Heinrich Heine
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Heinrich Heine

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Ein brauchbares Subjekt der Posener Bühne ist Herr Carlsen, er verdirbt keine Rolle; auch muß man Madame Paien eine gute Schauspielerin nennen. Sie glänzt in den Rollen lächerlicher Alten. Als Geliebte »Schieberles« gefiel sie mir besonders. Sie spielt ebenfalls keck und frei, und hat nicht den gewöhnlichen Fehler derjenigen Schauspielerinnen, die zwar mit vieler Kunst solche Alte-Weiberrollen darstellen, uns aber doch gern merken lassen möchten, daß in der alten Schachtel noch immer eine aimable Frau stecke. Herr Oldenburg, ein schöner Mann, ist als Liebhaber im Lustspiel unerquicklich und ein Muster von Steifheit und Unbeholfenheit; als Held-Liebhaber im Trauerspiel ist er ziemlich erträglich. Es ist nicht zu verkennen, daß er Anlage zum Tragischen hat; aber seinen langen Armen, die bei den Knieen perpendikelartig hin und her fliegen, muß ich alles Schauspielertalent durchaus absprechen. Als Richard in »Rosamunde« gefiel er mir aber, und ich übersah manchmal den falschen Pathos, weil solcher im Stücke selbst liegt. In diesem Trauerspiel gefiel mir sogar Herr Munsch als König, am Ende des zweiten Akts in der unübertrefflichen Knalleffektszene. Herr Munsch pflegt gewöhnlich, wenn er in Leidenschaft gerät, einem Gebell ähnliche Töne auszustoßen. Demois. Franz, ebenfalls erste Liebhaberin, spielt schlecht aus Bescheidenheit; sie hat etwas Sprechendes im Gesicht, nämlich einen Mund. Madame Fabrizius ist ein niedliches Figürchen, und gewiß enchantierend außer dem Theater. Ihr Mann, Herr Fabrizius, hat in dem Lustspiel: »Des Herzogs Befehl«, den großen Fritz so meisterhaft parodiert, daß sich die Polizei hätte dreinmischen sollen(?). Madame Carlsen ist die Frau von Herrn Carlsen. Aber Herr Vogt ist der Komiker: er sagt es ja selbst, denn er macht den Komödienzettel. Er ist der Liebling der Galerie, hat den Grundsatz, daß man eine Rolle wie die andere spielen müsse, und ich sah mit Bewunderung, daß er demselben getreu blieb als »Fels von Felsenburg«, als dummer »Baron« im »Alpenröschen«, als »Spießbürger-Anführer« im »Vogelschießen« usw. Es war immer ein und derselbe Herr Ernst Vogt mit seiner Fistelkomik. Einen andern Komiker hat Posen kürzlich gewonnen in Herrn Ackermann, von welchem ich den »Staberle« und die »falsche Catalani« mit vielem Vergnügen gesehen. Madame Leutner ist die Direktrice der Posener Bühne, und findet nichts weniger als ihre Rechnung dabei. Vor ihr spielte hier die Köhlersche Truppe, die jetzt in Gnesen ist, und zwar im allerdesolatesten Zustande. Der Anblick dieser armen Waisenkinder der deutschen Kunst, die, ohne Brot und ohne aufmunternde Liebe, in dem fremden, kalten Polen herumirren, erfüllte meine Seele mit Wehmut. Ich habe sie bei Gnesen, auf einem freien, mit hohen Eichen romantisch umzäunten Platze, genannt der Waldkrug, spielen sehen; sie führten ein Schauspiel auf, betitelt: »Bianka von Toredo, oder die Bestürmung von Castellnero«, ein großes Ritterschauspiel in fünf Aufzügen von Winkler; es wurde viel darin geschossen, und gefochten und geritten, und innig rührten mich die armen, geängstigten Prinzessinnen, deren wirkliche Betrübnis merklich schimmerte durch ihre betrübte Deklamation, deren häusliche Dürftigkeit sichtbar hervorguckte aus ihrem fürstlichen Goldflitterstaate, und auf deren Wangen das Elend nicht ganz von der Schminke bedeckt war. – Vor kurzem spielte hier auch eine polnische Gesellschaft aus Krakau. Für zweihundert Taler Abstandsgeld überließ ihr Madame Leutner die Benutzung des Schauspielhauses auf vierzehn Darstellungen. Die Polen gaben meistens Opern. An Parallelen zwischen ihnen und der deutschen Truppe konnte es nicht fehlen. Die Posener von deutscher Zunge gestanden zwar, daß die polnischen Schauspieler schöner spielten, als die deutschen, und schöner sangen, und eine schönere Garderobe führten usw.; aber sie bemerkten doch: die Polen hätten keinen Anstand. Und das ist wahr; es fehlte ihnen jene traditionelle Theateretikette und pompöse, preziöse und graziöse Gravität deutscher Komödianten. Die Polen spielen im Lustspiel, im bürgerlichen Schauspiel und in der Oper nach leichten, französischen Mustern; aber doch mit der original-polnischen Unbefangenheit. Ich habe leider keine Tragödie von ihnen gesehen. Ich glaube, ihre Hauptforce ist das Sentimentale. Dieses bemerkte ich in einer Vorstellung des »Taschenbuchs« von Kotzebue, das man hier gab unter dem Titel: »Jan Grudczynski, Starost von Rawa«, Schauspiel in drei Akten, nach dem Deutschen von L. A. Dmuszewski. Ich wurde ergriffen von dem hinreißend schmelzenden Klagenerguß der Madame Szymkaylowa, welche die Jadwiga, Tochter des in Anklagezustand gesetzten Starosts, spielte. Die Sprache des Herrn Wlodek, Liebhaber Jadwigas, trug dasselbe sentimentale Kolorit. An die Stelle der tabakschnupfenden Alten war ein schnupfender Haushofmeister, Tadeusz Telempski, substituiert, den Herr Zebrowski ziemlich unbedeutend gab. Eine unvergleichliche Anmut zeigten die polnischen Sängerinnen, und das sonst so rohe Polnische klang mir wie Italienisch, als ich es singen hörte. Madame Skibinska beseligte meine Seele als Prinzessin von Navarra, als Zetulba im »Kalifen von Bagdad« und als Aline. Eine solche Aline habe ich noch nie gehört. In der Szene, da sie ihren Geliebten in den Schlaf singt und die bedrängenden Botschaften erhält, zeigte sie auch ein Spiel, wie es selten bei einer Sängerin gefunden wird. Sie und ihr heiteres Golconda werden mir noch lange vor den Augen schweben und in den Ohren klingen. Madame Zawadzka ist eine liebliche Lorezza, ein freundlich schönes Mädchenbild. Auch Madame Wlodkowa singt trefflich. Herr Zawadzki singt den Olivier ganz vorzüglich, spielt ihn aber schlecht. Herr Romanowski gibt einen guten Johann. Herr Szymkaylo ist ein gar köstlicher Buffo. Aber die Polen haben keinen Anstand! Viel mag der Reiz der Neuheit dazu beigetragen haben, daß mich die polnischen Schauspieler so sehr ergötzt. Bei jeder Vorstellung, die sie gaben, war das Haus gedrängt voll. Alle Polen, die in Posen sind, besuchten aus Patriotismus das Theater. Die meisten polnischen Edelleute, deren Güter nicht gar zu weit von hier entfernt liegen, reisten nach Posen, um polnisch spielen zu sehen. Der erste Rang war gewöhnlich garniert von polnischen Schönen, die, Blume an Blume gedrängt, heiter beisammensaßen, und vom Parterre aus den herrlichsten Anblick gewährten.

Von Antiquitäten der Stadt Posen und des Großherzogtums überhaupt will ich Ihnen nichts schreiben, da sich jetzt ein weit erfahrener Altertumsforscher, als ich bin, damit beschäftigt, und gewiß bald dem Publikum viel Interessantes darüber mitteilen wird. Dieser ist der hiesige Professor Maximilian Schottky, der sechs Jahre, in Auftrag unserer Regierung, in Wien zubrachte, um dort deutsche Geschichts- und Sprachurkunden zu sammeln. Angetrieben von einem jugendlichen Enthusiasmus für diese Gegenstände, und dabei unterstützt von den gründlichsten gelehrten Kenntnissen, hat Professor Schottky eine literarische Ausbeute mitgebracht, die der deutsche Altertumsforscher als unschätzbar betrachten kann. Mit einem beispiellosen Fleiße und einer rastlosen Tätigkeit muß derselbe in Wien gearbeitet haben, da er nicht weniger als sechsunddreißig dicke, und zwar sehr dicke, und fast sämtlich schön geschriebene Quartbände Manuskript von dort mitgebracht hat. Außer ganzen Abschriften altdeutscher Gedichte, die gut gewählt und für die Berliner und Breslauer Bibliothek bestimmt sind, enthalten diese Bände auch viele zur Herausgabe schon fertige, große, meistens historische Gedichte und Dichterblüten des 13. Jahrhunderts, alle durch Sach- und Spracherklärungen und Handschriftenvergleichungen gründlich bearbeitet; hiernächst enthalten diese Bände prosaische Auflösungen von einigen Gedichten, die größtenteils dem Sagenkreise des König Artus angehören, und auch die größere Lesewelt ansprechen können; ferner viele mit Scharfsinn und Umsicht entworfene Zusammenstellungen aus gedruckten und ungedruckten Denkmalen, deren Überschriften den meisten und wichtigsten Lebensverhältnissen im ganzen Mittelalter zur Bezeichnung dienen; dann enthalten diese Bände rein geschichtliche Urkunden, worunter eine in den Hauptteilen vollständige Abschrift der Gedenkbücher des Kaisers Maximilian I. von 1494-1508, drei starke Quartbände füllend, und eine Sammlung alter Urkunden, aus späterer Zeit, am wichtigsten sind, weil erstere das Leben des großen Kaisers und den Geist seiner Zeit so treu beleuchten, und letztere, die mit der alten Orthographie genau abgeschrieben sind, über viele Familienverhältnisse des östreichischen Hauses Licht verbreiten, und nicht jedem zugänglich sind, dem nicht, wie dem Professor Schottky, aus besonderer Gunst die Archive geöffnet werden. Endlich enthalten diese Bände über anderthalbtausend Lieder, aus alten, verschollenen Sammlungen, aus seltenen fliegenden Blättern, und aus dem Munde des Volkes niedergeschrieben: Materialien zur Geschichte der östreichischen Dichtkunst, dahin einschlagende Lieder und größere Gedichte, Auszüge seltener Werke, interessante mündliche Sagen, Volkssprüche, durchgezeichnete Schriftzüge der östreichischen Fürsten, eine Menge Hexenprozesse in Originalakten, Nachrichten über Kinderleben, Sitten, Feste und Gebräuche in Österreich, und eine Menge anderer sehr wichtiger und manchmal wunderlicher Notizen. Zwar von tiefer Kenntnis des Mittelalters und inniger Vertrautheit mit dem Geiste desselben zeugen die oben erwähnten sinnreichen Zusammenstellungen unter verschiedene Rubriken; aber dieses Verfahren entstammt doch eigentlich den Fehlgriffen der Breslauer Schule, welcher Professor Schottky angehört. Nach meiner Ansicht geht die Erkenntnis des ganzen geistigen Lebens im Mittelalter verloren, wenn man seine einzelne Momente in ein bestimmtes Fachwerk einregistriert; – wie sehr schön und bequem es auch für das größere Publikum sein mag, wenn man, wie in Schottkys Zusammenstellungen meistens der Fall ist, z. B. unter der Rubrik Rittertum gleich alles beisammen findet, was auf Erziehung, Leben, Waffen, Festspiele und andere Angelegenheiten der Ritter Bezug hat; wenn man unter der Frauenrubrik alle möglichen Dichterfragmente und Notizen beisammen findet, die sich auf das Leben der Frauen im Mittelalter beziehen; wenn dieses ebenso der Fall ist bei Jagd, Liebe, Glaube usw. Über den Glauben im Mittelalter gibt Professor Schottky (bei Marx in Breslau) nächstens ein Werk heraus, betitelt: »Gott, Christus und Maria«. In der »Zeitschrift für Vergangenheit und Gegenwart« welche Professor Schottky nächstes Jahr (bei Munck in Posen) herausgibt, werden wir von ihm gewiß viele der schätzbarsten Aufsätze über das Mittelalter und herrliche Resultate seiner Forschungen erhalten, obschon diese Zeitschrift auch einen großen Teil der allergegenwärtigsten Gegenwart umfassen, und zunächst eine literarische Verbindung Ostdeutschlands mit Süd- und Westdeutschland bezwecken soll. Es ist dennoch sehr zu bedauern, daß dieser Gelehrte auf einem Platze lebt, wo ihm die Hülfsmittel fehlen zur Bearbeitung und Herausgabe seiner reichen Materialiensammlung. In Posen ist keine Bibliothek; wenigstens keine, die diesen Namen verdiente. Auf der Allee hier, die Berliner Linden in Miniatur, wird jetzt eine Bibliothek gebaut, und, wenn sie fertig ist, mit Büchern allmählich versehen werden, und es wäre schlimm, wenn die Schottkyschen Sammlungen so lange unbearbeitet und dem größern Publikum unzugänglich bleiben müßten. Außerdem muß man im wirklichen Deutschlande leben, wenn man mit einer Arbeit beschäftigt ist, die ein gänzliches Versenken in deutschen Geist und deutsches Wesen notwendig erfordert. Den deutschen Altertumsforscher müssen deutsche Eichen umrauschen. Es ist zu befürchten, daß der heiße Enthusiasmus für das Deutsche sich in der sarmatischen Luft abkühle oder verflüchtige. Möge der wackere Schottky jene äußern Anregungen nie entbehren, ohne welche keine ungewöhnliche Arbeit gedeihen kann. Es betrifft diese eine unserer heiligsten und wichtigsten Angelegenheiten, unsere Geschichte. Das Interesse für dieselbe ist zwar jetzt nicht sonderlich rege im Volke. Es ist sogar der Fall, daß gegenwärtig das Studium altdeutscher Kunst- und Geschichtsdenkmale im allgemeinen übel akkreditiert ist; eben weil es vor mehreren Jahren als Mode getrieben wurde, weil der Schneiderpatriotismus sich damit breitmachte, und weil unberufene Freunde ihm mehr geschadet, als die bittersten Feinde. Möge bald die Zeit kommen, wo man auch dem Mittelalter sein Recht widerfahren läßt, wo kein alberner Apostel seichter Aufklärung ein Inventarium der Schattenpartien des großen Gemäldes verfertigt, um seiner lieben Lichtzeit dadurch ein Kompliment zu machen; wo kein gelehrter Schulknabe Parallelen zieht zwischen dem Kölner Dom und dem Pantheon, zwischen dem »Nibelungenlied« und der »Odyssee«, wo man die Mittelalter-Herrlichkeiten aus ihrem organischen Zusammenhange erkennt, und nur mit sich selbst vergleicht, und das Nibelungenlied einen versifizierten Dom und den Kölner Dom ein steinernes Nibelungenlied nennt.


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