gemälde einer Glück weissagenden Phantasie, gewiß aber noch mehr als eine Prophetenstimme der Zukunft betrachtet.

                    Der jetzige Krieg.

    O Krieg, des schöneren Lorbeers werth,
Der unter dem schwellenden Segel, des Windes Fluge,
Jetzo geführt wird, Du Krieg der edleren Helden,
Dich singe die Leyer, die keine Kriege sang!

    Ein hoher Genius der Menschlichkeit
Begeistert Dich!
Du bist die Morgenröthe
Eines nahenden großen Tags!

    Europa's Bildung erhebt sich mit Adlerschwunge
Durch weise Zögrung des Blutvergusses,
Durch weisere Meidung,
Durch göttliche Schonung

    In Stunden, da, den Bruder tödtend,
Der erhabene Mensch zum Ungeheuer werden muß;
Denn die Flotten schweben umher auf dem Ocean
Und suchen sich und finden sich nicht.

    Und wenn sie, verweht oder verströmt, sich endlich erblicken,
So kämpfen sie länger als je
Den viel-entscheidenden Kampf
Um des Windes Beistand.

    Und muß es denn zuletzt doch auch beginnen,
Das Treffen, so schlagen sie fern. Fürchterlich brüllet
Ihr Donner; aber er rollt
Seine Tod' in das Meer.

    Kein Schiff wird erobert, und keins, zu belastet
Von der hineinrauschenden Woge, versinkt;
Keins flammt in die Höh' und treibet,
Scheiter, umher über gesunknen Leichen.

    Der Flotten und der Schiffe Gebieter
Schlagen so, ohne gegebenes Wort.
Was brauchen sie der Worte? Die tiefer denkenden
Männer, sie handeln, verstehn sich durch ihr Handeln!

    Erdekönigin, Europa, Dich hebt bis hinauf
Zu dem hohen Ziele Deiner Bildung Adlerschwung,
Wenn unter Deinen edleren Kriegern
Diese heilige Schonung Sitte wird.

    O, dann ist, was jetzo beginnt, der Morgenröthen schönste;
Denn sie verkündiget
Einen seligen, nie noch von Menschen erlebten Tag,
Der Jahrhunderte strahlt

    Auf uns, die noch nicht wußten, der Krieg sei
Das zischendste, tiefste Brandmal der Menschheit.
Mit welcher Hoheit Blick wird, wen die Heitre
Des goldnen Tages labt, auf uns herabsehn!

    Bist Du wahrer Zukunft Weissagerin,
Leyer, gewesen? Hat der Geist, der Dich umschwebt,
Göttermenschen, oder hat er
Vernichtungsscheue Gottesleugner gesehn?


Was Klopstock beim Seekriege bemerkt, ließe es sich prosaisch nicht auch beim Landkriege, noch mehr aber beim Handel, bei jeder Art des Gewerbs und Fleißes, selbst in der Art der Erhebung öffentlicher Gefälle und Lasten, bei Behandlung stehender Heere zu Friedenszeiten, diesem entsetzlichen Druck der Menschheit, bei Einrichtung öffentlicher Gebäude, insonderheit der Gefängnisse und Krankenhäuser, bei Behandlung der Krankheiten und einer der ärgsten Krankheiten unsers Welttheils, der Rechtshändel und rechtlichen Strafen, noch klärer endlich in Behandlung der Wissenschaften, Einrichtungen der Polizei, öffentlichen Religion, Erziehung und des ganzen häuslichen Lebens bemerken? Durch Noth gezwungen, wider unsern Willen müssen wir einmal, Gott gebe bald! vernünftigere, billigere Menschen werden.


21.

Verzeihen Sie, meine Freunde, daß ich Ihrem hoffnungsvollen Glauben an den Geist der Zeiten nur furchtsam und zweifelnd beitrete. Denn sobald man dem Wort seine magische Gestalt nimmt, was bedeutet es mehr als die herrschenden Meinungen, Sitten und Gewohnheiten unsers Zeitalters; und sollten diese eines so hohen Lobes werth sein? sollten sie so große und sichre Hoffnungen für die Zukunft gewähren?

Mir ist wohl bekannt, was für schön klingende Worte seit geraumer Zeit in Schriften und Gesellschaften im Umlaufe sind; sehen Sie aber auf die Grundsätze der Menschen, die in Handlungen zur täglichen Lebensweise übergehen, was finden Sie da? Alle wahren, thätigen Gesinnungen zum Besten des Ganzen sind ihrer Natur nach mit Aufopferung verbunden; und wer opfert zu unsrer Zeit gern auf? Versuchen Sie's einmal und bringen die kleinste Sache, die Mühe, Geld, Entsagung von Privatvortheilen, am Meisten von der Eitelkeit fordert, zu Stande, und Sie werden gewahr, daß Sie ein saitenloses Clavier spielen. Die lautsten Patrioten sind oft die engherzigsten Egoisten; die wärmsten Vertheidiger des Guten sind nicht selten die kältesten Seelen; Adler in Worten, in Handlungen Lastthiere der Erde.

Hoffen Sie viel, sehr viel von aufgeklärten, guten Fürsten; das Unmögliche aber hoffen Sie nie! Auch sie sind Menschen, und nach ihrer gewöhnlichen Erziehung ist's oft zu bewundern, daß sie es noch blieben. Sie tragen die Fesseln ihres Standes; die engste Fessel ist ihre eigne von Kindheit auf gewonnene Denkart. Selten giebt es einen Friederich, der sich über das Gewohnte seiner Zeit früh und doch mit Weisheit hinaussetzt; selten! Zudem bedürfen sie als Regenten gnugsame Kenntniß der Dinge, Ueberlegung mit Andern, zur Ausführung Werkzeuge. Wenn sie diese nun nicht finden, wenn diese sie hintergehen und täuschen, wenn sie endlich aus Mißtrauen zu diesen unschicklicherweise selbst zur Sache greifen, so wird die Geschichte Joseph's II. daraus, der mit den reinsten, notwendigsten, besten Absichten von der Welt im Hafen selbst scheiterte. Ach, es muß ein Gott vom Himmel kommen oder außerordentlich gute und große, das ist wahrhaftig göttliche Menschen senden, oder die Verbesserung der Welt auf dem gewöhnlichen Wege der Zeit geht sehr langsam.

Lassen Sie mich die herrschenden Gesinnungen andrer Stände und Innungen nicht durchgehn. Jede Zunft hat ihren Zunftgeist; der fesselt, zumal in unsern Zeiten, auch den besten Gemüthern Herzen und Hände. Man fühlt die Wände des alten Systems erschüttert und fürchtet den Fall des ganzen Gebäudes: um so mißtrauischer hält man sich also an jeden Balken, an jeden Span des Balkens und glaubt, mit ihm schon gehe Alles verloren. Das alte Schwert ist verrostet: desto ängstlicher putzt man Griff und Scheide.

Ans Volk wollen wir eher mit Bedauern und Großmuth als mit Stolz und Zuversicht denken. Jahrhunderte lang ist's unerzogen geblieben; daß es erzogen werde, kann unser einziger Wunsch sein, nicht daß es herrsche, nicht daß es gebiete und lehre. Die Besserung muß vom Haupt kommen, nicht von Füßen und Händen; ich kenne nichts Abscheulicheres als eines wahnsinnigen Volks Herrschaft.

Lassen Sie Sich auch die Stimmen unsrer Philosophen nicht bis zur Täuschung bezaubern; die wärmsten sind nicht immer die hellsten Köpfe. Von ihren Wünschen, vom Anschein der guten Sache eingenommen, vom thätigen Leben und von der wahren Gestalt der Dinge entfernt, gefallen sie sich in Speculationen, oder, als der zarteste, empfindlichste Theil des Publicums, trösten sie sich über das, was nicht ist, mit Träumen, was sein sollte, also auch sein wird. Der kranke, zarte, fast nur in der Einbildung lebende Rousseau, hat er mit seinen stark ausgedrückten, rege gefühlten Visionen mehr Nutzen oder mehr Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu entscheiden.

Wie ich fürchte, strebt der Geist unsrer Zeiten vorzüglich zur Auflösung hin. Dem einen Theil der Welt sollen alle Bande aufhören; Alles soll leicht und lustig werden, weil wir des Alten satt, träge und erschlafft sind. Der andre Theil der Menschen, der sich im Besitz, leider auch oft mit Härte und Uebermuth, fühlt, verachtet die Beschwerden der Andern und scheint die Drommeten vor Jericho zu erwarten. Ein nicht erfreulicher Zustand! Ich kenne keine schlimmere Jahrszeit als die, in welcher alle Elemente gegen einander zu sein scheinen, wenn Kälte, Regen und Sturmwinde toben.

Selten hat eine Verfassung, welche es auch sei, vom Grundgesetz ihrer Entstehung sich so weit abbiegen können, daß sie ohne Sturz ihre Basis hätte verlassen mögen. Die Staaten Europa's sind auf ein System kriegerischer und religiöser Eroberung gegründet; die Pfeiler dieses Systems wanken; die Zeit nagt an ihnen; stürzen sie, so, fürchte ich, geht unter den Trümmern des Schlechteren auch das Beste mit unter. Vergönnen Sie mir also, daß ich vom Geist unsrer Zeiten hinwegsehe und mich noch etwas weiterhin an einige Gedanken des alten Philosophen zu Sans-Souci halte, der auch die Welt kannte.


Fortsetzung einiger Gedanken Friedrich's II.

»Ich bin durch ein Land gereist, wo die Natur gewiß nichts gespart hat, den Boden fruchtbar, die Gegend lachend zu machen; aber es scheint, daß sie sich an Bildung der Pflanzen, Hecken und Flüsse, die die Gegend verschönen, erschöpft und nicht Kraft gnug gehabt habe, unser Geschlecht daselbst auch so vollkommen zu machen. Ich habe fast ganz Westphalen auf unsrer Reise gesehen; und gewiß, wenn Gott seinen göttlichen Hauch dem Menschen verlieh, so muß diese Nation davon wenig bekommen haben, daß man fast fragen möchte, ob diese Menschengestalten denkende Menschen sind oder nicht.« (1738.)Im Briefe vom 24. Juli. – D.

*

»Ihr habt Recht, daß Die, die am Consequentsten handeln sollten, d. i. die Königreiche regieren und, mit einem Wort, über das Glück und Unglück der Völker entscheiden, oft die sind, die sich am Meisten dem Ungefähr überlassen. Das macht, diese Könige, Fürsten, Minister sind Menschen wie Andre; der ganze Unterschied, den das Glück zwischen sie und Leute von geringerem Range gesetzt hat, ist, daß sie wichtigere Geschäfte betreiben. Ein Strahl Wasser, der drei Fuß, ein andrer, der hundert Fuß hoch steigt, sind beides Wasserstrahlen, nur mit verschiedner Kraft emporgetrieben. Eine Königin von England, mit einem weiblichen Hofe umgeben, wird in ihrer Regierung immer etwas Weibliches zeigen, Phantasien und Launen.« (1738.)Am 11. September. – D.

*

»Nichts zeigt so sehr die Verschiedenheit unsrer von den alten Zeiten als die Art, wie das Alterthum große Männer behandelte, und wie wir sie behandeln. Große Gesinnungen, Erhabenheit der Seele, Festigkeit gelten jetzt für chimärische Tugenden. »Er will den Römer machen«, sagt man; »davon ist man zurückgekommen; das ist außer der Zeit.« Desto schlimmer! Die Römer, die sich dieser Tugenden anmaßten, waren große Männer; warum sollten wir sie nicht nachahmen in dem, was Lob verdient?« (1738.)Im Briefe vom 9. November. – D.

*

»Unter Hunderten, die zu denken glauben, ist kaum Einer, der selbst denkt. Die Andern haben nur zwei oder drei Ideen, die sich in ihrem Hirn umherdrehen, ohne neue Formen zu erhalten; und auch dieser Eine unter den Hunderten denkt vielleicht, was ein Andrer gedacht hat; sein Genie, seine Einbildungskraft ist nicht schaffend. Ein schöpferischer Geist vervielfältigt Ideen, faßt zwischen Gegenständen Beziehungen auf, die der unaufmerksame Mensch kaum bemerkt. Stärke des gesunden Verstandes ist, nach meiner Meinung, der wesentliche Theil eines Mannes von Genie. Mittheilen läßt sich dies kostbare und seltne Talent nicht; die Natur scheint damit zu geizen; um es einmal zu verleihen, nimmt sie sich ein Jahrhundert Frist.«Am 9. August 1739. Der letzte Theil dieser Stelle, von »Mittheilen läßt sich« an, ist in Versen geschrieben. – D.

*

»Der Vicegott der sieben Berge hat Avignon wiederbekommen; ein solcher Zug von Freigebigkeit ist selten bei den Regenten. Ganganelli wird darüber in die Faust lachen und bei sich selbst sagen: »Auch die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen!« Und das geschieht im philosophischen, im achtzehnten Jahrhundert! Wolan nun, Ihr Herren Philosophen, bestrebt Euch, bestreitet den Irrthum, häuft Gründe auf Gründe, um ihn in Staub zu legen;Bei Friedrich: »um den Niederträchtigen zu Grunde zu richten«. Mit Bezug auf Voltaire's Wort: »Ecraser l'infame«. Unter l'infame verstand er den Papst. – D. nie werdet Ihr es verhindern, daß nicht viele Schwache über wenige Starke den Sieg davontragen sollten. Werfet die Vorurtheile zur Thür hinaus, sie kommen zum Fenster hinein. Ein Andächtler an der Spitze des Staats, ein Ehrsüchtiger, den sein Interesse mit dem Interesse der Kirche bindet, wirft an einem Tage um, was zwanzig Jahre Eurer Arbeiten kaum vollführt haben.« (1771.)Im Briefe vom 19. März. Die Stelle beginnt: »Es geht das Gerücht, daß Ihr Avignon dem Vicegott der sieben Berge wiedergebt.« – D.

*

»Ich wünsche Euch zum neuen MinisterDem Herzog von Aiguillon. – D. des allerchristlichsten Königes Glück. Man sagt, es sei ein Mann von Geist;Hier fehlt der Satz: »In diesem Falle werdet Ihr in ihm einen entschiedenen Beschützer finden.« – D. wenn er es ist, wird er weder die Imbecillität, noch die Schwachheit haben, Avignon dem Papst zurückzugeben. Man kann ein guter Katholik sein und doch dem Statthalter Gottes seine zeitlichen Besitzthümer nehmen, die ihn zu sehr von seinen geistlichen Pflichten zerstreuen und ihn oft in Gefahr seiner Seligkeit setzen. Wie fruchtbar auch unser Jahrhundert an Philosophen sein möge, die unerschrocken, wirksam und eifrig Wahrheiten verbreiten, so muß man sich doch nicht verwundern, daß der AberglaubeBei Friedrich steht: »der Aberglaube, über den Ihr Euch in der Schweiz beklagt«. – D. auch sein Werk forttreibt. Seine Wurzeln haben Alles umschlungen; er ist ein Kind der Furcht, der Schwachheit und der Unwissenheit; diese Dreieinigkeit herrscht in gemeinen Seelen so allgewaltig als eine andre in den Schulen der Theologen. Welche Widersprüche vereinigen sich nicht im Gemüth des Menschen!Hier ist eine Stelle ausgelassen. – D. Laß einen Schelm sich vornehmen, Menschen zu betrügen, er wird Glaubende finden. Der Mensch ist zum Irren gemacht; Irrthum kommt von selbst in seinen Geist; einige Wahrheiten entdeckt er nur durch unendliche Mühe.« (1771.)Am 29. Juni. – D.

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»Die Welt wird von Gevattern und Gevatterinnen regiert; manchmal, wenn man gnug Data hat, kann man die Zukunft errathen, oft betrügt man sich aber.«Im Briefe vom 6. December 1773. – D.

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»Als ein ächter Schüler der Encyklopädisten predige ich den allgemeinen Frieden, wie wenn ich ein Apostel des Abts St. Pierre wäre, und vielleicht werde ich nicht mehr ausrichten als er. Ich sehe, daß es den Menschen leichter wird, Böses als Gutes zu thun; ich sehe, daß eine unglückliche Verkettung der Umstände uns wider unsern Willen dahinreißt und mit unsern Projecten spielt wie der Sturmwind in dem fliegenden Sande. Indessen geht der ordentliche Gang der Dinge fort.« (1773.)Am 29. Februar. – D.

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»Ich habe den Artikel Krieg (in den »Encyklopädischen Fragen«) gelesen.»Und ich habe geschaudert,« fügt Friedrich hinzu. – D. Wie? ein Fürst, der seine Truppen in blaues Tuch kleidet und ihnen Hüte mit weißen Schnüren giebt, der sie sich kehren läßt rechtsum und linksum, kann er sie ehrenhalber einen Feldzug thun lassen, ohne den Ehrentitel eines Anführers von Taugenichten zu verdienen, die nur aus Noth gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk der Straßenräuber zu treiben? – Die Philosophen müssen Missionare auf Bekehrungen ausschicken, um unvermerkt die Staaten von den großen Armeen zu entladen, die sie in den Abgrund stürzen, daß nach und nach Keiner übrig sei, der sich schlage. Kein Landesherr, kein Volk wird sodann die unglückliche Leidenschaft zu kriegen mehr haben, deren Folgen so verderblich sind; Jedermann wird eine Vernunft äußern, so vollkommen als eine geometrische Demonstration. Ich bedaure sehr, daß mein Alter mich eines so schönen Anblicks beraubt, von dem ich nicht einmal die Morgenröthe erleben werde. Beklagen wird man mich und meine Zeitgenossen, daß wir in einem Jahrhundert der Finsterniß lebten, an dessen Ende zuerst die Dämmerung der vervollkommeten Vernunft anbrach. Alles hängt ja von der Zeit ab, in der ein Mensch auf die Welt tritt.« (1773.)In den Briefen vom 9. October und vom 26. November. – D.

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»Gegen das viertägige Fieber und gegen den Krieg declamiren, ist gleich vergebliche Arbeit.Friedrich sagt: »Ich gestehe, ich wollte lieber gegen das viertägige Fieber als gegen den Krieg declamiren.« – D. Die Regierungen lassen die Philosophen schreien und gehen ihren Weg; das Fieber nimmt davon auch keine Kunde. – – Es hat Kriege gegeben, so lange die Welt ist, und wird Kriege geben, wenn wir nicht mehr hier sind. – – Ein Arzt muß das Fieber wegschaffen, nicht darüber satirisiren.«In den Briefen vom 4. Januar, 16. Februar und 30. Juli 1774. – D.

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»Ludwig XV. ist nicht mehr.Bei Friedrich: »Was den guten Ludwig XV. betrifft, so ist er mit der Post zum ewigen Vater gegangen. Es war mir ärgerlich.« – D. Es war ein guter Mann, der nur einen Fehler hatte, daß er König war. – – Laßt seinen Schatten in Friede!Hier ist eine Stelle ausgelassen. – D. Man darf empfindlich sein über das Unrecht, das man leidet; man muß aber auch zu verzeihen wissen. Die finstre, gallichte Leidenschaft der Rache ziemt nicht für Menschen, die so kurz existiren. Wir müssen wechselseitig einander unsre Thorheiten vergessen und uns auf den Genuß des Glücks einschränken, das unsre Natur uns gönnt.«In den Briefen vom 19. Juni und vom 30. Juli 1774. – D.

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»Wenn Türenne und Louvois die Pfalz in die Asche legten, wenn der Marschall von Belle-Isle im letzten Kriege den Vorschlag that, ganz Hessen zu verwüsten, so sind solche Ausschweifungen ein ewiger Vorwurf der französischen Nation, die, so artig sie ist, sich zuweilen Grausamkeiten erlaubt hat, die nur für die ärgsten Barbaren gehörten. Ludwig XV. indessen verwarf den Vorschlag des Marschall Belle-Isle und zeigte sich hierin größer als sein Vorfahr.«Am 30. Juli 1774. – D.

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»Beim Leben der Könige ist schwerer über sie zu urtheilen als nach ihrem Tode; ein einziger Umstand verändert oft die Sache so, daß man billigen muß, was man vorher verdammte. Ludwig XIV. ward bei seinen Lebzeiten getadelt, daß er den Successionskrieg unternahm; jetzt läßt man ihm Gerechtigkeit widerfahren, und jeder Unparteiische gesteht ein, daß er niedrig gehandelt hätte, wenn er das Testament des Königes von Spanien nicht hätte annehmen wollen. Jeder Mensch macht Fehler, also auch die Fürsten; der wahre Weise, der Stoiker und der vollkommene Fürst haben nicht existirt und werden nicht existiren. Fürsten wie Karl der Kühne, Ludwig XI., Alexander VI., Ludwig Sforza sind die Geißeln ihrer Völker und der Menschheit; solche Fürsten aber existiren jetzt nicht in unserm Europa. Wir haben schwache Regenten,Friedrich schreibt: »Wir haben zwei Könige, närrisch zum Anbinden, eine Anzahl schwacher Regenten«. – D. nicht aber Ungeheuer wie im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert. Schwäche ist ein unverbesserlicher Fehler; man muß sich deshalb an die Natur, nicht an die Person halten. Ich gebe zu, sie thun aus Schwachheit Böses; in Erbreichen ist's aber einmal ein nothwendiges Uebel, daß auch solche Wesen an der Spitze der Nation stehen; denn in keiner Familie folgen große Männer in einer Reihe unverrückt auf einander. Glaubt mir! menschliche Einrichtungen werden nie zu einem gewissen Grade der VollkommenheitFriedrich: »nie zur Vollkommenheit«. – D. kommen; man muß sich mit dem Beinahe gnügen und gegen unabänderliche Mißbräuche nicht gewaltsam declamiren.«Im Briefe vom 20. October 1774. – D.

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»Ich wünsche der französischen Nation Glück über die Wahl, die Ludwig XVI. an Ministern gemacht hat. »Die Völker,« hat ein AlterPlato. »Vom Staate«, V. 18. – D. gesagt, »werden nicht glücklich sein, als wenn Weise ihre Könige sein werden.« Die französischen Minister, wenn sie gleich nicht Könige sind, gelten doch für dieselben an Ansehen und Gewalt. Euer König hat die besten Gesinnungen von der Welt, er will das Gute; nichts ist für ihn mehr zu fürchten als die Pest der Höfe, die ihn mit der Zeit umkehre und verderbe. Er ist jung; er kennt die Listen und Feinheiten nicht, dadurch die Hofleute ihn in ihr Interesse zu ziehen, ihn für ihren Haß oder ihre Ehrsucht einzunehmen suchen werden. Von Kindheit an ist er in der Schule des Fanatismus und der Imbecillität gewesen; dies muß fürchten machen, daß er sich nicht getraue, selbst zu untersuchen, was man ihn verehren gelehrt hat.«Im Briefe vom 13. August 1775. – D.

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»Was Ihr von unsern deutschen Bischöfen sagt, ist nur zu wahr; »sie werden fett von den Zehnden aus Zion.«Friedrich: »Ce sont des porcs engraissés des dîmes de Sion«, wie Voltaire einen reichen Prälaten nannte: »porc engraisseé des dîmes de Sion«. – D. Aber im heiligen römischen Reich machen das Herkommen, die goldne Bulle und dergleichen alte Thorheiten die eingeführten Mißbräuche ehrwürdig. Man sieht sie, zuckt die Schultern, und die Sachen gehen ihren Gang fort. Den Fanatismus zu vermindern. muß man an die Bischöfe noch nicht rühren; aber die Mönche, insonderheit die Bettelmönche muß man vermindern. Damit wird das Volk kühler und wirdDie Worte »weniger abergläubisch« sind ausgefallen. – D. den Mächtigen überlassen, die Bischöfe allgemach zum Besten des Staats zu disponiren. Dies ist der gangbare Weg. Allmählig und ohn' alles Geräusch das Gebäude der Unvernunft untergraben, heißt es selbst fallen machen. In der Lage, in welcher der Papst ist, muß er Bullen und Breve geben, wie seine geliebten Söhne sie irgend verlangen; diese Macht, auf den idealischen Credit des Glaubens gebaut, mindert sich, wie sich der Glaube mindert; und wenn an der Spitze der Nationen nur einige Minister sind, die sich über die gemeinen Vorurtheile erheben, so macht der heilige Vater banquerout. Schon sind seine Wechsel und Papiere zur Hälfte in Mißcredit. Ohne Zweifel wird die Nachwelt den Vortheil genießen, frei denken zu können und keine Auftritte mehr zu sehen, wie sie Toulouse und Amiens zeigten.«In demselben Briefe. Am Schlusse steht: »Toulouse, Abbeville« u. s. w. – Abbeville war mit Bezug auf die dortige Verurtheilung des jungen Morival genannt, welche Voltaire rückgängig machen wollte. – D.

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»Ich kenne weder Turgot noch Malesherbes; wenn sie wahre Philosophen sind, sind sie an ihrem Platz. Weder Vorurtheil noch Leidenschaft gilt in den Geschäften; die einzige erlaubte Leidenschaft ist fürs gemeine Beste. So dachte Marc-Aurel, und so soll jeder Regent denken, der seine Pflicht erfüllen will.«Im Briefe vom 8. September 1775. – D.

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»Die Regierung in Pensylvanien, wie sie jetzt eingerichtet ist, gefällt Euch; sie ist nur ein Jahrhundert alt; laßt sie noch fünf oder sechs Jahrhunderte fortdauern, und Ihr kennt sie nicht mehr. So wahr ist es, daß Unbestand eines der beständigsten Gesetze der Welt sei. Laß Philosophen die weiseste Regierung gründen, sie wird dasselbe Schicksal haben; und sind die Philosophen vor Irrthum immer gesichert gewesen? Sie haben ihn selbst oft auf die Bahn gebracht, wie des Aristoteles substantielle Formen, der Galimathias des Plato, Descartes' Wirbel und Leibniz' Monaden zeigen. Was ließe sich nicht von den Paradoxen sagen, mit denen Rousseau, wenn man ihn unter die Philosophen rechnen kann, Europa beschenkt hat! Und doch hat er manchen guten Vätern das Hirn so weit verrückt, daß sie ihren Kindern die Erziehung seines Emil's geben. Aus allen diesen Beispielen folgt, daß ungeachtet der guten Absichten, ungeachtet aller angewandten Mühe die Menschen in keiner Sache zur Vollkommenheit gelangen werden.«Am 29. September 1775. – D.

*

»Ich wünsche Euch zu Eurer guten Meinung von der Menschheit Glück; ich, der ich aus Pflicht meines Standes diese Gattung Geschöpfe auf zwei Beinen ohne Federn sehr gut kenne, muß Euch voraussagen, daßFriedrich: »daß weder Ihr noch«. – D. alle Philosophen der Welt das menschliche Geschlecht von dem Aberglauben nicht frei machen werden, an dem es hängt. Die Natur hat dieses Ingrediens in die Composition der ganzen Gattung gemischt; eine Furcht, eine Schwäche, eine Leichtgläubigkeit, eine Uebereilung des Urtheils zieht die Menschen durch einen natürlichen Hang in das System des Wunderbaren; und es giebt nur wenig philosophische Seelen, die stark genug gebaut sind, um die tiefen Wurzeln der Vorurtheile, die die Erziehung in sie schlug, zu zerstören. Diesen hat sein gesunder Verstand von einigenWörtlich: »von den«. – D. Volksirrthümern losgemacht, er empörte sich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der Tod ihm näher, und aus Furcht fällt er in den Aberglauben zurück; er stirbt als Kapuziner. Bei Jenem hängt seine Art zu denken von einer guten oder übeln Verdauung ab. Es ist also nicht gnug, Menschen den Trug zu entnehmen; man müßte ihnen auch eigne Stärke des Geistes einhauchen können, oder Empfindlichkeit und der Schrecken des Todes werden auch über die stärksten, nach aller Methode vorgetragenen Vernunftlehren triumphiren. Ihr glaubt, weil Quaker und Socinianer eine einfachere Religion festgestellt haben, man diese noch mehr simplificiren und auf solchen Grund einen neuen Glauben aufführen könnte; ich komme aber auf mein Voriges zurück und binHier ist »fast« ausgefallen. – D. überzeugt, daß wenn diese Heerde Neuglaubender angewachsen wäre, sie in Kurzem einen neuen Aberglauben in die Welt stellen würde; es sei denn, daß sie nur aus Seelen, frei von Furcht und Schwachheit, bestünde. Und diese sind nicht die gemeinsten.Friedrich: »Dies findet man nicht gewöhnlich« (communément). – D. Das glaube ich indeß, daß die Stimme der Vernunft, wenn sie sich gegen den Fanatismus immer stärker erhebt, die zukünftige Generation duldsamer, als die jetzige ist, machen kann; und auch das ist schon viel gewonnen.«Im Briefe vom 24. October 1766 (in den Oeuvres posthumes mit 1765 bezeichnet). – D.


22.

Gern geben wir Ihnen den größten Theil Ihrer Zweifel, die Sie mit dem Ansehen des großen Königes unterstützt haben, zu; aber was folgt daraus? Sollen wir, wenn wir auch Ursache hätten, an der höchsten Vollendung des edelsten Werks zu zweifeln, dies Werk deswegen aufgeben und an der guten Sache verzweifeln? Das wollte der große König nicht; er blieb seiner Pflicht getreu und ließ die Hand nicht vom Steuer, wenn er gleich wußte, daß er sein Schiff nicht ewig regieren könnte. Zu dieser Thätigkeit munterte er seine Freunde auf, hielt seine Unterthanen an; sie war ihm die Seele des Lebens. Auch sahe er wohl, daß die Zeit fortrückte. »Es scheint,« sagt er im Jahr 1777,Am 18. November. – D. »daß Europa jetzt im Zuge ist, sich über alle Gegenstände, die auf das Wohl der Menschheit am Meisten Einfluß haben, aufzuklären, und man muß Euch das Zeugniß geben, daß Ihr mehr als Einer unsrer Zeitgenossen dazu beigetragen habt, es mit der Fackel der Philosophie zu erleuchten.« Wenn er auf seinem Standpunkt, dazu im höchsten Alter, nicht in jede brausende Hoffnung der Encyklopädie einstimmen konnte, so war dies nicht nur ihm verzeihlich, sondern sehr vernünftig. Der Menschheit zu viel und zu wenig zutrauen wollen, Beides ist schädlich.

Daß es zu unsrer Zeit edle, gute, große, selbst aufopfernde Seelen gebe, diesen Glauben wird mir Niemand rauben; denn ich habe ihn durch Erfahrung bewährt. Daß selbst diese Großmuth aber, wie alles Andre, das Gewand der Zeit tragen müsse, kann uns nicht unerwartet sein. Weil wir so gar viel bedürfen, sind wir von gar viel Fesseln gebunden; daß diese drückenden Fesseln aber wenigstens der Großmuth loser gemacht werden möchten, wer wünscht dies mehr als die ächte Humanität selbst? Fast kann sie ihres Wunsches auch nicht ungewiß sein, da bei dem immer wachsenden unersättlichen Bedürfniß die Natur der Dinge selbst einen neuen Anfang herbeizuführen scheint. Wenn jeder Einzelne fühlt, er könne in seinem jetzigen Verhältniß der leidenden Menschheit nicht zu Hilfe kommen, wie er sollte, so werden, so müssen sich diese Verhältnisse mit der Zeit ändern. Die Natur selbst arbeitet daran, und keine menschliche Kraft kann es hindern. Ist das Salz, das den Körper würzen soll, abgeschmackt, wozu ist es nach dem Evangelium nütz, als daß man es hinauswerfe und lasse es die Leute zertreten?

Auch darüber wollen wir uns also nicht wundern, wenn gewisse alte Aeste und Zweige unserer Verfassung nicht mehr so viel Cultur erhalten als ehmals. Man fühlt, daß sie dürre Aeste sind, und wünscht junge Sprossen an ihre Stelle. Laßt uns Die beklagen, die als fruchtbare Zweige auf einem dürren Ast stehen; laßt uns Die tadeln, die den Ast verdorren ließen oder ihm seinen Saft entzogen: die Achtung und Meinung der Zeit aber kann sich nur nach dem, was da ist, nicht was es ehemals war oder künftig sein wird, gestalten. Jedes der Menschheit erwiesene Unrecht rächt aufs Fürchterlichste sich selbst; und wehe, wem der Glaube oder Nichtglaube hieran mit Spott und Verachtung in die Hand kommt!

Stände veralten; mithin verjüngen sich auch Stände. Es ist ein und dasselbe Gesetz der Natur, das diese Seite des Rades hinunter-, jene emporkehrt. Neuen Most, sagt das Evangelium, fasse man in neue Schläuche, so werden sie beide erhalten.Matth., 9. 17.– D.

Was hilft es, gegen die Vorurtheile der Erziehung Klage erheben? Man bessre die Erziehung, so fallen die Klagen weg. Philosophie aber kann dies nicht allein thun; sie ist nur der linke Arm, Regierung ist der rechte Arm der Menschheit; nur mit beiden läßt sich das große Werk, und alsdann sehr leicht vollführen.

Was nützt es, über ungeschaffene oder halbgeschaffene Menschen zu klagen, deren Ausbildung ja uns allein überlassen ward? Dem trägen Erdklotz hauche Othem des Lebens ein; er wird sich munter bewegen und Dir fröhlich danken.

Ist's gnug, auch in der Regierung der Völker Uebel zu bedauern, die wir heilen, denen wir zuvorkommen können? Laßt Stände, laßt Menschen in allen Aemtern und Bedienungen human und gerecht, groß, gut und billig denken; der Regent kann nicht anders, als mit und gleich ihnen denken. Denn nur aus einzelnen Theilen besteht das Ganze; verbessern sich die Theile und halten zusammen, das Ganze wird gut, ehe man's merkt.

Tadeln Sie mir also nicht meine Philosophen, auch bei ihren kränklichen Klagen oder bei ihren überspannten Wünschen! Ist nicht der kränkliche Theil des Körpers der Witterung am Meisten empfindlich? Der Hygrometer muß zart, das Quecksilber muß in einer gläsernen Röhre verschlossen sein, wenn sie ihr Amt thun sollen. Anderntheils muß, wer Andre ermuntern, entflammen will, selbst warm und munter sein. Der kältere Beobachter oder Geschäftsmann wird ihn schon zurecht weisen.

Welch ein Unglücksprophet sind Sie aber, daß Sie das barbarische Kriegs- und Eroberungssystem für die unerschütterliche Grundfeste Europa's halten? Das hat der große König nicht gemeint, so manchen Einfall er sich zumal in jungem Jahren über den guten Abt St. Pierre erlaubte.Vgl. Brief 21, S. 90. – D. Wäre diese traurige Behauptung wahr, was könnte man anders sagen, als zum Wohl der Menschheit gehe das unglückliche Europa unter? Hat es nicht lange gnug sich selbst und die Welt beunruhigt? Triefen nicht alle Länder vom Blut Derer, die es erschlug, vom Schweiß Derer, die es als Sclaven quälte? Auf den Tafeln der Natur steht das große Gesetz der Billigkeit und Wiedervergeltung geschrieben: »Man mache gut, was man böse gemacht hat, oder büße durch eigne Verbrechen.« Ich hoffe das Erste. Europa wird gut machen, was es im Taumel der Leidenschaft, unter den Hüllen des Aberglaubens und der Barbarei, unter dem Joch der Vorurtheile und des Despotismus böse gemacht hat; und die ganze Menschheit wird sich seiner klareren Vernunft, seiner gesetzteren Billigkeit, seines richtigem Calcüls freuen.

Denken Sie Sich eine Gattung Thiere, die nicht Bedürfnisses, sondern des Vergnügens, der Kunst, der Raserei eines Einzigen ihrer Art wegen sich selbst aufriebe: was würden Sie vom Urheber der Natur sagen? Sich selbst zu regieren, einander zur Glückseligkeit zu helfen, dazu ist das menschliche Geschlecht gemacht; nicht einander zu sieden, zu braten und künstlich zu morden.

Der große Friederich nannte die Kriege Fieberanfälle der Menschheit.»La fièvre chaude héroïque de l'Europe« nennt er am 16. Januar 1758 den damaligen Krieg. – D. Dem Fieber ruft man einen Arzt; auch dies Fieber wird seinen Arzt finden, der seine Anfälle wenigstens lindre und mindre. Denn das Menschengeschlecht dauert fort; was eine Zeit nicht thun konnte, kann die andre. Plus ultra! ist der Spruch der Menschheit, plus ultra! Kein Hercules hat an ihre letzten Säulen gereicht; Niemand wird sie erreichen.


23.

Ist's Braga's Lied im Sternenklang,
Ist's, Tochter Dval's,Die nordische Parze. Braga ist der Gott der Dichtkunst. – H. Dein Weihgesang,
Was rings die alte Nacht verjüngt
Und mich, ach! meinen Staub durchdringt? –
Kann dies die Stätte sein, wo wir
Ins Thal des Schweigens flohn?
Wie reizend, wie bezaubernd lacht
Die heitre Gegend, wie voll sanfter Pracht!
In schönrer Majestät, in reiferm Strahle
Glänzt diese Sonne. Milder stießt vom Thale
Mir fremder Blüthen Frühlingsduft,
Und Balsamgeister steigen durch die Luft.
Ha! nicht also in festlichem Gewand
Grüßt' ich Dich einst, mein mütterliches Land.
Unfreundlich, ungeschmückt und rauh und wüste
In trübem Dunkel schauerte die Küste.
Kein Himmel leuchtete mild durch den Hain,
Kein Tag der Aehren lud zu Freuden ein;
In Höhlen lauschte Graun und Meuterei,
Und was am Ufer scholl, war Kriegsgeschrei.

In sanfter, ätherischer Musik schallten diese Worte um mein Ohr, indeß mein schlummerndes Auge im Traum ein sehr erfreuliches Gesicht sahe. An der Hand eines ehrwürdigen Barden erschien ein altdeutscher Druide. Der Druide suchte vergebens seinen längst zerstörten heiligen Hain, seine zertrümmerte Opferstätte. Der Barde suchte die verlornen Fußtapfen seiner Helden; er sah neue Gesetze, neue Anstalten für Ruhe, Ordnung, Recht und Wohlstand der Menschen; Gärten und Fluren lachten um ihn her; neue Lieder erklangen, nicht blutige Heldenlieder. Da ergriff er seine längst verstummte Harfe; er sang die Töne, deren einzelne Laute ich eben aus der Erinnerung angeführt habe, und das Gesicht zog vorüber.Die Stelle ist aus Gerstenberg's »Gedicht eines Skalden«. Kopenhagen und Leipzig 1766. – H. [Aus dem Anfang des ersten und vierten Gesanges. Bei Gerstenberg beginnt V. 4: »Auch mich«; V. 6 steht nach »flohn« noch: »Gefühl, kaum glaub' ich Dir!« V. 12 »Balsamgeister strömen«. – D.]


Nur die zauberische Gegend blieb vor meinem Auge; ich wachte und träumte. Was ich sah, war die jetzige Welt und die Zukunft; ich glaubte (so mischen wir im Traum die Dinge unter einander!) mit physisch-moralischem Geist von der unmittelbarsten Gegenwart der Dinge auf ihre Folgen zu schließen, oder vielmehr nicht zu schließen, weil in der wachenden Erscheinung Gegenwart und Zukunft nur Eins war. Es war die Blume in voller Gestalt; es war der Baum mit allen seinen Früchten. »Ach!« sprach ich zu mir selbst, »Ephemeren, die wir glauben, mit uns gehe Himmel und Erde unter! Blinde, die so selten gewahr werden, woran sie selbst arbeiten und was sich vor ihnen entwickelt. Die Gegenwart ist schwanger von der Zukunft; das Schicksal der Nachwelt ist in unsrer Hand, wir haben den Faden geerbt, wir weben ihn und spinnen ihn weiter.«

Wollen Sie, meine Freunde, etwas aus diesem meinem wachenden Traume wissen? Hier sind einige Züge, von denen ich Ihnen künftig genaue Rechenschaft zu geben hoffe;In der Folge des Briefwechsels finde ich diese Anlagen entwickelt. – H. [Die Briefe kommen nicht mehr darauf zurück. – D.] denn, wie Sie wissen, Träume werden nur aus Erfahrungen, und das Grundgewebe dieser Hoffnungen sind sehr überdachte Gedanken.

Ich stellte mir den Zustand der künftigen Literatur aus dem Zusammenhange der jetzigen und der vergangenen vor; ich sah die Morgenröthe eines schönen werdenden Tages. Was erfindsame, fleißige Geister unsrer Zeit und der Vorzeit Nützliches versuchten, begannen, thaten, sah ich von der Nachwelt gebraucht und übertroffen. Sie berichtigte Erfindungen, auf Anlagen baute sie; sie schuf sich gleichsam neue Organe; die ganze Ansicht der Dinge war verändert.

Unsre Bemühungen, die Alten in ihrem Geist zu lesen, waren nichts weniger als verkannt; ich hörte den Namen einiger meiner Freunde mit Liebe und Hochachtung nennen. Man war aber weiter gekommen; man dachte und schrieb wie die Alten. Zeiten, denen ähnlich, in denen die edelsten Griechen und Römer schrieben, waren erschienen; man schrieb, was man sah und that, und schrieb merkwürdige Dinge. Der Feldherr und Bürger, der Philosoph und Staatsmann trennten sich nicht von einander.

Zeiten waren gekommen, in denen nicht Strafen allein, sondern auch öffentliche Ehren und Belohnungen waren. Da lebten Künstler, da sangen Dichter. Es war Griechenland und war es auch nicht; denn drittehalb Jahrtausende waren nicht umsonst verflossen in dem immer auf einander bauenden Tempel der Zeiten. Mein Herz erhob sich, da ich aus meinen Tagen einzelne Laute meiner Bekannten und Freunde hörte.

Ich sah ein Theater, wie ich's zu unsrer Zeit nicht gesehen hatte, dem griechischen sehr ähnlich. Sogar der Chor erschien auf demselben wieder, als Zeuge einer allgemeinen Theilnehmung an dem, was verhandelt ward, unserer Zeit fremde.

Ich bemerkte den Zustand der Philosophie; Männer, die mir theuer gewesen waren, erblickte ich als Gesetzgeber und Einrichter der Nachwelt. Meine ganze Seele war wie in den Tagen meiner Jugend.

Gesetze endlich, Regierungen, der Zustand der Menschheit waren so, und so leicht verändert, daß ich mich wunderte, wie wir das Alles gewußt, gekannt und nicht angewandt haben konnten. Auch hier nannte man mir heilige, verehrte Namen meiner und der Vorzeit, die ich geliebt hatte. Allenthalben, auch im Tempel der Religion, verehrte man eine Göttin, aber nicht mit Worten, sondern in Thaten und Seele, die Humanität. Indem auch ich sie anbeten wollte, riß mich ein neues Traumgesicht fort.


Durch Sturm und Wellen, über Felsen und Wüsten kam ich zum Sitze des alten Menschenfreundes Prometheus. Er war nicht mehr an seinen Felsen geschmiedet; kein Adler zehrte mehr an seiner nimmerverzehrten Leber. Gewalt und Stärke, die ihn einst angeschmiedet hatten, dienten ihm; die vom Stachel der Liebe umhergetriebene Io saß in menschlich-göttlicher Gestalt ruhig zu seiner Seite. Der alte Ocean auf seinem geflügelten Roß und die Oceaniden auf ihrem Wagen, alle menschenfreundlichen Nymphen und Pflegerinnen der Erde waren um ihn versammelt, und er sprach:

»Meine Vorsicht konnte mich nicht trügen; denn ich wußte, was ich den Menschen gegeben hatte mit meinem Geschenk. Unsterblichkeit ist nicht für sie auf Erden; aber mit dem Licht, das ich ihnen vom Olympus holte, hatten sie Alles. Träge Geschöpfe, daß sie so lang in der Dämmerung gingen! endlich haben sie das Mittel gefunden, das in ihnen selbst lag, die Vernunft. Sie giebt das Maaß und die Wage, sich selbst zu regieren, Leidenschaften, auch die stärksten und härtesten, zu überwinden und allein meiner Mutter Themis zu gehorchen. Lange litt ich mit ihren Leiden; darum war ich an den Felsen geschmiedet; die Zeit und ein edler Göttersohn, der Sohn meines ärgsten Feindes, haben mich befreit.«Vergleiche dazu Herder's spätere dramatische Ausführung (Werke, II. 143–158). – D. Das Traumbild verschwand, und ich erwachte.

»Multa renascentur, quae jam cecidere, cadentque
Quae nunc sunt in honore
Horaz' Ars poetica, 70, 71, wo von den Worten der menschlichen Sprache die Rede ist. – D.
                                    ———
»Alter erit tum Typhis, et altera quae vehat Argo
Delectos heroas, erunt etiam altera bella,
Atque iterum ad Trojam magnus mittetur Achilles
Virgil's Buc., 4. 34–36. – D.


24.

Ich fürchte, Ihr armer Prometheus wird lange noch die Fesseln tragen, die ihm Gewalt und Stärke anlegten. Um indessen nicht alte Zweifel zu wiederholen, lege ich Ihnen nur noch eine, aber eine Hauptfrage vor:

»Wäre die ganze Idee einer fortgehenden oder fortschreitenden Vervollkommung des Menschengeschlechts nicht ein bloßer Traum?« Prometheus wußte seinen armen Kranken kein anderes Heilmittel zu geben als die täuschende, blinde Hoffnung.

»Welche andre Gattung der Geschöpfe läßt sich vervollkommen? Und für wen? für sich oder für Andre? Welchen Beruf also, welche Sicherheit darüber hätte der einzige Mensch für sich? Und wo steht sein Ziel der Vollkommenheit? Die Linie dahin, ist sie eine Asymptote? eine Ellipse? eine Cykloide? oder welch eine andre Curve?«

Das menschliche Geschlecht besteht nur in einzelnen Menschen. Werden wir vollkommner geboren als unsre Vorfahren? vollkommner erzogen? Und wenn dies auch wäre: der einzelne Mensch wächst, culminirt und geht rückwärts. Ein Andrer tritt an seine Stelle, wächst, culminirt und geht rückwärts. Er nimmt, was er etwa erworben hatte, ins Grab; der Andre hat neue Mühe im Erwerben und eben den Ausgang.

»Was heißt Vervollkommung? Heißt's Vermehrung der Kräfte?« Diese bleiben in dem den Menschen von der Natur bestimmten Maaß und Kreise. Der Mensch, so oft man ihn auch einen Gott oder einen Engel nennete, kann nie ein Gott oder ein Engel werden.

»Oder wäre Vervollkommnung eine Vermehrung von Werkzeugen und Mitteln zum Gebrauch menschlicher Kräfte?« So kommt es immer doch darauf an, ob sie gut gebraucht werden; denn in den Händen des Bösewichts sind vermehrte Mittel vermehrte Uebel.

Also veränderte sich die Frage dahin: »Wird das menschliche Geschlecht (nicht cultivirter, sondern) moralisch besser? Besser in Neigungen? in Grundsätzen? in Anwendung dieser Grundsätze zu Ordnung der Neigungen? zu Bezwingung der Leidenschaften? zu mehrerer und schwererer Tugendübung?« Getraueten Sie Sich, dieses zu behaupten?

»Und woher behaupteten Sie's? Aus der Natur der Sache? aus dem Wesen der Menschheit? aus der Geschichte und Erfahrung?

»Ziehen Sie die Zusammenordnung der Menschen auf unserm Erdball klimatisch, local, politisch, und wie Sie ferner wollen, in Erwägung; bemerken Sie den Wechsel der Dinge in Reichen, in Staaten, in Familien, in Ständen: allenthalben werden Sie zwar Macht, Reichthum, Trieb, Leidenschaft, blinde Neigung herrschend finden; aber auch erleuchtete Vernunft, Weisheit, Güte? und zwar nach dem Fortgange der Zeiten mit wachsendem Lichte?«

Chronologisch und genealogisch hängt freilich das Menschengeschlecht zusammen oder rückt fort; aber auch dynamisch? rationell? moralisch?

»Und verlöre unser Geschlecht dabei, wenn es nicht fortrückte?« Der einzelne Mensch nicht; denn der lebt auf seiner Stelle und kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht; dies lebt nur in einzelnen Theilen. Die wachsende Vollkommenheit des Ganzen wäre ein Ideal, das Keinem zugutkommt, das nur in einem Alles übersehenden Geist existiren könnte, etwa im Geist des Schöpfers; und was wäre für Diesen ein solches Spielwerk!

Vergönnen Sie also, daß ich mit Lessing den ganzen Traum von wachsender Vollkommenheit unseres Geschlechts für einen heilsamen Trug annehme. Der Mensch muß nach etwas Höherem streben, damit er nicht unter sich sinke. Er muß vorwärts getrieben werden, damit er nur von der Stelle komme und nicht in Trägheit ermatte. Der Wahn einer Perfectibilität und der Trieb dazu scheint ihm nur als Verwahrungsmittel gegen die Unthätigkeit und Verschlimmerung gegeben; er geht wie in der Mühle das blinde Pferd oder wie die kletternde Ziege.

»              Oh man, proud man,
Drest in a little brief authority,
Most ignorant of what he's most assur'd,
Plays such fantastic tricks before high heav'n,
as make an angel weep

                                                                Shakespeare.Measure for measure, II. 3. Die Stelle beginnt a. a. O. mit: »O but man«; vor Plays findet sich noch der Vers: »His glassy essence – like an angry ape«, und im letzten Verse steht: »the angels«. – D.


25.

Alle Ihre Fragen über den Fortgang unsers Geschlechts, die eigentlich ein Buch erforderten, beantwortet, wie mich dünkt, ein einziges Wort: Humanität, Menschheit. Wäre die Frage: ob der Mensch mehr als Mensch, ein Ueber-, ein Außermensch werden könne und solle, so wäre jede Zeile zu viel, die man deshalb schriebe. Nun aber, da nur von den Gesetzen seiner Natur, vom unauslöschlichen Charakter seiner Art und Gattung die Rede ist, so erlauben Sie, daß ich sogar einige Paragraphen schreibe.

Ueber den Charakter der Menschheit.

1.

Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als daß das Ding sei, was es sein soll und kann.

2.

Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, daß er im Continuum seiner Existenz er selbst sei und werde; daß er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat; daß er damit für sich und Andre wuchere.

3.

Erhaltung, Leben und Gesundheit ist der Grund dieser Kräfte; was diesen Grund schwächt oder wegnimmt, was Menschen hinopfert oder verstümmelt, es habe Namen, wie es wolle, ist unmenschlich.

4.

Mit dem Leben des Menschen fängt seine Erziehung an; denn Kräfte und Glieder bringt er zwar auf die Welt, aber den Gebrauch dieser Kräfte und Glieder, ihre Anwendung, ihre Entwicklung muß er lernen. Ein Zustand der Gesellschaft also, der die Erziehung vernachlässigt oder auf falsche Wege lenkt oder diese falschen Wege begünstigt oder endlich die Erziehung der Menschen schwer und unmöglich macht, ist insofern ein unmenschlicher Zustand. Er beraubt sich selbst seiner Glieder und des Besten, das an ihnen ist, des Gebrauchs ihrer Kräfte. Wozu hätten sich Menschen vereinigt, als daß sie dadurch vollkommenere, bessere, glücklichere Menschen würden?

5.

Unförmliche also oder schief ausgebildete Menschen zeigen mit ihrer traurigen Existenz nichts weiter, als daß sie in einer unglücklichen Gesellschaft von Kindheit auf lebten; denn Mensch zu werden, dazu bringt Jeder Anlage gnug mit sich.

6.

Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte. Die Fertigkeiten, die er sich erwirbt, die Tugenden oder Laster, die er ausübt, kommen in einem kleinern oder größeren Kreise Andern zu Leid oder zur Freude.

7.

Die gegenseitig wohlthätigste Einwirkung eines Menschen auf den andern jedem Individuum zu verschaffen und zu erleichtern, nur dies kann der Zweck aller menschlicher Vereinigung sein. Was ihn stört, hindert oder aufhebt, ist unmenschlich. Lebe der Mensch kurz oder lange, in diesem oder jenem Stande, er soll seine Existenz genießen und das Beste davon Andern mittheilen; dazu soll ihm die Gesellschaft, zu der er sich vereinigt hat, helfen.

8.

Geht ein Mensch von hinnen, so nimmt er nichts als das Bewußtsein mit sich, seiner Pflicht, Mensch zu sein, mehr oder minder ein Gnüge gethan zu haben. Alles Andre bleibt hinter ihm den Menschen. Der Gebrauch seiner Fähigkeiten, alle Zinsen des Capitals seiner Kräfte, die das ihm geliehene Stammgut oft hoch übersteigen, fallen seinem Geschlecht anheim.

9.

An seine Stelle treten junge, rüstige Menschen, die mit diesen Gütern forthandeln; sie treten ab, und es kommen Andre an ihre Stelle. Menschen sterben, aber die Menschheit perennirt unsterblich. Ihr Hauptgut, der Gebrauch ihrer Kräfte, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten, ist ein gemeines, bleibendes Gut und muß natürlicherweise im fortgehenden Gebrauch fortwachsen.

10.

Durch Uebung vermehren sich die Kräfte nicht nur bei Einzelnen, sondern ungeheuer mehr bei Vielen nach und mit einander. Die Menschen schaffen sich immer mehrere und bessere Werkzeuge; sie lernen sich selbst einander immer mehr und besser als Werkzeuge gebrauchen. Die physische Gewalt der Menschheit nimmt also zu; der Ball des Fortzutreibenden wird größer, die Maschinen, die es forttreiben sollen, werden ausgearbeiteter, künstlicher, geschickter, feiner.

11.

Denn die Natur des Menschen ist Kunst. Alles, wozu eine Anlage in seinem Dasein ist, kann und muß mit der Zeit Kunst werden.

12.

Alle Gegenstände, die in seinem Reich liegen (und dies ist so groß als die Erde), laden ihn dazu ein; sie können und werden von ihm, nicht ihrem Wesen nach, sondern nur zu seinem Gebrauch erforscht, gekannt, angewandt werden. Niemand ist, der ihm hierin Grenzen setzen könne, selbst der Tod nicht; denn das Menschengeschlecht verjüngt sich mit immer neuen Ansichten der Dinge, mit immer jungen Kräften.

13.

Unendlich sind die Verbindungen, in welche die Gegenstände der Natur gebracht werden können; der Geist der Erfindungen zum Gebrauch derselben ist also unbeschränkt und fortschreitend. Eine Erfindung weckt die andre auf; eine Thätigkeit erweckt die andre. Oft sind mit einer Entdeckung tausend andre und zehntausend auf sie gegründete neue Thätigkeiten gegeben.

14.

Nur stelle man sich die Linie dieses Fortganges nicht gerade, noch einförmig, sondern nach allen Richtungen, in allen möglichen Wendungen und Winkeln vor. Weder die Asymptote, noch die Ellipse und Cykloide mögen den Lauf der Natur uns vormalen. Jetzt fallen die Menschen begierig über einen Gegenstand her; jetzt verlassen sie ihn mitten im Werk, entweder seiner müde, oder weil ein andrer neuerer Gegenstand sie zu sich hinreißt. Wenn dieser ihnen alt geworden ist, werden sie zu jenem zurückkehren, oder dieser wird sie gar auf jenen zurückleiten. Denn für den Menschen ist Alles in der Natur verbunden, eben weil der Mensch nur Mensch ist und allein mit seinen Organen die Natur sieht und gebraucht.

15.

Hieraus entspringt ein Wettkampf menschlicher Kräfte, der immer vermehrt werden muß, je mehr die Sphäre des Erkenntnisses und der Uebung zunimmt. Elemente und Nationen kommen in Verbindung, die sich sonst nicht zu kennen schienen; je härter sie in den Kampf gerathen, desto mehr reiben sich ihre Seiten allmählig gegen einander ab, und es entstehen endlich gemeinschaftliche Produktionen mehrerer Völker.

16.

Ein Conflict aller Völker unsrer Erde ist gar wohl zu gedenken; der Grund dazu ist sogar schon gelegt.

17.

Daß zu diesen Operationen die Natur viel Zeit, mancherlei Umwandlungen bedarf, ist nicht zu verwundern; ihr ist keine Zeit zu lang, keine Bewegung zu verflochten. Alles, was geschehen kann und soll, mag nur in aller Zeit wie im ganzen Raum der Dinge zu Stande gebracht werden; was heute nicht wird, weil es nicht geschehen kann, erfolgt morgen.

18.

Der Mensch ist zwar das erste, aber nicht das einzige Geschöpf der Erde; er beherrscht die Welt, ist aber nicht das Universum. Also stehen ihm oft die Elemente der Natur entgegen, daher er mit ihnen kämpft. Das Feuer zerstört seine Werke; Ueberschwemmungen bedecken sein Land; Stürme zertrümmern seine Schiffe, und Krankheiten morden sein Geschlecht. Alle dies ist ihm in den Weg gelegt, damit er's überwinde.

19.

Er hat dazu die Waffen in sich. Seine Klugheit hat Thiere bezwungen und gebraucht sie zu seiner Absicht; seine Vorsicht setzt dem Feuer Grenzen und zwingt den Sturm, ihm zu dienen. Den Fluthen setzt er Wälle entgegen und geht auf ihren Wogen daher; den Krankheiten und dem verheerenden Tode selbst sucht und weiß er zu steuern. Zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle gelangt, und tausend Entdeckungen wären ihm verborgen geblieben, hätte sie die Noth nicht erfunden. Sie ist das Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibt.

20.

Ein Gleiches ist's mit den Stürmen in unsrer Brust, den Leidenschaften der Menschen. Die Natur hat die Charaktere unseres Geschlechts so verschieden gemacht, als diese irgend nur sein konnten; denn alles Innere soll in der Menschheit herausgekehrt, alle ihre Kräfte sollen entwickelt werden.

21.

Wie es unter den Thieren zerstörende und erhaltende Gattungen giebt, so unter den Menschen. Nur unter jenen und diesen sind die zerstörenden Leidenschaften die wenigern; sie können und müssen von den erhaltenden Neigungen unsrer Natur eingeschränkt und bezwungen, zwar nicht ausgetilgt, aber unter eine Regel gebracht werden.

22.

Diese Regel ist Vernunft, bei Handlungen Billigkeit und Güte. Eine vernunftlose, blinde Macht ist zuletzt immer eine ohnmächtige Macht; entweder zerstört sie sich selbst oder muß am Ende dem Verstande dienen.

23.

Desgleichen ist der wahre Verstand immer auch mit Billigkeit und Güte verbunden; sie führt auf ihn, er führt auf sie; Verstand und Güte sind die beiden Pole, um deren Axe sich die Kugel der Humanität bewegt.

24.

Wo sie einander entgegengesetzt scheinen, da ist's mit einer oder dem andern nicht richtig; eben diese Divergenz aber macht Fehler sichtbar und bringt den Calcül des Interesse unsers Geschlechts immer mehr zur Richtigkeit und Bestimmtheit. Jeder feinere Fehler giebt eine neue, höhere Regel der reinen allumfassenden Güte und Wahrheit.

25.

Alle Laster und Fehler unsers Geschlechts müssen also dem Ganzen endlich zum Besten gereichen. Alles Elend, das aus Vorurtheilen, Trägheit und Unwissenheit entspringt, kann den Menschen seine Sphäre nur mehr kennen lehren; alle Ausschweifungen rechts und links stoßen ihn am Ende auf seinen Mittelpunkt zurück.

26.

Je unwilliger, hartnäckiger, träger das Menschengeschlecht ist, desto mehr thut es sich selbst Schaden; diesen Schaden muß es tragen, büßen und entgelten; desto später kommt's zum Ziele.

27.

Dies Ziel ausschließend jenseit des Grabes setzen, ist dem Menschengeschlecht nicht förderlich, sondern schädlich. Dort kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem andern außer unsrer Welt zu belohnen, heißt den Menschen um sein Dasein betrügen.

28.

Ja, dem ganzen menschlichen Geschlecht, das also verführt wird, seinen Endpunkt der Wirkung verrücken, heißt ihm den Stachel seiner Wirksamkeit aus der Hand drehn und es im Schwindel erhalten.

29.

Je reiner eine Religion war, desto mehr mußte und wollte sie die Humanität befördern. Dies ist der Prüfstein selbst der Mythologie der verschiednen Religionen.

30.

Die Religion Christi, die er selbst hatte, lehrte und übte, war die Humanität selbst. Nichts anders als sie, sie aber auch im weitsten Inbegriff, in der reinsten Quelle, in der wirksamsten Anwendung. Christus kannte für sich keinen edleren Namen, als daß er sich den Menschensohn, d. i. einen Menschen nannte.

31.

Je besser ein Staat ist, desto angelegentlicher und glücklicher wird in ihm die Humanität gepflegt; je inhumaner, desto unglücklicher und ärger. Dies geht durch alle Glieder und Verbindungen desselben von der Hütte an bis zum Throne.

32.

Der Politik ist der Mensch ein Mittel; der Moral ist er Zweck. Beide Wissenschaften müssen Eins werden, oder sie sind schädlich wider einander. Alle dabei erscheinende Disparaten indeß müssen die Menschen belehren, damit sie wenigstens durch eigenen Schaden klug werden.

33.

Wie jeden aufmerksamen einzelnen Menschen das Gesetz der Natur zur Humanität führt, seine rauhen Ecken werden ihm abgestoßen, er muß sich überwinden, Andern nachgeben und seine Kräfte zum Besten Andrer gebrauchen lernen: so wirken die verschiedenen Charaktere und Sinnesarten zum Wohl des größeren Ganzen. Jeder fühlt die Uebel der Welt nach seiner eigenen Lage; er hat also die Pflicht auf sich, sich ihrer von dieser Seite anzunehmen, dem Mangelhaften, Schwachen, Gedrückten an dem Theil zu Hilfe zu kommen, da es ihm sein Verstand und sein Herz gebietet. Gelingt's, so hat er dabei in ihm selbst die eigenste Freude; gelingt's jetzt und ihm nicht, so wird's zu anderer Zeit einem Andern gelingen. Er aber hat gethan, was er thun sollte und konnte.

34.

Ist der Staat das, was er sein soll, das Auge der allgemeinen Vernunft, das Ohr und Herz der allgemeinen Billigkeit und Güte: so wird er jede dieser Stimmen hören und die Thätigkeit der Menschen nach ihren verschiednen Neigungen, Empfindbarkeiten, Schwächen und Bedürfnissen aufwecken und ermuntern.

35.

Es ist nur ein Bau, der fortgeführt werden soll, der simpelste, größte; er erstreckt sich über alle Jahrhunderte und Nationen; wie physisch, so ist auch moralisch und politisch die Menschheit im ewigen Fortgange und Streben.

36.

Die Perfectibilität ist also keine Täuschung; sie ist Mittel und Endzweck zu Ausbildung Alles dessen, was der Charakter unsers Geschlechts, Humanität, verlangt und gewährt.


Hebt Eure Augen auf und seht! Allenthalben ist die Saat gesät; hier verwest und keimt, dort wächst sie und reift zu einer neuen Aussaat. Dort liegt sie unter Schnee und Eise; getrost! das Eis schmilzt; der Schnee wärmt und deckt die Saat. Kein Uebel, das der Menschheit begegnet, kann und soll ihr anders als ersprießlich werden. Es läge ja selbst an ihr, wenn es ihr nicht ersprießlich würde; denn auch Laster, Fehler und Schwachheiten der Menschen stehen als Naturbegebenheiten unter Regeln und sind oder sie können berechnet werden. Das ist mein Credo. Speremus atque agamus!


26.

Neulich sprach Jemand von einer Gesellschaft, von der er sonderbare Dinge behauptete. Er sagte, ihre wahren Thaten seien so groß, so weit aussehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen könnten, ehe man sagen dürfte: »Das haben sie gethan!« Gleichwol hätten sie alles Gute gethan, was noch in der Welt ist (»Merke wohl,« sagte er, »in der Welt!«), und führen fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird. (»Merke wohl,« sagte er, »in der Welt!«) »Und,« setzte er hinzu, »die wahren Thaten dieser Gesellschaft zielen dahin, um größtentheils Alles, was man gemeiniglich gute Thaten nennt, entbehrlich zu machen.«

Wer war begieriger über dieses Räthsel als ich? Und hier ist ungefähr unser Gespräch darüber.

Gespräch
über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft.

Er. Wofür hältst Du die bürgerliche Gesellschaft der Menschen?

Ich. Für etwas sehr Gutes.

Er. Ohnstreitig. Aber hältst Du sie für Zweck oder für Mittel? – Glaubst Du, daß die Menschen für die Staaten erschaffen worden, oder daß die Staaten für die Menschen sind?

Ich. Jenes scheinen Einige behaupten zu wollen, Dieses aber mag wol das Wahrere sein.

Er. So denke ich auch. Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Theil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats. Außer dieser giebt es gar keine. Jede andre Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts! –

Ich. Gut also! Das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit. Was weiter?

Er. Nichts als Mittel, und Mittel menschlicher Erfindung; ob ich gleich nicht leugnen will, daß die Natur Alles so eingerichtet, daß der Mensch sehr bald auf diese Erfindung gerathen müssen. – Nun sage mir, wenn die Staatsverfassungen Mittel, Mittel menschlicher Erfindungen sind: sollten sie allein von dem Schicksale menschlicher Mittel ausgenommen sein?

Ich. Was nennst Du Schicksal menschlicher Mittel?

Er. Das, was unzertrennlich mit menschlichen Mitteln verbunden ist – daß sie nicht unfehlbar sind; daß sie ihrer Absicht nicht allein öfters»öfters« haben wir aus Lessing (s. unten die Note auf S. 120) ergänzt; ebenso in der letzten Zeile die Worte »oder umgekehrt«. – D. nicht entsprechen, sondern auch wol gerade das Gegentheil davon bewirken. –

Ich. Ich glaube Dich zu verstehen. Aber man weiß ja wohl, woher es kommt, wenn so viel einzelne Menschen durch die Staatsverfassung an ihrer Glückseligkeit nichts gewinnen. Der Staatsverfassungen sind viele; eine ist also besser als die andre; manche ist sehr fehlerhaft, mit ihrer Absicht offenbar streitend, und die beste soll vielleicht noch erfunden werden.

Er. Das ungerechnet! Setze die beste Staatsverfassung, die sich nur denken läßt, schon erfunden; setze, daß alle Menschen in der ganzen Welt diese beste Staatsverfassung angenommen haben: meinst Du nicht, daß auch dann noch, selbst aus dieser besten Staatsverfassung, Dinge entspringen müssen, welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachtheilig sind, und wovon der Mensch in dem Stande der Natur schlechterdings nicht gewußt hätte? –

Ich. Es würde Dir schwer werden, eins von jenen nachtheiligen Dingen zu nennen . . . .

Er. Die auch aus der besten Staatsverfassung nothwendig entspringen müssen? O, zehne für eines.

Ich. Nur eines erst!

Er. Wir nehmen also die beste Staatsverfassung für erfunden an; wir nehmen an, daß alle Menschen in der Welt in dieser besten Staatsverfassung leben: würden deswegen alle Menschen in der Welt nur einen Staat ausmachen?

Ich. Wol schwerlich. Ein so ungeheurer Staat würde keiner Verwaltung fähig sein. Er müßte sich also in mehrere kleine Staaten vertheilen, die alle nach den nämlichen Gesetzen verwaltet würden. –

Er. Und jeder dieser kleineren Staaten hätte sein eignes Interesse? jedes Glied desselben hätte das Interesse seines Staats?

Ich. Wie anders?

Er. Diese verschiedenen Interesse würden öfters mit einander in Collision kommen, so wie jetzt; und zwei Glieder aus zwei verschiedenen Staaten würden einander ebenso wenig mit unbefangenem Gemüth begegnen können, als jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet.

Ich. Sehr wahrscheinlich.

Er. Das ist: wenn jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer, oder umgekehrt, begegnet, so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegen einander angezogen werden,Die Worte »die vermöge . . . werden« sind nach Lessing ergänzt. – D. sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiedenen Tendenz sich bewußt sind, welches sie gegen einander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das Geringste mit einander zu schaffen und zu theilen haben.

Ich. Das ist leider wahr.

Er. Nun, so ist es denn auch wahr, daß das Mittel, welches die Menschen vereinigt, um sie durch diese Vereinigung ihres Glücks zu versichern, die Menschen zugleich trennt. – Tritt einen Schritt weiter! Viele von den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben? Meinst Du nicht?»Meinst Du nicht?« haben wir nach Lessing hinzugefügt. – D.

Ich. Das ist ein gewaltiger Schritt. –

Er. Hätten sie das, so würden sie auch, sie möchten heißen, wie sie wollten, sich unter einander nicht anders verhalten, als sich unsre Christen und Juden und Türken von jeher unter einander verhalten haben. Nicht als bloße Menschen gegen bloße Menschen, sondern als solche Menschen gegen solche Menschen, die sich einen gewissen geistigen Vorzug gegen einander streitig machen und darauf Rechte gründen, die dem natürlichen Menschen nimmermehr einfallen könnten. –

Ich. Allenfalls dächte ich doch, so wie Du angenommen hast, daß alle Staaten einerlei Verfassung hätten, daß sie auch wol alle einerlei Religion haben könnten. Ja, ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei Religion auch nur möglich ist.

Er. Ich ebenso wenig. Auch nahm ich Jenes nur an, um Dir Deine Ausflucht abzuschneiden. Eines ist zuverlässig ebenso unmöglich als das Andre. Ein Staat, mehrere Staaten. Mehrere Staaten, mehrere Staatsverfassungen. Mehrere Staatsverfassungen, mehrere Religionen. – Nun sieh da das zweite Unheil, welches die bürgerliche Gesellschaft ganz ihrer Absicht entgegen verursacht. Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hinzuziehen. – Laß mich noch das dritte hinzufügen! Nicht gnug, daß die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen theilt und trennt; diese Trennung in wenige große Theile, deren jeder für sich ein Ganzes wäre, wäre doch immer noch besser als gar kein Ganzes. Nein, die bürgerliche Gesellschaft setzt ihre Trennung auch in jedem dieser Theile gleichsam bis ins Unendliche fort.

Ich. Wie so?

Er. Oder meinst Du, daß ein Staat sich ohne Verschiedenheit von Ständen denken läßt? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe, ohnmöglich können alle Glieder unter sich das nämliche Verhältniß haben. Wenn sie auch alle an der Gesetzgebung Antheil hätten, so können sie doch nicht gleichen Antheil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Antheil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben. Wenn anfangs auch alle Besitzungen des Staats unter sie gleich vertheilt worden, so kann diese gleiche Vertheilung doch keine zwei Menschenalter bestehen. – Es wird bald reichere und ärmere Glieder geben.

Ich. Das versteht sich.

Er. Nun überlege, wie viel Uebel es in der Welt wol giebt, die in dieser Verschiedenheit der Stände ihren Grund nicht hätten.

Ich. Wenn ich Dir doch widersprechen könnte! – Aber was willst Du damit? Mir das bürgerliche Leben dadurch verleiden? mich wünschen machen, daß den Menschen der Gedanke, sich in Staaten zu vereinigen, nie möge gekommen sein?

Er. Verkennst Du mich so weit? Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die menschliche Vernunft angebaut werden kann, ich würde sie auch bei weit größern Uebeln noch segnen.

Ich. Wer des Feuers genießen will, – muß sich den Rauch gefallen lassen.

Er. Allerdings. Aber weil der Rauch bei dem Feuer unvermeidlich ist, durfte man darum keinen Rauchfang erfinden? Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind des Feuers? Sieh, dahin wollte ich.

Ich. Wohin? Ich verstehe Dich nicht.

Er. Das Gleichniß war doch sehr passend. Wenn die Menschen nicht anders in Staaten vereinigt werden konnten als durch jene Trennungen, werden sie darum gut, jene Trennungen?

Ich. Das wol nicht.

Er. Werden sie darum heilig, jene Trennungen?

Ich. Wie heilig?

Er. Daß es verboten sein sollte, Hand an sie zu legen.

Ich. In Absicht . . . .?

Er. In Absicht, sie nicht größer einreißen zu lassen, als die Notwendigkeit erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen als möglich.

Ich. Wie könnte das verboten sein?

Er. Aber geboten kann es doch auch nicht sein, durch bürgerliche Gesetze nicht geboten! Denn bürgerliche Gesetze erstrecken sich nie über die Grenzen ihres Staats. Und dieses würde nun gerade außer den Grenzen aller und jeder Staaten liegen. Folglich kann es nur ein opus supererogatum sein, und es wäre blos zu wünschen, daß sich die Weisesten und Besten eines jeden Staats diesem operi supererogato freiwillig unterzögen. –

Ich. Recht sehr zu wünschen!

Er. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die über die Vorurtheile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört.

Ich. Recht sehr zu wünschen!

Er. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die dem Vorurtheil ihrer angebornen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, daß Alles nothwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.

Ich. Recht sehr zu wünschen!

Er. Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt, in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herabläßt und der Geringe sich dreist erhebt.

Ich. Recht sehr zu wünschen!

Er. Und wenn er erfüllt wäre, dieser Wunsch? – Nicht blos hier und da, nicht blos dann und wann. – Wie, wenn es dergleichen Männer jetzt überall gäbe, zu allen Zeiten nun ferner geben müßte?

Ich. Wollte Gott!

Er. Und diese Männer nicht in einer unwirksamen Zerstreuung lebten, nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?

Ich. Schöner Traum!

Er. Daß ich es kurz mache. Und diese Männer die ***Bei Lessing steht: »Freimaurer«. – D. wären?

(Hier nannte er mir den Namen der Gesellschaft, doch ohne mich im Mindesten zu ihr einzuladen. Er, der aufrichtigste Mann, gestand selbst, daß die genannten Absichten zu ihrem Geschäft nur so mit gehörten, daß »dies Geschäft nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches, sondern etwas Nothwendiges sei, darauf man durch eignes Nachdenken ebensowol verfallen könne, als man durch Andre darauf geführt wird, daß Worte, Zeichen und Gebräuche, daß die ganze Aufnahme in diese Gesellschaft nichts Notwendiges, nichts Wesentliches sei;«Diese Stelle steht in Lessing's erstem Gespräch von »Ernst und Fall«. Vgl. die Anmerkung am Schlusse (S. 120). – D. und durch diese Winke geleitet, war ich auf sicherem Wege. Es begann zwischen uns ein zweites Gespräch, ohngefähr folgendermaßen:

Ich. Wenn es auch außer Deiner Gesellschaft eine andre, freiere Gesellschaft gäbe, die das große Geschäft, wovon wir sprachen, nicht als Nebensache, sondern als Hauptzweck, nicht verschlossen, sondern vor aller Welt, nicht in Gebräuchen und Sinnbildern, sondern in klaren Worten und Thaten, nicht in zwei oder drei Nationen, sondern unter allen aufgeklärten Völkern der Erde triebe: nicht wahr, so entließest Du mir die Aufnahme in Deine kleine Gesellschaft?

Er. Herzlich gern. Das Nitrum muß ja wol in der Luft sein, ehe es sich als Salpeter an den Wänden einer dunkeln Kammer ansetzt.

Ich. Zumal wenn ich in dieser Gesellschaft, die zu allen Zeiten existirt hat und existiren wird, längst gelebt und in ihr mein Vaterland, meine innigsten Freunde gefunden hätte?

Er. Desto besser.

Ich. Und in meiner Gesellschaft nichts von dem zu befürchten wäre, was ich in der Deinigen immer noch besorgen muß; wo nicht Trug für Wahrheit, so wenigstens pädagogische Anleitung, Pedanterie des Herkommens, Aufhalt?

Er. Ganz nach meinem Sinn; aber nenne mir Deine Gesellschaft!

Ich. Die Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Welttheilen.

Er. Groß genug ist sie, aber leider eine zerstreute, unsichtbare Kirche.

Ich. Sie ist gesammelt, sie ist sichtbar. FaustDer Erfinder der Buchdruckerkunst heißt eigentlich Fust, ward aber vielfach auch sonst bei Herder, mit dem Zauberer Faust verwechselt. – D. oder Guttenberg war, wie soll ich sagen? ihr Meister vom Stuhl, oder vielmehr ihr erster dienender Bruder. Ich treffe in ihr Alles an, was mich über jede Trennung der bürgerlichen Gesellschaft erhebt und mich zum Umgange nicht mit solchen und solchen Menschen, sondern mit Menschen überhaupt nicht nur einführt, sondern auch bildet.

Er. Ich verstehe Dich wohl. Seitdem die Buchdruckerei ihre Worte und Zeichen in alle Welt sendet, sollte es, meinst Du, keine geheimen Worte und Zeichen mehr geben. Indessen stiftet auch die Buchdruckerei nur eine idealische Gesellschaft.

Ich. Wie es in diesen Dingen sein muß. Ueber Grundsätze können sich nur Geister einander erklären; die Zusammenkunft der Körper ist sehr entbehrlich, wenn sie nicht zugleich auch meistens sehr zerstreuend und verführerisch wäre. Im Umgange mit Geistern auf Faust's Mantel bleibt meine Seele frei; sie kann jedes Wort, jedes Bild prüfen.

Er. Und sie heben Dich über alle Vorurtheile der Staaten, der Religion, der Stände?

Ich. Völlig. Entweder denke ich bei meinen Gesellschaftern Homer, Plato, Xenophon, Tacitus, Marc-Antonin, Baco, Fénélon gar nicht daran, zu welchem Staat oder Stande sie gehörten, welches Volkes und welcher Religion sie waren, oder wenn sie mich daran erinnern, geschieht's gewiß mit weniger Störung, als es in Deiner sichtbaren Gesellschaft je geschehen kann und mag.

Er. Gewiß.

Ich. Und kann darauf rechnen, daß sich in dieser Gesellschaft, an eben diesen Grundsätzen und Lehren alle edlen Geister der Welt mit mir vereinigen.

Er. Und Du kannst selbst mit ihnen sprechen, Dich ihnen vernehmlich und hörbar machen auf eben dem Wege.

Ich. Wenn ich's wie Du könnte! Ich sprach mit Deinem Geist, ehe ich Deine Person sah; ich kannte Dich, ohne von einer geheimen Gesellschaft zu sein, am Wort, am Griff, am Schlage. Deine und Andrer Thaten haben längst und sicherer bei mir bewirkt, was Gebräuche und Zeichen nur sehr unsicher und langsam bewirken könnten; sie haben mich über jedes Vorurtheil von Staatsverfassung, angeborner Religion, Rang und Ständen längst erhoben.

Er. Welche Thaten?

Ich. Poesie, Philosophie und Geschichte sind, wie mich dünkt, die drei Lichter, die hierüber Nationen, Secten und Geschlechter erleuchten; ein heiliges Dreieck! Poesie erhebt den Menschen durch eine angenehme sinnliche Gegenwart der Dinge über alle jene Trennungen und Einseitigkeiten. Philosophie giebt ihm feste, bleibende Grundsätze darüber; und wenn es ihm nöthig ist, wird ihm die Geschichte nähere Maximen nicht versagen.

Er. Ob aber auch diese Grundsätze, diese Maximen und Anschauungen Thaten wirkten? Gäbe nicht die Gesellschaft einen Antrieb mehr?

Ich. Ich nehme Dir Deine eignen Worte aus dem Munde. »Sage mir nichts von der Menge der Antriebe! Lieber einem einzigen Antriebe alle mögliche intensive Kraft gegeben! – Die Menge solcher Antriebe ist wie die Menge der Räder in einer Maschine. Je mehr Räder, desto wandelbarer.«Gleichfalls aus dem ersten Gespräch von »Ernst und Falk«, auf das Herder hier eigentlich nicht verweisen durfte, da desselben vorher nicht gedacht ist. – D.

Er. Und was wäre Dein einziger Antrieb?

Ich. Humanität. Gäbe man diesem Begriff alle seine Stärke, zeigte man ihn im ganzen Umfange seiner Wirkungen und legte ihn als Pflicht, als unumgängliche, allgemeine, erste Pflicht sich und Andern ans Herz; alle Vorurtheile von Staatsinteresse, angeborner Religion, und das thörichtste Vorurtheil unter allen, von Rang und Stande, würden –

Er. Verschwinden? Da irrst Du Dich sehr.

Ich. Nicht verschwinden, aber gedämpft, eingeschränkt, unschädlich gemacht werden; was Deine genannte und vielleicht verdienstvolle Gesellschaft ja auch nur bewirken konnte, wenn sie es bewirken wollte. Weißt Du es nicht besser als ich, daß alle dergleichen Siege über das Vorurtheil von innen heraus, nicht von außen hinein erfochten werden müssen? Die Denkart macht den Menschen, nicht die Gesellschaft; wo jene da ist, formt und stimmt sich diese von selbst. Setze zwei Menschen von gleichen Grundsätzen zusammen: ohne Griff und Zeichen verstehen sie sich und bauen in stillen Thaten den großen, edlen Bau der Humanität fort. Jeder, nachdem er kann, in seiner Lage, praktisch; er freut sich aber auch am Werk andrer Hände, weil er überzeugt ist, daß dies unendliche, unabsehliche Gebäude nur von allen Händen vollführt werden kann, daß alle Zeiten, alle Beziehungen dazu erfordert werden, mithin ein Jeder einen Jeden nicht einmal kennen darf, kennen soll, geschweige, daß er ihn durch Eidschwüre, durch Gesetze und Symbole bände.

Er. Du bist auf dem rechten Wege; auf ihm giebt es freie Arbeit. Kein wahres Licht läßt sich verbergen, wenn man es auch verbergen wollte; und das reinste Licht sucht man nicht eben in den Grüften.

Ich. Alle solche Symbole mögen einst gut und nothwendig gewesen sein; sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsre Zeiten. Für unsre Zeiten ist gerade das Gegentheil ihrer Methode nöthig, reine, helle, offenbare Wahrheit.

Er. Ich wünsche Dir Glück. Glaubst Du aber nicht, daß man auch dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde?

Ich. Das wäre sehr inhuman. Wir sind nichts als Menschen; sei Du der Erste unsrer Gesellschaft!Der erste Theil dieses Gesprächs ist aus Lessing's »Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer«, Wolfenbüttel 1781, genommen, denen der zweite Theil des Gesprächs eine andre Wendung giebt. – H. [Aus dem zweiten Gespräch, jedoch mit mehreren, von uns durch einen Gedankenstrich bezeichneten Auslassungen, sowie einzelnen Aenderungen und Einschaltungen. – Nach den Worten: »Und diese Männer die *** wären« (S. 116), beginnt Herder's eigne Ausführung. – D.]

 


 


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