Heinrich Heine
Gedichte
Heinrich Heine

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Die Weihe

                    Einsam in der Waldkapelle,
Vor dem Bild der Himmelsjungfrau,
Lag ein frommer, bleicher Knabe
Demutsvoll dahingesunken.

O Madonna! laß mich ewig
Hier auf dieser Schwelle knieen,
Wollest nimmer mich verstoßen
In die Welt so kalt und sündig.

O Madonna! sonnig wallen
Deines Hauptes Strahlenlocken;
Süßes Lächeln mild umspielet
Deines Mundes heilge Rosen.

O Madonna! deine Augen
Leuchten mir wie Sternenlichter;
Lebensschifflein treibet irre,
Sternlein leiten ewig sicher.

O Madonna! sonder Wanken
Trug ich deine Schmerzenprüfung,
Frommer Minne blind vertrauend,
Nur in deinen Gluten glühend.

O Madonna! hör mich heute,
Gnadenvolle, wunderreiche,
Spende mir ein Huldeszeichen,
Nur ein leises Huldeszeichen!

Da tät sich ein schauerlich Wunder bekunden,
Wald und Kapell sind auf einmal verschwunden;
Knabe nicht wußte, wie ihm geschehn,
Hat alles auf einmal umwandelt gesehn.

Und staunend stand er im schmucken Saale,
Da saß Madonna, doch ohne Strahlen;
Sie hat sich verwandelt in liebliche Maid,
Und grüßet und lächelt mit kindlicher Freud.

Und sieh! vom blonden Lockenhaupte
Sie selber sich eine Locke raubte,
Und sprach zum Knaben mit himmlischem Ton:
Nimm hin deinen besten Erdenlohn!

Sprich nun, wer bezeugt die Weihe?
Sahst du nicht die Farben wogen
Flammig an der Himmelsbläue?
Menschen nennens Regenbogen.

Englein steigen auf und nieder,
Schlagen rauschend mit den Schwingen,
Flüstern wundersame Lieder,
Süßer Harmonieen Klingen.

Knabe hat es wohl verstanden,
Was mit Sehnsuchtglut ihn ziehet
Fort und fort nach jenen Landen,
Wo die Myrte ewig blühet.

 


 


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