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Kirke

I.

»Selbst graubärtig wie Anakreon, will ich der Morgenröte zutrinken wie er! Schenk ein, Knabe, wenn noch Wein im Krug ist!«

Die Türe zu der Loge wurde aufgerissen und ein lächelndes Frauenantlitz zeigte sich.

»Sokrates! Es ist Sokrates! Kommt Zizi, Vivienne! Guten Abend, Sokrates – oder guten Morgen, je nach dem. Was reichst du uns zu essen. Austern, kalte Schnepfen, Wildschweinpastete?!«

Die kleine Loge füllte sich im Augenblick mit Parfüms, nackten Armen, Puderquasten, Zigarettenrauch und klingendem Lachen.

Alkyon Argyropoulos schmückte sein ehrwürdiges Haupt mit zwei roten Hummerscheren, überreichte die Rosen, die auf dem Tisch standen, den drei Damen und sprach:

»Ich liefere hiermit meine Schlüssel aus. Mein Herz ist eine überwundene Stadt, meine Sinne sind besiegt und folgen gleich Sklaven dem Eroberer. Ich selbst und alles, was ich besitze, ist Ihre rechtmäßige Beute!«

Unter der Ballustrade der Loge wimmelte der Tanz über den Glasboden des Vergnügungslokales. Korrekte Engländer mit falschen Orden, Amerikaner mit Hornbrillen und Papiermachénasen, rotwangige Skandinavier mit Papierturbans umarmten zu den Tönen zweier kreischender Negerkapellen magere kleine Pariserinnen mit Gesichtern wie junge Kätzchen. Ringsum in den Logen wurde soupiert. Es war zwei Uhr morgens.

Fräulein Zizi hatte den Sekretär Basilides mit Beschlag belegt, Fräulein Vivienne hatte sich des Kunstkenners Nicole Ferrands bemächtigt. Mit völliger Selbstverständlichkeit nahm Fräulein Mado den Platz der Hausfrau an der Seite des graubärtigen Millionärs ein. Das Gespräch war lebendig, doch nicht so zusammenhängend wie etwa in Platos Dialogen, an die es auch von einem anderen Gesichtspunkt aus nur entfernt erinnerte.

»Meine Zigarette ist ausgegangen! Die Flasche ist schon wieder leer, mein kleiner Elefant!«

»Wenn man bei dir sitzt, dann sitzt man weich.«

»Bist du Grieche? Zizi, Vivienne, Sokrates ist ein richtiger Grieche! Er ist nach Paris gekommen, um – was machst du in Paris, Sokrates?«

Alkyon Argyropoulos, einen Arm um Fräulein Mados Taille geschlungen, antwortete:

»Ich bin nach Paris gekommen, um zu sehen, ob Paris der Nabel der Welt ist.«

»Dann bist du hier am richtigen Ort. Nirgends kann man dieses Organ besser studieren als hier!«

Fräulein Mado lachte klingend wie ein Florentiner Glockenspiel. Ihre Haare waren so rot, wie die Unanständigkeit es erforderte; ihre Augenbrauen so schräg nach aufwärts gezogen, wie die Mode es verlangte, und während die Vorderseite der Kleider der anderen Damen nicht einmal einen Buddha geniert hätte, war ihr Kleid vorne hoch geschlossen, doch der Rücken war nackt und darüber schlang sich ein Band aus absinthfarbenen Opalen. Fräulein Zizi war schwarz und mild wie die Nacht vor den Fenstern, Fräulein Vivienne hellblond wie der Champagner in den Gläsern.

»Der Nabel der Welt!« rief Fräulein Mado. »So bist du also nicht nach Paris gekommen, um deine Landsmännin zu sehen, die berühmte Venus von – Venus von –«

»Milo?«

»Nein, wart mal, – Mytilene!«

Alkyon Argyropoulos winkte dem Kellner, drei neue Flaschen der Witwe Cliquot zu entkorken.

»Venus von Mytilene?« wiederholte er. »Mir genügt die Pariser Venus. Lieber Fleisch und Blut von Paris als Marmor von Paros!«

Fräulein Mado äußerte ihre Anerkennung.

»Aber du weißt doch wenigstens, was man mit deiner Landsmännin, der Venus, angestellt hat?«

Der Millionär erhob sein Glas zu der elektrischen Traube an der Saaldecke.

»Nein. Was hat man mit ihr angestellt?«

»Man ist mit ihr durchgegangen vor der Nase der Leute, denen sie gehörte. Du willst doch nicht sagen, daß du nichts davon gehört hast, Sokrates?«

Alkyon Argyropoulos stellte das Glas nieder und sagte mit dem Ernst eines Bacchus: »Doch – ich habe von der Sache gehört; noch mehr, ich kenne ihn, der die Göttin entführt hat.«

Das Champagnerglas des Sekretärs Basilides färbte plötzlich den Tisch so gelb, wie es Fräulein Viviennes Haar war. Der Kunstexperte Nicole Ferrand löste sich aus der weichen Schlinge von Fräulein Zizis Armen. Fräulein Mado blinzelte über den Rand ihres Champagnerglases hinweg.

»Was sagst du da, Sokrates! Du kennst den Mann, der die Venus gestohlen hat! Wer ist es?«

Der Millionär strich seinen wallenden Bart wie der Musiker die Saiten seiner Harfe streicht.

»Wer es ist? Es ist der Frechste unter den Frechen, der Listigste unter den Listigen. Er ist der Agamemnon der Schelme! Der Nestor der Betrüger!«

»Nestor? Agamemnon?« fragte Fräulein Mado und schmiegte sich liebkosend enger an ihren Nachbarn. »Hat er keine anderen alias?«

»Ich sage dir«, rief der Gastgeber mit gesteigertem Pathos aus, »er könnte das Kind von der Mutterbrust stehlen und das Futter aus dem Rachen des Löwen. Was seine alias anbelangt, so ist die Nacht bereits zu weit vorgeschritten, als daß es sich lohnen würde, mit deren Aufzählung zu beginnen, – doch sein wirklicher Name ist Collin und der Vorname Philipp.«

»Ein solches Subjekt existiert höchstens in deiner Phantasie – und wenn er existiert – woher weißt du, daß er die Venus gestohlen hat?«

Abermals fixierte sie ihn über den Rand ihres Glases hinweg.

»Woher ich weiß, daß er es getan hat?« sprach Alkyon Argyropoulos mit wiedergewonnener Ruhe. »Du nennst mich Sokrates und so antworte ich dir: Mein Daimon hat es mir verraten! Woher ich weiß, daß er existiert? Weil er mir, seitdem ich diese Stadt betreten habe, wie ein Schatten gefolgt ist. Er ist überall und nirgends. Es sollte mich nicht wundern, wenn er heute Nacht hier wäre!«

Er erhob sich und blickte über das Parkett hinweg. Rotwangige Skandinavier mit Papierturbans, korrekte Engländer mit falschen Orden, ernste Amerikaner mit Hornbrillen umarmten noch immer zu den Tönen zweier kreischender Negerkapellen kleine Pariserinnen mit den Gesichtern junger Kätzchen. In diesem Hexenkessel jemanden herauszufinden und zu erkennen hätte dämonischen Scharfblick erfordert. Alkyon Argyropoulos setzte sich wieder.

»Der Agamemnon der Schelme«, sagte er, »ist unter diesen eulenäugigen Söhnen des Okeanos nicht zu entdecken. Aber laßt uns jetzt unsere Gläser erheben und das unerbittliche Gesetz bedauern, nach dem jeder Champagnerproduzent Witwen erzeugt.«

II.

Der blaugekleidete Mann unten auf der Straße warf einen scharfen Blick auf die Villa. Von einem Fenster im oberen Stockwerk betrachteten ihn zwei Herren aus melancholischen Augen.

»Ich halte das nicht länger aus«, rief Nicole Ferrand, »das geht mir auf die Nerven.«

»Glauben Sie, daß sie etwas glauben?« fragte der Sekretär Basilides.

»Mein Herr«, erwiderte der Kunstverständige mit verbissener Wut, »die Polizisten sind darin wie alle anderen Menschen: Sie glauben nicht, aber sie wollen glauben – und vor allem wollen sie wissen, was sie glauben. Und wir wissen das und sie wissen, daß es wir wissen und – ich werde noch verrückt! Sehen Sie mich an, ich bin ein Wrack, eine Ruine, ein Schatten meiner selbst! Wie viele Nächte sind wir nun auf jenem unwürdigen Hügel umhergeirrt, der sich Montmartre nennt? Vier? Fünf? Sechs? Ich weiß es nicht mehr.«

»Wie gefällt Ihnen Fräulein Mado?« fragte der Sekretär unsicher. »Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?«

»Bah, eine lebende Frau sagt mir nichts, nicht einmal, wenn sie ihre Minderwertigkeit gegenüber den Frauengestalten der Kunst erkennt und sich bemalt – wie dieses Fräulein Mado.«

»Es ist möglich, daß sie Ihnen nichts sagt«, setzte der Sekretär unruhig fort, »aber dafür spricht sie meinen Arbeitsgeber um so mehr an.«

»Jawohl! Und nicht genug damit: die Krankheit wird von Tag zu Tag schlimmer. Nicht genug damit, daß er in sie vergafft ist – er liebt sie – und nicht genug damit, daß er sie liebt, – er glaubt, daß sie ihn liebt!«

»Und Sie glauben nicht, daß das der Fall ist?«

»Von mir aus, wenn ich mir nur nicht deshalb meine Nerven zugrunde richten muß!«

»Warum lehnen Sie es nicht ab, mitzukommen?«

»Weil er mir einen klassischen Vers zitiert hat«, rief der Kunstsachverständige wütend. »Sie wissen doch, das ist seine Spezialität! Er sagte, daß es schön ist, gemeinsam Schiffbruch zu erleiden. Er hat versprochen, mich schadlos zu halten, wenn wir Schiffbruch leiden sollten – aber er will mich nicht früher allein lassen, bevor sich nicht jeder Verdacht gelegt hat. Und damit der Verdacht sich legen kann, hat er mich durch sechs Nächte hindurch daran gehindert, mich selbst zu legen!«

»Sst!« flüsterte der Sekretär, »da ist er.«

Alkyon Argyropoulos trat ein, gehüllt in einen funkelnagelneuen Frack und in Lackschuhen, die ihn drückten. Sein Antlitz strahlte vor Glück, Seine Augen hatten feuchten Glanz. Sein Bocksbart war gekämmt, gekräuselt und geölt wie der eines assyrischen Königs, und der togaartige Purpurmantel war so über dem Frack drapiert, daß er soweit wie möglich den Silenbauch verdeckte.

»Sind wir bereit?« fragte er lächelnd.

Der Kunstsachverständige packte ihn heftig am Arm und zog ihn an das Fenster. Die Straße lag da, in tiefe Schatten getaucht, und in der Bläue dieser Schatten bewegte sich eine konzentrierte Bläue.

»Wissen Sie, wer das ist?«

Der Millionär zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir denken: einer von den hundert Köpfen des Cerberus, eines von den hundert Augen des Argus. Was schert mich das? Die Wache hat Befehl, niemanden ohne meine persönliche Erlaubnis über die Schwelle zu lassen – und daß sie es zum zweitenmal wagen sollten, mein Haus zu durchsuchen, ist unwahrscheinlich. Wenn sie erst einmal in mir und meinen Freunden« – er sah Nicole Ferrand strahlend an – »harmlose Narren sehen, die ihre Nächte auf dem Montmartre verbringen, dann wird ihr Argwohn von selbst entschwinden. Zu dem – was kann dies alles bedeuten gegen Eros! Auf zum Fest! Tiefgegürtete Frauen harren unser, Eros erwartet uns – was bedeutet alles andere gegen ihn?«

Nicole Ferrand seufzte tief aus. Eben da klopfte es, und der Küchenchef, Herr Henry, trat ein.

»Dich sandte eine freundlich gesinnte Gottheit, o Schaffer! Nahe war ich daran, das zu vergessen, womit meine Gedanken sich seit gestern beschäftigten. An einem der nächsten Abende will ich ein Fest geben.«

»Ein Fest, mein Herr?«

»Ja, ein Fest.«

Der Millionär ließ eine Pause eintreten und blickte mit glücklich verträumten Augen vor sich hin. Nicole Ferrand trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, als wollte er sagen: »Das hat uns noch gefehlt!« aber er sagte nichts.

»Kommen viele Gäste, mein Herr?«

»Ihre Zahl wird die der Grazien sein. Wenngleich sie – oder zumindestens eine von ihnen – diese Göttinnen an Schönheit noch übertreffen. Was die Speisen anbelangt, so lasse ich dir freie Hand. Nur bezüglich einer Sache habe ich eine bestimmte Forderung. Hast du je von der Königin Kleopatra gehört?«

»Jawohl mein Herr. Aber –«

»Wisse, daß die Königin Kleopatra dem Römer Marc Anton, um ihn zu ehren, eine riesige Perle in Wein aufgelöst vorsetzen ließ. Der Gedanke ist gut, mit einer Abänderung. Vernimm meinen Wunsch!«

Er zog den Küchenchef in eine Ecke des Gemaches und begann im Flüsterton ein Gespräch. Der Küchenchef stellte verschiedene Fragen und nickte dazu bedeutungsvoll.

Einige Minuten später rollte Alkyon Argyropoulos und seine Freunde dem Montmartre zu. Bevor sie das Auto bestiegen, stellte Herr Ferrand mit einem leisen Seufzer der Befriedigung fest, daß der blaugekleidete Mann endlich von der Straße verschwunden war. Vielleicht hatte der Millionär recht – vielleicht war der Verdacht im Begriff, sich aufzulösen.

Hätte er die Reden gehört, die eben zu dieser Zeit in einer Bar gewechselt wurden, wäre seine Befriedigung zweifellos verschwunden wie Tau in der Sonne. Fräulein Zizi unterhielt sich mit Fräulein Mado.

»Du meinst also, daß er es getan hat.«

»Was glaubst du denn? Zuerst leugnet er, daß er überhaupt etwas von der Göttin gehört hat – dann sagt er, er weiß, wer sie gestohlen hat – wenn er dabei auch die Schuld auf eine Gestalt seiner Phantasie schiebt. Und Gustave – du weißt doch, der von der Zeitung – mein wirklicher Freund – meint, daß die Polizei glaubt, er war es. Sie haben die Villa durchsucht, aber nichts gefunden, und jetzt wagen sie es nicht, eine neue Hausdurchsuchung vorzunehmen. Aber was sie nicht wagen, das wage ich.«

»Wie?«

»Er hat die Absicht, uns morgen oder übermorgen in die Villa zu einem Souper zu laden. Das hat er mir bereits anvertraut. Und dann –«

»Was willst du tun, wenn du etwas findest?«

»Dann werde ich mir von ihm den Preis für die Göttin bezahlen lassen. Die ist eine Million wert, sagt Gustave – mindestens!«

Fräulein Zizi überlegte:

»Aber er ist doch in dich verliebt. Du könntest alles von ihm haben, was du –«

»Das würde etwas länger dauern – und dann müßte ich ihn dazu in Kauf nehmen. Ein Millionär amüsiert mich weniger als ein Gigolo. Sst, da kommen sie alle drei. Ich bitte dich, sieh ihn dir nur im Frack an! Guten Abend, mein Liebling! Wie stattlich du heute Abend wieder aussiehst und wie ich mich nach dir gesehnt habe!«

III.

Am nächsten Tag mußte der Sekretär Basilides seinen Herrn in einen Juwelierladen begleiten. Nach langem Nachdenken entschloß sich der Millionär, eine Perlenschnur zu kaufen, die der Juwelier besonders empfahl; sie war das Teuerste, was er augenblicklich auf Lager hatte.

»Denken Sie daran, Kyrie, daß diese Perlen von unvergleichlichem Glanz sein müssen. Denn der Hals, den sie schmücken sollen, ist weißer als der Sand von Nausikaas Insel!«

»In diesem Fall, mein Herr«, sagte der Juwelier verbindlich, »hätten Sie keine bessere Wahl treffen können als diese Perlenkette zu hunderttausend Franken.«

»Basilides«, sagte der Millionär, als sie nach Hause gekommen waren, »wir müssen, wenn ein solcher Schatz in unserem Besitz ist, doppelt wachsam sein. Wenn der Schelm ihn stehlen kann, wird er es tun. Es sollte mich nicht wundern, wenn er uns gefolgt wäre und unseren Kauf gesehen hätte!«

»Und wo gedenken Sie die Kette heute Nacht zu verwahren?«

Alkyon Argyropoulos wies auf die eiserne Kasse in seinem Arbeitszimmer.

»Hier! Doch das wichtigste ist, daß wir dies Haus hier von außen unzugänglich machen. Darum sollen zwei Männer die ganze Nacht Wache halten und bei dem ersten verdächtigen Geräusch sollen sie mich wecken. Geben Sie entsprechenden Auftrag.«

Um elf Uhr überzeugte sich Alkyon Argyropoulos davon, daß alle Türen verriegelt und die Wachen auf ihren Posten waren. Dann legte er sich zu Bett.

Seine erste Frage am nächsten Morgen war, ob irgend etwas vorgefallen wäre und ob irgendeine verdächtige Gestalt sich im Laufe der Nacht gezeigt hätte. Nein, nichts war vorgefallen, und man hatte keinen Menschen gehört oder gesehen. Hier war die Post – zwei Zeitungen und eine Nachnahme.

»Eine Nachnahme?«

»Jawohl. Eine Nachnahme aus Paris auf zehn Franken.«

Alkyon Argyropoulos nahm die Zeitungen und das kleine Päckchen an sich und der Sekretär zog sich in das anstoßende Zimmer zurück. Eine Minute später schrak er durch das furchtbarste Gebrüll auf, daß er jemals gehört hatte. In der Furcht, sein Herr hätte einen Schlaganfall erlitten, stürzte er in das Schlafzimmer.

Alkyon Argyropoulos raste im Zimmer umher und ballte die Fäuste gegen Himmel. Vor ihm auf dem Tisch stand die kleine Schachtel, die mit der Post gekommen war. Er antwortete auf die Frage des Sekretärs nur mit unverständlichen Ausrufen. Endlich sank er auf einen Sessel, das Kinn in die geballte Hand vergraben.

Plötzlich erhellte sich sein Antlitz. Er stürzte in das Arbeitszimmer und öffnete die Kassa, dann begann er von neuem zu toben.

»Ah, ah es ist tatsächlich wahr! Und hier hat man Wache gehalten!«

Rasend wandte er sich gegen den Sekretär: »Rufen Sie die Wache herein! Augenblicklich!«

»Ist etwas verschwunden, Herr?«

»Rufen Sie die Wache herein! Augenblicklich!«

Die beiden Wächter kamen.

»Habt ihr heute Nacht hier gewacht?«

»Jawohl, Herr.«

»Und ihr wollt behaupten, daß ihr nichts gehört habt?«

»Nichts, Herr.«

»Und niemanden gesehen?«

»Niemanden, Herr.«

»Geht!«

Die Wächter entfernten sich, sichtbar benommen. Der Sekretär Basilides wagte neuerdings eine Frage:

»Was gibt es, Herr? Was ist geschehen?«

Alkyon Argyropoulos antwortete nicht. In seinen Augen standen Tränen.

»Was soll ich nun glauben? Hat er recht?«

»Wer?«

Der Graubärtige schlug sich ein ums andere Mal an die Stirn.

»Er muß mit dem Gottseibeiuns im Bunde sein! Aber spricht er die Wahrheit? Spricht er die Wahrheit?!«

Er schlug mit den Händen an die Mauer, daß das Blut hervorsprang.

»Der Abend wird es zeigen! Doch – wenn er die Wahrheit spricht! Wenn!«

Ohne weitere Ereignisse ging der Tag vorbei. Der Millionär hatte die Nachtwächter heraufgerufen und sie abermals einem Verhör unterzogen. Hatten sie tatsächlich nichts gehört? Niemanden gesehen? Nein, niemanden und nichts.

Aber – hatten sie einen Mann im blauen Anzug bemerkt, der vor dem Haus auf und ab zu gehen pflegte?

Das hatten sie.

Hatte dieser Mensch den Versuch gemacht, sich ihnen zu nähern?

Das hatte er.

Hatte er sie über die Verhältnisse im Haus ausgefragt?

Auch das hatte er. Aber getreu dem Willen ihres Herrn hätten sie –

Gut! Wenn der blaugekleidete Mann heute Nachmittag wieder kommen sollte, dann müßten sie in ganz bestimmter Weise mit ihm umgehen.

Alkyon Argyropoulos setzte ihnen ausführlich auseinander, was sie zu tun hätten. Je länger er sprach, desto mehr erbaut schienen die Diener von seinen Weisungen. Gegen sechs Uhr abends zeigte sich tatsächlich der blaugekleidete Mann wieder vor der Villa und wie durch Zufall stand einer der Diener an der Hinterpforte. Die beiden begannen zu plaudern und nach einer Weile, eben nachdem die Dämmerung tiefer wurde, sah man, wie sie beide auf den Dienerschaftseingang zugingen.

Bald darauf erschien Nicole Ferrand mit unruhigem und gramerfülltem Gesicht und noch etwas später rollte ein Auto vor – mit Fräulein Zizi, Vivienne und Fräulein Mado.

IV.

»Hast du mich vermißt, mein kleiner Sokrates?«

Alkyon Argyropoulos beantwortete diese Frage mit einem Lächeln strahlender Zärtlichkeit.

»Mein Herz ist eine eroberte Stadt, deren Schlüssel du besitzt.«

»Aber – es liegt heute Abend irgend etwas in deinen Augen – was nur? – Etwas, das ich nicht kenne! Sag mir doch: was ist es?«

Alkyon Argyropoulos antwortete mit der Stimme einer gurrenden Taube:

»Ich habe dir eine Überraschung versprochen. Vielleicht ist es der Gedanke daran.«

»Eine Überraschung! Ein Geschenk? Ist es ein Geschenk?«

»Es kommt beim Dessert.«

»Zu Tisch! Zu Tisch!«

Man ging zu Tisch. Das Kleid Fräulein Mados war ein Stück orientalischen Stoffes, wie eine Draperie um sie gelegt und nur von einem Goldpfeil unter der rechten Schulter festgehalten. Alkyon Argyropoulos starrte sie an mit den Augen eines Götzenanbeters.

»Du findest, daß ich hübsch bin?«

»Du bist schön, mein Lieb, mein alles.«

»Ebenso schön wie die Göttin, die du entführt hast?«

Der Millionär zuckte zusammen. »Ich habe keine Göttin entführt.«

»Lüg nicht, Sokrates! Ich bin ein Weib, ich liebe dich und infolgedessen bin ich eifersüchtig. Ich fühle, daß hier im Haus eine andere Frau ist. Das ist sie! Gib es zu!«

»Du bist eifersüchtig? Ist das wahr?«

Die schwarzen Augen des Millionärs bettelten wie die eines Kindes.

»Wie könnte man anders, als einen Mann wie dich lieben – einen Mann – so gut – so freigiebig!«

»Und du liebst keinen anderen als mich?«

»Natürlich nicht; aber du bist mir untreu. Du hast sie im Hause.«

»Du irrst dich, mein süßes Kind!« beteuerte Alkyon Argyropoulos, doch seine Stimme klang nicht überzeugend, und Nicole Ferrand, der jedes Wort des Gespräches verschlang, erzitterte in seinem Inneren. Wenn sich nicht etwas Unvorhergesehenes ereignete, dann würde der Millionär noch vor Ende des Soupers ihr gemeinsames Geheimnis verraten haben.

Herr Henry hatte sich selbst übertroffen. Das Menü bot nur die leckersten Gerichte. Forellen, junge Hühner, Spargel und Gartenerdbeeren. Zugleich mit dem letzteren sollte eine Speise serviert werden, die auf dem Menü Kleopatra-Pastete hieß. Der rundliche Küchenchef trug höchstpersönlich das Gericht auf einer silbernen Schüssel herein. Es war ein mächtiger Baumkuchen, dessen Verzierungen zärtliche Szenen aus der Mythologie wiedergaben. Er überreichte ihn Fräulein Mado mit einer Verbeugung, bevor er ihn anschnitt, und servierte dem Ehrengast das erste Stück. Es war von der Größe einer kleinen Melone, und die Verzierungen gaben eine Schäferszene zwischen Antonius und Kleopatra wieder. Mit Augen, erwartungsvoll wie die eines Kindes, sah Alkyon Argyropoulos zu, wie seine Freundin das Stück anzuschneiden begann.

Kaum hatte sie es mit Gabel und Messer berührt, als es sich wie ein Blumenkelch öffnete und sein Inneres zeigte: auf einem Bett von Rosenblättern lag ein Etui, und als Fräulein Mado dieses mit einem Ausruf des Jubels öffnete, zeigte es sich, daß es eine herrliche Perlenschnur enthielt.

»Ah, mein kleiner Sokrates! Wie schön das ist! Wie freigebig du bist! Und wie erfinderisch!«

Sie vergaß alles über die Perlen; sie hielt sie gegen das Licht; sie wickelte sie um den Arm; sie zeigte sie ihren Freundinnen. Eben wollte sie sich die Kette um den Hals hängen, als ihr Blick auf das Etui fiel. Ihre Jubelrufe verstummten jählings.

»Sokrates!«

»Ja, mein Liebling?«

»Ist das dein Geschenk für mich?«

»Ja, du mein Herz und mein Leben.«

»Wie kannst du dich unterstehen, mir ein solches Geschenk zu machen?«

»Ist es nicht schön?«

Ihre Antwort bestand darin, daß sie die Perlen auf den Tisch schleuderte, wo sie zu einem schimmernden Häuflein zusammenfielen.

»Imitation! Elende Nachahmung, und du wagst es, mir derartiges zu bieten? Perlen, die ihre Falschheit hinausrufen – mir! Das geht zu weit! Und dazu in dem Etui des drittrangigen Geschäftes, in dem du sie gekauft hast. Du, der du behauptest, mich zu lieben! Meinst du vielleicht, man hat dich deiner schönen Augen wegen genommen?«

Ihre Pupillen sprühten Flammen. Die Gesichter der Freundinnen leuchteten in schlecht verhehlter Schadenfreude. Alkyon Argyropoulos rollte die Augen wie ein begossener Bär. Herr Henry verschwand diskret. Fräulein Mado ließ eine zweite Strafpredigt los und dann eine dritte. Sie stellte die Frage, was sie in einem solchen Haus noch zu suchen hätte. Sie stand auf, wie um zu gehen. Der Millionär hielt sie zurück.

»Liebste«, sagte er mit trauriger Stimme, »ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen. Komm mit, ich will dir etwas zeigen, was dich interessieren wird!«

Der Strom ihrer Worte stockte. Ihre Augen erhielten plötzlich einen neuen Ausdruck.

»Was? Deine Göttin? Du gibst also zu, daß du sie hast? Zeig sie mir! Laß sie mich sehen!«

Ohne zu antworten nahm der Millionär einen Leuchter vom Tisch und öffnete die Türe.

»Komm«, sagte er seufzend.

Fräulein Mado warf einen triumphierenden Blick auf ihre Freundinnen und folgte ihm eilends. Die Freundinnen schlossen sich ihr an. Auch Nicole Ferrand und der Sekretär erhoben sich, obwohl sich ihre Beine fast weigerten, sie zu tragen.

Alkyon Argyropoulos schritt den Weg zeigend abwärts, und je deutlicher es wurde, wohin er ging, desto entsetzter waren seine beiden Begleiter. Schließlich blieb er vor einer Türe stehen, öffnete sie und trat beiseite, um den Damen den Vortritt zu lassen. Einen Augenblick herrschte Stille – dann kam ein schriller Aufschrei von Zizi und Vivienne:

»Gustave? Ihr Freund Gustave – ah – es ist zu lächerlich! Haha! Der Alte ist gar nicht so dumm, wie er aussieht!«

Schließlich konnten auch Nicole Ferrand und der Sekretär etwas sehen. Auf einem Stuhl saß der blaugekleidete Herr, der sie durch seine Spaziergänge vor der Villa solange beunruhigt hatte. Er saß da, zusammengesunken, in einem Zustand völliger Berauschung. Auf dem Tisch stand eine Flasche griechischen Likörs und daneben drei Gläser. Zwei Diener – jene, die nachts Wache gehalten hatten – erhoben sich und grüßten ihren Herrn. Der Blaugekleidete blickte verständnislos auf Fräulein Mado.

»Wa-as machst du hier? Hast du seine Statue ge-gefunden?«

Der Ehrengast antwortete nicht. Fräulein Mado sah ihren Gastgeber an mit Augen, die Vitriol bedeuteten. Alkyon Argyropoulos begegnete ihrem Blick aus zwei schwermütigen Samtaugen.

»Basilides«, sagte er, »Sie wollen die Damen und ihren Freund zum Auto begleiten.«

V.

»Aber«, begann Nicole Ferrand, »aber wie –«

Alkyon Argyropoulos holte die Postsendung hervor, die er morgens erhalten hatte. Seine Augen waren traurig wie die eines Kindes.

»Das hier erklärt alles«, sagte er. »Er hat recht! Und er hat nun Beweise, daß er recht hat!«

Nicole Ferrand starrte auf die Sendung.

»Diese Schachtel«, sagte der Millionär, »traf heute früh hier ein. Sie enthielt ein Perlenkollier und einen Brief. Beide Dinge kamen von ihm.«

»Von wem?«

»Vom Nestor der Schelme. Das Perlenkollier war jenes, das ich für – das ich gestern Abend gekauft hatte. Heute Nacht hatte er es gestohlen und heute morgen schickt er es zurück. Warum? Lesen Sie seinen Brief!«

Nicole Ferrand las:

 

»Wer Aphrodite unter seinem Dach beherbergt, läßt sich nicht von Kirke betören – namentlich nicht von einer Kirke, die nur den Verrat ihres Opfers plant. Wenn Sie an ihre Liebe glauben, dann stellen Sie sie auf die Probe: schenken Sie ihr die Perlen in dieser Schachtel einer Firma, die durch ihre Imitationen berühmt ist. Sollten Sie dann noch immer an meiner Warnung zweifeln, dann stellen Sie ihr doch den Mann in der blauen Uniform vor, der täglich um Ihr Haus herumspioniert – er ist ihr Liebhaber, mit dem gemeinsam sie den Raub Ihrer Aphrodite plant.

Ich sagte mir, daß Sie mir ohne handgreifliche Beweise nicht glauben würden. Darum stahl ich heute nacht Ihre Perlen und schickte sie hier zurück, unversehrt, in Begleitung der erwähnten Schachtel.«

 

Nicole Ferrand ließ den Brief sinken.

»Er sah die Gefahr voraus und griff ein. Aber wie? Das Haus war doch bewacht?«

Der Millionär antwortete nur mit einem Seufzer.

»Sehen Sie doch«, sagte der Kunstsachverständige, »Sie sind nicht der erste, der solches fühlen muß. Die Anbeter der Kirke waren einstens sicherlich auch tief unglücklich, als sie aus dem Traum erwachten – und sich als Menschen wiederfanden.«


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