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Lunch des Herrn Alkyon Argyropoulos

I.

»Künde mir, Muse, die Taten des viel gewanderten Mannes, welcher – mitten auf der Straße, sagten Sie, Kyrie? Und keine Spur von dem Listreichen? Mitten in einer von sausenden Gefährten lärmenden Straße wirft er Sie hinaus und entschwindet gleich einem Schatten aus dem Hades? Wohlgetan!«

»Es war nicht in einer von sausenden Gefährten lärmenden Straße, sondern in einem menschenleeren Seitengäßchen! Sonst wäre es ihm nicht gelungen. Aber wenn Sie das wohlgetan finden, dann glaube ich nicht, daß wir dieses Gespräch länger fortsetzen müssen. Die Diebesbeute ist bei der Polizei hinterlegt, und Sie können Ihr Geld jederzeit gegen Ausweis beheben. Guten Morgen!«

»Warum wollen Sie gehen? Ich brenne geradezu vor Verlangen, alles zu erfahren. Wie sind Sie dem Listreichen auf die Spur gekommen? Wo haben Sie ihn gefaßt? Wie ist es Ihnen gelungen, ihm das goldstrotzende Futteral zu entreißen?«

Kenyon sah seinen Gastgeber, dessen schwarze Augen voll Neugier erwartungsvoll wie die eines Kindes leuchteten, ein wenig milder an. Er setzte sich. Im Laufe der Zeit hatte er so manchen eigentümlichen Klienten gehabt, aber keinen so sonderbaren wie diesen Millionär.

Kenyon blickte von dem Lederkittel auf die weiten Samthosen, von einer Art phrygischer Mütze, die auf einem Stuhl hingeworfen lag, auf den wallenden Graubart. Was war er? Was machte er in Paris?

»Ist das Ihr erster Besuch in – Europa?« fragte er.

Herr Argyropoulos brach in ein schallendes Gelächter aus. Die Öffnung seines Mundes war enorm; wenn er seiner Heiterkeit freien Lauf ließ, verschwanden so ziemlich die Augen, und der Bart schien sich mit den Augenbrauen zu vereinen. »Europa!« sagte er. »Rechnen Sie Griechenland nicht zu Europa? Was wäre Europa ohne Griechenland geworden?«

»Gewiß – selbstverständlich«, stammelte der Detektiv. »Homer und Plato und – und Homer. Natürlich. Aber ich meinte –«

»Es war meine Kleidung? Sagen Sie es doch frei heraus!«

»Wie können Sie so etwas behaupten! Ich habe schon zu viele gut gekleidete Schwindler gesehen, um –«

»Um sich darum zu kümmern, wenn einer anders gekleidet ist! War er, der den Zug plünderte, gut gekleidet? Ich bat Sie, davon zu erzählen.«

Kenyon errötete leicht und kam der Aufforderung nach. Der Millionär lauschte mit aufgerissenen Augen. »Er hat die Beute selbst zurückgegeben?«

»Jawohl.«

»Sie haben sie ihm nicht mit List oder Gewalt abgenommen?«

»Nein. Er hat eingesehen, daß sein Spiel verloren war und hat die Diebesbeute zurückgegeben, um sich der Strafe zu entziehen!«

»Das hatte er doch gar nicht nötig gehabt. Im nächsten Moment war er doch entkommen!«

Kenyon preßte die Lippen aufeinander. »Vielleicht für den Augenblick, aber es wird nicht lange dauern, bis ich ihn wieder habe!«

»Wie wollen Sie den Listreichen einfangen?«

»Mit Unterstützung der französischen Polizei. Ich habe ihr eine ausführliche Beschreibung gegeben. Die Polizei in den Straßen arbeitet mit den Kriminalbeamten Hand in Hand.«

»Auch die Polizei der Straße, in der er Sie hinausgeworfen hat?«

Kenyon fuhr in die Höhe: »Mein Herr!«

»Besonnenheit! Wißbegierde war die Mutter meiner Frage. Es will mich dünken, daß ein Mann, der sich gleich einem Schatten aus dem Hades in Rauch auflösen kann, schwerlich durch steckbriefliche Verfolgung zu fangen ist. Gibt es kein anderes Mittel? Halt! Machen wir die hundertköpfige Hydra der Menge zu unserer Bundesgenossin. Eine Belohnung dem Auge, das sieht; eine größere Belohnung der Hand, die ergreift!«

»Sie wollen eine Prämie aussetzen?«

»Gewiß.«

»Sie wechseln Ihren Standpunkt rasch, das muß ich sagen. Eben noch spendeten Sie dem Verbrecher Beifall, weil es ihm gelang –«

»Sie aus dem sausenden Auto zu werfen und sich in Rauch aufzulösen! Beim Hund, so denke ich noch immer! Aber wenn ich gleichzeitig einen Preis für seine Ergreifung aussetze, ist das kein Beweis, daß ich meine Ansicht geändert habe.«

»Sie setzen also eine Belohnung aus – von wieviel?«

»Sind zehntausend Drachmen genug? Sagen wir zwanzigtausend –! Einen würdigen Kampf dem Würdigen! Aber wie wollen wir es der hundertköpfigen Hydra zur Kenntnis geben, daß ich gegen ihn kämpfe? Wollen Sie mir dabei behilflich sein?«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung«, sagte der Detektiv. »Doch im Augenblick, in dem ich Ihren Namen nenne, werde ich mit Fragen bestürmt werden. Was soll ich den Zeitungsleuten sagen, die mich fragen werden, wer Sie sind?«

Herr Argyropoulos sah mit den zwinkernden Augen eines Fauns zur Decke empor.

»Ist die Hydra neugierig?« fragte er. »Will die Hundertköpfige sich an mir gütlich tun, bevor sie sich mit gesteigertem Appetit auf die frechen Plünderer stürzt? Gut. Sagen Sie der Hydra, daß ein Hirte aus Akaja, der zum erstenmal Europa besucht, über die Kultur dieses Weltteiles staunt.«

»Vortrefflich«, sagte Kenyon und blinzelte ein wenig.

»Sagen Sie ferner, daß er gelähmt ist durch den Anblick von Europas Reichtümern, die er im Schlafe beinahe um dreihunderttausend unwürdige Drachmen vermehrt hätte. Doch da die Redlichkeit in Europa höher geschätzt wird als Gold, hat er sich entschlossen, eine Belohnung auszusetzen, auf daß die Unredlichkeit bestraft werden möge. Genügt das für die Hydra?«

»Das glaube ich kaum«, sagte Kenyon. »Das Publikum will etwas über Sie wissen. Was darf ich ihm sagen?«

»Noch etwas?« fragte der Gastgeber mit breitem Lachen. »Wenn jemand noch mehr wissen will, dann geben Sie ihm als Reisezehrung mit auf den Weg die Worte des Sängers:

Jetzo schiffe ich hier, denn ich steure mit meinen Genossen,
Ruhm zu gewinnen – des schimmernden Goldes als Ladung –
Über das dunkle Meer zu unverständlichen Völkern.«

Zufrieden strich er seinen wogenden Bart, aus dem die Zähne wie Klippen aus einer Brandung hervorleuchteten. Der Detektiv fragte sich, ob man Scherz mit ihm triebe. Aber der Anblick von zwanzig Tausendfrankenscheinen, auf dem Tisch ausgebreitet, lösten seine gerunzelten Augenbrauen. »Wenn aber jemand –« begann er.

»Wenn jemand noch mehr wissen will«, sagte Herr Argyropoulos mit den Augen eines zwinkernden Fauns, »dann weisen Sie ihn an meinen Sekretär! Mit dem offenen Wesen der Auster verbindet er die Arglosigkeit eines Basilisken. Ja – und Basilides ist sein Name.«

II.

Am nächsten Tag leuchteten Plakate von allen Planken und die Zeitungen bestätigten, was die Plakate zu verkünden hatten. Einer der Bestohlenen aus dem blauen Zug – man wußte, daß dank dem Eingreifen eines englischen Detektivs diese Bestohlenen den größten Teil des Verschwundenen in geradezu wunderbarer Weise zurückerhalten hatten – einer dieser Bestohlenen, und zwar der von ihnen, gegen den sich das Attentat eigentlich gerichtet hatte, wollte den Kampf gegen die Verbrecher aufnehmen. Sein Name war Alkyon Argyropoulos; er war Millionär und wohnte im Hotel Cesarini. Eine Belohnung von zwanzigtausend Franken hatte er für jede Auskunft ausgesetzt, die zur Festnahme der Schuldigen führen konnte. Was diese anbelangt, so war ihr Chef, ein gewisser Herr Philipp Collin, zuweilen auch Professor Pelotard genannt, Schwede von Geburt, aber ebenso zu Hause in Frankreich und England wie irgendein Einheimischer. Wie viele Komplicen er hatte, war nicht bekannt; doch mit Sicherheit gehörten ein Franzose, Adolphe Lavertisse, und ein Engländer, Henry Graham, dazu. Ihre Beschreibung und Einzelheiten ihres Vorlebens wurden auf den Anschlägen mitgeteilt. Die Zeitungen brachten ausführlichere Mitteilungen, gaben jedoch zu, daß auch diese unvollkommen waren. Zu einer vollständigen Schilderung des Vorlebens der drei Herren wären einige Extranummern nötig gewesen.

Die Wirkung dieser Veröffentlichung ließ nicht auf sich warten. Eine Sintflut von Informationen strömte auf die Pariser Polizei und Mr. Kenyon ein.

Das Auto, in dem jene gefahren waren, als sie sich von Mr. Kenyons Gesellschaft befreiten, hatte man gefunden, und der Chauffeur war einem stundenlangen Kreuzverhör unterzogen worden. Hatte er gesehen, wie Mr. Kenyon mit sanfter Gewalt aus dem Auto entfernt worden war? Ja, aber das hatte er als einen gelungenen Spaß aufgefaßt. Zur größeren Sicherheit beobachtete man ihn Tag für Tag. Vergeblich. Und Tag für Tag warteten die zwanzig blauen Scheine auf den, der Aufschluß über Herrn Collin und seine beiden Freunde geben konnte. Aber kein solcher Aufschluß kam. Das war beunruhigend.

Am Morgen des vierten Tages entschloß sich Mr. Kenyon, einen Sprung ins Hotel Cesarini zu machen. An Stelle des Millionärs traf er auf den Sekretär. Er freute sich: hier mußte man doch wenigstens mehr Einzelheiten über Herrn Argyropoulos erfahren. War Herr Argyropoulos zu treffen?

Nein, er war ausgegangen.

Hm, ein origineller Arbeitgeber, nicht wahr?

Wieso? Man könnte doch eher sagen, ein vortrefflicher Arbeitgeber.

So, so? Gewiß, ohne Zweifel, aber originell z. B. durch seinen Hang zur Poesie und seine Zitate aus den Werken der Dichter.

Das wäre nur ein gewöhnlicher Charakterzug in Griechenland.

Hm. Hatte der Herr Argyropoulos die Absicht, lange in Paris zu bleiben?

Vielleicht lange, vielleicht nicht so lange.

Aha. Wovon hing es nun ab, wielange sein Aufenthalt dauern würde?

Von gewissen Umständen.

Wäre es unbescheiden, zu fragen, von welchen Umständen?

Durchaus nicht. Herr Argyropoulos war in einer bestimmten Angelegenheit nach Paris gekommen. Sobald sie erledigt war, würde er wieder abreisen.

Ach so. Was war das für eine Angelegenheit, wenn man fragen dürfte?

Zu sehen, ob Paris der Nabel der Welt sei. Nichts anderes.

Zu sehen, ob –

Gewiß – und falls noch weitere Aufklärungen gewünscht würden, dann könnte man sich an Herrn Argyropoulos selbst wenden, der eben ankam!

Der Millionär begrüßte Mr. Kenyon mit unverhohlener Freude. »Heil dem Argosbesieger Hermes!«

»Was bedeutet das?« fragte Kenyon mit gerunzelten Augenbrauen.

»Besiegte Hermes nicht den hundertäugigen Argos? Haben Sie nicht die Aufgabe übernommen, einen noch Wachsameren zu besiegen? Bringen Sie mir nicht Kunde von Themis, der Göttin der Gerechtigkeit? Vom Sieg der Gerechtigkeit?«

»Hol mich der Teufel, wenn ich das kann!« sagte der Detektiv gereizt. »Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß Ihre zwanzigtausend Franken unversehrt im Kassenschrank der Polizei liegen.«

»Wieso? Hat die Hydra nicht eine Myriade Augen? Die Hundertköpfige hat schlecht gesehen. Die Belohnung ist zu klein gewesen. Verdoppeln wir die Belohnung!«

»Vierzigtausend!«

»Jawohl! Eine solche Belohnung muß allen die Augen öffnen.«

»Wir wollen es hoffen«, murmelte Kenyon.

Als der Detektiv das Hotel verließ, bemerkte er eine Anzahl Karten, die in der Halle lagen. Es waren die Menüs des Tages. Außer dem gewöhnlichen Lunch und den Speisen à la carte gab es noch eine dritte Karte mit einem griechischen Fries und dem Titel »Le Déjeuner du Millionaire«.

»Was ist das?« fragte Kenyon einen der Bediensteten.

»Das ist das Menü des griechischen Millionärs, mein Herr«, antwortete der Boy.

»Wenn das sein Lunch ist, dann hat er immerhin genug zu essen«, murmelte der Detektiv. Das Menü hatte folgendes Aussehen:

 

Hors d'oeuvres de la Maison

*

Omelette Artichauts

*

Merlan Nausicaa

*

Endives Ulysse

*

Roastbeef Sparte

*

Oie rôtie Corinthe

*

Salade Romaine

*

(Fromages, Fruits)

 

»Ißt er wirklich all das zusammen?«

»Ich weiß es nicht, mein Herr«, sagte der Boy mit einem Achselzucken, das dem Detektiv eine Einfrankennote entlockte. »Herr Argyropoulos speist in seinen Appartements.«

»Richtig, das habe ich gehört. Weißt du sonst noch etwas von seinen Gewohnheiten?«

Die Miene des Boys zeigte Lebensüberdruß. Kenyon übergab einen zweiten Frankenschein und die Lippen taten sich auf.

»Er erhält Besuch von sonderbaren Leuten«, teilte der jugendliche Hotelbedienstete mit. »Sie kommen entweder sehr früh oder sehr spät und sie bringen Taschen und Kisten in das Zimmer hinauf.«

»Es werden wohl Geschäftsleute mit ihren Waren sein.«

Der Boy gähnte. »Schon möglich.«

Neuerdings zeigte Kenyon eine Banknote. »Wenn du in Erfahrung bringst, wer die Leute sind, bekommst du das hier.«

Eine sanfte Glut flammte in den Augen des Boys auf: der neue Schein war eine Zwanzigfrankennote. In diesem Augenblick kam ein Herr vorbei und blieb neben Kenyon stehen. Er besaß rosigen Teint, dicken grauen Schnurrbart, und er trug eine Binde über das linke Auge, wie einäugige Personen sie haben. Aufmerksam las er die verschiedenen Speisefolgen durch, schnalzte wohlgefällig mit der Zunge und wandte sich an den Detektiv.

»Ein Menü mit Stil, das hier, mein Herr! Das muß man schon sagen. Ganz und gar griechisch! Ausstattung, Speisen – alles zusammen! Aber ich möchte wissen, ob Ihnen eine Sache aufgefallen ist.«

»Was denn«, fragte der Detektiv trocken. Er verabscheute diese plaudersüchtige Sorte, zu der der Herr offenbar gehörte.

»Daß hier der Hellenismus bis in die kleinste Einzelheit durchgeführt wird!« rief sein Nachbar mit offenkundiger Begeisterung. »Wenn Sie die Anfangsbuchstaben der Speisen lesen, erhalten Sie ein Wort, und was für ein Wort? Homeros! Das nenne ich Stil!«

»Das ist natürlich ein Zufall!«

»Wer weiß? Jedenfalls gedenke ich, dieses Menü hier zu essen, so wahr ich Duval heiße und Kunstsachverständiger bin. Guten Morgen, mein Herr – oder sehe ich Sie im Speisesaal wieder. In diesem Falle auf Wiedersehen!«

»Ich esse nicht im Hotel«, sagte Kenyon mit einer Kälte, die vernichtend wirken sollte. Aber Duval fuhr mit unerschütterlicher Liebenswürdigkeit fort:

»Da tun Sie aber nicht recht daran. Man ißt hier ausgezeichnet. Übrigens scheint es mir, daß ich Sie vor einigen Tagen im Speisesaal gesehen habe. Waren Sie nicht von drei sehr distinguierten Herren zum Frühstück eingeladen?«

Kenyon errötete bis zu den Haarwurzeln. »Was geht Sie das an?« brüllte er den Kunstexperten an, »ob ich hier frühstücke oder anderswo, ob ich in Gesellschaft esse oder allein. Kümmern Sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten!«

Er drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich dem Boy zu, der mit blasiertem Lächeln diesen Meinungsaustausch angehört hatte.

»Merke dir, was ich dir versprochen habe«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Zwanzig Franken, wenn du herausbringen kannst, was das für Personen sind, die zu dem Millionär auf Besuch kommen, und was sie in ihren Kisten haben.«

III.

Die Nachricht von der neuen Offensive des Herrn Argyropoulos verbreitete sich noch am gleichen Nachmittag in Paris. Vierzigtausend Franken für Auskünfte, die zur Festnahme Herrn Collins führen könnten! Eine Flut von Informationen ergoß sich auf die Polizei. Man hatte Herrn Collin und seine Freunde in ganz Frankreich, vom Kanal bis zum Mittelmeer gesehen. In Paris hatten sie sich in schäbigen Pensionen und in Luxushotels einquartiert. Sie besuchten Apachenkneipen und waren bevorzugte Gäste in den feinsten Cafés. Aber wo sie auch wohnten und wo sie sich auch zeigten; – sie verstanden es, sich im Augenblick der Entscheidung unsichtbar zu machen. Lauter falsche Fährten!

Am Morgen des siebenten Tages begab sich Kenyon abermals zu Cesarini. Er hatte dem Millionär aus Griechenland etwas zu sagen. In der Hotelhalle traf er den Boy. Was dieser ihm mitzuteilen hatte, zeigte sich als derart interessant, daß ganze drei Zwanzigfrankenscheine aus Kenyons Tasche in die seine wanderten.

Als Kenyon im Lift zur Wohnung des Millionärs hinauffuhr, war es halb eins. Alkyon Argyropoulos empfing ihn persönlich.

»Heil dem Argosbesieger! Was gibt es Neues von Themis? Wurden die Schuldigen ergriffen, in Ketten gelegt und in die Höhlen der Kerker geworfen?«

»Nein«, erwiderte der Detektiv kurz. »Ich habe die Untersuchung bis auf weiteres abgeschlossen. Ihre Idee mit der Belohnung hat mir ein Arbeiten unmöglich gemacht. Das war nur eine Unterstützung für die Verbrecher. Sie sagten sich nun, daß sie die äußerste Vorsicht beobachten müßten. Wenn Ihr Preis vergessen ist und der Lärm sich gelegt hat, dann werden sie aus ihren Schlupfwinkeln kommen und dann –«

Alkyon Argyropoulos blinzelte seinen Mitarbeiter an. »Wissen Sie was? Ich glaube gar nicht, daß sie sich verstecken. Ich glaube, sie sind frech genug, mitten unter uns herumzuwandern. Ich glaube, sie scheren sich überhaupt nicht um meinen Preis oder um Ihre Nachforschungen!«

»So!« fluchte Kenyon. »Da haben Sie ja eine recht hohe Meinung von ihnen. Sollten Sie sie vielleicht besser kennen als Sie angegeben haben – diese Burschen und Leute ihrer Klasse überhaupt?«

Verblüfft starrte ihn der Graubart an. »Beim Hades, ich verstehe Sie nicht!«

»Ich will Sie offen fragen: Was sind das für Leute, deren Besuch Sie hier im Hotel empfangen?«

Der Mann aus Hellas blieb ihm die Antwort schuldig. So etwas wie tatsächlicher Respekt zeigte sich auf seinem Antlitz. Kenyon wollte eben seine Frage wiederholen, als die Türen zu dem Privatspeisesaal geöffnet wurden und ein Kellner ankündigte, daß das Lunch serviert wäre. Alkyon Argyropoulos schüttelte sich vergnügt wie ein Bär, der Weißbrot bekommt. »Wollen Sie mir Gesellschaft leisten, Kyrie? Dann können wir uns weiter unterhalten.«

Nun war die Reihe an dem Detektiv, verblüfft zu sein. »Ich dachte, Sie könnten es nicht vertragen, andere Menschen essen zu sehen!«

»Hat das Gerücht solches verkündet? Es hat die Wahrheit gesprochen. Doch mit einer Einschränkung: insofern es nicht meine Gastfreunde sind.«

Kenyon verbeugte sich förmlich und schritt vor seinem Gastgeber in den Speisesaal.

»Übrigens sind Sie nicht mein erster Gast in diesem Hotel«, sagte der Millionär. »Schon vor meiner Ankunft hier hatte ich die Freude, vier Gastfreunde zu bewirten. In ihrem Übermaß an Feingefühl hatten sie es mir erspart, daß ich sie essen sehen oder daß ich ihren Dank anhören sollte. Das waren meiner Ansicht nach die Verbrecher aus dem Zuge.«

Kenyon setzte seinen Wirt plötzlich dadurch in Verwunderung, daß er im Gesicht so rot wurde wie sein eigenes Haar. Er stammelte etwas, daß es höchste Zeit wäre, solche Kerle ihrer Strafe auszuliefern, als die Türe aufging und ein neuer Gast eintrat. Es war der Mann, den er in diesem Augenblick am wenigsten zu sehen wünschte: der geschwätzige Franzose, der ihn in der Halle angesprochen hatte – der Mann, der behauptete, ihn als Gast des Millionärs bei dem erwähnten Frühstück gesehen zu haben.

Alkyon Argyropoulos eilte ihm entgegen. »Seien Sie mir willkommen, Kenner kryselefantinischer Dinge! Haben Sie das Erforderliche mitgebracht?«

Der einäugige Kunstsachverständige wies auf die Tasche, die er in der Hand trug, und stellte flüsternd eine Frage, die der Millionär mit den Worten beantwortete: »Sie kommen um zwei Uhr. Sie wollten zuerst nicht, doch sie haben nachgegeben. Gestatten Sie mir, Sie dem Feinde aller Verbrecher vorzustellen! Mr. Kenyon, dies ist Monsieur Duval, ein Kenner schöner seltener Dinge.«

»Danke«, sagte Kenyon eiskalt. »Ich habe Monsieur Duval bereits getroffen.«

»Um so besser!« rief der Millionär. »Zu Tisch!«

Kenyon zögerte. Doch die einfachste Höflichkeit machte es ihm unmöglich, sich zurückzuziehen. Er setzte sich und griff mechanisch nach der Menükarte. Sie zeigte einen Fries von Pferden mit nackten Reitern, und die Speisefolge lautete:

 

Hors d'oevres variés

*

Coquilles Poseidon

*

Côtelette Télémaque

*

Pommes – Soufflées

*

Fromage – Fruits

 

Nicht ohne Genugtuung starrte er den Kunstexperten an. »Was ist nun heute mit dem Menü?« sagte er. »Es ist wohl nicht so stilgemäß wie das letztemal?«

»Wieso? Was meinen Sie da?« fragte der Hausherr voll Neugierde.

Kenyon verbeugte sich ironisch vor dem einäugigen Franzosen: »Monsieur behauptete, man treibe beim Déjeuner du Millionaire das Stilgefühl so weit, daß die Anfangsbuchstaben der Speisen griechische Worte bildeten.«

»Was Sie nicht sagen!« rief Alkyon Argyropoulos. »Welche Worte zum Beispiel?«

»An jenem Tag war es das Wort Homeros«, setzte Kenyon im gleichen ironischen Tone fort.

»Homeros! Merkwürdig! Welcher Tag war das?«

»Es werden etwa drei Tage her sein. Heute –«.

»Heute«, lächelte Monsieur Duval, »wäre es schwierig, aus den Anfangsbuchstaben der Speisen griechische Worte zu bilden!«

»Und verletzt das nicht Ihr Stilgefühl?« fragte Kenyon in unverändertem Ton.

»Nein, denn ich habe es erwartet.«

»Sie haben es erwartet!« beharrte Kenyon voll Eigensinn. »Warum geben Sie nicht lieber zu, daß Sie sich eingebildet haben, etwas zu sehen, was nicht vorhanden war?«

»Meinetwegen!« sagte der Kunstexperte lächelnd. »Ich fange wohl an, ein Spielball von Halluzinationen zu sein. Sie wissen, ich glaubte gesehen zu haben, wie Sie hier im Hotel lunchten, obwohl Sie doch gar nicht dagewesen sind!

Kenyon verstummte plötzlich.

Nach dem Lunch führte der Millionär Herrn Duval in ein Seitenzimmer und überreichte ihm ein größeres Paket. Dann verschloß er die Tür wieder und begann, vor sich hinschmunzelnd, auf und ab zu gehen. Kenyon nahm seinen unterbrochenen Angriff wieder auf.

»Wir sprachen eben von gewissen Besuchern, die zu Ihnen kommen. Ich habe Grund, mich für sie zu interessieren. Wollen Sie mir sagen, wer die Leute sind?«

»Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist. Ist das der Grund?«

»Ja! Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich diese Herren beobachtet habe. Wer sie sind, weiß ich nicht – so wenig ich, nebenbei bemerkt, weiß, wer Sie sind – doch vorgestern hörte man, wie Sie zu einem von ihnen sagten: und Sie garantieren, daß das nicht gestohlen ist? Wir garantieren, daß die Ware echt ist! antwortete Ihr Besucher. Wollen Sie mir sagen, was das für Leute sind, die so reden? Und was Sie mit ihnen zu tun haben?«

Der Millionär stand mitten im Zimmer und wiegte sich hin und her. Er glich einem auf einer Kugel balancierenden Bären. »Das sind Geschäftsleute«, murmelte er endlich.

»Was für Geschäftsleute? Und was sind das für Geschäfte, die Sie mit ihnen machten?«

Da drangen Stimmen aus dem Arbeitszimmer des Millionärs und auf der Türschwelle zeigte sich der Sekretär.

»Sst!« flüsterte Alkyon Argyropoulos Mr. Kenyon zu: »Sie sind da!«

Er entschwand mit dem Sekretär. Kenyon war allein. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Seitengemach und der französische Kunstsachverständige trat heraus. Er schien völlig geistesabwesend. Ohne sich umzusehen, ging er, in sich hineinmurmelnd, durch das Zimmer hinaus in den Flur. Fünf Minuten waren kaum verflossen, als die Tür zum Korridor aufgerissen wurde und zwei Männer eintraten; es waren zwei der französischen Detektive, mit denen Kenyon in der Angelegenheit der Zugplünderer zusammengearbeitet hatte. Ohne irgendwelche Fragen zu stellen, schlichen sie auf den Zehenspitzen in das Zimmer, in dem der Millionär mit seinen zuletzt gekommenen Gästen beschäftigt war. Mit dem Rufe: »Hände hoch!« stürzten sie in das Zimmer.

Gleichzeitig war die Tür, die vom Flur in das Arbeitszimmer führte, aufgerissen worden und zwei andere Detektive traten ein. Stumm vor Staunen sah Kenyon, wie sie auf die drei Herren, mit denen der Millionär verhandelte, Beschlag legten – dagegen nicht auf den Millionär selbst. Erst als alle drei Herren mit Stahlarmbändern versehen waren, kam die Lösung des Rätsels:

»Sie meinten wohl, bereits sicher zu sein? Sie befürchteten nichts mehr wegen der Plünderung des blauen Zuges, wie, meine Herren? Doch der Arm des Gesetzes ist lang, Herr Kortschegin, und er hat sowohl Sie, wie Ihre Spießgesellen erreicht! Und wenn Sie glauben, daß es den Herren Rouff, Bazin und Wenz besser ergehen würde, dann irren Sie sich. Vor einer Stunde wurden sie verhaftet. Das Beste für Sie ist, wenn Sie ruhig mitgehen. Hier durch! Guten Tag, Herr Argyropoulos! Passen Sie in Zukunft bei Ihren Bekanntschaften besser auf!«

IV.

Die Detektive verschwanden mit ihrer Beute über die Hintertreppe des Hotels Cesarini. Kenyon und sein Gastgeber starrten einander an.

»Waren das die Zugplünderer? Ich habe aufgehorcht, aber ich wartete vergeblich auf den Namen Collin. Hörten Sie ihn nennen?« fragte der Grieche.

Kenyon antwortete nicht gleich. »Dieser Duval«, sagte er schließlich, »wo haben Sie ihn getroffen?«

»Hier im Hotel – ja richtig, wo ist Duval?«

Alkyon Argyroupolos flog in das nächste Zimmer. »Duval! Kyrie! Wo sind Sie?«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Ein Boy mit herablassendem Gesicht trat ein, um zwei Briefe zu überreichen. Der eine war an den Millionär gerichtet. Er lautete folgendermaßen:

 

Lieber Herr Argyropoulos!

Schon als die Plünderung des blauen Zuges vor sich ging, war ich der Meinung, daß sie vor allem gegen eine Person gerichtet war – nämlich gegen Sie. Das Geld, das Sie damals verloren, haben Sie inzwischen zurückbekommen.

Es war nicht anzunehmen, daß die Verbrecherbande sich damit abfinden würde. Ich stellte sehr bald fest, daß Sie im Hotel Cesarini von verdächtigen Personen umkreist wurden, und daß diese mit den Zugplünderern identisch sein mußten. Aber diese hatten ihre Methoden geändert: Anstatt Sie direkt zu bestehlen, wollte man Sie indirekt bestehlen – indem man Ihnen wertlose Dinge zu phantastischen Preisen verkaufte. Man kannte Ihr Interesse für alles, was die Altertümer Ihres Heimatlandes betrifft.

Sie begannen zunächst im Kleinen. Als Sie mich vor einigen Tagen – inzwischen war ich Ihr Gastfreund geworden – um mein Urteil über das kleine Pergament baten, das Sie den Verbrechern soeben abgekauft hatten und für eine antike Abschrift eines Textes von Hesiod hielten, bürgte ich für seine Echtheit. Es war natürlich falsch! Doch ich war noch nicht fertig damit, die Beweise für die Schuld an dem Zugattentat zu sammeln. Erst heute konnte ich diese Beweise an die Polizei senden und ich teilte der Polizei mit, daß drei von den Verbrechern hier bei Ihnen um zwei Uhr erwartet wurden, um ein Geschäft abzuschließen. Ich ließ auch wissen, wo die drei anderen zu treffen wären. Um ein Uhr fand ich mich bei Ihnen ein, um die Untersuchung durchzuführen, um die Sie mich gebeten hatten. Wünschen Sie das Ergebnis zu hören?

Die Pergamentrolle, die Kortschegin Ihnen heute verkaufen wollte, und die er für ein echtes antikes Exemplar eines Homer-Textes ausgab, ist eine Fälschung. In Jena bekommt man einen einfachen, sinnreichen Apparat zu kaufen, mit dessen Hilfe man in fünf Minuten eine photographische Aufnahme machen kann, die bereits unsichtbar gewordene oder gemachte Beschriftungen wieder sichtbar macht. Es handelt sich hier um die Methode des Deutschen Kögel, nach der ein Pergament, aus organischen Stoffen bestehend, unter dem Einfluß von ultravioletten Strahlen fluoresziert. Überall dort, wo man das Pergament jedoch beschrieben hat, haben sich teils chemische, teils physische Veränderungen ergeben. Bei Bestrahlung mit ultraviolettem Licht leuchtet nun das ganze Pergament mit Ausnahme aller alten Schriftstellen auf. Es war mir gelungen, hier in Paris einen dazu notwendigen Apparat aufzutreiben.« Mit seiner Hilfe stellte ich fest, daß das Pergament, das Herr Kortschegin Ihnen für eine märchenhafte Summe verkaufen wollte, in seiner ursprünglichen Gestalt kaum sechshundert Jahre alt ist.

Die darunter liegende Schrift, die auf meiner Photographie herauskam, ist eine Abhandlung aus dem 14. Jahrhundert über die Kunst, Gold zu machen. Falls Herr Kortschegin Ihnen selbst eine Abhandlung über diese Kunst schreiben wollte, würde sie sicher zumindest ebenso lehrreich ausfallen.

Womit ich Ihnen, lieber Herr Argyropoulos, für heute Lebewohl sage. Ich bedaure, daß ich Ihnen Ihre Illusion rauben mußte. Es bleibt Ihnen erspart, das Geld zu verlieren, das Sie dafür bezahlen wollten – oder glauben Sie vielleicht, bei dem Tausch zu verlieren?

In Eile

Ihr ergebener Charles Duval
alias Professor Pelotard
alias Philipp Collin

 

Der Brief an Mr. Kenyon lautete:

 

Lieber Mr. Kenyon!

Da ich nun sowohl die Beute vom blauen Zug wie die Plünderer eingebracht habe, sind Sie vielleicht so liebenswürdig, Ihre Schmutzangriffe gegen mich in der Presse und an den Straßenplanken von Paris einzustellen?

Vielleicht macht es Ihnen Vergnügen, zu erfahren, was mich über die Art des Attentates aufklärte, das man gegen Herrn Argyropoulos vorbereitete. Ob Sie es glauben oder nicht – es war das Menü, das wir vor einigen Tagen in der Halle des Hotels Cesarini zusammen studierten.

In Eile

Ihr ergebener Charles Duval

(Meine Zeit erlaubt es mir nicht, die verschiedenen alias auszuschreiben.)

 

Aus dem Detektiv kam ein wütender Fluch:

»Ein Menü! Was kann ein Menü mit dieser Angelegenheit zu tun haben!« Aus dem Millionär kam als Antwort ein klagender Aufschrei:

»Soll ich denn diesen Kyrios Collin niemals zu Gesicht bekommen!«


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