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Eine schwere Last – so dünkte allen dieses federleichte, kleine, seltsame Mädchen, das so unerwünscht und unerwartet ins Haus geschneit war, keinem schwerer als der Pflegemutter, am leichtesten noch der alten Dora. Vor der großen Gestalt der Tante flüchtete das Kind blitzgeschwind in irgend einen Winkel wie jene zierlichen Eidechsen, die sich auf einem Trümmerhaufen im heimatlichen Rom sonnen. Nichts brachte es aus seiner Gleichgültigkeit, Güte nicht und nicht die Strenge. Die Frau Rätin war geradezu entsetzt über das zigeunerhafte Geschöpf, und sie malte es ihren Freundinnen in so grellen Farben, daß diese sich wunderten, eines Tages an der Hand der alten Dora ein ganz menschlich aussehendes Wesen nach der Schule trippeln zu sehen; sie hatten gemeint, es sei mohrenschwarz und habe Wollhaar.

Wunderbarerweise hielt die Kleine in der Klasse aus, ja sie war beinahe schwer zu bewegen, nach Hause zu gehen, obgleich sie in der Schule meist starr auf ihrem Platze saß, die Augen von dem Lehrer nicht verwandte und von den Mitschülerinnen keine Notiz nahm.

Dora hauste mit ihr im kleinen Stübchen, in welchem nur grad Raum für die zwei Lager, ein Nähtischchen und den Schmollwinkel des Kindes war. Die Alte allein im ganzen Hause verstand es, mit dem »Julchen« umzugehen. Freilich hatte die Kleine stets harte Ohren, wenn sie »Julchen« genannt wurde; sie pflegte bei diesem Anruf regungslos an ihrem Platze zu verharren. Entschloß sich aber die Alte, so schmelzend es ihre rauhe Stimme fertig brachte, »Julia« zu rufen, so gehorchte das Kind sofort.

Am wohlsten schien sich Julia zu fühlen in diesem Winkel, und wenn im Nebenzimmer, Tantes Putzstube, die Töne einer Violine erklangen, dann flog sogar ein Lächeln über das ernste kleine Antlitz und die Hände preßten sich gegeneinander wie im höchsten Entzücken, während sie regungslos an der Thür lauschte.

»Du hast ihn wohl gern, den Fritz?« forschte Dora, wenn sich das Mädchen das feine Näschen an der Fensterscheibe platt drückte und mit ernsten Augen das Spiel der wilden Jungen im Garten verfolgte. Aber eine Antwort bekam sie nicht.

»Hast du deinen Bruder recht lieb?« fragte die Alte weiter.

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»Nicht so sehr!« antwortete das seltsame Kind.

»Nun, aufrichtig bist du wenigstens, beinahe so wie die Frau Rätin – daß Gott erbarm!« Und Dora dachte daran, daß besagte Dame von dem fremden Eindringling nie anders sprach als von »Mamsell Unnütz«.

Zuletzt gebrauchten auch die Dienstboten diesen Namen und die beiden Jungen, die sich mächtig angefreundet hatten. Frau Rätin ließ diese Freundschaft zu, denn Riekchen fand ja in ihrer Affenliebe für den blonden Friedrich nicht Maß noch Ziel, war aber doch so gerecht gegen ihren Neffen, daß sie ihn vollauf an allem Guten teilnehmen ließ, das sie dem Pflegesohn gewährte.

Friedrich Adami, oder wie Tante Riekchen ihn nannte, der »Frieder«, war allmählich Herr im Hause geworden, nach ihm richtete sich alles; bedurfte es doch nur eines Blickes der blauen Knabenaugen in die der Tante, und sein Wille geschah. Er verlebte eine Jugendzeit wie im Himmel. Riekchen brachte es nicht einmal fertig, ihn zu tadeln für Unarten, für schlechte Schulzeugnisse, für Klagen seitens der Lehrer; sie fand stets eine Entschuldigung für ihn, und das Aeußerste war, daß sie ihn in ihr Zimmer kommen ließ, ihn mit Thränen im Auge bat: »Frieder, versprich mir nur, daß das nie wieder geschieht!« Was er denn auch mit feurigster Bereitwilligkeit gelobte, um es in Zeit von einer halben Stunde zu vergessen.

Im ganzen Städtchen war der Frieder bekannt als einer der ärgsten Rangen. Der Doktor schüttelte betrübt den Kopf, wenn er abends aus dem Gasthaus »Zur Traube« heimkehrte, wo auch die Lehrer des Gymnasiums ihren Schoppen tranken; und oft sagte er zu seiner Frau: »Es ist eben Weibererziehung, was soll daraus werden!«

»Du müßtest als Vormund eingreifen,« antwortete diese dann ärgerlich. Er aber meinte, das könne und dürfe er nicht, denn noch geschehe ja nichts, was ein Einschreiten seinerseits rechtfertige.

Es war nur ein Glück, daß Tante Riekchen all die einsamen langen Jahre hindurch die Zinsen ihres Vermögens nicht verbraucht hatte und sich nun in der Lage befand, den Herrengelüsten ihres Frieders nachgeben zu können. Der Bube war eitel, er mußte alles geschniegelt und gebügelt haben. Die Rätin nannte es »Afferei«, und ihr Fritz bekam trotz allen Jammerns und Bettelns doch immer nur die geflickten Sachen für alltags; Riekchen aber entschuldigte den Hang des Frieder für Eleganz mit dem Schönheitssinn, den er von seinem Vater, der ein Künstler gewesen, geerbt habe.

Ach, sie liebte ihn ja, den hübschen Buben, liebte ihn, wie nur ein Herz lieben kann, das jahrelang gedürstet hat, so angstvoll zärtlich, so leidenschaftlich blind, daß nichts andres Platz fand in ihr und um sie als der Sohn des heißbetrauerten, so treu von ihr geliebten Mannes. Es war ihr eine schmerzlich süße Lust, nach Aehnlichkeiten in seinem Gesicht, nach gleichen Gesinnungen, Aeußerungen, Bewegungen zu forschen, und glückselig konnte sie den Knaben in die Arme ziehen, wenn sie etwas gefunden zu haben glaubte. Sie besaß eine kleine Büste seines Vaters; ein Freund desselben, ein junger Bildhauer, hatte sie einst modelliert; sie stand in all den langen Jahren der Trennung auf einer Konsole über ihrem Nähtisch als der Einsamen größtes Heiligtum. Es gab Augenblicke, wo der Frieder diesem schönen Kopfe glich, als habe er dazu Modell gestanden – und sie liebte diese Züge, welche ihr Herz so ganz erfüllten, daß sich darin kein Raum mehr fand, die kleine verschlossene und ihrem Bruder so unähnliche »Mamsell Unnütz« zu lieben! Das Kind mochte sie ebensowenig, die Abneigung sei gegenseitig, meinte sie; die Kleine sprach auch nie vom Vater, war überhaupt so verschlossen. Im übrigen ging ihm ja nichts ab und Riekchen wollte sicher ihr Bestes.

Zwei Jahre waren die Kinder im Hause, da trat eine schlimme Wendung ein. Frieder und Fritz wurden zuerst kühler gegeneinander, dann offenbar feindlich, und eines Tages kam es zum hellen flammenden Streite, der das ganze Haus in Mitleidenschaft zog und einen so unheilbaren Riß in die Freundschaft machte, daß fortan »oben« und »unten« wie zwei feindliche Heerlager voneinander geschieden waren, da bis auf die Dienstmädchen herab jede Partie für »ihren« Buben eintrat.

Es war ein gewitterschwüler Tag, an dem dies geschah, ein rechter Unglückstag schon von vornherein. Fräulein Riekchen litt an Kopfschmerzen, als sie erwachte. Die alte Dora hatte ihr dann die Eröffnung gemacht, daß Mamsell Unnütz aus den vorjährigen Sommerkleidchen derart herausgewachsen sei, daß durchaus neue angeschafft werden müßten, und Riekchen, der für Frieder nichts zu viel wurde, hatte tief geseufzt darob. Unten aber im Hausflur schalt die Rätin mit dem Gärtner, denn die Schnecken hatten auf den Gemüsebeeten die jungen Zuckerschoten zerstört, und da der Mann respektwidrig antwortete, er habe das Ungeziefer nicht erschaffen, so bekam er eine noch schärfere Gegenrede, die zur Folge hatte, daß er dieselbe noch übertrumpfte und schließlich von der erzürnten Frau mit seiner sofortigen Entlassung bedroht wurde.

Fräulein Riekchen kam ob dieses Streites erschreckt die Stiege herab; ihr war Unfriede fürchterlich. Die Rätin, die just nach oben wollte, traf mit ihr auf dem Absatz der breiten Treppe zusammen und begann höchst erregt auf sie einzusprechen, daß sie es nun nachgerade satt habe, sich mit dem alten groben – – da flog die Hausthür auf und die beiden Knaben stürmten herein. Der Frau Rat blieb das Wort auf den Lippen sitzen, denn die Thür schlug donnernd wieder zu, in der nächsten Sekunde waren die Schulranzen der Jungen je in eine Ecke geschleudert und die beiden aufeinander losgefahren wie die Kampfhähne.

So rasch geschah es, daß die beiden Frauen kaum wußten, wie die erbitterten Kämpfer, die sich auf der Diele balgten, und in stiller Wut aufeinander einhieben, dorthin gekommen waren. Es herrschte einige Sekunden lang eine atemlose Stille, dann ein dumpfer Fall und die heiseren Worte des Fritz: »So, du römischer Hund, da hast du deinen Lohn!« Und Frieder lag auf dem Boden, das Gesicht entstellt vor Wut und Scham. Der andre sprang in die Ecke, ergriff den Ranzen und wollte eben in den Garten, da stand Tante Riekchen vor ihm.

»Was fällt dir ein, du abscheulicher Junge!« stieß sie hervor, »wie kannst du deine groben Fäuste gegen den Schwächeren gebrauchen! Geh – ich will von dir nichts mehr wissen – nie!«

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Der kräftige Junge sah sie ruhig an: noch ging sein Atem schnell, noch war er erregt, aber er vergaß keinen Augenblick, mit wem er sprach. »Du weißt ja den Grund nicht, Tante,« sagte er, machte eine Schwenkung um sie herum und verschwand durch die Hinterthür.

Frau Rat aber gebärdete sich schier wie eine Heldenmutter. »Na, ich gönn's dem Buben, verdient hat er schon längst einen Rücken voll!« erklärte sie gelassen.

»Wie?« rief jetzt Riekchen zitternd, »du nimmst deinen unartigen Jungen noch in Schutz – schämst du dich denn nicht? Vergißt du denn ganz, wie lieb ich den Fritz immer hatte, und daß ich doch etwas Rücksicht erwarten könnte für den armen vaterlosen Buben? Strafen sollst du deinen Sohn, empfindlich strafen – ich bitte dich darum.«

»Fällt mir gar nicht ein!« erwiderte die Schwester, »strafe du doch den deinigen, der Fritz hat sicher keine Schuld.«

»Komm!« wandte sich Tante Riekchen an Frieder, der sich eben aufrichtete und seinen zerrissenen Jackenärmel betrachtete, »komm! Wenn sich andre Jungen gewöhnlich betragen, so hast du noch nicht das Recht, es ebenfalls zu thun. Hinauf, in dein Zimmer; ich bin ernstlich bös!«

So stiegen die zwei die Treppe hinauf, und Frau Rat holte sich ihren Jungen aus dem Garten, und unten und oben fanden Verhöre statt, aber an beiden Stellen erfolglos.

»Mutter,« erklärte Fritz, »frage nicht weiter; er ist ein ganz schlechter Bursche, der Frieder.«

Frieder konnte eine gewisse Verlegenheit nur schlecht verstecken hinter falscher Großmut. »Laß doch nur, Tante, er hat es ja nicht so bös gemeint.«

Und Tante Riekchen ging äußerlich noch unversöhnt, innerlich ganz gerührt, in ihre Wohnstube. »Er ist doch von vornehmer Denkungsart,« sagte sie, »und Jungens prügeln sich wohl mal. Er will den Grund nicht verraten, das ist nobel.« – Nichtsdestoweniger hatte sie ihm angekündigt, er werde heute zur Strafe allein auf seiner Stube speisen und dieselbe nicht früher verlassen, als bis er komme, um Verzeihung zu bitten. Sie fühlte, sie müsse einmal mit Strenge auftreten.

Die Grimasse ihres Pflegesohnes, als sie den Rücken wandte, sah sie nicht. Friedrich Adami ballte die Fäuste, nachdem sie sich entfernt hatte. War es nicht zu albern von ihr, ihn hier festzusetzen? Pah! Er brauchte ja nicht zu gehorchen, er ging einfach in den Garten; dem derben Bengel dort unten mit seinen groben Fäusten, dem würde er's schon noch heimzahlen. Was ging den das an, wenn das weiße Kaninchen in seinen Verschlag lief, statt in dem des dummen Kerls zu bleiben, und wie kam der dazu, gleich nach diesem Zanke so handgreiflich Partei zu nehmen für seine Tante? Er, Friedrich Adami, konnte sie nennen, wie es ihm beliebte. Freilich – wenn der Fritz klatschte, daß er seine Pflegemutter ein »altes Gerümpel« geheißen hatte, mit der er machen könne, was er wolle, die Alte habe nun einmal einen Narren an ihm gefressen – dann war's doch höchst eklig.

Er war schon im Begriff, nach dem Garten zu entwischen, als sich die Thür aufthat und die alte Dora mit dem Essen erschien. »Aber Frieder,« sagte sie, »was machst du für Sachen? Aergerst deine gute Tante! Bist gar nicht wert, daß sie dich so lieb hat. Da, schau her, eigenhändig hat sie dir das Quittenmus aus der Vorratskammer geholt.«

Um den Mund des hübschen Buben zuckte ein spöttisches Lächeln. Zur Strafe schickte sie ihm seine Lieblingsnäscherei! Er hatte schon recht mit dem, was er gesagt. Er gab den Vorsatz, nach dem Garten zu gehen, auf und setzte sich mit dem größten Appetit zu Tisch.

»Bitt' es ihr nachher ab,« mahnte die Alte.

»Ich hab' nichts abzubitten!« antwortete er.

»Dann kannst du aber nicht hinunter.«

»Werd' schon können, wenn ich will – ich will aber gar nicht!«

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So ward es Abend. Die Gewitterwolken hatten sich verteilt, es war kühler geworden draußen. Friedrich Adami wartete auf seine Tante, die Tante wartete auf ihn, wollte nachgeben. Der Knabe stand am Fenster; drunten ging der Fritz in den Kaninchenstall, er pfiff ganz vergnügt vor sich hin; der hatte es besser. Nun nahm er wahrscheinlich sein Eigentum, das hübsche weiße Kaninchen, zurück und machte die Thür des Verschlages doppelt fest, damit es nicht wieder entwischen konnte. Ueber den Hof strich ein feuchter erfrischender Hauch, er kam wohl vom Rhein herauf; der Junge sog ihn mit vollem Atem ein. Just heute zog es ihn so mächtig wie nie an den Strom hinunter, um seine schmerzenden Glieder hineinzutauchen in die grünlich klare Flut.

Je nun, warum sollte er der »Alten« den Gefallen nicht thun und um Verzeihung bitten? Er nahm seinen Strohhut und schlich in die Wohnstube hinüber.

Die Tante war nicht dort, aber dafür stand mitten in dem rosigen Lichte der untergehenden Sonne, das die tiefe Fensternische magisch erfüllt, sein Schwesterchen auf einem Stuhl vor dem Nähtisch der Tante. Mit einem Knie stützte sich das zierliche Geschöpf in dem verwachsenen rosa Kattunkleidchen auf diesen Tisch; beide Aermchen hatte sie gegen die Wand gestemmt, so daß sie die kleine Konsole, welche die Gipsbüste ihres Vaters trug, fast umarmte. Das dunkle Köpfchen war vorgeneigt, und ihr zum Kuß gespitzter roter Mund berührte zärtlich die lockige Stirn des leblosen Gesichtes. Es war eine scheue süße Innigkeit in dem Gebaren der Kleinen, die wohl jeden gerührt hätte.

Von Brüdern verlangt man im allgemeinen nicht, noch dazu von Brüdern in den Flegeljahren, daß sie ihre Schwestern bewundern sollen; aber daß dieser brüderliche Held seine Hand dazu benutzte, das Gesicht des kleinen Mädchens so heftig gegen den Gipskopf zu stoßen, daß derselbe durch den Zusammenprall von der Konsole fiel und auf der Diele mit dumpfem Schlag in Trümmer sprang, das war denn doch nicht einmal mit brüderlicher Unempfindlichkeit zu entschuldigen.

»Dummes Ding!« rief er, selbst erschreckt, »was hast du da nun angerichtet!«

Und in diesem Augenblick kam Tante Riekchen. Die Kleine stand vor Schreck noch unbeweglich auf dem Stuhle, das tieferblaßte Kinderantlitz hatte etwas unheimlich Starres; und die Frau, welche die Güte selbst sein konnte, ward beim Anblick ihres zertrümmerten Kleinods hart bis zur Grausamkeit.

»Du entsetzliches, boshaftes Kind!« rief sie, »bist du nur gekommen, um mir Unglück zu bringen? Wollte Gott, ich hätte dich nie gesehen!« Sie riß die Zitternde vom Stuhle und schleuderte sie vorwärts, daß der kleine Körper an der Ausgangsthür wie ohnmächtig zusammenbrach.

Dora hob sie auf. Stumm, bebend lag das Mädchen in ihren Armen, und von der kleinen schön geschweiften Oberlippe rieselte ein Blutstropfen.

»Julchen, liebes Julchen!« flehte die Alte unter Thränen, nachdem sie das Kind auf sein Bettchen gelegt und ihm das Blut abgewaschen hatte, »was hast du denn gethan? Um Gottes willen, sag mir's doch!«

Aber kein Wort der Anklage kam über die schmerzverzogenen Lippen.

Tante Riekchen wollte das Kind nicht sehen, hatte sie gesagt, und hungrig zu Bett gehen sollte es auch! Und so saß die Kleine, während drunten im Garten unter dem Nußbaum der wieder zu Gnaden angenommene Bruder an der Seite der Tante speiste, oben in der tiefen Dämmerung am Fenster, die Augen auf den Strom geheftet, mit einem wehen, über ihre Jahre hinaus wehen Zug im Gesicht, und horchte auf die Nachtigall, die drunten schlug, und auf das leise Rauschen des Stromes. Am jenseitigen Ufer zuckte von Zeit zu Zeit ein starkes Wetterleuchten auf und tauchte den Garten in rotes Licht. Ganz allein saß sie da, denn Dora war zu ihrer verheirateten Stieftochter gegangen.

Ob sie hungerte oder fror? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt. Sie hatte nur Sehnsucht nach Güte, nach Liebe, nach einem kosenden Worte, so übergroße Sehnsucht. Aber niemand, niemand war für sie vorhanden.

Da klinkte leise die Thür, und leise schlich jemand herein. »Hier!« sagte die flüsternde Stimme des Fritz, der sie bisher kaum eines Blickes gewürdigt hatte, »hier, kleiner Unnütz; das Luischen meint, du hättest heut abend nichts zu essen bekommen –« Und der große Junge bog sich hinunter und legte dem Kinde ein Butterbrot in den Schoß. »Weine nur nicht, Unnütz,« stotterte er, »iß lieber!«

Sie weinte nicht, aber sie aß auch nicht; sie sah unverwandt die Thür an, durch die der Bursch verschwunden war; das kleine Herz klopfte ihr heftig, und ein warmer Schauer durchrieselte sie. Wie ein Sonnenstrahl die Knospe wohlthuend streift, die sich kaum hervorgewagt hat, so wohl war dem einsamen Kinderherzen durch diese paar ungeschickten Worte geschehen, und ein Fünkchen erglomm in der verschüchterten Seele, das einst zur starken mächtigen Flamme wachsen sollte. Und als sich abends die kleinen Hände von Mamsell Unnütz falteten, da klang auch der Name »Fritz« ins Gebet wie in alle ferneren Gebete, die das Kind sprach.

Die Tante war fortan noch kühler gegen das »boshafte Kind«. »Unten« und »Oben« blieben auf gespanntem Fuße; »guten Tag und guten Weg« boten sich die Schwestern zwar noch, aber die innerliche Trennung wurde vollständig. Die Jungen gingen getrennt zur Schule und kamen einzeln wieder heim – in derselben Klasse saßen sie so wie so nicht, denn Frieder nahm sich Zeit bei seinen Studien, während Fritz eifriger denn je beim Lernen war. Und so geteilt gingen die Alten in den Herbst ihres Lebens hinein, die Jungen ihrem Lenze entgegen, und dann waren sie plötzlich mitten drin in diesem Lenze, und aus den Kindern waren Leute geworden.

*

Es ist ein reizender Tag, an dem ein Mädchen achtzehn Jahre alt wird; ein ganz eigener Zauber liegt über ihm, besonders wenn der Tag zu Ende Mai fällt, wo alle Rosenknospen im Aufspringen sind, wenn an dem Rosengarten der Rhein vorüberrauscht und der Duft der Blüten die Luft erfüllt. Man kann sich das Geburtstagskind so recht vergegenwärtigen, wie es mit strahlenden Augen und im weißen Kleide durch den Garten flattert und vor seliger Daseinsfreude die ganze Welt umarmen möchte.

So kann es wohl sein – aber bei Mamsell Unnütz war es nicht so an diesem Maitag, an dem sie achtzehn Jahre alt wurde. Sie wachte schon ganz früh auf, aber gar nicht anders wie sonst; nicht die Spur freudiger Erwartung prägte sich in dem Gesicht aus.

Das Zimmerchen gehörte ihr jetzt allein; Frau Dora war nicht mehr im Hause, sie lebte in ihrem Witwenstübchen irgendwo in der Stadt, man hatte ihre Dienste nicht mehr nötig. Das »Julchen« war groß geworden, der junge Herr nicht mehr daheim, da schickte die Tante die Alte fort und hielt nur noch ein Dienstmädchen, ein ganz junges von fünfzehn Jahren. Julia mußte ohnehin die Wirtschaft lernen.

Das junge Mädchen wunderte sich heute gar nicht, daß kein Myrtenstöckchen an ihrem Bette stand, kein Blumenstrauß, daß kein liebes freundliches Gesicht über das ihrige sich neigte, keine freundliche Stimme sprach: »Gott segne dich, Liebling!« Sie machte wie sonst ihre Toilette, stieß das Fenster auf, sog die Morgenluft ein, während sie das lange blauschwarze Haar flocht, zu dem sich die Ringellöckchen von einst ausgewachsen hatten und das sie nun in einfachem Knoten am Hinterkopf aufsteckte. Sie war hoch und schlank geworden; dabei doch von zierlichem Gliederbau und sah noch landfremder aus denn als Kind; jedenfalls war sie ihrer Mutter ähnlich. Die Nase ein klein wenig gebogen, die Stirn niedrig, das Kinn rund und fest, und alles überstrahlt von zwei glänzenden dunklen Augen, in denen, wie die Frau Rat sich ausdrückte, »etwas flimmerte, etwas – na, man wird ja sehen, was, und wenn sie noch so sittsam die langen Wimpern darüber fallen läßt«.

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Die Kleidung war sehr einfach. Tante Riekchen fand es angezeigt, die auffallende Erscheinung, so viel als irgend anging, zu mildern. Ein hellblaues Kattunkleid, darüber eine Schürze, die sich das Mädchen, so zierlich es gestattet wurde, genäht hatte, das war die Geburtstagstoilette. Wie sollte sie auch anders sein, wenn zur Feier dieses Tages große Wäsche angesetzt war? Die geliebten Ohrringe hatte man ihr längst fortgenommen, aber Julia griff noch heute mechanisch nach den kleinen Ohrläppchen, wenn sie verlegen wurde, wie sie es früher gethan, wo sie in solcher Lage die Ringe zu drehen pflegte, bis die Tante sie auf die Finger klopfte. Eine Weile länger als sonst blickte sie heute doch in den Spiegel, und als es nun sieben Uhr schlug, lief sie eilig in die Küche, um das Frühstück zu besorgen. Sie trat dann mit dem Präsentierbrett in der Hand in die Wohnstube, wo Tante Riekchen am offenen Fenster saß und ihr aus blassem, sehr gealtertem Gesicht entgegensah.

»Guten Morgen, Tante!« sagte das junge Mädchen.

»Guten Morgen, Julia!« klang die gemessene Antwort.

Das Mädchen schenkte die Tassen voll und rückte den Stuhl zurecht. »Ist's gefällig, Tante?«

Fräulein Riekchen kam herüber. »Ich gratulier' dir, mein Kind,« sprach sie und berührte mit den Lippen die Stirn des Mädchens. »Und hier ist eine Kleinigkeit für dich.« Sie schob ihr ein Päckchen in die Hand. »Sei recht sparsam damit – du weißt –« Ein tiefer Seufzer beschloß diese Rede, und Riekchen sank in den Sessel und rührte in der Tasse.

Ueber des Mädchens Gesicht war ein freudiges Rot gehuscht. »Ich danke dir, liebe Tante – und darf mit dem Gelde thun, was ich will?« fragte sie, ohne den Blick zu heben.

»Ja, vorausgesetzt, daß es keine Thorheiten sind; das heißt – ich hatte Hoffnung, du würdest es aufsparen,« war die Antwort.

Mamsell Unnütz schwieg, aber ihre Freude an dem Geschenk schien geschwunden.

»Heute, gegen Abend,« fuhr, die Tante fort, »wenn die Wäsche von den Leinen ist, magst du zur Schneiderin gehen, sie soll dir ein weißes Kleid passend machen. Ich habe es getragen als junges Mädchen. Die Doktorin will dich zu der Pfingstpartie einladen; mit achtzehn Jahren hast du ja wohl ein Anrecht auf die Lustbarkeiten der Jugend.«

»Ach, Tante,« wandte das junge Mädchen ein, »laß mich daheim, ich kenne die Menschen alle nicht, und –«

»Wenn ich nur wüßt', Julia, weshalb du so hochmütig und apart thust! Du wirst mitfahren! Ich wünsche es schon deshalb, damit es nicht noch einmal heißt, ich gönne dir nichts und behandle dich als Stiefkind.«

Das junge Mädchen erwiderte kein Wort mehr. Sie goß der alten Dame die zweite Tasse ein und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Ich bitte also, daß die Wäsche nicht wieder so himmelblau wird wie das letzte Mal!« rief Fräulein Riekchen ihr nach, und dann zog sie einen noch uneröffneten Brief aus der Tasche ihres grauen Kleides; ehe sie ihn erbrach, holte sie tief Atem, und Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht. –

Drunten im Hausflur standen allerhand Möbel umher, und das Dienstmädchen der Frau Rat klopfte mit dieser um die Wette förmliche Staubwolken aus den braunen Ripspolstern. Die Thüren von zwei Stuben, den Zimmern des jungen Herrn, denen diese steifen birkenen Stühle und Sofas angehörten, standen weit auf, und die Scheuerfrau bürstete die Dielen mit einem Eifer, der darauf schließen ließ, daß sie Angst vor der Rätin hatte, die ihr Thun unausgesetzt beobachtete. Das »Guten Morgen!« des jungen Mädchens verhallte in dem Getöse des Klopfens; Frau Rat hatte weder Auge noch Ohr für sie, und Mamsell Unnütz konnte unaufgehalten ihre Geburtstagsfeier beginnen.

»Wenn Sie die Tischtücher und Servietten gleich zuerst ins Wasser stecken möchten, Fräulein,« wies die alte Waschfrau sie an – »so, ich helf' den Korb tragen.« Und in wenigen Minuten war der Strom erreicht.

Den Garten schied nur ein schmaler Fußsteig vom Ufer, das ziemlich steil abfiel. Andersheim gehörte nicht zu den Orten des herrlichen Rheins, an denen die leidige Eisenbahn zwischen Strom und Gärten dahinbraust; die nahm hier ihren Weg hinter dem Städtchen vorüber, und am Wasser, besonders vor Trautmanns Garten, war es noch ebenso idyllisch wie zu jener Zeit, als Schienen und Dampfwagen in das Reich der unbekannten Dinge gehörten. Zum Strom hinunter führten Stufen, und vor diesen schaukelte der alte Nachen im Schatten der Nußbäume, die ihre Zweige hoch und üppig über die Gartenmauer reckten, als wollten sie durchaus ihr Spiegelbild sehen in der köstlichen, grünlich klaren Flut.

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»Wenn man nur nicht so allein wäre,« flüsterte sie.

Julia zog den Nachen heran, trat hinein, ließ sich den Korb mit der Wäsche reichen und stand dann, als die Alte verschwunden war, noch ein Weilchen müßig da und schaute über die breite glitzernde Wasserfläche nach der jenseits gelegenen großen Aue, über der ein zarter bläulicher Frühnebel hing. Wie wonnig war dieser Morgen! So feierlich rauschte der Strom, so lustig hüpften die Goldfunken der Sonne auf den tausend kleinen Wellen, so duftend kam der Wind – dem jungen Geschöpf ward das Herz weit und das Auge feucht, unwillkürlich falteten sich ihre Hände. »Wenn man nur nicht so allein wäre,« flüsterte sie, und dann blitzten auch in ihren träumerischen Augen ein paar Goldfunken auf wie zwei selige Hoffnungssterne, und sie lächelte, während sie im Buge des kleinen Nachens kniete und ein Tuch lässig in den Wellen schwenkte.

Dann hielt sie wieder inne und starrte wie in Gedanken verloren vor sich hin, einen trüben Zug um den Mund, sonderbar veränderte sich dabei das Gesicht; und nun schrie sie leicht auf – das Tuch war ihren Händen entglitten und schwamm den Strom hinab.

»Großer Gott!« sagte das erschrockene Kind, »und es ist die damastene Kaffeedecke mit den eingewebten Sprüchen!«

Sie bog sich vor, so weit es möglich war, und schlug mit einer Stange ins Wasser, als könne das helfen; dann stand sie wieder kerzengerade und blickte mit weit geöffneten Augen zu einem Nachen hinüber, den ein Schiffer am Ufer entlang stromaufwärts trieb, und auf die Gestalt eines Mannes, der mit dem Bootshaken soeben das Tuch auffischte.

»Hallo!« rief eine tiefe Stimme, »es sollte mich doch wundern, wenn Mamsell Unnütz nicht das Heldenstück, ein armes, des Schutzes bedürftiges Gespinst sich selbst zu überlassen, ausgeführt hätte. Natürlich! Ja, bist du es denn wirklich, Unnütz?«

Der Nachen war jetzt ganz dicht heran gekommen, ein großer breitschulteriger Mann stand darin. Er hielt den Hut grüßend über dem braunen Scheitel, während die andre Hand noch den Bootshaken mit dem nachschleppenden Tuch umfaßte. Seine Augen aber hingen mit unverhohlenem Erstaunen an dem Mädchen, das, die Blässe einer großen Erregung im Antlitz, wie ein fremdartiges reizendes Bild auf Goldgrund in dem leise schwankenden Nachen stand.

»Nun, grüß Gott!« sagte er endlich, »ich muß es wohl glauben, daß du es bist, Unnütz. Wer im ganzen Städtchen hätte wohl solch schwarzes Haar und solche Augen, und wer sonst könnte wohl so stolz und mit so klassischer Ruhe dastehen als die Julia Adami aus Rom? Wie? Und Wäsche spülst du an deinem achtzehnten Geburtstag? Aber auch das ist klassisch, Kind; in alten Zeiten war es, glaub' ich, Lieblingsbeschäftigung der Fürstentöchter –« und er schlug klatschend das Tuch auf den Bug des Nachens, in dem das Mädchen stand, und schwang sich selbst hinüber. »Grüß Gott, noch einmal, Julia, und frohen Geburtstagsgruß!«

Da gab sie ihm langsam eine kleine zitternde Hand, aber ihr Auge begegnete dem seinen nicht. Sie standen so noch, als der Mann, der den jungen Doktor Fritz Roettger hergerudert hatte, schon wieder stromabwärts fuhr; sie noch immer mit gesenkten Wimpern, er sie erstaunt betrachtend.

Aus ihrem stillen Versunkensein wurden Julia und Fritz plötzlich emporgeschreckt, als jetzt drüben ein Dampfer vorbeirauschte und durch die heftige Bewegung des Wassers, die er verursachte, der Nachen in bedenkliches Schwanken geriet. Der Doktor lachte laut und herzlich. »Schau, Mamsell Unnütz, jetzt wär's dir selbst beinah ergangen wie dem armen Tuche, und ich hätt' dich fischen müssen. Aber sag mir um alles in der Welt, Kind, was hast du mit dir angefangen in den zwei Jahren? Du bist ja eine halbe Elle gewachsen, und wo ist dein schmales Gesichtchen geblieben? Du bist ja – –« Das Kompliment blieb ihm auf der Zunge, so rosig war sie erglüht.

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»Zwei Jahre sind doch eine lange Zeit,« sagte sie und begann wieder eifrig ihre Arbeit. »Aber wo kommst du her?«

»Plantsche ein andermal weiter und setze dich dahin – so! Ewig ist doch Wäsche bei euch, ich kann mir euch gar nicht anders vorstellen. Wo ich herkomme? Von Berlin, das heißt von Rüdesheim heute früh, gestern von Köln; und weil ich euch überraschen wollte, fuhr ich mit dem Nachen, um ungesehen ins Haus zu gelangen.«

»Ich glaube, deine Mutter denkt, daß du erst am Pfingstheiligabend eintriffst,« sagte sie.

»Ja, das mag sie wohl; aber mir wurde Berlin plötzlich zu eng. Ich hatte dort nichts mehr zu thun, reiste ab, und nun bin ich da, wie du siehst.«

»Und bleibst immer hier?« klang es stockend.

»Na, möglich ist's; ich hab's der Mutter versprochen. Vielleicht fassen die biederen Bürger von Andersheim Vertrauen zu mir und geben mir ihr sterbliches Teil bei Krankheiten anheim.«

»Willst du nicht hinein gehen und deine Mutter begrüßen?«

»Nein! Es gefällt mir hier sehr gut, und Mutter bekommt noch früh genug den Schreck in alle Glieder, wie sie zu sagen pflegt. Erzähle mir lieber – wie geht's hier bei euch?«

Sie hatte doch wieder angefangen, Wäsche zu spülen. »Immer so weiter,« sagte sie, während ihr ein paar Tropfen auf das Haar flogen und dort wie blitzende Steine liegen blieben.

Er schwieg und sah ihr zu. Was war aus Mamsell Unnütz für ein eigenartiges Mädchen geworden, und welch trostloser Klang lag in den Worten: »Immer so weiter!« Ihm ward ganz beklommen zu Mut; und an diesem »Immer so weiter« sollte er teilnehmen, teilnehmen für sein ganzes Leben?

»Unnütz,« bat er, seine Gedanken abschüttelnd, »laß die Plantscherei, das kann doch das Mädchen thun; es ist gräßlich! Freue dich doch lieber deines jungen Lebens!« Und er hatte sie plötzlich auf das Bänkchen neben sich gezogen und den Arm um sie geschlungen. »Sonst gabst du mir stets einen Kuß, wenn ich kam, weißt du noch? Und beim Abschied auch. Heute zu deinem Geburtstag muß ich dir einen geben!« Und ehe sie wußte, was ihr geschah, hatte er seinen hübschen braunen Schnurrbart auf ihre roten Lippen gepreßt.

Sie entwand sich ihm blitzschnell und sah ihn an. Sonderbar leuchteten einen Augenblick die Goldfunken auf in den dunklen Sternen, dann senkten sich die Wimpern und ein sehr feindlicher Zug erschien auf ihrem Gesicht. »Bitte, laß das jetzt, ich bin kein Kind mehr,« sagte sie.

»Nichts für ungut, Fräulein Unnütz!« Er erhob sich und sprang behende aus dem Nachen, machte ihr vom Ufer aus noch eine tiefe Verbeugung und schritt die Stufen hinauf. »Es ist nur, damit Mutter noch rasch das bewußte Kalb schlachtet, Unnütz – auf Wiedersehen!«

Sie starrte ihm nach, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Wie kraftlos saß sie da, und auf einmal hielt sie die Hände vor die Augen, als blende sie die Sonne und das Spiel der Wellen, und so saß sie noch, als die alte Frau den zweiten Korb mit Wäsche brachte. –

Der junge Doktor platzte gerade in die Wohnstube der Mutter zu einer Zeit, die er sich nicht gewählt haben würde, hätte er eine Ahnung gehabt von dem, was sich dort abspielte. Dort stand nämlich in der Stellung einer Frierenden seine Mutter am sommerlich kalten Kachelofen mit dunkelrotem, verärgertem Gesicht, und am Fenster saß Tante Riekchen, sehr bleich, einen Brief in der Hand.

» Du, Fritz?« rief die Mutter, als sie des Sohnes ansichtig ward. »Na, das ist aber ein Glück, wie gerufen kommst du!« Und nach einem ganz flüchtigen Kusse zog ihn die erregte Frau vor den Stuhl der Tante. »Da sag's ihr einmal, Fritz, sie glaubt mir's nicht.«

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»Grüß Gott, liebe Tante! Was glaubst du denn schon wieder nicht?« begrüßte er sie gutmütig.

»Daß der Frieder ein – ein – Bruder Leichtfuß ist – gelind ausgedrückt!« – rief Frau Rat.

Tante Riekchen sah ihren stattlichen Neffen an wie ein verwundetes Reh. »Erbarmen, Fritz, Erbarmen!« sprachen die verweinten Augen.

»Ich kann dir leider nichts vom Frieder erzählen, Tante,« sagte der junge Arzt freundlich ernst, »kaum daß ich ihn einmal flüchtig auf der Straße sah. Du vermagst dir das nicht vorzustellen, aber in einer solchen Großstadt, wo jeder seinen eigenen Weg gehen muß, da – –«

»Es thut mir recht weh, Fritz, daß ihr euch noch immer vermeidet.«

»Tante, das ist so der Lauf der Dinge. Offiziere halten sich – müssen sich etwas exklusiv halten; Absicht ist das gar nicht von uns beiden,« tröstete er herzlich.

»Thu mir nicht, als ob du nicht wüßtest, daß der Herr Adami den Baron spielt!« sagte Frau Rat mit ihrer liebenswürdigen Offenheit. »Damen, Diners, Soupers in den feinsten Lokalen; wenn er's nicht weiß, ich kann dir's sagen, Riekchen, so ist's! Verschließ dich nicht länger der Thatsache und häng deinem Goldsohn den Brotkorb höher, sonst trifft noch ein, was ich dir vor acht Jahren prophezeit hab', als der Bub' die große Rechnung in der Konditorei hier gemacht hatte – du gehst noch mit dem Bettelsack aus dem Haus hier, hab' ich damals gesagt.«

»Ich bitte dich,« rief Tante Riekchen verletzt, »bring nicht immer die alte, längst vergessene Geschichte wieder aufs Tapet. Uebrigens will ich nicht länger stören, da wir uns doch nicht einigen. Ich hab' mich gefreut, Fritz, dich zu sehen, und wünsche dir Gottes reichsten Segen,« wandte sie sich an den jungen Arzt, und schnell verließ sie das Zimmer, damit ihre Verwandten nicht die Thränen sehen sollten, die ihr aus den Augen schossen.

Frau Rat sah ihr nach. »Halsstarrig bis zuletzt!« rief sie.

»Was wollte denn die Tante, liebe Mutter?« forschte er.

»Was sie wollte? Geld! Eine Hypothek aufs Haus!«

»Lieber Gott, so weit ist's?« fragte er, ehrlich betrübt.

»Schon lange! Ich gab ihr ja vor zwei Jahren schon dreitausend Thaler auf das Haus. Sie hat eine wahre Angst, daß man im Publikum etwas merkt von ihrer Lage. Heute kommt sie plötzlich wieder zu mir um ein erneutes Darlehen. Es ist ein Elend! Sie besitzt nicht mehr so viel, um die Kosten des mehr als einfachen Haushalts zu decken; sie spart an allen Enden und Kanten, ja sie hungern beinahe. Das gute Dienstmädchen ist abgeschafft, und Fräulein Julia muß die Hände rühren. Aber das ist's eben, wenn sie die nicht hätt, so könnt sie an meinem Tische essen, ich würd's ja gern geben. Aber die ›Unnütz‹ ist einmal da und muß gehalten werden wie eine Prinzeß.«

Der junge Doktor lachte. »Spülen denn heutzutage Prinzessinnen die Wäsche am Rhein?«

»Nun, lach nur nicht zu früh. Eben hat mir Riekchen gesagt, daß das Fräulein von jetzt ab die Kasinofeste besuchen würd.«

»Warum denn nicht?«

»Lieber Gott, was das kostet! Schon der Anzug –«

»Lassen wir das. – Kannst du der Tante nicht helfen?«

»Freilich! Ich hab' ihr gesagt, ich wolle das Haus kaufen; für einen mäßigen Preis natürlich. Doch was meinst du, was sie haben will – rein lächerlich! Hab' ihr vorgestellt, sie bekomme freie Wohnung, Gartenbenutzung – aber sie besteht auf der Summe. Dabei wär's schrecklich, wenn's in andre Hände käm,« fuhr die alte Dame seufzend fort, »es liegt so gut für deine Zwecke – hier herum die neue Villenstadt mit vornehmem Publikum. Es wär nur ein Fall erträglich, wenn nebenan Herr Krautner es kaufte.«

Sie machte eine Pause. »Heiraten wirst du müssen, Fritz; ein unverheirateter Arzt ist ein Unding. Also 'ne Frau wär vorderhand das nötigste für dich.«

Jetzt lachte der hübsche große Mann laut auf. »Mutter, weißt du, was das nötigste ist?« rief er, »ein Frühstück!«

Die alte Dame kam erst jetzt zu dem richtigen Bewußtsein, daß ihr Sohn, den sie seit zwei Jahren nicht gesehen hatte, sie überrascht habe und da sei, wirklich und wahrhaftig. Sie lief ganz behende hin und her und trug herbei, was sie in Küche und Keller hatte, und währenddem entschuldigte sie sich, daß leider Gottes seine Stuben noch nicht in Ordnung seien. Und als sie endlich dasaß und ihn mit bestem Appetit speisen sah, da sagte sie noch einmal: »'s ist wirklich nötig, Fritz, daß du dich nach einer Frau umthust; welch anständiger Familienvater wird denn dich jungen Luftikus zu seiner Frau oder gar zu seinen Töchtern rufen? Uebrigens, heut nachmittag könnten wir ja – –«

»Nun, was könnten wir denn da?« fragte er belustigt.

»Ein paar Besuche machen, bei Eisemanns und bei Krautners etwa –«

»I, hat denn das solche Eile?«

»Nun, wenn man Nachbarschaft ist und immer über den Zaun hinüber redet, so abends – und das Thereschen sitzt doch auch öfters mal bei uns in der Laub' –«

»So? Das Thereschen? Wer ist denn das?«

»Herrn Krautners Tochter; sie halten da ein bißchen Freundschaft miteinander, Julchen und das Thereschen, sind auch in einem Alter. Ich würd's nicht leiden an Riekchens Stell', da guckt das Mädchen nur ab, wie's die reichen Leute haben, aber – was geht's mich an! Sag mal, weißt du wirklich nichts vom Frieder?«

»Mutter,« antwortete der junge Mann, »frage mich nicht nach ihm; durchs Reden wird's nicht besser. Mich dauern nur die beiden da droben.«

»Erzähl doch! Erzähl!« rief die Mutter, aber er hörte es schon nicht mehr. Er wollte sorgen, daß sein Koffer käme, rief er zurück. –

Wenn der heimgekehrte Sohn geglaubt hatte, es werde ihm zu Ehren feierlich der übliche Kalbsbraten mittags aufgesetzt werden, so hatte er seine Mutter noch nicht ganz genau gekannt. Es gab weiter nichts als das an Scheuer- und Waschtagen übliche Gericht, »und damit holla!« wie Frau Rätin sagte. Nun, er war kein Schlemmer und aß auch die süßsauren Leberknödel. Aber machte es das Scheuerparfüm oder die Thatsache, daß er erst gegen Abend in seine noch nassen Zimmer konnte, um sie einzurichten – er befand sich im Zustand größter Ungemütlichkeit.

In der Wohnstube nickte die Mutter im Nachmittagsschlummer, und von droben hörte man eine wie im Schlafe gedrehte Kaffeemühle. Er trat auf die Schwelle seines künftigen Wohnzimmers. Wie kahl das Ganze war! Nun, wenn nur erst seine Bücher und Instrumente ausgepackt sind, dann – aber, großer Gott, wo sollte er sie denn hinthun? Es war nicht einmal ein Schrank für sie vorhanden! Plötzlich fiel ihm ein, daß auf dem Boden noch die Regale aus des seligen Großvaters Amtsstube sein müßten, und behaglich rauchend erstieg er die Treppen, schlich leise über den Flur, damit der Nachmittagsschlummer der bekümmerten Tante nicht gestört werde, und erklomm die steile Bodentreppe.

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Solch heimliche, mit allerhand Gerümpel vollgestellte Dachböden, solch festes Balkenwerk und solch geheimnisvolles Dämmerlicht, in dem die Spinnen weben und alte feudale Mäusegenerationen ein Leben unter beständiger Angst vor der Hauskatze führen, gibt es gar nicht mehr in den neumodischen Häusern, wo jeder Winkel zum Aufenthalt für Menschen umgeschaffen ist. Der junge Arzt hatte immer eine Vorliebe für den Boden des Hauses gehabt von den Kinderspielen her, wo sie sich hier versteckten, im heimlichsten Winkel Karten spielten und die ersten Rauchversuche anstellten. Es wurde ihm erst hier oben heimatlich zu Mute, und wahrhaftig, da hing noch das Seil, in dem er Mamsell Unnütz geschaukelt hatte, und dort stand das alte Spinnrad im Winkel der Esse, dessen zerbrochenes Rad zu drehen des kleinen Mädchens stilles Entzücken gewesen war.

Er machte sich eifrig daran, allerhand Kasten, Stühle und zerbrochenes Gerümpel aus dem Wege zu räumen, um an die gesuchten Regale zu gelangen, die dort hinten hervorsahen, und dabei sprach er leise vor sich hin: »Schön ist anders, aber für den Anfang – später, wenn ich heiraten muß, wie die Mutter sagt, werden wohl neue Sachen kommen –«

In diesem Augenblick stutzte er; die Thür der gegenüberliegenden Bodenkammer hatte einen leisen, knarrenden Ton hören lassen, und sich rasch umwendend, sah er, wie sich diese Thür eben ganz langsam schloß.

»Nun, spukt's hier denn wirklich?« rief er und war mit zwei Sprüngen drüben und rüttelte an dem Schlosse – ein Ruck und die kleine Hand, die von innen so kräftig zugehalten hatte, gab nach und Fritz stand vor Mamsell Unnütz.

»Also du?« sagte er verwundert. »Versteckst du dich hier immer noch?«

»O bitte, geh!« flehte sie verlegen. Aber er ging nicht.

»Ich werde doch sehen, was du hier oben treibst,« sagte er, über die Schwelle tretend. Dann verstummte er. –

In einer Ecke, just unter dem blinzelnden, verschlafenen Dachfenster, dessen altersblindes Glas in allen Regenbogenfarben schillerte, stand ein invalider Lehnstuhl mit mottenzerfressenem Polster vor einem Tische, dessen Platte sämtliche Geräte der Aquarellmalerei trug. Eine Menge Lederkästchen, höchst wahrscheinlich für Briefmarken bestimmt, lag in einem Körbchen, und ein halbes Dutzend derselben stand fertig gemalt zum Trocknen aufmarschiert wie ein Zug Soldaten. Er nahm eines der Kästchen in die Hand und betrachtete es. Die fliegende Taube, um den Hals am blauen Bändchen einen winzigen Brief tragend, schien soeben erst mit wenigen kecken Strichen hingemalt; recht gut der Natur abgelauscht war die Flügelbewegung des Tierchens und trotz des sehr verbrauchten Musters nett und originell, wenn sich auch eine noch ungeübte Hand verriet.

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Er sah von der Taube zu dem Mädchen hinüber. Sie stand ungeduldig und blaß vor ihm, und ihre Zähne bissen die Unterlippe.

»Hab keine Ahnung gehabt, Julia, daß du malst,« sprach er, »aber, um Gottes willen, wie kamst du auf diese einförmige Beschäftigung? Für wen? Weshalb brütest du schockweise Tauben aus? Weiß es Tante Riekchen?«

»Niemand! Auch für dich ist das nicht – bitte, vergiß es!«

»Aber Unnütz, sei doch nicht so unfreundlich,« bat er. »Ich dächte, du wüßtest von früher her, daß wir gute Kameraden sind. Habe ich dich je verraten? Im Grunde freue ich mich ja herzlich, daß du auch etwas andres treibst als Wäschespülen; nur diese« – er deutete auf die Kästchen – »Massenfabrikation ist mir unverständlich. Sag, Kind, treibst du Schacher mit deiner Liebhaberei? Taschengeld – wie? Und hast du Unterricht gehabt? Du mußt doch auch andres gemalt haben? Zeig es mir, bitte!« Und er ergriff eine alte, zerflederte Mappe, aus welcher Papier hervorlugte, Papier, wie man es zu Aquarellen benutzt.

»Laß das liegen!« herrschte sie ihn an mit zornigem Blicke, und ihr Fuß trat den Boden. »Es ist nur Spielerei,« setzte sie hinzu, » unnütz wie ich selbst. Ich hab' einmal der Tante solch ein Bildchen zu Weihnachten geschenkt und – bittere Worte dafür bekommen. Unterricht? Wo sollte ich Unterricht nehmen? Ich würde doch nichts lernen. Das da« – sie deutete verächtlich auf die Lederkästchen – »das, nun das thue ich – weil – für mein ganz besonderes Vergnügen,« schloß sie, verschränkte die Arme ineinander und glich in diesem Augenblick einer der allerstolzesten Römerinnen, die ihren Sklaven zu entlassen gedenken, aber nicht eben in Gnaden.

»Ich will dir etwas sagen, Julia,« sprach er gelassen, »du malst, um Geld zu verdienen. Aber für wen? Für wen?«

»Für wen sonst als für mich, angenommen du hättest recht.«

»Ich fürchte, du – –«

»O bitte, fürchte nichts!« sagte sie mit funkelnden Augen. »Uebrigens muß ich jetzt der Waschfrau ihr Vesperbrot geben.«

»Schön! Ich gehe mit; verzeihe, daß ich dich belästigte.« Es mochte etwas in seiner Stimme liegen, das sie weich machte.

»Sei nicht böse, Fritz,« bat sie plötzlich und hielt ihm die Rechte hin mit abgewandtem Gesicht.

Er nahm sie mitleidig in seine beiden Hände. »Arme kleine Mamsell Unnütz!« Es war derselbe innige Ton, mit dem er einst vor Jahren zu dem Kinde gesprochen: »Weine nur nicht, Unnütz, iß lieber!« Und sie legte die freie Hand über die Augen, um die glühende Röte zu verbergen.

»Julia!« sprach er leise und zog sie an sich. Und der schöne dunkle Mädchenkopf lag plötzlich an seiner Brust. »Kind, du hast's wohl nicht leicht gehabt all die Jahre her? Aber nun bin ich da, und du mußt mir alles sagen, hörst du, alles was dich drückt. Ich will nicht, daß du traurig bist in deinen schönsten Frühlingstagen. Du hast nun wieder einen wie damals, eh' ich nach Göttingen ging, einen, dem du alles sagen und klagen kannst.«

Sie antwortete nicht, sie litt es nur, daß er ihr das Haar streichelte. Da ward auch er stumm und ließ ihren Kopf ruhen an seiner Brust. Und es war so still hier oben, so totenstill, nur der Holzwurm tickte in dem alten Balkenwerk und Fritz Roettgers Herz klopfte so laut, daß er meinte, man müsse das Pochen hören. Langsam hob er dann das Gesicht des Mädchens und sah in die schönen, halb verschleierten heißen Augen. Und zum zweitenmal heute küßte er ihren Mund, aber leidenschaftlicher als vorhin und länger, und diesmal sträubte sie sich nicht. Ihre Arme legten sich weich und leise um seinen Hals, und ein Ton wie ein erstickter Jubelschrei zitterte durch den niedrigen Raum.

Im nächsten Augenblick schon war sie allein; sie kniete vor den alten Lehnstuhl, als sei er ein Dankaltar, die Hände gefaltet, das schöne stolze Gesicht in heller Entzückung nach oben gerichtet. »O Gott,« sagte sie leidenschaftlich, »ich danke dir, nun ist kein Schatten mehr für mich in der Welt.«

Und drunten stand er und sah etwas niedergeschlagen aus. »Dummheiten!« murmelte er, »alter Schafskopf, der ich bin! – Aber zum Henker, ich darf doch schließlich meine sogenannte Cousine küssen? Hm – wollte doch, es wär unterblieben. Na, er bildet sich hoffentlich nichts ein, der Unnütz – großer Gott, das fehlte noch!«

»Fritz!« rief die schrille Stimme der Mutter, »ich wär' so weit – wir wollen zu Krautners gehen.«

Er seufzte und nahm den Hut vom Nagel. »Armer, kleiner Unnütz!« murmelte er noch einmal. – –

Tante Riekchen kam von Doktors gegen Abend zurück. Sie schlich förmlich; der Sorgendruck, der auf ihr lag, lähmte auch ihren Gang. Dabei war die ganze Luft wie mit Goldstaub durchsetzt, und die alten Giebelhäuser des Städtchens, die Brunnen und die Bäume der Gärten erschienen purpurn überhaucht von der untergehenden Sonne. Sie sah es nicht, sie hatte für nichts mehr Sinn, als dafür, wie sie Geld herbeischaffen könnte. Plötzlich, dicht vor ihr, kam aus der kleinen rundbogigen Thür eines schmalen Häuschens eine Mädchengestalt und schritt rasch vor ihr her. Welch ein elastischer Gang und welch biegsam schlanke Figur, trotz des schlecht gearbeiteten Kleides! Was hatte sie nur, die Julia? Ihre Schritte tanzten förmlich und all die Leute sahen sich nach ihr um und gafften ihr unter den runden Strohhut.

»Julchen!« rief die alte Dame; da wandte sich das Mädchen rasch um, und Fräulein Riekchen konnte in ein junges Menschenantlitz blicken, aus dessen schönen Zügen ein inneres großes Glück hervorleuchtete. Die bedrückte Frau verstand es nicht, sie sah nur diesen Schönheitszauber, und der kränkte sie noch immer in der Erinnerung an vergangene Zeiten. »Geh doch anständig!« tadelte sie. Das Mädchen richtete den Schritt nach ihr. »Wo warst du, Julia?«

»Bei der Schneiderin, wie du bestimmtest, Tante. Denk dir, sie sagt, es könne ein ganz lieb Kleidchen werden, wenn ich noch ein paar rote Schleifen dazu hätt'.«

Die Tante antwortete nicht. »Komm heute abend zu mir in die Schlafstube, du sollst etwas berechnen!« erwiderte sie endlich, und dann gingen sie zusammen weiter.

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Vor der Hofthür trafen die von »unten« und von »oben« zusammen. »Nun,« fragte Frau Rat ihre Schwester, »hast du Geld bekommen? Ich wett', der Doktor hat dir's noch einmal gegeben – gelt? Na, hast eben Glück, Riekchen.«

Oben saßen dann Tante und Nichte bis spät in den Maiabend hinein und rechneten. Vor den Augen des jungen Mädchens verwirrten sich die Zahlen, sie brachte alles falsch heraus, und Tante Riekchen ward ungeduldig und von Minute zu Minute blasser.

»Dreitausend Mark Zinsen zu bezahlen, und nur viertausend fünfhundert Einkommen,« murmelte sie; »tausend davon bekommt Frieder als Zulage – –« Und plötzlich löschte sie die Lampe aus und legte sich in den Sessel zurück.

Ein Weilchen schien es ganz dunkel, dann aber kam das Mondlicht zur Geltung, das durch die Fenster quoll, und von draußen klang das Schlagen der Nachtigallen und fernes Singen in das Stübchen. »Julia!« Schrill tönte es in diesen Frieden.

»Tante?«

»Es wird mir schwer, dir's zu sagen, aber – ich kann dich nicht behalten – du mußt fort – dir allein helfen. Es langt kaum noch für mich.«

Keine Antwort.

»Julia, hörst du nicht? Komm her!«

Da kam sie herüber und die alte Dame sah in ein starres Antlitz. »Hast du mich verstanden, Kind?«

»Nein!« Es war wie ein Hauch.

»Nun, so will ich deutlicher sprechen. Frieder hat mehr verbraucht, als ich hätt' geben können. – Es ist jetzt alles so anders in der Welt – ich kenne mich auch nicht aus in dem Offiziersstand und wußt' nicht, was es auf sich hatte, als er vor anderthalb Jahren nach Berlin kommandiert wurde. Nur so viel weiß ich, daß ich kaum genug für mich zum Sattessen behalte und daß ich dich nicht mithungern lassen darf. Du verstehst ja einiges von der Wirtschaft, und wenn du auch nicht fertig bist, so lernst du noch dies und das; du mußt eben anfänglich vorlieb nehmen mit wenig Gehalt. Ich will in die Zeitung ein Stellengesuch setzen lassen, zu Johanni wird sich wohl etwas finden. Ich muß dann sehen, wie ich durchkomme.« Noch immer kein Laut. »Nun, Julia?«

Da lag das Mädchen plötzlich vor ihr auf den Knieen. »Laß mich mithungern, Tante!« klang es halb erstickt. »O, ich bitte dich! Ich bitte dich, so sehr ich kann, schicke mich nicht fort, nur jetzt nicht fort! Ich will arbeiten Tag und Nacht, ich kann ja auch hier Geld verdienen – du glaubst es nicht? O ja, ich hab' es schon gethan, ich wollte dafür – – O Tante, Tante, laß mich hier, ich kann nicht fort!«

»Du machst mir die Last schwer,« murmelte das alte Fräulein.

»Tante, wir könnten hier oben Zimmer vermieten – ich will arbeiten wie eine Magd, ich will auch nicht mit zu Bällen und Vergnügungen, ich will ganz still im Garten sitzen, ach, laß mich nur hier!« Und als die alte Dame sich nicht rührte, fuhr sie fort, um ihre karge, liebeleere Heimat zu kämpfen, in der sie alle Jahre ihres jungen Lebens nur Zurücksetzung und Härte kennen gelernt hatte; fuhr fort zu flehen, weil es sie schlimmer als der Tod dünkte, seine Nähe zu meiden, die für sie die Sonne ihres Lebens war seit jenem Abend, an dem sie gestoßen und gescholten, hungernd und allein in ihrem Stübchen saß, und er sie tröstete. »Tante, liebe Tante!« Die schönen flammenden Augen sahen mit hinreißend bittendem Ausdruck zu der Frau empor, die das Schicksal ihres Lebens in der Hand hielt.

»Wir wollen sehen – steh auf!«

Das war alles, was ihr als Trost gewährt wurde, aber es dünkte dem Mädchen schon unendlich viel. Sie sprang empor. »Ich danke dir, Tante, du sollst es nie bereuen!«

Dann war sie verschwunden wie der Mondstrahl, der vorhin noch silberweiß auf der Diele lag.

Die Einsame am Fenster sah die dunkle Wolke an, die vor den Mond getreten war, und wieder wandte sich ihr Herz von dem Kinde, in Erinnerung an seine Mutter. So hatte sie wohl auch flehen können? Welch ein Mangel an weiblichem Stolz? Wenn ihr, dem Riekchen Trautmann, einer gesagt hätte »Geh!« – nicht ein Wort hätte sie verloren. Aber woher sollte Edelsinn kommen bei der Tochter der Frau, die sich dem Gatten angeboten! – Julia aber flog den Gartenweg hinunter. Was sie eigentlich wollte, wußte sie selbst nicht; ihre zitternden Nerven suchten Beruhigung. Sie schlüpfte aus dem Pförtchen zum Strome hinunter, und dort stand sie, die Hände auf das klopfende Herz gedrückt. An ihren Augen zogen die dunkeln Jahre der Kindheit vorüber, in denen seine Freundlichkeit der einzige leuchtende Stern gewesen. Und nun war dieser Stern zur Sonne geworden, zur strahlenden goldenen Sonne, und die Nacht hatte sich in den Tag verwandelt, in welch glückseligen Tag!

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»Guten Abend, Julchen!« – rief eine helle Stimme hinter ihr.

Sie schrak empor und wandte sich um.

»Was stehst du da und schaust ins Wasser wie eine, die sich das Leben nehmen will?«

»Guten Abend, Thereschen!« erwiderte das Mädchen mit einem leisen Seufzer, und an die Mauer des Nachbargartens tretend, reichte sie die Hand hinauf zu der lichten Frauengestalt, die sich im Mondschein zierlich und leicht wie eine Elfe aus dem rebenumwachsenen Rahmen bog.

»Wie geht's dir, Kleine?« fragte Therese weiter; »ich gratulier' dir auch schön zum Geburtstag! Wär' gern hinübergekommen, aber früh sah ich dich an der Wäsche schaffen, und nachmittags kam deine Tante auf Besuch mit dem Herrn Doktor, und du weißt ja wie der Vater ist – allemal glückselig, wenn er eine verständnisvolle Seele findet, die er in den Keller schleppen kann. Sie sind bei uns geblieben zum Abendessen und eben erst wieder heimgegangen.« Das zarte Gesicht, von goldflimmerndem Haar umgeben, lächelte schelmisch zu der jungen Nachbarin hinunter.

»Hör, Julchen, ich glaub' euer Doktor singt da – das macht Vaters Rauenthaler.«

Und wirklich scholl des Doktors tiefe Stimme durch den Garten:

»Nur am Rheine will ich leben.
Nur am Rhein geboren sein,
Wo die Berge tragen Reben
Und die Reben goldnen Wein!«

Die Mädchen lauschten rnäuschenstill. Der Sänger jenseit der Mauer kam näher, nun war er aus dem Garten getreten, die Treppe zum Wasser hinabgestiegen und nun koppelte er den Nachen los und ruderte sich hinaus in den breiten Silberstreifen, der auf dem Wasser zitterte, wie er es als Knabe unzählige Male gethan hatte.

»Gute Nacht!« sagte Julia leise zu der Freundin und schlüpfte in den Garten. Diese aber achtete nicht darauf; sie winkte mit einem Tuche zum Strome hinüber und rief: »Weiter singen, weiter singen, Herr Doktor! Aber nehmen Sie sich in acht vor den Nixen!«

Und als Julia sich umwandte, da schien ihr das Thereschen selbst eine Nixe zu sein in ihrem schimmernden Blondhaar und dem weißen, duftigen Gewand; aus dem Nachen aber kam keine Antwort, und das Mädchen lächelte selig vor sich hin.

Und wenn alle blondhaarigen Nixen des ganzen Stromes kämen, sie fürchtete sich nicht, sie glaubte und liebte.

In der Nacht nach der Ankunft Fritz Roettgers wurden in dem alten Hause an den Frieder zwei Briefe geschrieben. Tante Riekchens Brief lautete:

 

»Mein Herzensbub'!

»Anbei schicke ich Dir das gewünschte Geld. Es thut mir leid, daß Du so viele Ausgaben hast; es ist ein kostspielig Ding mit dem bunten Rocke, und gar in Berlin. Aber die Zeit dort wird herumgehen, und in Deiner Garnison kannst Du dann wieder einfacher leben, nicht wahr, Frieder? – Ich hatte einen kleinen Streit mit Tante Minna dieses Geldes wegen; sie meint, Du gäbest mehr aus, als Du müßtest. Sie weiß nichts von den Ansprüchen, die an einen Offizier gemacht werden; wir hatten nie einen Militär in der Familie. Ich traue Dir und glaube, daß Du, Deiner alten Tante zuliebe, keine Luxusausgaben machst. Du weißt, wie das Geld im Werte gesunken ist, und weißt auch, daß ich für Deine Schwester mit sorgen muß.

»Glückselig bin ich, daß Du zu Pfingsten kommst, es wird für mich der Sonnenschein der Festtage werden. Fritz ist hier; er sagt, er habe Dich selten oder gar nicht gesehen in Berlin. Ich bitte Dich innig, sei verträglich mit ihm, ihr seid doch jetzt keine Kinder mehr. Behüt Dich Gott, Herzensliebling! Immer Deine Dich wie eine Mutter liebende Tante

Friederike Trautmann.«

 

Und Julia schrieb auch:

»Lieber Frieder! Ich schicke Dir acht Thaler, die ich mir erspart habe. Bitte, bitte, schreibe nun aber Tante nicht so bald wieder um Geld; sie hat, glaube ich, ernstliche Sorgen. Es that mir recht weh, in Deinem heutigen Briefe an mich zu lesen, daß Du gar nicht auskommst. Wärst Du doch, nach Tantes Wunsch, lieber Ingenieur oder Beamter geworden als Offizier. – Aber da ist nun nichts zu ändern. Die Tante sieht recht elend aus. Sag ihr nicht, daß ich Dir Geld schickte, ich habe es mir heimlich verdient! Ich wollte so gern Malstunden nehmen dafür, aber so ist's auch gut verwendet. Ich danke Dir auch für Deinen Glückwunsch und bin wie immer

Deine treue Schwester Julia.«

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Und diese beiden Schreiben brachte in Berlin ein Offiziersbursche seinem Herrn eures Sonntagmorgens gegen zehn Uhr ans Bett, nebst einer Geldanweisung. Das verdrießliche Gesicht des hübschen jungen Lieutenants ward ein wenig heiterer, als er die Goldstücke klimpern hörte, die der Briefträger im Nebenzimmer, einem eleganten, kleinen Salon, auf den Tisch zählte, der noch die Reste eines feinen Abendessens trug.

»Na, Gott sei Dank! Wenig genug ist's freilich!« murmelte er. Die Briefe ließ er vorläufig liegen, sie interessierten ihn beide nicht. Er haßte überhaupt sogenannte Familienbriefe. Die Zärtlichkeiten der alten Tante waren ihm ungemütlich, und seine Schwester – – großer Gott, dieser dicke Brief! Was mochte sie wollen? Er gedachte dieser Schwester immer mit einem Gemisch von Mitleid und Furcht. Mitleid, weil sie eine so freudlose Jugend verlebt hatte, und Furcht, weil sie ihm, wenn sich nicht zufällig ein Mann für sie fand, eines schönen Tages zur Last fallen konnte. Wozu dieses Mädel überhaupt in die Welt kam? So unnütz wie möglich war ihre Existenz von vornherein!

Er erinnerte sich ganz deutlich an den Tag, an dem die Kleine geboren wurde, und daß es an eben diesem Tage noch knapper als gewöhnlich im Vaterhaus zuging. Und jetzt, jetzt war die »Alte« daheim doch auch nur so verdammt geizig, weil eben diese Schwester versorgt sein wollte! Na, zu Pfingsten mußte er also heim, es half nichts, ewig konnte er sich um den Besuch nicht drücken. Uebrigens besaß der Gedanke nichts Allzuschreckliches für ihn, denn ein Pfingsten am Rhein hat seine Reize, und die Weiber konnten doch schließlich nicht verlangen, daß er den ganzen Tag bei ihnen im Garten sitzen sollte. Bis zur Dampferstation waren es vom Hause aus nur wenige hundert Schritte, und wenn man erst da oben auf dem Verdeck stand, dann adieu Langeweile!

So überlegend, verzehrte er sein Frühstück; dann schrieb er an einen Kameraden, daß er die Einladung zu dem fidelen kleinen Souper heut abend nach dem Theater anzunehmen gedenke; beauftragte ferner den Burschen, eine bestimmte Sorte Schokoladebonbons, die Lieblingsnäscherei einer bekannten Dame, sowie einen Strauß rosa Rosen, mit Maiglöckchen vermischt, die Lieblingsblumen einer andern bekannten Dame, zu besorgen, zog sich eine eben vom Schneider gekommene moderne Zivilkleidung an und begab sich in ein vornehmes Restaurant zum Diner, um ebenso vorzüglich als teuer zu speisen.

Tante Riekchen aber schloß am Pfingstheiligabend unter Thränen der Freude ihren »lieben Bub'« in die Arme und schob seine matten Augen und seine blasse Gesichtsfarbe auf die viele Arbeit, die sein Kommando mit sich brachte, und auf die ungesunde Berliner Luft. Sie hatte seine Lieblingsgerichte bereitet und die letzten Flaschen Markobrunner aus dem Keller heraufgeholt, und Julia hatte den Tisch im Garten drunten gedeckt und einen duftenden Pfingstfliederstrauß darauf gestellt.

Sie war so glücklich! Der Bruder hatte sie erstaunt angesehen, als sie ihm entgegenkam mit leicht geröteten Wangen und den seltsamen Augen, die so glänzend und so sammetbraun unter den Wimpern hervorblickten; mit den Purpurlippen, hinter denen die prächtigen Zähne schimmerten. Er hatte nie gewußt, daß sie solche Perlenzähne besaß, er hatte sie aber früher auch nie lächeln sehen, und sie lächelte jetzt, wie glückliche Menschen thun in Erinnerung an etwas Süßes, Schönes, Wundervolles.

»Grüß Gott, Frieder!« Es klang so frisch; er begriff nicht, daß dieses Mädchen die kleine scheue vielgescholtene Mamsell Unnütz sei, die er heimlich gestoßen und gepufft und der er kein gutes Wort gegönnt hatte all sein Lebtag.

Sie trug es ihm jedenfalls nicht nach, sie war wie eine echte treue Schwester für seine Behaglichkeit besorgt – war sie doch so glücklich, und glückliche Menschen können nicht anders als gut sein. Und mit wie wenigem war sie glücklich! Wie arm waren doch eigentlich ihre Freuden! Es glaubt gar keiner, welch ein genügsames Ding eine Mädchenliebe ist. Wenn sie in aller Morgenfrühe aufstand, um die Zimmer zu ordnen, war es so köstlich, über das Treppengeländer zu lauschen, ob er schon durch den hallenden Flur nach dem Garten schritt, zum Rhein hinunter. Es war so schön, ihm ein paar Stunden später im Garten zu begegnen und einen freundlich ernsten Gruß von ihm zu erhalten. Nicht einmal die Hand reichten sie sich, wozu auch? Julia verstand ihn; er war noch ein armer Doktor ohne Praxis, wie hätt' er da um sie werben können? Er hatte ja einmal ganz richtig zu seiner Mutter gesagt, als die beiden in der Laube saßen und sie, die Julia, vorbeiging, um nach den Gemüsebeeten zu sehen: »Du wirst doch wohl einsehen, Mutter, daß ich vor allen Dingen hier erst festen Fuß fassen muß in meinem Beruf. Laß mich vorläufig mit allem andern in Ruh'; es kommt jedes zu seiner Zeit, auch das Heiraten.«

Und nun gar die Tante! In ihrem ganzen Leben war die gestrenge Frau noch nicht so gnädig gegen Mamsell Unnütz gewesen als in diesem herrlichen Frühjahr. Sie rief abends unter dem Fenster nach dem Julchen, damit sie in die Laube komme; und wie flog dann das Mädchen die Treppe hinunter mit ihrem Arbeitskorb. Es war sogar einmal geschehen, daß die Frau Rat dem vielgeplagten Kinde den Berg zu stopfender Strümpfe abgenommen hatte, damit die Jugend nach der Au hinüberrudern konnte, der Doktor, Therese und Julia. Und wie wundervoll war die Fahrt gewesen! Der Doktor hatte gesungen – Thereschen ließ nicht nach, ihn zu bitten – allerhand Trauriges und Uebermütiges durcheinander, und schließlich ein Lied, darin es hieß:

»Wo ein Röslein steht,
Wo ein Vorhang weht.
Wo am Ufer Schiffe liegen,
Wo zwei Augen braun
Uebern Strom hinschau'n,
O, da möcht' ich fliegen, fliegen!«

Und vor ihrem Fenster drüben stand ein Rosenstöckchen, und der leichte Vorhang pflegte lustig hinauszuflattern in die Lenzluft, und waren nicht ihre Augen braun? Sie sann vor sich hin und ließ die Wellen durch ihre Finger gleiten und sah die leuchtenden blauen Mädchenaugen nicht, die den Sänger anblickten, lange und lächelnd.

Thereschen Krautner war eine hübsche und sehr elegante junge Dame. Man merkte den gediegenen Reichtum ihres Vaters an jedem Fältchen ihrer Kleidung. Sie war voll und doch zierlich gewachsen, einen halben Kopf kleiner als Julia, hatte kleine, sehr reizend beschuhte Füße und rosige runde Händchen, die in Handschuhen mit zahllosen Knöpfen steckten. Ihre Toilette fertigte ein »erster« Schneider in Frankfurt; sie besaß ein »Boudoir« mit seidenbezogenen Wänden und den zierlichsten Möbeln, einen Papagei und einen Lieblingshund und schaltete in dem schönen Landhaus ihres Papas als unumschränkte Herrin. Kurz und gut, Therese war ein verwöhntes Kind, deren einziger Kummer darin bestand, daß sich Papa noch gar nicht die Manieren des ehemaligen Maurergesellen abgewöhnen konnte, der vor vierzig Jahren barfuß und mit dem Ränzel auf dem verstaubten Kittel in ein Thüringer Städtchen eingewandert und dort mit der Zeit Meister und als solcher Bauunternehmer geworden war, und zwar mit so großem Glücke, daß ihm die Goldstücke nur so ins Haus regneten. »Das Gold liegt an der Straße, das ist bei mir wahr geworden,« pflegte er zu sagen, »ich hab's dem Nest auch nicht angesehen, als ich einzog dort, daß es sich nachmals zu einem großartigen Badeort auswachsen würde. Und dort ist kein Häuschen und kein Haus, das ich nicht gebaut hätt'.«

Nun hatte er sich in der alten Heimat seinen Ruhesitz hergerichtet in Gestalt einer herrlichen Villa und saß abends in der »Traube« am braunen Stammtisch, an der nämlichen Stelle, wo er als Lehrbub' die gröblichste Ohrfeige seines Meisters bekommen hatte beim Steinezureichen, denn diese Gaststube wurde damals angebaut. Und wo er einst Zeter geschrieen, da ertönte jetzt seine gewichtige Stimme als Stadtrat und Ehrenbürger. Er war sehr mit sich selbst zufrieden, der Herr Krautner, und konnte es ja schließlich auch sein, und daneben war er rund und gemütlich, that gern Gutes und verzog seit dem Tode der Frau die einzige Tochter über die Maßen. Er pflegte auch zu erzählen, daß sein »Reschen« heiraten dürfe, wen sie wolle, und wenn's der Aermste sei – nur keinen Offizier, nimmermehr! »Eher hing' ich das Mädchen auf,« schloß er gewöhnlich.

Das junge Mädchen hatte nun vorläufig gar keine Gelegenheit, sich in zweierlei Tuch zu verlieben, denn in Andersheim gab es nichts Militärisches außer dem alten Steuerrat, der sich Lieutenant a. D. auf seiner Visitenkarte nannte und zu Königs Geburtstag in einer vorsündflutlichen Uniform und einem Helme erschien, der so hoch und spitz war wie ein Kirchturm. Thereschen wurde zwar in Ermangelung dieser Gefahr umworben von Assessoren, Lehrern, Kaufleuten, verhielt sich aber vorderhand sehr zurückhaltend und meinte, es habe durchaus keine Eile mit dem »unter die Haube kommen«, sie wolle erst noch ihre Jugend genießen.

»Und das machst du recht!« pflegte der Papa mit schallendem Lachen zu bekräftigen.

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Nun war der Abend vor Pfingsten ins Land gekommen und unter dem Nußbaum hatte Julia den Tisch gedeckt.

Nun war also der Abend vor Pfingsten ins Land gekommen und unter dem Nußbaum hatte Julia den Tisch gedeckt. Es war ihr in ihrer Glückseligkeit gelungen, die Tanten zusammenzuschmeicheln, so daß nach langen Jahren die Bewohner des Hauses wieder an einem Tische vereinigt saßen. Die jungen Männer waren so viel als möglich auseinandergerückt – sehr gemütlich schien es sich überhaupt vorderhand nicht anzulassen, dies Beisammensein. Der elegante Offizier im hellgrauen Frühjahrszivil, mit tadellos gepflegtem Haupt- und Barthaar und den unglaublich langen Nägeln an den feinen weißen Händen, stach gewaltig ab gegen den breitschulterigen jungen Arzt, der eine nette leichte Hausjoppe trug und den alten Strohhut, den die Frau Rat noch von früheren Ferien her aufgehoben, der Hitze wegen recht weit auf den Hinterkopf geschoben hatte. Der Fritz war so recht der lustige Rheinländer, obgleich diese fröhliche Art, das Leben zu nehmen und zu genießen, nur wie ein Schleier über dem Ernste lag, der doch den Kern seines Charakters ausmachte. Die Abneigung der beiden Männer aber war die alte geblieben.

Das Gespräch kam auf Politik. Die Rätin hörte sich gern darin und prophezeite von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen großen Krieg. »Heuer kommt's, paßt auf, und dann wird's schrecklich!«

Frieder lächelte geringschätzig und drehte den Schnurrbart über eine Bemerkung des Doktors, und ehe man sich's versah, war zwischen den beiden jungen Leuten eine höchst gereizte Unterhaltung im Gange. Der Doktor schwieg endlich und verlangte scherzend noch einmal von dem ausgezeichneten Maifisch, mit dessen Gräten er sich anscheinend so sehr beschäftigen mußte, daß er nicht mehr in der Lage war, zu reden. Dafür nahm die Frau Rat die eben beiseite gelegte Streitaxt auf, und der nervös auf seinem Teller herumstochernde Lieutenant setzte mit ihr das Gefecht fort, nur noch spitziger, denn ihn ärgerte der behaglich essende Doktor, dem die Meinung des alten Schulkameraden außerordentlich gleichgültig schien.

»Ich glaube, meine Gnädige,« schnarrte er eben – er nannte die Rätin, seitdem er Offizier war, mit Vorliebe so – »ich glaube, Gnädige wagen sich da auf ein Gebiet, das so ganz zu beherrschen Sie doch nicht – –«

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»Na! Jetzt schlägt's dreizehn!« rief die geärgerte Frau. »Will mir der Kiekindiewelt etwa sagen, daß ich nicht mitsprechen kann? Deine neugebackene Weisheit imponiert mir noch lange nicht, mein Sohn, und die Geschichte vom Ei, das klüger sein will als die Henne, gilt nicht bei uns – hast's verstanden?«

»Mutter!« rief der Sohn beschwichtigend, als sie noch weiter reden wollte. Aber da verstummte sie auch schon und ihr zornrotes Antlitz lächelte zuckersüß; durch den Weg daher kam nachbarlicher Besuch, der Herr Stadtrat Krautner und hinter ihm sein Töchterchen. Im Nu waren die Gemüter beruhigt unter dem behaglichen Lachen des alten Herrn und dem glockenreinen »Guten Abend!« des hübschen Mädchens. Man räumte die Teller ab und trug den Nachtisch auf. Die Rätin aber hakte das Schlüsselbund vom Gürtel und schickte ihren Sohn in den Weinkeller, damit der Herr Nachbar die Extrasorte, von der sie geredet – »Sie wissen schon, Herr Stadtrat« – proben könne; es sei der Lieblingswein ihres seligen Mannes gewesen.

Julia kam eben mit ein paar Windlichtern die Treppe im Hause herab, als Fritz wieder aus dem Keller emporstieg. Einen Augenblick stockte ihr Fuß; sie sah sich nach ihm um, aber er nickte ihr nur flüchtig zu und öffnete die Thür zur Küche. In dem rötlichen Scheine des Lichtes meinte sie, er sehe verdrießlich aus. Ob er sich geärgert hatte über den Frieder? Es war ihr ein unerträglicher Gedanke. Sie wartete, bis er mit den Flaschen wieder aus der Küche zurückkam.

»Fritz,« forschte sie stockend, »bist du bös auf den Frieder?«

Er sah zerstreut empor und seine Hand berührte leicht ihre Schulter. »Nein, mein lieb Kind!« Dann verschwand er auch schon in der Gartenthür.

Gedankenvoll und enttäuscht ging sie ihm nach. Wenn er doch einen Augenblick für sie übrig gehabt hätte; er war ja freundlich gewesen, aber so – so flüchtig, so zerstreut. Sie kam zum Tische und stellte die Lichter darauf; ihr Stuhl war von Thereschen besetzt. Sie blickte nach dem andern Ende des Tisches, wo vorhin der junge Arzt gesessen – dort hatte sich der Herr Stadtrat niedergelassen. Fritz saß oben neben Thereschen und auf ihrer andern Seite der Frieder. Es dachte niemand daran, ihr einen Stuhl zu holen, sie mußte es selbst thun. Als sie aber zu dem entfernten Gartenplatz kam, von wo sie ihn herbeitragen wollte, setzte sie sich dorthin und blickte zu der Gruppe unter der Kastanie hinüber unverwandt, mit sehnsüchtigen Augen. »Ob er dich nicht vermissen wird?« fragte sie sich, und ihre brennenden Augen hingen an ihm, der den Rauch einer Zigarre in diskreten kleinen Wölkchen vor sich hin blies, ohne sich an dem sehr belebten Gespräch zu beteiligen, das seine Nachbarin mit dem Lieutenant führte.

Er müsse es fühlen, wie sie ihn anschaue, sagte sie sich; aber ihre Blicke schienen die geheimnisvolle Macht nicht zu haben. Das laute Lachen des alten Herrn scholl in regelmäßigen Pausen zu ihr herüber. Dann stand Tante Riekchen auf und ging langsam dem Hause zu. Der Platz neben ihm ward frei, doch Julia rührte sich nicht; sie fühlte sich so müde, sie hätte weinen können. Dann klopfte ihr Herz stürmisch – er erhob sich und kam den Weg unter den Weinlauben daher, just auf ihren Platz zu. Atemlos wartete sie. » Ein Wort nur, ein gutes Wort!« flüsterten ihre Lippen; aber kurz vor ihr wandte er sich um, ohne sie erblickt zu haben, und schritt dem Rheine zu. Da blieb er an der Mauer stehen und sah auf den dunklen Fluß; gegen die Strömung arbeitete sich eben ein Schleppdampfer, dessen Gefolge von Lastkähnen nach der Zahl der hellen Laternchen zu berechnen war. Der Doktor ging nicht wieder zurück an den Tisch; erst als die Rätin ihre Stimme erschallen ließ: »Fritz, Fritz, die Herrschaften wollen heim!« wandte er sich um, und just in der Nähe von Julias Platz trafen sich er und Thereschen Krautner.

»Wo steckten Sie denn?« rief das junge Mädchen.

»Haben Sie mich vermißt?« fragte er leise und bog sich zu ihr hinunter.

Sie schwieg wie verlegen.

»Gute Nacht, Fräulein Therese,« sagte er nur, und ihre Hände ruhten einen Augenblick ineinander; als dann der Lieutenant hinzutrat, zog er förmlich den Hut und wandte sich aufs neue schweigend in die dunklen Gänge.

Und Julia that ihre Pflicht; sie setzte die Teller zusammen und die Gläser und faltete das Tischtuch. Sie hörte, wie die Rätin, die von dem Geleit der Gäste zurückkehrte, ärgerlich nach ihrem Sohn rief.

»Wenn du nicht schon so ein alter Mensch wärst, müßt' ich dich wirklich schelten! Was hast du davonzulaufen? Wahr ist's doch, daß die Soldaten euch Gelehrten über sind in so Sachen!«

»In was für Sachen?«

»Na, verstelle du dich und noch einer!« sprach sie leiser. »Uebrigens brauchst du keine Bang' zu haben, so ein –«

Julia wandte sich weg, so hörte sie die schmeichelhafte Bezeichnung nicht mehr, welche Frau Rat ihrem Bruder spendete.

Und sie schlief doch ein, die kleine Mamsell Unnütz, trotzdem ihr das Herz schwer war von einem bangen Gefühl. Aber sie holte ihr altes Beruhigungsmittel hervor – sie drückte das dunkle Köpfchen in das Kissen und durchlebte mit geschlossenen Augen noch einmal die seligen Minuten dort oben in ihrem Dachkämmerchen. Ach, Fritz war ja sicher nur in den Garten hineingewandert, weil sie nicht mehr am Tische saß – sicher – ganz bestimmt! Und mit dieser seligen Ueberzeugung schlief sie den tiefen traumlosen Schlummer arbeitsmüder junger Menschen.

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