Heinrich Heine
Lutetia
Heinrich Heine

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXIV.

Paris, den 29 Mai 1841.

Die Engländer hier schneiden sehr besorgliche Gesichter. »Es geht schlecht, es geht schlecht.« Das sind die ängstlichen Zischlaute, die sie einander zuflüstern, wenn sie sich bei Galignani begegnen. Es hat in der Tat den Anschein, als wackle der ganze großbritannische Staat und sei dem Umsturz nahe, aber es hat nur den Anschein. Dieser Staat gleicht dem Glockenturm von Pisa; seine schiefe Stellung ängstigt uns, wenn wir hinaufblicken, und der Reisende eilt mit rascheren Schritten über den Domhof, fürchtend, der große Turm möchte ihm unversehens auf den Kopf fallen. Als ich zur Zeit Canning's in London war und den wilden Meetings des Radikalismus beiwohnte, glaubte ich, der ganze Staatsbau stürze jetzt zusammen. Meine Freunde, welche England während der Aufregung der Reformbill besuchten, wurden dort von demselben Angstgefühl ergriffen. Andere, die dem Schauspiel der O'Connel'schen Umtriebe und des katholischen Emanziaptionslärms beiwohnten, empfangen ähnliche Beängstigung. Jetzt sind es die Korngesetze, welche einen so bedrohlichen Staatsuntergangssturm veranlassen – aber fürchte dich nicht, Sohn Albion's:

»Kracht's auch, bricht's auch doch nicht,
Bricht's auch, bricht's nicht mit dir!«

Hier zu Paris herrscht in diesem Augenblick große Stille. Man wird es nachgerade müde, beständig von den falschen Briefen des Königs zu sprechen, und eine erfrischende Diversion gewährte uns die Entführung der spanischen Infantin durch Ignaz Gurowski, einen Bruder jenes famosen Adam Gurowski, dessen Sie sich vielleicht noch erinnern. Vorigen Sommer war Freund Ignaz in Mademoiselle Rachel verliebt; da ihm aber der Vater derselben, der von sehr guter jüdischer Familie ist, seine Tochter verweigerte, so machte er sich an die Prinzessin Isabella Fernanda von Spanien. Alle Hofdamen beider Kastilien, ja des ganzen Universums, werden die Hände vor Entsetzen über dem Kopf zusammenschlagen – jetzt begreifen sie endlich, daß die alte Welt des traditionellen Respektes ein Ende hat!

Wer dieses längst begriffen hat, ist Ludwig Philipp, und deshalb begründete er seine Macht nicht auf die idealen Gefühle der Ehrfurcht, sondern auf reelle Bedürfnisse und nackte Notwendigkeit. Die Franzosen können ihn nicht entbehren, und an seine Erhaltung ist die ihrige geknüpft. Derselbe Spießbürger, der es nicht der Mühe wert hält, die Ehre des Königs gegen Verleumdungen zu verteidigen, ja, der selber bei Braten und Wein auf den König losschmäht, er würde dennoch beim ersten Trommelruf mit Säbel und Flinte herbei eilen, um Ludwig Philipp zu schützen, ihn, den Bürgen seiner eigenen politischen Wohlfahrt und seiner gefährdeten Eigentumsinteressen.

Wir können nicht umhin, bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, daß ein legitimatistisches Journal, »La France«, uns sehr bitterblütig angegriffen, weil wir uns in der »Allgemeinen Zeitung« eine Verteidigung des Königs zuschulden kommen ließen. Auf jenen Angriff wollen wir nur flüchtig entgegnen, daß wir von aller Teilnahme an den inneren Parteikämpfen Frankreichs sehr entfernt sind. Bei unseren Mitteilungen in diesen Blättern bezwecken wir zunächst das eigentliche Verständnis der Dinge und Menschen, der Vergebenheiten und Verhältnisse, und wir dürfen uns dabei der größten Unparteilichkeit rühmen – solange keine vaterländischen Interessen ins Spiel kommen und auf unsere Stimmung ihren Einfluß üben. Wer könnte sich von Einwirkungen solcher Art ganz frei halten? So mag freilich unsere Sympathie für französische Staatsmänner, und auch für Ludwig Philipp, manchmal dadurch gesteigert werden, daß wir ihnen heilsame Gesinnungen für Frankreich zutrauen. Ich fürchte, ich werde noch oft verleitet werden, günstig von einem Fürsten zu sprechen, der uns vor den Schrecknissen des Kriegs bewahrt hat, und dem wir es verdanken, in friedlicher Muße das Bündnis zwischen Frankreich und Deutschland begründen zu können. Diese Alliance ist jedenfalls natürlicher als die englische oder gar die russische, von welchen beiden Extremen man hier allmählich zurücklenkt. Ein geheimes Grauen hat doch jedesmal die Franzosen angewandelt, wenn es galt, sich Rußland zu nähern; sie hegen eine gewaltige Scheu vor den Umarmungen jener Bären des Nordens, die sie auf den moskowititschen Eisfeldern in Person kennen gelernt. Mit England wollen sie sich jetzt ebensowenig einlassen, nachdem sie jüngst wieder ein Pröbchen albionischer Perfidie genossen. Und dann mißtrauen sie der Dauer des dortigen Regiments, und sie glauben dasselbe seinem Untergang viel näher als wirklich der Fall. Die sinkende Richtung des britischen Staates täuscht sie. Aber fallen wird er dennoch, dieser schiefe Turm! Die einheimischen Maulwürfe lockern unablässig sein Fundament, und am Ende kommen die Bären des Nordens und schütteln daran mit ungestümen Tatzen. Ein Franzose könnte im stillen wünschen: Möge der schiefe Turm endlich niederstürzen und die siegenden Bären unter seinen Trümmern begraben!

 


 


 << zurück