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IV.
Mektub – es steht geschrieben

1.

Die Mittagssonne stand glühend über Tozeur. Nicht ein Wölkchen befleckte die flammende Bläue des Himmels. Die Sonnenstrahlen fielen wie Lanzenstöße auf Tiere und Menschen; die Schatten wurden fast lotrecht auf die Erde geworfen. Alles brannte, alles funkelte.

Aber in der Oase floß das klare Wasser durch hundert geschlängelte Adern; rinnend, gleitend, floß es von der Quelle durch die drei Wasserarme in die sieben Hauptadern. Leise murmelnd, an einsamen Pfaden entlang Palmen-, Aprikosen- und Feigenbäume spiegelnd, drang es durch hundert Nebenadern bis in die fernsten Enden der Oase. Ueberall, wo es hinkam, schwollen und blühten Bäume und Büsche; überall, wo es hinkam, stieg Kühlung in die Luft; überall, wo es hinkam, war die weiße Tyrannei der Sonne gebrochen, und das Auge fand Ruhe im Grün. Ueber lauschige Pfade kamen die sittsamen Esel getrippelt, mit schweren Krügen, die an der Tränke mit Wasser gefüllt wurden; braunwangige Frauen und halbnackte Neger wuschen an den Bächen, die für Wäscher bestimmt waren, bunte Kleider; nackte, schwarzgebrannte Knaben badeten überall. Das Wasser strömte, rann, glitt, lebenspendend, befruchtend, kühlend und unerschöpflich.

Aber auf dem Marktplatz von Tozeur wurde der tägliche Handel der Wüste und Oase betrieben. Da warteten ernste Männer im Schatten eines Zeltzipfels darauf, daß die Geschäfte, die im Buche des Schicksals geschrieben standen, zustande kommen sollten. Dahin wurden schwarze Ziegen und Schafe getrieben, um verkauft und geschlachtet zu werden, dahin schleppten die ewig geprügelten Esel ihre Gemüse- und Dattellasten; da standen die Fliegen in ganzen Wolken über den Waren der Fleischer und Dattelhändler. Ein Schmied schmiedete am offenen Feuer an einer Axt, die, sofern es im Buche des Schicksals so geschrieben stand, in einer Woche fertig wurde. Hie und da fachte er das Feuer mit einem Fächer an, hie und da scharrte er aus den Ausscheidungen, die ein zufällig vorbeipassierendes Kamel in seiner Reichweite fallen ließ, einen Brennvorrat zusammen. Ein Idiot rezitierte singend den Koran. In einer Ecke des Marktes saß eine unbeschreibliche Kollektion weißgelber Fetzen, aus denen ein bärtiges Antlitz mit verschleierten Augen hervorlugte.

»Erkennen Sie ihn, Professor?«

»Wen?«

»Den Mann, der gerade vor Ihnen hockt.«

»Nein, wer ist das?«

»Der Freund unseres Freundes Graham aus Ain Ghrasesia, der Teppichhändler.«

In diesem Augenblick wurde der Blick des Antlitzes in dem weißen Fetzenbündel weniger verschleiert. Er schlug ihn auf und sah die beiden Europäer mit jenen unerbittlich untersuchenden, unerforschlichen und unerschütterlich ernsten Augen an, mit denen die Araber Mitglieder der weißen Rasse ansehen. Er sagte nicht ein Wort. Vor sich hatte er einen Sack mit Wüstensand, aber keinen Teppich. Lavertisse gab seinen Blick mit Zinseszinsen zurück.

»Hören Sie mal, Professor, fragen wir doch den da, wo Graham steckt!«

»Wozu in aller Welt sollte das gut sein?«

»Er ist doch ein Wahrsager, soviel ich weiß! Wissen Sie nicht mehr, wie er uns vorgestern in Ain Ghrasesia entlarvt hat? Kein anderer in Tozeur kann uns über Graham Bescheid geben, weder die Behörden noch die Bevölkerung, und wir selbst haben auch nichts gefunden. Es ist zwölf Stunden her, seit wir ihn zu suchen anfingen. Ich gedenke, den Wahrsager zu fragen.«

»Lieber Lavertisse, ich weiß, Sie haben ein neues Leben mit ausschließlich ehrlichen Geschäften angefangen, und da wird man leicht abergläubisch – aber mir kann es gleich sein. Befriedigen Sie Ihre Wißbegierde!«

Lavertisse wandte sich dem weißgelben Fetzenbündel zu, das ihn ununterbrochen aus seinen Steinkohlenaugen ansah. Ein Araberjunge beeilte sich, sich zum Dolmetsch zwischen ihm und dem Marabou anzubieten.

»Wo ist der dicke Herr, den du vorgestern in unserer Gesellschaft gesehen hast? Er, der deinen Teppich gekauft hat? Er ist verschwunden. Kannst du uns sagen, wo er sich befindet, so bekommst du zwanzig Franken!«

Der Araberjunge übersetzte.

Die Augen des Fetzenbündels leuchteten auf, aber das Leuchten verschwand rasch. Er murmelte etwas.

»Er sagt,« übersetzte der Araberjunge, »wenn der dicke Herr verschwunden ist, so ist es, weil es so geschrieben stand. Mektub – es stand geschrieben.«

»Es stand geschrieben! Epatant! Aber wenn es geschrieben stand, daß er verschwinden würde, so steht wohl auch geschrieben, wo er hingekommen ist! Sag' ihm das! Bitte ihn nachzusehen, was über diese Sache geschrieben steht!«

Der Araberjunge tauschte diese Gedanken mit dem Fetzenbündel aus, das Lavertisse lange anstarrte, doch ohne ein neues Communiqué auszugeben. Als es kam, war es kurzgefaßt und rätselvoll:

»Was geschrieben steht, steht geschrieben. Jedes Menschen Schicksal haben wir ihm um den Hals gehängt, sagt der Koran. Sein Name sei gelobt!«

Lavertisse schüttelte sich wie ein Hund, der das Wasser abschüttelt. Diese semitische Mystik sagte seinem gallischen Gehirn nicht zu.

»Mit anderen Worten,« rief er, »du alter Schwindler, du kannst uns nicht sagen, wo er sich befindet; du bist ein Blagueur! Deine Wahrsagekunst geht heute nicht so gut wie gestern! Die steckte wohl in dem Teppich, den du verkauft hast! Sag' ihm das!«

Ob der Araberjunge es wagte, diese Botschaft unverdünnt zu überbringen, ist ungewiß. Auf jeden Fall verdüsterte sich das lederbraune Gesicht des Marabou noch mehr; er sah Lavertisse mit Feuerkohlenaugen an und zischte eine Serie von H und D, die wie Steinwürfe klangen. Als sie übersetzt waren, erwies es sich, daß sie folgendes bedeuteten:

»Mit Diebstahl, nicht mit Kauf; mit List, nicht mit Gewalt; mit Lüge, nicht mit Wahrheit! Mektub! So steht es geschrieben.«

Philipp Collin gähnte.

»Haben wir noch nicht genug von dieser delphischen Weisheit?« fragte er. Lavertisse nickte zustimmend, und sie gingen.

Im Hotel des Dattiers bedauerte man, aber man hatte noch immer keinerlei Nachrichten über den so bedauerlich verschwundenen und schmerzlich vermißten Gast. Man hatte seit dem frühen Morgen Leute ausgeschickt, um die Oase und den angrenzenden Teil der Wüste zu durchsuchen, aber in der Oase war keine Spur von Mr. Graham, und wenn Mr. Graham sich in der Wüste befand, mußte er rein durch Mimikry die Farbe des Wüstensandes angenommen haben, um sich so unsichtbar zu machen, wie er war.

Beim Lunch waren sie allein mit der französisch-deutsch-englischen Gesellschaft, die schweigend aß und ihre zwei Nachbarn mißtrauisch musterte. Vermutlich hatten sie von Mr. Grahams Verschwinden gehört. Erst beim Kaffee im Patio begannen sie zu sprechen. Lavertisse legte sich ungeniert in seiner lauschenden Lieblingsstellung zurecht. Kein Außenstehender hätte Verdacht schöpfen können. Den Hut über die Nase, die Hände unter dem Nacken, sah er ebenso apathisch aus wie eine der Eidechsen, die, mit dem Kopf nach unten an der Wand festklebend, in der Sonne schliefen. Er teilte Herrn Collin murmelnd mit, was er hörte.

»Jetzt spricht der Franzose. Er sagt: Mir scheint, Sie wollen mich nasführen, mein guter Herr von Todleben! Sie wollen mich behandeln, wie Ihre ganze Nation die meine behandelt! – Und meine! sagte der Engländer. – Ihre! sagt der Franzose. Persönlich schere ich mich den Teufel darum, ob Sie und Ihre Nation an ihren Whiskynasen gezogen werden. Sie sind ein Parasit, wie Ihre ganze Nation, mein guter Mr. Bottomley! Wir Franzosen sind Krieger und Künstler, aber Ihre Nation lebt davon, damit zu schachern, was andere Menschen hervorbringen. Wenn Sie an Ihrem Riechorgan gezogen werden, so geht es Ihnen nur nach Verdienst. – Der Engländer spricht: Der Krieger zerschlägt, aber der Kaufmann baut auf, mein lieber Monsieur Picarou. Wir müssen zusammenhalten, sonst kommen wir zu nichts. Uebrigens habe ich dieselbe Auffassung wie Sie, Monsieur, nämlich die, daß es so aussieht, als ob Herr von Todleben uns nasführen wollte. – Ich! ruft der Deutsche. Was meinen Sie? Sie, die Sie alle beide nur davon leben, mich auszunützen? Ich sage das weniger von Monsieur Picarou; er hat eine ökonomische Forderung an mich, aber Sie, Sir, Sie haben sich uns aufgedrängt, und Sie sind nichts anderes als ein gemeiner Parasit! Monsieur sagt, daß er Franzose und Krieger ist, und Sie sagen, Sie sind Engländer und Kaufmann, aber ich bin Deutscher und repräsentiere das Wissen und die Energie! Ohne mich hätten Sie sich nie von dem großen Schatz im Salzsee träumen lassen, geschweige denn davon, ihn zu finden!«

»Schatz im Salzsee?« unterbrach Philipp Collin. »Sie sprechen von einem Schatz im Salzsee! Weiter! Weiter!«

Lavertisse horchte noch eine Weile, dann nahm er den Hut vom Gesicht und setzte sich auf.

»Es ist unmöglich, mehr zu hören.«

Er sah die internationale Gesellschaft vorwurfsvoll an. Herr Collin sah sie auch an, doch mit einem anderen Blick. Lavertisse zog die Uhr.

»Halb drei,« sagte er, »und keine Nachrichten über Graham! Was kann aus ihm geworden sein? Glauben Sie, daß er von einem Löwen gefressen ist?«

»Wenn es in diesem Teil der Sahara Löwen gäbe,« sagte sein Freund, »wäre es denkbar, aber unwahrscheinlich. Das wäre sogar für den König der Tiere ein allzu kräftiger Bissen.«

»Aber was glauben Sie denn?«

»Ich habe eine Vermutung, und das ist der Grund, weshalb ich nicht so unruhig bin, als ich sonst wäre. Ich glaube, Graham ist entführt worden.«

»Aber das ist doch unmöglich!«

»Gewiß nicht! Hier gibt es genug herumstreifende Beduinenkarawanen. Es sollte mich nicht wundern, wenn wir heute oder morgen einen Brief bekämen, mit einer Rechnung für unseren Freund Graham, Lebendgewicht, frei lieferbar in Tozeur!«

Lavertisse pfiff gedankenvoll.

»Wenn wir die Rechnung nur bezahlen können! Die Kasse ist ja nicht großartig!«

»Wissen Sie was,« sagte Philipp Collin, »da ist eine Sache, die mich fast ebensosehr interessiert wie das Verschwinden unseres Freundes Graham, und das sind unsere drei Hotelgenossen. Was Sie von ihrer Konversation aufgeschnappt haben, ist meiner Meinung nach zum mindesten ungewöhnlich. Was ein Engländer, ein Franzose und ein Deutscher überhaupt zusammen machen, ist mir ein Rätsel, und ich vertrage nun einmal keine ungelösten Rätsel. Ich gedenke, den drei Herren auf ihrem nächsten Ausflug zu folgen, mit anderen Worten, ich gedenke ihnen nachzuspionieren.«

»Wie Sie wollen, Professor! Ich bin bei allem dabei, damit die Zeit vergeht.«

»Sie reiten fast jeden Tag am frühen Morgen aus. Heute pausieren und zanken sie. Um mit einiger Aussicht auf Erfolg zu spionieren, brauchen wir ein paar Kamele. Die will ich selbst mieten. Kommen Sie mit mir durch Tozeur, dann ordnen wir die Sache sofort!«

2.

Auf dem Rückweg passierten sie den Marktplatz. Der Marktplatz hielt Siesta. Die Nachmittagshitze war erstickend. An den Häusermauern, auf der Treppe der graugelben Moschee, überall, wo es Schatten gab, lagen weißgekleidete Gestalten und schliefen, auf der Seite, auf dem Rücken, auf dem Bauch. Die bärtigen Kaufleute schlummerten im Schatten ihrer Zeltzipfel, der Schmied döste, die unvollendete Axt neben seiner halb erloschenen Esse. Aber aus einer Ecke widerhallte das ununterbrochene Korangeleier des Idioten; die Esel trippelten unaufhörlich schwer beladen über den Markt, von halbschlummernden Araberknaben getrieben, die mechanisch ihre wunden Hälse prügelten. Einige Schritte von dem Marktplatze, in einer Seitengasse, blieb Lavertisse plötzlich stehen:

»Nun, du alter Blagueur, wie geht es? Ist deine Wahrsagekunst wiedergekehrt? Kannst du uns Neuigkeiten von unserem verschwundenen Freund erzählen?«

Das Fetzenbündel saß mit gekreuzten Beinen im Schatten einer Palme. Auch er schlummerte halb, aber bei dem Laut von Lavertisses Stimme schlug er zwei Augen, leuchtend wie die eines Raubvogels, zu den beiden Europäern auf. Philipp Collin zupfte Lavertisse am Arm, um ihn weiterzuziehen.

»Was für einen Zweck hat es, ihn zu reizen? Er versteht ja nicht einmal Ihre Sprache.«

Es zeigte sich, daß Herr Collin sich irrte. Bei ihren zwei früheren Begegnungen hatte der Marabou Französisch nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Aber jetzt lösten sich seine Zungenbande, und eine Stimme, die aus dem Grabe zu kommen schien, so hart und schnarrend war sie, sprach Voltaires Sprache.

»Was geschrieben steht, das geschieht. Jedes Menschen Schicksal haben wir ihm um den Hals gehängt, sagt der Koran, dessen Name gelobt sei. Der Mann mit dem schweren Bauch ist in die Gefahr der unzähligen Nächte eingegangen. Mektub. Es stand geschrieben.«

Die Stimme verstummte. Die Raubvogelaugen brannten bernsteingelb in dem trockenen Ledergesicht, auf Lavertisse gerichtet.

»Unverständlich wie gewöhnlich. In dieser Sache bist du ebenso fix wie Pythia, nur habe ich gehört, daß sie besser aussah. Was ist die Gefahr der unzähligen Nächte?«

Der Mund in dem Barte öffnete sich abermals, langsam wie eine Grabtür. Die schnarrende Stimme antwortete:

»Du bist der nächste. Jedes Menschen Schicksal steht geschrieben. Mektub. Ja, es steht geschrieben.«

Lavertisse war im Begriff, seine Pariser Meinung über den neuen Orakelspruch zum Ausdruck zu bringen, aber er brach ab. Erst in diesem Moment erblickte er etwas, das vor dem Marabou lag – ein Teppich, über den ein Sack Wüstensand ausgebreitet lag, mit Zeichen und Figuren bedeckt.

»Mektub! Soso, es stand geschrieben! Stand es auch geschrieben, daß du den hier stehlen würdest? Du kannst doch nicht leugnen, daß das der Teppich ist, den Graham für hundertfünfzig Franken gekauft hat!«

Der Marabou sah mit einem ausweichenden Blick vor sich hin.

»Dieser Teppich läßt sich überhaupt nicht durch Kauf erwerben.«

»Aber durch Diebstahl?«

»Ja.«

»Und darum hast du ihn gestohlen?«

Der Marabou antwortete mit demselben fernen Blick:

»Nicht so, er ist zurückgekehrt, weil er auf unrechte Weise erworben war.«

»Er war ehrlich gekauft.«

»Er läßt sich nicht durch Kauf erwerben, darum ist er zurückgekehrt. Sein Djinn hat ihn seinem rechten Besitzer zurückgebracht.«

Lavertisse fing Feuer.

»So, sein Djinn hat ihn dem rechten Besitzer zurückgebracht! Nun, dann wirst du ihn noch einmal zu seinem rechten Besitzer zurückkehren sehen! Du alter Fuchs, du glaubst, du kannst uns zum Narren halten, aber ich werde dir schon zeigen –«

Er packte ohne viel Federlesens den Teppich und schüttelte den Wüstensand mit den kunstvoll ausgelegten Figuren ab. War die Stimme des Marabou erschreckend gewesen, als er Französisch gesprochen hatte, so wurde sie doppelt respekteinflößend, als er zu seiner Muttersprache zurückkehrte. Er stieß eine Serie semitischer Flüche aus, die einen guten Begriff davon gaben, wie es geklungen haben muß, als Noah Ham verfluchte, oder Elias die Baalspriester. Er begnügte sich nicht damit, er suchte den Teppich mit seinen lederbraunen Armen zu verteidigen. Aber Lavertisse war stärker. Als der Marabou sah, wie er sich mit dem abgeschabten rotweißgelben Stoffstück entfernte, hob er die Hände und rief (diesmal französisch):

»Nicht mit Gewalt, mit List; nicht mit Kauf, mit Diebstahl; nicht mit Wahrheit, mit Lüge: so wird er erworben werden. Du hast ihn mit Gewalt genommen. Geh und miß dir selbst die Schuld an den Folgen deiner Handlung bei!«

»Sei doch logisch, du alter Blagueur,« rief Lavertisse. »Wenn ich den Teppich zurückgenommen habe, so war es auch, weil es geschrieben stand! Mektub!«

»Mektub! Es stand geschrieben!« gab der Marabou dumpf zurück und verstummte.

Lavertisse hingegen verstummte nicht. Jeder Franzose ist im tiefsten Inneren ein Jurist; die Lust, sich selbst zu rechtfertigen und den Gegner durch logische Argumente zu widerlegen, ist beinahe der stärkste Trieb in seiner Seele. Lavertisse gab sich diesem gallischen Urinstinkt in vollem Maße hin. Ein Mal ums andere konstatierte er Mr. Grahams Recht auf das Teppichstück, sein Recht, im Namen seines verschwundenen Freundes zu handeln, und die Notwendigkeit, Einbildung und Aberglauben zu bekämpfen, wenn sie so krasse Formen annahmen, wie in diesem schwarzen Weltteil. Schließlich rief er, mit dem Korpus delikti, dem Teppich, in der Hand:

»So sicher, als ich den Teppich fand, werde ich Graham finden. Ich will die Wahrheit über Graham wissen! Ich werde sie wissen!«

»Wir wollen hoffen, daß Sie diese Wahrheit finden,« sagte Philipp Collin und sah den Teppich an. Der sah in dem unbarmherzigen Mittagslicht der Wüste unaussprechlich alt und mitgenommen aus. Jahrzehnte- oder gar jahrhundertelange Benützung hatte das rotweißgelbe Muster in verschiedenem Grade verwischt, hauptsächlich an jenen Stellen, an denen Knie und Stirnen es berührt hatten. Wie er jetzt war, bildeten die abgeschabten Teile ein groteskes Muster. Lavertisse faßte seinen Freund unter den Arm.

»Können Sie sehen, daß der Teppich ein Gesicht hat?«

Philipp Collin lachte.

»Wo ist denn das Gesicht?«

Lavertisse deutete:

»Da, wenn man richtig hinsieht! Und wissen Sie was? Ich finde, das Gesicht hohnlacht.«

»Ich bin nicht weit davon entfernt, das gleiche zu tun, lieber Lavertisse. Glauben Sie denn, daß der Teppich irgendwie übernatürlich ist?«

»Nein,« sagte Herr Lavertisse sofort, »das glaubt man ja nicht, aber – –«

Als Philipp Collin sich an demselben Abend niederlegte, war er um noch einen Freund ärmer. Nach dem Mittagessen verschwand Monsieur Lavertisse auf einem Spaziergang in der Oase. Da Philipp Collin zu müde war, um mitzukommen, mußte er allein gehen. Er kam nicht mehr zurück. Zu der schlechtverhehlten Verwunderung der schielenden Dienerschaft war und blieb er verschwunden. Ebenso verschwunden wie Mr. Graham.

Bevor Herr Philipp Collin zur Ruhe ging, sah er lange zum Himmel auf, der sich über einem Platz mit so seltsamen Vorkommnissen wölbte.

Er war samtschwarz wie ein Tuch, und darüberhin waren die Sterne wie goldener Sand ausgestreut – wie der Sand, den der Marabou auf den Teppich schüttete, wenn er die Geheimnisse des Daseins deutete.


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