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Bei der Begräbnisfeierlichkeit erschien Therese noch einmal im Hause ihres Mannes; sie hatte den langen Kreppschleier dicht vor das Gesicht gelegt. Der alte Mann, der sie begleitete, war plötzlich zum Greis geworden, seine sonst so stramme Haltung war gebrochen; er suchte sich die entfernteste Ecke des Hausflurs aus, in dem die Feierlichkeit stattfand. Alle Welt wußte ja, alle Welt urteilte – sein ehrlicher Name schien ihm in den Schmutz getreten.

»Wenn der Bub' am Leben geblieben wäre,« murmelte er, »sie hätte sich noch zurückgefunden, und er hätte ihr vergeben – aber so –« Und er blickte scheu zu dem kleinen Sarg hinüber, der vor Blumen kaum zu sehen war und an dessen beiden Seiten die Leidtragenden standen – er hüben und sie drüben – das tote Glück zwischen ihnen!

Die alte Rätin hatte sich mit blassem starrem Gesicht neben die Schwiegertochter gestellt. Sie wollte die Leute mit Gewalt zu dem Glauben bringen, daß all das Gerede müßig sei – das Gerede von einem großen Skandal, wie ihn die Chronik von Andersheim seit Menschengedenken nicht aufzuweisen hatte. Wenn sie neben der jungen Frau stand, dann konnte es ja niemand glauben, sicher nicht!

Der Prediger sprach von gemeinsamem Schmerze, der die Herzen fester verbinde als alle Lust des Lebens – es klang wie Hohn.

In des Doktors bleichem Gesicht zuckte keine Muskel. Es war ihm alles genommen, der Glaube an Gott und an die Menschen, das Vertrauen und – seines Lebens Wonne!

Der Prediger schloß seine Ansprache; der Sarg ward hinausgetragen, und der Zug der Leidtragenden ordnete sich.

Fritz trat zu dem alten schluchzenden Manne. »Komm, Großpapa,« bat er, »wir gehen zusammen.« –

Dann war es mit einemmal still im Hausflur; nur Therese stand noch da, unbeweglich vor dem schwarzen Gestell, das den Sarg getragen, und neben ihr die Rätin.

»Komm mit in meine Stube!« sagte die alte Frau. Und Therese folgte ihr; sie war wie ohnmächtig. Drinnen setzte sie sich auf die kleine Erhöhung am Fenster und lehnte den Kopf an den Nähtisch, dann griff sie gierig nach dem Glase Wein, das ihr die alte Dame bot.

Als sie getrunken hatte, saß sie stumm, bis der Doktor wiederkam.

Die Mutter trat ihm im Flur entgegen. »Fritz, sie ist noch da drinnen, wollt ihr euch nicht versöhnen?«

Er sah die alte Frau an von oben bis unten. »Nein!« war die kurze Antwort, dann ging er in sein Zimmer.

Die Rätin kehrte zu Therese zurück. »Fritz ist da – willst du nicht hinübergehen zu ihm?«

Therese erhob sich.

»Du bist die Schuldige, vergiß das nicht, wenn du vor ihm stehst!«

Aber Therese antwortete nicht. Sie hielt den Schleier unter dem Kinn zusammen und ging hinaus.

Die Rätin lauschte, aber sie hörte keine Thüre gehen. Und als sie den Kopf hinaussteckte, da sah sie eben die schwarze Wollschleppe von Theresens Trauerkleid über die Schwelle des Hauses gleiten. Die Schwiegertochter war gegangen, ohne einen Versuch zur Aussöhnung zu machen.

Voll Verzweiflung lief die Rätin in das Zimmer ihres Sohnes hinüber. Er saß in der Ecke des Sofas, den Kopf in die Linke gestützt und sah wie abwesend zu ihr empor.

»Du hättest wohl das erste Wort reden können,« schluchzte sie. »Du weißt, Therese ist ein verzogen Kind. Nun ist sie fort, und ihr werdet euch nicht wieder versöhnen.«

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Er schüttelte unwillig den Kopf. »Sprich nicht davon,« sagte er, »bitte, laß mich allein!«

»Ach, du bist gewiß recht barsch mit ihr gewesen! Gelt, sie hat doch eigentlich noch nichts Böses gethan – der Frieder war eben einmal ihr Schatz; sie wäre gewiß wieder zur Vernunft gekommen –«

»Ich bitte dich – laß mich!« stöhnte er.

Da ging sie weinend. Sie hatte zum Guten reden wollen –

Im Vorzimmer stand Luischen mit einen: Briefe. »An den Herrn Doktor,« sagte sie. Die Mutter kehrte noch einmal um und trug ihm das Schreiben hinein. Fritz erbrach es, als die alte Frau gegangen war. Es war ein Brief von Adami: er stehe zur Verfügung und erwarte weitere Nachricht.

Fritz zuckte die Achseln und lachte kurz auf. Dann versank er wieder in sein Brüten. Die Ehre verlangte es, daß er sich mit dem Verderber seines Glückes schlug – gut, er würde nicht fehlen. Ordnung mußte sein! Aber es war ihm grenzenlos gleichgültig, ob der Mensch, der sein Feind gewesen von Kindesbeinen an, am Leben blieb oder nicht; ob er dies Leben mit der teilte, die sich von ihrem Manne gewandt, oder nicht. Was ging ihn das alles noch an? Nicht eine Spur des leidenschaftlichen Verlangens, den Räuber seines Weibes zu züchtigen, wie es ihn noch gestern durchtobte, rührte sich mehr in ihm. Seit jenem Augenblick, wo die Erdschollen auf den kleinen Sarg rollten, war alles still und tot in ihm, nur der verzehrende Schmerz lebte um den verlorenen Liebling.

Das Dasein lag vor seinen Augen wie eine öde Schneefläche im Dämmerlicht; und auf dieser sollte er wandern, sollte er allein wandern ohne Ziel, ohne Zweck – grauenvoll!

Er stöhnte auf wie ein zum Tode getroffenes Tier, und als draußen die Schelle klang, verriegelte er seine Thür. Was gingen ihn noch die Leute an, die seine Hilfe begehrten? Ihm half ja auch keiner – mochten sie klopfen, klopfen – –

Und endlich neigte sich der Tag, die Dämmerung füllte allmählich die Winkel des Zimmers – er saß noch immer da. Plötzlich schreckte er empor, er hatte so deutlich ein süßes Stimmchen »Papa!« jauchzen hören.

Ach, der trostlosen Täuschung! Der kleine rote Mund war verstummt für immer, es gab kein Spiel mehr im Hause, kein helles Jubeln, keinen trauten Wiegengesang. Und droben die Stätte des Glückes, der Liebe, des friedlichen Lebens zu zweien lag leer und verlassen – nur ekler Nachgeschmack war geblieben nach all dem Süßen. O, wäre doch etwas da auf der Welt, an das er sich noch zu halten vermöchte! Aber was hatte er noch? Die Mutter zürnte ihm, daß er nicht »fünf gerade sein« ließ, um ein Leben des Scheines weiter zu schleppen – selbst der Hund war Therese nachgelaufen.

Da tastete es draußen an der Thür, dann ein schüchternes Klopfen und eine matte, aber unendlich weiche Stimme: »Fritz, willst du nicht zu Tisch kommen? Es wäre doch gut, wenn du etwas essen möchtest.«

»Julia!« murmelte er, und aufstehend öffnete er die Thür.

*

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Drei Jahre sind vergangen, drei wunderlich stille Jahre. Droben in dem alten Hause sind die Läden geschlossen, und die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen lugen, sehen leere Räume. Auf dem Parkett liegt der Staub. Der Garten ist schattiger geworden, denn die Boskette und die Reben dürfen nicht verschnitten werden – der Doktor Roettger will den Strom nicht mehr sehen; er hat auch noch nie wieder den Garten betreten. Wo früher die Verbindungsthür hinüber zu dem Krautnerschen Grundstück war, breitet ein Pfirsichbaum seine Aeste in Spalierform über das neue Mauerwerk, und hoch sind die Akazien aufgeschossen, die längs der Mauer angepflanzt wurden.

Im Hause ist's sehr still. Fräulein Riekchen wurde in voriger Woche begraben, ihr Fahrstuhl steht nun oben auf dem Boden neben dem ersten kleinen Gitterbettchen »Bubis«, und Julia hat eine Decke darüber gebreitet.

Es ist wieder einmal Mai geworden, ein wonniger, sonniger Maitag. Die Fenster in Tante Riekchens Stube sind weit geöffnet, und Julia steht da und liest die Briefe auseinander, die sie auf Wunsch der alten Dame verbrennen soll. Auch der Brief liegt dort, der eine halbe Stunde vor ihrem Tode eintraf und den Poststempel »Rom« trägt.

 

»Liebe Tante,« schreibt Frieder, »meine Frau ist seit einigen Tagen aus Deutschland zurückgekehrt. Es thut ihr leid. Dich nicht gesehen zu haben, aber wie die Verhältnisse liegen, war es ja unmöglich. Dich zu begrüßen. Herr Krautner ist unversöhnt mit uns aus der Welt gegangen und hat uns unliebsam überrascht durch sein Testament; er hat einen Neffen, von dessen Dasein Therese kaum eine Ahnung besaß, zum Miterben eingesetzt, und zwar so, daß er der Bevorzugte ist. Nun werden wir unser herrliches ungebundenes Leben einschränken müssen. Ein Glück, daß wir keine Kinder haben!

Therese gefällt es nicht besonders in Rom; sie will einen andern Platz suchen. Die italienischen Städte haben wir so ziemlich alle durchprobiert, nun gehen wir noch nach Florenz; nach Deutschland mag sie nicht wieder zurückkehren.

Es thut mir leid, daß der alte Mann sich so unversöhnlich gezeigt hat; ehrlich gestanden, ich bin außer mir! Gern hätte ich Dir den Abend Deines Lebens durch Ueberweisung einer kleinen Rente verschönert, aber nun ist's unmöglich. Als Therese nach Eisenach kam – sie war Tag und Nacht gereist – fand sie den Miterben bereits in der Villa vor, die sich der alte Herr am Fuße der Wartburg erbaut hatte. Ein junger bildschöner Mann soll er sein, seines Zeichens Oberförster. Sie scheinen sich leidlich verständigt zu haben, die beiden.

Ich fühle mich sonst unsäglich wohl hier, es ist Heimatluft.

Behüt Dich Gott!

Dein treuer Neffe
Fr. Adami.

P. S. Ich suchte das Grab meines Vaters, konnte es aber nicht mehr finden. Du siehst, mein Versprechen wollte ich halten.«

 

Julia legte auch diesen Brief zu den andern in das bereitstehende Körbchen. Der alten Dame konnte sein Inhalt nicht mehr mitgeteilt werden, Julia ließ er kalt.

Frieder hatte seinen Abschied genommen und Therese geheiratet. Was weiter aus den beiden geworden war, darüber hatte man fast nichts erfahren, denn Tante Riekchen teilte nur wenig mit aus den Briefen, die sie selbst spärlich erhielt. Sie hatte sich nach der Katastrophe damals nicht wieder erholt; sie war stiller und stiller geworben, dann litt ihr Gedächtnis und sie sprach vom Frieder nur noch als von einem Kinde und klagte, daß Fritz und er sich nicht vertragen wollten. Aber für Julia hatte sie eine rührende dankbare Liebe gefaßt. Das schöne stille Mädchen wußte nun, daß sie für eine nötig war; daß eine schon auf ihren Tritt, ihre Stimme lauschte; und unermüdlich schien ihr Streben, der Leidenden zu helfen. Bevor die Kranke für immer entschlief, richtete sie mit jener Klarheit, die noch einmal die scheidende Seele durchleuchtet, die Augen auf das Antlitz ihrer Pflegetochter und ihre Lippen bewegten sich. Julia beugte sich hinunter, und da verstand sie es:

»Hab Dank! Gott vergelte dir deine Treue!«

Die Hand des weinenden Mädchens in der ihren haltend, schlief Tante Riekchen ein.

Jetzt war auch das vorüber. Julia war frei, frei wie der Vogel, der sich eben da draußen auf dem Zweige des blühenden Apfelbaums wiegte und seinen Gesang erschallen ließ. Nun breitet er die Flügel aus und fliegt davon, hinein in den blauen Himmel, in die lachende blühende Welt.

Auch sie mußte ihre Flügel heben, aber – es würde ein banger, ein zager Flug werden. Hier bleiben konnte sie nicht. Wer wollte sie? Die Rätin dort drüben in ihrer mürrischen Abgeschlossenheit brauchte sie nicht. Und er? Ach, er hatte nur noch Sinn für seine Bücher und seine Kranken! Mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ging er früh fort, kehrte er zurück und hielt seine Sprechstunden, und war er damit fertig, dann wartete der Wagen draußen und er machte seine Besuche in der Umgegend, denn er war der gesuchteste Arzt weit und breit geworden seit dem Tod von »Onkel Doktor« und kaum im stande, seine Praxis zu bewältigen. Die halben Nächte aber verbrachte er am Schreibtisch. Er lebte nur der Pflicht – die Leere des Hauses empfand er nicht mehr; er ging durch die Oede seines Lebens mit sicherem Schritt und unbewegtem Gesicht. Und doch liefen ihm alle Kinder nach, und doch hatten ihn die alten Frauen so gern und sagten, er sei auch ein Arzt für das Herz. Nur hier, hier schienen ihm die Lippen versiegelt, wo die Erinnerung an vergangenes Glück aus allen Winkeln grüßte.

Julia sah traurig umher, ehe sie den alten Schreitisch wieder verschloß und den Korb nahm, um in der Küche die Briefe den Flammen zu übergeben.

Sie mußte gehen, sie war hier überflüssig!

Gegen Abend kam sie in die Stube zur Frau Rätin. Die alte Dame saß strickend hinter ihren Geraniumtöpfen und schaute auf den stillen Hof. Sie hatte vor einem Weilchen für das Abendessen Spargeln gestochen und ruhte nun aus; sie war noch immer flink in der Wirtschaft und ließ sich nichts abnehmen.

»Nach dem Abendbrot will ich auf den Friedhof gehen,« sagte sie, das Mädchen gewahrend; »falls der Fritz später nach Hause kommt, soll ihm das Luischen frische Spargeln kochen. Bist du fertig mit dem Ordnen der Sachen?«

»Ja, Tante, ganz fertig, und eben wollt' ich mit dir sprechen – sieh, Tante Riekchen hat mich zur Erbin ihres kleinen Nachlasses eingesetzt – es war so gut von ihr – –«

»Nun, es war eben ihre Schuldigkeit,« erklärte die Rätin trocken.

»Aber,« fuhr Julia fort, »ich muß dich bitten, Tante, den lieben alten Möbeln hier im Hause ein Plätzchen zu gönnen, denn mitnehmen kann ich sie doch nicht.«

»Mitnehmen? Wohin denn?«

»Mein Gott, Tante, in die Welt hinaus – was soll ich denn hier

»Ja freilich, wenn man's recht überlegt, was sollst du hier, 's ist wahr. Na, meinetwegen können sie dastehen bis an der Welt Ende, die Sachen; Platz ist ja genug im Hause. Lieber Gott!« Sie nahm die eben abgestrickte Nadel und fuhr damit in ihr weißes Haar, und die Brillengläser wurden feucht; sie mußte sie abwischen, ehe sie weiter strickte. »Hab' nicht gedacht, daß ich 'mal so ein einsam Alter haben würde,« murmelte sie. »Aber es ist nun so, und recht hast du, was sollst du hier! Ich bin noch rüstig. – Na, da wünsch' ich dir denn Glück, man kann es dir auch gönnen. Und noch einmal – was die Sachen anbelangt, laß sie nur stehen da drüben, mich geniert's nicht, und sollt' der Fritz nochmal vernünftig werden, so hat's ja droben Platz genug für das neue Glück.«

Damit stand sie auf und rief, das Luischen solle das Essen besorgen, denn sie wolle bald gehen. »Wirst doch noch keinen Hunger haben,« sagte sie zu Julia, »kannst mit Fritz essen, wenn er kommt.«

Und Julia nickte ihr zu und ging hinaus in den Garten, und da saß sie müßig und schaute mit verträumten Augen auf die Sonnenfunken, die rotgolden durch das Geäst des Nußbaumes fielen und auf dem alten Gartentisch tanzten.

Die Rätin kam nach einem Weilchen durch den Mittelweg und schnitt ein paar der eben erblühenden Rosen ab. »Das waren Riekchens Lieblinge,« sprach sie, auf die halbverwilderten Centifoliensträucher deutend, »ich werd' ihr die ersten davon mitnehmen.« Dann wanderte sie hinaus dem Kirchhof zu, und als sie an einer Straßenecke plötzlich den Sohn traf, sagte sie nur: »Ich will zu den Gräbern, Fritz. Iß nur allein zu Nacht! – Ach, und weißt's schon? Das Julchen will fort, in die Welt hinaus. Nun, wir können sie nicht halten, jetzt, wo das Riekchen tot ist.«

Er stand da und sah die düstere schwarze Gestalt mit den Rosenknospen in der Hand an, sprach aber kein Wort, er nickte ihr nur zerstreut zu und ging weiter durch die belebte Gasse, auf der die Kinder lärmten und die unter den Strahlen der Sonne in goldigen Staub gehüllt schien. Nur noch ein paar Krankenbesuche waren zu machen, aber während er sonst geduldig an den Betten saß, nahm er heute kaum Platz, und seine Mienen drückten Unruhe und Abspannung aus. Er wußte selbst nicht, wie es kam, daß er den kürzesten Weg nach Hause einschlug durch ein Seitengäßchen, das unmittelbar zu dem Strome hinunterführte. Nie mehr war er hier gegangen seit jenem Schreckenstage; heute sah er das blaugrüne herrliche Wasser wie erstaunt an. Die Wellen waren ja längst hinabgeflossen, die ihm das Kind geraubt, in die sich mutig ein junges Leben geworfen, um ihm das Liebste zu retten – konnte er die andern dafür anklagen, die jetzt krystallrein dahin rauschten und nichts von damals wußten?

Ach, wie weit trug der Blick heute, wie wunderbar weit! Da kam ein Dampfer hergebraust, nun machte er einen großen Bogen und legte seitwärts an der Landungsbrücke an; und dort oben auf dem Verdeck stand eine weibliche Gestalt, groß und schlank, und in ihrer Hand wehte ein weißes Tuch – Abschiedsgrüße? Ihm zitterte die Gestalt vor den Augen – wenn es Julia wäre!

Er riß im eiligen Vorwärtsschreiten den Hut vom Kopfe, und das Haar, auf dessen Blond es wie ein leichter Reif schimmerte, streifte die Fliederdolden, die sich so üppig wie nie aus den Gärten über den schmalen Pfad neigten. Und als er die Stufen hinaufgehen wollte zu seinem Garten, da lag eine Rosenknospe auf den zerbröckelnden Steinen – die Mutter hatte sie wohl verloren – und er bückte sich und hob sie auf. Ach, Rosenduft! War er denn tot gewesen, jahrelang tot?

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Und nun stockte sein Fuß – unter dem Nußbaum saß Julia. Sie blickte zu ihm herüber mit den süßen dunklen Augen, so mild, so schwesterlich geduldig wie all die trübe Zeit her. Und jetzt stand sie auf und kam ihm entgegen.

»Fritz!« – es war etwas wie Jubel in ihrer Stimme – »du im Garten? Aber, gelt, es ist ein schöner Abend? Möchtest du nicht hier draußen essen?«

Er nickte, setzte sich auf die Bank und verfolgte mit wehmütigen Augen, wie sie den Gang hinaufschritt, rasch und elastisch. Wie würde es sein, wenn dieser Schritt nicht mehr im Hause erklang.

Und auf einmal flog etwas durch die Luft, gerade vor des Mädchens Füße, sie bückte sich und hielt einen bunten Kinderball in der Hand, und gleich darauf tauchte hinter der Mauer des Nachbargartens ein blondes Köpfchen auf und lugte mit sehnsüchtigen Augen herüber. »Fang!« rief Julia und warf den Ball zurück, und als das Kind lachend der Aufforderung nachkam, da lachte auch sie, und dieser Doppelklang traf des Mannes Herz, daß es aufwachte aus dem langen Schlummer, daß es schwoll vor Sehnsucht nach Glück, nach vollem goldenem Menschenglück.

Nach wenigen Minuten kam Julia zurück mit dem Tischgerät, sie sah noch lieblicher aus als sonst, in der Freude, ihn wieder im Garten zu sehen nach drei langen Jahren.

Er saß da und drehte die Rosenknospe zwischen den Fingern; in seinem Antlitz zuckte und arbeitete es seltsam. Die Speisen, die sie ihm bot, rührte er kaum an. Und dann ward es still zwischen ihnen; auch ihr Mund verstummte, sie sah schweigend in die untergehende Sonne.

Plötzlich stand Fritz auf und trat vor Julia hin.

»Julia, die Mutter sagt, du wolltest uns verlassen.«

Sie senkte bejahend den Kopf.

»Warum denn, Julia?«

»Warum? Ich bin so vollständig unnütz hier,« antwortete sie und lächelte dazu, aber in ihren Augen schimmerten Thränen.

»Unnütz – du?« sagte er und faßte ihre Hände. »Ach, Julia, mit dem nämlichen Rechte könntest du die Sonne am Himmel verlöschen und fragen, was sie denn der Erde nütze.«

Und bewegt bog er sich hernieder und preßte ihre Hände an seine Augen, und als sie verwirrt aufsprang, da zog er sie sanft an sich und schaute ihr bang fragend in das bleiche Antlitz, mit Schrecken die feinen Linien bemerkend, die Gram und Schmerz hineingezeichnet.

»Julia, du darfst nicht fort – bleib bei mir – wenn du dem blinden verbitterten Thoren zu verzeihen vermagst. Julia, was hast du für mich gethan! Und ich habe nicht einmal gedankt!«

»Sei barmherzig, nur nicht Mitleid für Liebe,« sagte sie leise.

»Ach!« Er lachte kurz auf. »Mitleid! Wer von uns beiden ist denn des Mitleids bedürftiger? Von dir will ich Barmherzigkeit, Mitleid, Geduld – alles – alles. Laß mich nicht allein, Julia, wenn du nicht willst, daß ich zu Grunde gehe – denn du allein, du allein kannst mir den Glauben wiedergeben an Treue und Liebe.«

»Ich?«

»Ja du, du allein!«

Sie hob wie träumend den Blick. Drüben jubelten die Kinder beim Ballspiel und draußen rauschte der Rhein und in der Luft wogte der Duft von tausend Blüten. Endlich der Lenz! Der süße berauschende Lenz!

»Mamsell Unnütz! Mamsell Unnütz!« lockte der Pirol im Nußbaum.

Da lächelte sie. »Hörst du es?« fragte sie leise. »So rief er schon in unsrer Jugend.«

»Quäle mich nicht!« erwiderte er ungeduldig. »Ich weiß es genau in dieser Minute, ich kann ohne dich nicht leben, Julia. Und du?«

Da legte sie still die Arme um seinen Hals, und aus ihren Augen lösten sich zwei klare Tropfen und flossen über die Wangen.

O, welch unnütze Frage! – –

Als die Rätin nach Hause kam und hörte, daß der Herr und Fräulein Julia im Garten gespeist hätten, lenkte sie verwundert ihre Schritte dorthin. Dann stockte ihr Fuß. Unter dem Nußbaum stand – na, sie hätte eher des Himmels Einsturz vermutet – stand der verbitterte griesgrämige Geselle und hielt das Mädchen, die Mamsell Unnütz, im Arme und küßte sie, und beide schienen die ganze Welt um sich vergessen zu haben.

Sie machte eine kurze Wendung und ging wieder dem Hause zu »Ja, ja, – Wunder und Zeichen geschehen immer noch,« flüsterte sie. Und in der Stube angelangt, löste sie vor dem Spiegel die schwarzen Bänder ihrer Ausgangshaube, legte sie mit gewohnter Umständlichkeit in die Kommode, stülpte ebenso gelassen die Alltagsmütze auf und band die Schürze vor.

»Na,« murmelte sie, »bei Licht besehen ist's die einfachste Lösung. Wäre freilich nicht darauf verfallen – hm. Und wunderbar ist's doch auch,« setzte sie hinzu, »wie einem etwas ins Herz hereinwachsen kann, ohne daß man's merkt. Wie sie da heute sagt, sie will fort, hat mir's inwendig ordentlich einen Ruck gegeben. Na, da ist's denn nun doch so gekommen, daß aus der Mamsell Unnütz meine Schwiegertochter wird! Und eines muß wahr bleiben, brav ist sie, sehr brav, und sie hat ihn lieb – und –«

»Mutter, da hast du eine Tochter!« unterbricht sie die Stimme des Sohnes. Und sie treten über die Schwelle, Hand in Hand, der Doktor und seine Braut.

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