Heinrich Heine
Lutetia
Heinrich Heine

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XXVI.

Paris, den 12. November 1840.

Die Geburt des Herzogs von Chartres ist ein Nachtrag zur Kronrede. »Mitleid, das nackte Kindlein« – sagt Shakespeare. Und das Kindlein ist obendrein ein Prinz von Geblüt, und also bestimmt, die traurigsten Prüfungen zu erdulden, wo nicht gar die königliche Dornenkrone von Frankreich auf dem Haupte zu tragen! Gebt ihm eine deutsche Hebamme, damit er die Milch der Geduld sauge. Er befindet sich frisch und gesund. Das kluge Kind hat seine Situation begriffen und gleich zu weinen angefangen. Übrigens soll es dem Großvater sehr ähnlich sehen. Letzterer jauchzt vor Freude. Wir gönnen ihm von Herzen diesen Trost, diesen Balsam; hat er doch in der letzten Zeit so viel gelitten! Ludwig Philipp ist der vortrefflichste Hausvater, und eben die übertriebene Sorgfalt für das Glück seiner Familie brachte ihn in so viele Kollisionen mit den Nationalinteressen der Franzosen. Eben weil er Kinder hat und sie liebt, hegt er auch die entschiedenste Zärtlichkeit für den Frieden. Kriegslustige Fürsten sind gewöhnlich kinderlos. Dieser Sinn für Häuslichkeit und häusliches Glück, wie dergleichen bei Ludwig Philipp vorherrschend, ist gewiß ehrenwert, und jedenfalls ist das allerhöchste Muster von dem heilsamsten Einfluß auf die Sitten. Der König ist tugendhaft im bürgerlichsten Geschmack, sein Haus ist das honetteste von ganz Frankreich, und die Bourgeoisie, die ihn zu ihrem Statthalter gewählt, hat noch immer hinlängliche Gründe, mit ihm zufrieden zu sein.

Solange die Bourgeoisie am Ruder steht, droht der jetzigen Dynastie keine Gefahr. Wie soll es aber gehen, wenn Stürme aufsteigen, wo stärkere Fäuste zum Ruder greifen, und die Hände der Bourgeoisie, die mehr geeignet zum Geldzählen und Buchführen, sich ängstlich zurückziehen? Die Bourgeoisie wird noch weit weniger Widerstand leisten als die ehemalige Aristokratie; denn selbst in ihrer kläglichsten Schwäche, in ihrer Erschlaffung durch Sittenlosigkeit, in ihrer Entartung durch Kourtisanerie, war die alte Noblesse doch noch beseelt von einem gewissen Point-d'honneur, das unsrer Bourgeoisie fehlt, die durch den Geist der Industrie emporblüht, aber auch untergehen wird. Lamartine prophezeit ihr einen 10. August, aber ich zweifle, ob die bürgerlichen Ritter des Juliusthrons sich so heldenmütig zeigen werden wie die gepuderten Marquis des alten Regimes, die in seidenen Röcken und mit dünnen Galanteriedegen sich dem eindringenden Volke in den Tuilerien entgegensetzten. Ich habe Lamartine's erwähnt, des großen Poeten; dieser Mann hat auch im Gebiete der Politik viel Zukunft. Ich liebe ihn nicht, aber volle Unparteilichkeit wollen wir ihm widerfahren lassen, wenn nächstens in der Kammer über die orientalische Angelegenheiten seine edle Stimme sich erheben wird.

Die Nachrichten, die uns aus dem Osten zukommen, sind für die Franzosen sehr betrübend. Die Autorität Frankreichs ist im Orient unwiederbringlich verloren und wird die Beute von England und Rußland. Die Engländer haben erlangt, was sie wollen, die tatsächliche Obmacht in Syrien, die Sicherung ihrer Handelsstraße nach Indien; der Euphrat, einer der vier Paradiesflüsse, wird ein englisches Gewässer, worauf man mit dem Dampfschiffe fährt, wie nach Ramsgate und Margate etc. – auf Towerstreet ist das Steamboat-Office, wo man sich einschreibt – zu Bagdad, dem alten Babylon, steigt man aus und trinkt Porter oder Tee. – Die Engländer schwören täglich in ihren Blättern, daß sie keinen Krieg wollten, und daß der famose Pazifikations-Traktat nicht im mindesten die Interessen Frankreichs verletzen und die Fackel des Krieges in die Welt schleudern sollte – und dennoch war es der Fall; die Engländer haben die Franzosen aufs bitterste beleidigt und die ganze Welt einem allgemeinen Bande ausgesetzt, um für sich einige Schachervorteile zu erzielen! Aber die Selbstsucht sorgt nur für den Moment, und die Zukunft bereitet ihr die Strafe. Die Vorteile, die Rußland durch den erwähnten Traktat erntete, sind zwar nicht von so barer Münze, man kann sie nicht so schnell berechnen und einkassieren, aber sie sind von unschätzbarstem Werte für seine Zukunft. Zunächst ward dadurch die Allianze zwischen Frankreich und England aufgelöst, was ein wichtiger Gewinn für Rußland, das früh oder spät mit einer jener Mächte in die Schranken treten muß. Dann ward die Macht jenes Ägyptiers vernichtet, der, wenn er sich an die Spitze der Moslemim stellte, imstande war, das türkische Reich zu schützen vor den Russen, die es schon als ihr Eigentum betrachten. Und noch viele Vorteile der Art haben die Russen erbeutet, und zwar ohne großen Aufwand von Gefahr, da im Fall eines Kriegs die Franzosen nicht bis zu ihnen hinüberreichen könnten, ebensowenig wie sie den Engländern beizukommen vermöchten. Zwischen England und dem Zorn der Franzosen liegt das Meer, zwischen den letzteren und den Russen liegt Deutschland; – und wir armen Deutschen, durch den Zufall der Örtlichkeit, wir hätten uns schlagen müssen für Dinge, die uns gar nichts angehen, für nichts und wieder nichts, gleichsam für des Kaisers Bart. – Ach, wäre es noch für den Bart eines Kaisers!In der französischen Ausgabe findet sich folgender Schluß dieses Briefes: »Wenig kümmert es die Russen, daß die Engländer mehr und mehr Indien verschlingen und sich schließlich selbst China's bemächtigen; der Tag wird kommen, wo sie genötigt sein werden, ihren Raub zu Gunsten der Russen fahren zu lassen, die sich in der Krim befestigen, die sich schon zu Herren des schwarzen Meeres gemacht haben, und die immer dasselbe Ziel verfolgen: den Besitz des Bosporus, Konstantinopel's. Nach dem alten Byzanz sind die lüsternen Blicke aller Moskowiten gerichtet; die Eroberung dieser Stadt ist für sie nicht bloß eine politische, sondern auch eine religiöse Mission; und von den hohen Ufern des Bosporus aus soll ihr Zar alle Völker des Erdballs dem ledernen Zepter Rußlands unterwerfen, das geschmeidiger und stärker als Stahl ist, und das man Knute nennt. Ist es wahr, daß Konstantinopel von so universeller Bedeutung, und daß der Besitz dieser Stadt über das Schicksal der Welt entscheiden könnte? Einer von meinen Freunden sagte mir jüngst: »In Rom befinden sich die Schlüssel des Himmelreichs, aber in Konstantinopel befinden sich die Schlüssel des irdischen Reichs; wer sich ihrer bemächtigt, wird die ganze Welt beherrschen.« Wie schrecklich ist die orientalische Frage! – Der Herausgeber.


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