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Walpurgs Vater, der Sohn armer Landleute, aber ein heller Kopf und redlicher Charakter, hatte früh den schlichten Bauernkittel gegen den Soldatenrock vertauschen müssen. Unter Ferdinand Marias friedlicher Regierung brachte er es langsam, langsam zum Korporal. Doch unter dem Thronfolger Max Emanuel wurden die Aussichten für einen Soldaten alsbald besser. Als die Türken vor Wien standen, zitterte allen friedlichen Bürgern das Herz, aber nicht dem ehrgeizigen, feurigen Fürsten. Da galt es eine ritterliche Tat, einen neuen, glorreichen Kreuzzug! Max Emanuel marschierte mit seinen Truppen dem bedrängten Kaiser zu Hilfe.

Unser Gottlieb half tapfer mit beim Entsatz Wiens; räumte bei Mohaz unter den Heiden auf und erstieg dicht hinter seinem Kurfürsten die Schanzen Belgrads. Aber dort verließ ihn sein Glück.

Eines Tages stand er urplötzlich vor seiner Herzliebsten in München, einer blonden, stillen Näherin, mit der er sich vor seinem Abmarsch verlobt hatte, stand vor ihr blaß und niedergeschlagen, mit einer Ehrenmünze auf der Brust, aber einem Arm weniger. Seinen treuen Schatz, der ihm mit einem Freudenschrei an den Hals stürzen wollte, hielt er mit dem geretteten Arm zurück: »Es hat nicht sein wollen, Kreszenz!« sprach er traurig. »Ich hatte alle Hoffnungen zum Hauptmann und höher hinauf, aber ein krummer Säbel machte mich zum Krüppel. Als solcher geb' ich dir dein Treuwort zurück, und was das bißl Silber betrifft, so ich dir aufzuheben gegeben, mach damit, was du willst. Für meine verschändete Person hab' ich genug an dem Gnadengeld, das ich jetzt als invalider Faullenzer verzehren muß!«

Was ihm die blasse Kreszenz darauf erwidert hat?!

Zwei Jahre später saß der ehrliche Gottlieb allabendlich vor seiner Haustür, von Nachbarsleuten und Kindern umringt, die seinen Historien vom Kurfürsten und vom grausamen Türkenkrieg lauschten. Auf den Knien hielt er sein und seiner Kreszenz Kind, die kleine, blonde Walpurg. Das Haus, dessen dritten Stock sie bewohnten, stand am Anger, einem stillen Platz unfern der Stadtmauer. Ein Bach schoß unter der Wölbung eines verwitterten Turmes hervor und trieb die Räder einer Schleifmühle, die noch im Schatten des Turmes stand. Stege führten über die grüne Flut, links und rechts wucherte reichlich Gras, auf dem sich die Kinder der Nachbarschaft tummelten.

In einem Stübchen voll Sonnenschein und Behaglichkeit wuchs Walpurg auf. Tisch und Boden waren rein und weiß wie die Wände. Ein kleiner Garten von Rosen und Resedastöckchen hing vorm Fenster, an dem die kleine, feine Frau Kreszenz saß und nähte, während sich der Vater an einer alten Chronik abmühte.

Wochen, Jahre vergingen wie ein Tag. Mutter Kreszenz wurde trank und starb. Walpurg weinte erst mit dem Vater, bald aber spielte sie wieder lustig wie zuvor mit den Nachbarkindern auf dem grünen Rasen, sogar unter das kleine Soldatenheer ließ sie sich anwerben, das die Buben, beseelt von dem kriegerischen Geist der Zeit, unter sich errichtet hatten. Ihr Vater erzählte ihr allabendlich von der weiten großen Welt, die sich außerhalb Münchens auftut, von Max Emanuel und seinen Siegen über die Türken. Dazwischen fielen feierliche Aufzüge in München und fröhliche Feste, oder Durchmärsche ausländischer Truppen. Als der Kurfürst 1701 nach langer Abwesenheit von Brüssel in sein Bayerland zurückkehrte und seinen festlichen Einzug in München hielt, stand die kleine Walpurg mit dem Vater auf der Freitreppe des Rathauses. Gottlieb hatte zur Feier des Tages den alten Soldatenrock angelegt und seinen ergrauten Schnurrbart schwarz aufgewichst.

Der Zug kam um die Mittagszeit langsam das Tal herauf. Voran rauschende Musik und Fahnenträger, dann, mit einem Gefolge fremder Gäste, der ritterliche Herr Max Emanuel selbst. Im blauen, mit Silber gestickten Rock ritt er auf weißem Roß durch die Volksmenge dahin, die dichtgedrängt in den Straßen stand. Aus allen Fenstern der geschmückten Häuser wehten Tücher. Walpurg auf dem Arm des Vaters rief aus Leibeskräften: »Hoch Max Emanuel!« und winkte mit den Händchen. Des Fürsten Bild, die schlanke Gestalt mit dem schmalen seinen Gesicht, um das sich lange, schwarze Locken ringelten, prägte sich für alle Zeit in des Mädchens Gedächtnis.

Nun folgte Fest auf Fest in der Hauptstadt, denn Max Emanuel führte seine zweite Gemahlin, die schöne polnische Königstochter Theresia, heim. Die Stadt schien ein glänzender Feiersaal, voll Musik und rauschender Freude, wozu Gäste von nahe und ferne kamen.

Auch bei Gottlieb stellte sich ein Vetter vom Lande ein, der Ingolstädter Magistrats-Aktuarius Meindl, ein rundlicher junger Mann voll Beweglichkeit und Lebenslust. Mit ihm war ein Schulfreund gekommen, Rechtskandidat Plinganser. Der war hoch und schlank, herzensgut wie Meindl, aber ernster.

Während ihres Aufenthaltes in der Hauptstadt kamen sie ab und zu zum alten Gottlieb und hatten ihre Freude an dem raschen, entschlossenen Wesen der neunjährigen Walpurg, welche jetzt bei den benachbarten Klosterschwestern in die Schule ging, allerwegs aber ein fröhliches, liebenswürdiges Kind war, den Vetter und Freund auf Flur und Dachboden umherjagte und beide duzte.

Ihr Übermut wurde freilich durch das Unglück der folgenden Jahre gedämpft, das damit begann, daß der Kurfürst der spanischen Erbfolge wegen rüstete und in den schwäbischen Kreis einfiel, um den Bruch des Schutz- und Trutzbündnisses zu rächen.

Gottlieb trug zwar nun täglich seinen Soldatenrock und stimmte zu Hause die alten Kriegslieder an, aber über München lag eine schwüle, drückende Luft. Die Bürger gingen ernst und still ihren Geschäften nach, die Trinkstuben standen leer, und zuletzt gab es auch keine fröhlichen Kinder mehr.

So war der Spätsommer des Jahres 1704 herangekommen. An einem schwülen Augustabend zog ein wüster Lärm auf dem Anger Walpurg ans Fenster. Allerlei Volk umringte einen bayrischen Dragoner, der sich auf seinem abgetriebenen, stolpernden Gaul mühsam im Sattel hielt. Barhäuptig, hatte er einen blutigen Lappen um die Stirn gebunden. Da war irgendwo heiß gerungen worden, doch der Mann brachte sicherlich keine Siegesbotschaft. Noch stand Walpurg in Schrecken und Zweifel, als ihr Vater mit verstörter Miene in die Stube trat.

»Verloren! wir haben bei Höchstädt verloren! Der Kurfürst auf der Flucht, vielleicht schon gefangen!«

In der ersten Aufregung wollte Gottlieb »seinem lieben Kurfürsten nach«. Aber Walpurg hing sich schreiend an seinen Hals. Das brachte ihn zur Besinnung. Wohin soll er sich wenden, wie zu seinem Heer gelangen, was kann er ihm nützen?

Er zog Walpurg auf seine Knie, und sie weinten zusammen und beteten für den flüchtigen Fürsten und sein armes Land.

Die Nacht war schrecklich. Haufenweise kamen Fußsoldaten und Reiter in greulichem Durcheinander, kam flüchtendes Landvolk in die Stadt. Alle Fenster waren hell, aber in jedem Hause nur Trauer und Jammer. Denn die Geschlagenen waren die Herolde des siegreichen Heeres, das langsam, aber unaufhaltsam wie ein schweres Gewitter vorrückte. Ein gnadenloser Feind!

Gottlieb erwartete stündlich einen Verwandten, der mit seinem jungen Weib und einem Knaben in der Talkirchener Gegend als reicher Hofbauer hauste. Allein der Seebacher Lorenz und die Seinen kamen nicht.

»Der Lorenz ist stark wie ein Bär und gutmütig wie ein Lampel,« sagte Gottlieb, »aber seine Frau hat den richtigen Bauernstolz. Die sucht auch in der Not keine arme Verwandtschaft auf.«

Das war ein trauriger Winter! Man hörte von Unterhandlungen, aber sie zerschlugen sich und endeten zum Nachteil Bayerns. Die französischen und bayrischen Truppen wurden aufgelöst, dreifache Steuern drückten das Volk.

Einmal kam der Hofbesitzer Seebacher mit Weib und Kind doch in die Stadt und besuchte den Invaliden.

Während die Eltern über die Landesnot jammerten, traten die Kinder auf den Flur, wo Walpurg dem Vetter die Aussicht auf den Anger zeigte. In ihren Augen war der fahlgrüne Bach und gelbgrüne Rasen ein wundervolles Landschaftsbild, doch den Bauernjungen fesselte weit mehr die Mühle. Über die Dächer zogen flüchtige Wolken. Auch darauf wurde der kleine Wilde aufmerksam gemacht.

»Dos ha'm mir dahoam a.«

»Aber schau nur, die einen sind ganz schwarz, die andern grau und dort lauft ein weißes Lamperl ... Was kommt aus den Wolken?«

»Das Christkindel.«

Walpurg war überrascht, dann sagte sie: »Aber nur zu Weihnacht. – Was noch sonst?«

»I weiß net.«

»Der Regen.«

»Ja, aber auch net alle Tag'! – Was ist dös: Es hat ein weißes Kleid – Und steckt in rote Schuh', – Man treibt's auch auf die Weid' – Errat's, sonst bist es du!«

»Ein Gockel.«

»Na, a Gans,« sagte Max und grinste.

Da hatte er eine Backpfeife und aus war es mit der Freundschaft zwischen Dorf und Stadt. Auf der Heimfahrt beklagte sich Max bei der Mutter über den boshaften Stadtfratzen, und Walpurg erklärte ihrem Vater, der Seebacherbub sei ein grober Bauernlackel. Sie fand den Umgang mit Vetter Meindl und Herrn Plinganser unendlich angenehmer.

Im Mai erschienen unerwartet österreichische Truppen unter Führung des Grafen Gronsfeld vor München. Der Übermacht mußte man nach kurzem Verhandeln die Tore öffnen. Walpurg sah die feindlichen Regimenter einziehen. So jung sie war, begriff sie den fürchterlichen Ernst dieses militärischen Schauspiels und kam niedergeschlagen heim. Doch zu ihrer Verwunderung war der Vater bei guter Laune. Er faltete vor ihren Augen einen Brief zusammen und steckte ihn in die Brusttasche, hörte Walpurgs Bericht gelassen an und sagte: »Abwarten!«

Wenige Tage nachher lief das Gerücht von einer Erhebung des Landvolkes durch München, und Gottlieb brachte einen gedruckten Aufruf nach Haufe, der für Kurfürst und Vaterland zu den Waffen rief. Der Rechtskandidat Plinganser und der Aktuarius Meindl waren als Verfasser unterzeichnet, was Vater und Kind mit Stolz erfüllte.

»Ja, hinter dem Schalk steckt was! und stille Wasser sind tief!« ...

Damals verwünschte Gottlieb mehr als je den Verlust seines rechten Armes, denn die Aufständischen bedurften gar sehr geschulter und erfahrener Männer.

Die Münchener Bürger waren von Furcht und Hoffnung bewegt. In Nacht und Heimlichkeit wurden Sitzungen gehalten und Waffen verteilt. Die Aufregung wuchs, als der Bauernaufstand anfänglich über Erwarten glückliche Erfolge hatte.

Das Bewußtsein, mit den Trägern einer so hohen und folgenschweren Sache in näherem Verhältnis zu stehen, verlieh der eigenen Persönlichkeit größeren Wert. Walpurg, das heitere Kind, wurde ernst; sie erwartete die Nachrichten von draußen mit der gleichen Ungeduld, verfolgte die kriegerischen Vorgänge mit dem gleichen Eifer wie der Alte. An den langen Winterabenden saßen Vater und Tochter beim Talglicht einander gegenüber, und Walpurg, die Ellbogen aufgestützt, horchte mit gespannter Miene auf Gottliebs abenteuerliche Pläne zur Vertreibung der Österreicher, Pläne, die der Invalide Tag für Tag ausbrütete und abends Walpurg zum besten gab. Die mandelförmigen Augen des Mädchens wurden groß und leuchteten, und tollkühne Wünsche, beim Befreiungswerk mitzutun und den Landesherrn womöglich eigenhändig in seine Residenz zurückzuführen, wurden in ihr wach. Der Geschichtsunterricht der Klosterfrauen war mäßig, Walpurg wußte nichts von der Jungfrau von Orleans. Vielleicht würde sie eine zweite Jeanne d'Arc geworden sein, wenn sie nicht bei aller Kümmernis einen so überaus gesunden Schlaf gehabt und wenn sie ihre Träume im Wald und auf freiem Felde ausgesponnen hätte. Doch da mußte sie mitten in der schönsten Phantasie das Licht putzen, während der Vater eine Prise nahm oder einen Zug aus dem Bierkrug tat.

Und ein Wunder wie das Mädchen von Orleans wäre Bayern so notwendig gewesen. Denn der Feind führte ein grausames Regiment im Lande. Alle Gefängnisse waren überfüllt. Wer wider den Stachel leckte, wer den Gewalthabern gefährlich schien, wurde eingekerkert. Ward einer überführt, mit den Aufständischen in Verbindung zu stehen, wurde er gehängt. In München läutete das Armesünderglöckchen Tag für Tag. Leider gab es Verräter unter den Landsleuten. Die Kaiserlichen wurden über die Bewegungen und Pläne der Patrioten genau unterrichtet, und so erfuhren sie auch, daß Plinganser und die Seinen in der Christnacht den Entsatz Münchens wagen wollten, und ein Aufstand in der Stadt die stürmenden Bauern unterstützen sollte. Der österreichische Statthalter verfügte eine allgemeine Haussuchung, alle Waffen mußten ausgeliefert werden, und viele angesehene Bürger wurden verhaftet. Niemand durfte mehr aus den Toren, kein Brief konnte die Braven warnen, die, ein paar tausend Mann stark, schlecht bewaffnet, aber voll Zuversicht gen München zogen.

Als nun der Weihnachtsabend dunkelte, schienen an allen Ecken und Enden Soldaten aus der Erde zu wachsen. Auch über den Anger marschierte mit unheimlicher Stille ein Regiment nach dem Sendlinger Tor, durch das die Vaterländischen einbrechen wollten. Die ratlosen Münchener aber eilten um Mitternacht in die Frauenkirche, um in der verhängnisvollen Stunde für das unglückliche Land und seine Verteidiger zu beten. Im endlosen Zug der Kirchgänger schritten auch Gottlieb und Walpurg.

Schön leuchteten die farbigen Fenster aus dem dunklen Gemäuer, festlich waren drinnen alle Altäre beleuchtet. Der Dom konnte die Gemeinde nicht fassen, auch auf dem verschneiten Kirchhof stand Kopf an Kopf das Volk. Kurz vor Mitternacht wurden die Straßen und Gassen, die zum Kirchplatz führten, von Soldaten besetzt, mit Geschützen verschanzt.

Es war zwischen den Verbündeten verabredet worden, daß das Weihnachtsgeläut der Bennoglocke dem Landsturm draußen und den Genossen drinnen das Zeichen zum Angriffe gebe. Jeder Münchener wußte das. Als daher der Priester mit zitternder Stimme das Tedeum anhob und die Glocke dröhnend einfiel, kam die Verzweiflung der Gemeinde mit elementarer Gewalt zum Ausbruch. Wie eine Vision Dantes von düsterer Großartigkeit waren diese gewaltigen Gewölbe mit den flackernden Lichtern, glitzernden Altären und bleichen Pfeilern, die sich in Dunkelheit verloren, und dieses tausendköpfige jammernde und schluchzende Volk. Die einen streckten laut betend die Arme zum Kreuz, zur Madonna, zu Heiligen; andere bargen ihr Antlitz in die Hände. Und dazwischen klang zuweilen von oben ein wimmernder Orgelton oder ein Halleluja der Chorsänger, die sich in Musik betäubten.

Ein dumpfer Donner verkündete den Beginn der Katastrophe, den blutigen Empfang der Stürmer. Eine lange Pause, dann wieder Kanonendonner! Da war keiner in der Kirche, der sich nicht den Gang der Dinge am Tor hätte vorstellen können. Geschulte Truppen in Überzahl, Fußsoldaten, Reiterei und schweres Geschütz gegen eine Schar von Bauern und Studenten, die nur mit Sensen und Säbeln, im besten Fall mit unhandlichen Hakenbüchsen bewaffnet sind. Heldenmütig sind die Bayern alle, doch was vermögen sie gegen Kanonen! In die Lücken, welche die Geschosse reißen, werden Reiter- und Infanteriemassen geworfen. Ein Dutzend Palasche, Handschars und Bajonette gegen eine Sense! Die Pferde stampfen auf den verstümmelten Körpern der Gefallenen. Und wenn auch die Braven dem Ansturm widerstehen, schmettern die Rikoschettschüsse der Kanonen und die Granaten der Haubitzen neue Reihen nieder.

Allmählich verhallte das Schlachtengewitter in der Ferne. Es war schrecklich klar: die Freunde sind geschlagen, verfolgt, verloren. Frauen wurden ohnmächtig, Männer weinten wie Kinder, Greise verwünschten ihr langes Leben. Christnacht, Mordnacht!

Jener Kirchgang und die Kunde von der Metzelei bei Sendling, der auch der starke Lorenz, der Seebacher Bauer, zum Opfer fiel, brachen den Lebensmut des Invaliden. Er gab die Hoffnung auf die irdische Gerechtigkeit auf und wünschte sich den Tod. Nur die Zukunft Walpurgs machte ihm Sorge.

Im Mai wanderte der Invalide mit seiner Tochter, die für den Seebacher Lorenz in Trauer ging, nach dem Isarwinkel. Früh traten sie an. Auf dem Sendlinger Kirchhof, wo in der verhängnisvollen Christnacht tausend Getreue Mann für Mann im Kampf mit der Übermacht gefallen waren, blinkten die Kreuze im Morgenlicht. Nur auf dem Massengrab der Braven stand kein Kreuz, keine Gedenktafel. Doch in den Wintertagen hatte ihm nie ein Kreuz, von Immergrün gefehlt, und heute lag ein Büschel Schneeglöckchen auf dem Rasen. Vater und Kind knieten an dem Heldengrabe nieder. Am Heldengrab. Für ihren angestammten Fürsten und das Recht seiner Kinder, für die Unabhängigkeit ihres Heimatlandes haben jene schlichten Landmänner mit der gleichen Tapferkeit und Todesverachtung gekämpft, wie ein Jahrhundert später die Tiroler, aber nicht mit dem gleichen Erfolg, und darum ist die Welt vom Ruhme des Andreas Hofer und der Seinen voll, während die Märtyrer von Sendling nur im Gedächtnis ihrer Stammgenossen weiterleben. Auch in Weltgeschichten wird nicht immer mit gleichem Maß gemessen.

Walpurg vergaß allen Kummer, als sie auf der Höhe ins dampfende, wald- und felderreiche Tal weithin bis zu den bayrischen Alpen sah. Der Tau funkelte auf Laub und Gräsern, die Vögel sangen, die Luft roch nach Baumblüten und Waldmeister. Eine neue Welt tat sich vor Walpurg auf.

»Was ist die Tant' glücklich!« rief sie, »Hier möcht' ich wohnen! München gefallt mir nicht mehr.« Der Vater sah sie wehmütig an.

Hinter Talkirchen führte der Weg bald zwischen Wald, bald zwischen Feldern zum Hof. Bisher hatte das Paar den Blick auf die Isar, die, von Frühlingswassern geschwellt, hoch und reißend ging. Jetzt verbarg ihnen das hohe Ufer den Fluß.

Auf dem Seebacher Hof wurden sie über Erwarten freundlich empfangen. Das herbe Wesen Apollonias war durch die Trauer um den Hausherrn gemildert. Als der Invalide schüchtern mit dem Zweck seines Besuches, mit der Bitte herausrückte, daß Walpurg nach seinem Tode bei Frau Apollonia ein Heim finde, erklärte diese feierlich, daß sie schon von heute an dem Kinde Mutter sein, Walpurg nicht mehr fortlassen wolle. Ein Töchterchen im Alter Walpurgs war ihr gestorben. Da sei eine reiche Ausstattung da. Die Habseligkeiten Walpurgs könne Gottlieb bei seinem nächsten Besuche mitbringen. Der Invalide bat der Bäuerin im Innern seine harten Urteile ab. Sie erschien ihm ein Engel voll Güte.

So uneigennützig indes war die Bereitwilligkeit der Bäuerin nicht. Zur Strafe für die Bayerntreue ihres Mannes hatte man ihren Max unter die kaiserlichen Rekruten stecken wollen. Um ihn davon zu befreien, opferte Apollonia ihr halbes Hab und Gut. Von ihrem vielköpfigen Gesinde behielt sie nur den Oberknecht Franz und den blöden Sepp. Dieser war mit den Aufständischen als Trommler gen München gezogen. Er blieb beim Todeskampf auf dem Sendlinger Kirchhof seinem Brotherrn Seebacher treu zur Seite und warf sich voll Verzweiflung über den Gefallenen. Die Arbeiter, welche unter Aufsicht der Kaiserlichen die Opfer begruben, zogen Sepp halbtot unter einem Leichenhaufen hervor. Er erholte sich, hatte aber seinen ohnehin nicht starken Verstand eingebüßt. Man ließ den armen Narren laufen. Er lief wie ein treuer Hund auf seinen Hof zurück. Apollonia behielt ihn, vielleicht mehr aus abergläubischer Furcht, als aus Mitleid. Schon jetzt im Winter vermißte sie schwer alle weibliche Hilfe. Das gesunde kräftige Mädel, die Walpurg, kam ihr also höchst erwünscht.

Max, der nicht nur gewachsen, sondern durch die Ereignisse auch geistig gereift war, hatte nicht die Ohrfeige, aber seinen Groll vergessen. Er behandelte die Base respektvoll wie ein Fräulein, zeigte ihr das ganze Anwesen, stellte ihr Kühe und Kälber und das letzte Paar Gäule vor und führte sie im Wald zu den Plätzen, wo Drosseln, Rotkehlchen und Grasmücken Jahr für Jahr ihr Nest bauten. Walpurg fand alles herrlich. Sie wollte nur noch auf einem Bauernhof leben und sterben. Beim Abschied vom Vater abends sank ihr freilich der Mut. Am liebsten würde sie mit ihm nach dem Anger zurückgekehrt sein, aber der Alte blieb fest, zwang sich zur Lustigkeit und hatte mit seinem Trost ja auch recht, daß die Flößer, die Walpurg morgens die Isar hinabfahren sehe, schon mittags beim Bögnerwirt in München ihr Bier tränken.

So kam Walpurg auf den Seebacher Hof. An Prüfungen und Kränkungen fehlte es in der Folge nicht, denn Frau Loni ward ihr niemals eine Mutter; sie konnte dem armen Soldatenkind die Verwandtschaft mit der Seebacher Sippe nicht verzeihen. Doch hatte Walpurg ebensowenig zum Kopfhängen, wie zu müßiger Lustbarkeit Zeit. Sie mußte hart arbeiten. Und die Arbeit war gesund. Mit zwanzig Jahren war Walpurg ein schönes, bei aller Schlankheit kräftiges Mädchen, voll natürlicher Anmut in Haltung und Bewegung und immer heiter.

Der junge Max hatte für die Vorzüge seiner Base hellere Augen als die Mutter.



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