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Noch während Carlos' sterbliche Überreste in der Villa standen, warf Ange einen Blick in die zurückgelassenen Blätter. Sie las den Inhalt in der zweiten beginnenden Nacht, und die Gespenster des Entsetzens drangen auf sie ein.

Sie zerknitterte die Schriftstücke in ihrer Hand, sprang empor und rief nach Tibet. Ernst, bleich, ahnend, was vorgefallen, erschien der Mann und blieb wie angewurzelt an der Thür stehen.

»Tibet! Tibet!« schrie Ange, blaß, abgehärmt und kaum wiederzuerkennen durch die Wirkungen ihres maßlosen Schmerzes. »Das alles wußten Sie seit langen Jahren und Sie schwiegen? Dem allen waren Sie ein Helfer und kannten und liebten doch meine Kinder? O Mensch, sprechen Sie, damit ich wenigstens einen Grund finde, Ihnen zu verzeihen! Nicht verloren durch Ungemach, alles was wir besaßen – nein, durch Spiel – durch Spiel! Man sitzt über Menschen zu Gericht, tötet sie, wenn sie, von der Leidenschaft fortgerissen, einen andern morden! – Ist Leidenschaft denn Vernunft, und kann man richten, wo die Vernunft fehlte? Aber wie ahndet ein Gott ein so furchtbares Verbrechen? – Wie er es ahndet? An dem Glück Lebendiger, indem er die Unschuldigen ins Verderben zieht! Kinder, reine, arglose Geschöpfe müssen dafür büßen! – Was hier geschehen, sucht seinesgleichen; Ich las wohl Schreckliches, wie Menschen sich gegen Menschen versündigten; ich hörte von Mord, Gift, Verrat, Folter. Ist eine solche Handlungsweise nicht herzloser, unmenschlicher? Ein Familienvater, der weiß, daß ihn Gott mit zehrender Krankheit geschlagen, spielt – spielt auch dann noch ohne Anlaß, ohne Not, vergreift sich an fremdem Eigentum und wagt das letzte um eines Vorteils willen, der ihn um keinen Schatten glücklicher machen konnte. Zuletzt giebt er sich den Tod – ein Selbstmörder! – Ein Selbstmörder? – O leise, leise, daß es niemand hört! Verbrennen wir diese Schande! Rasch, Tibet! – Und doch, nein! Es ist ja von seiner Hand, das letzte von ihm, welcher der Vater meiner Kinder war, den ich so unsagbar liebte, der litt, in Schmerzen sich wand! – Nein, nein, vergessen Sie, was ich sagte! Ich sprach irre. Mit meinem Herzen hatte es nichts zu thun. Ich weiß, wie er gelitten hat. Kein Mensch starb unter solchen Qualen, keinen Menschen gab es, den der Tod bei Lebzeiten schon so marterte! – Aber was soll nun werden? Hier, hier steht's. Ein rätselhafter Satz: ›Und dennoch ist für Deine Zukunft gesorgt, Ange. Ich glaube es. Dieser Glaube, diese Hoffnung erleichtert mir den Tod. Ich darf nicht reden. Ein Schwur verbietet es. Frage Tibet, ihn bindet kein Gelöbnis.‹ – Nun, so reden Sie, Tibet! Was ist's? Um meiner armen Kinder willen flehe ich Sie an! Sprechen Sie! Ach! ach!«

Ange sank in einen Stuhl neben dem Tische nieder, auf dem Carlos' furchtbares Vermächtnis lag, und weinte so herzerbarmend, daß dem Manne, der das alles stumm angehört hatte, bei diesem Jammer das Herz zerschmolz.

Als Tibet immer noch nicht antwortete, schoß Ange empor:

»Sprechen Sie!« rief sie. »Ich fordere es bei dem Andenken des Unglücklichen! Ich fordere es für die Unmündigen! Ich erbitte es – um meinetwillen –«

Ihre Stimme versagte.

»O, beruhigen Sie sich, Frau Gräfin!« zitterte es aus Tibets Munde. »Ich will sprechen, da Sie es verlangen, und ich schwöre Ihnen bei dem Gott, an den ich glaube, daß ich unschuldig bin! Ich habe in all den Jahren den Grafen angefleht, von dem unseligen Spiel zu lassen. Ich habe ihm sogar in dem Gedanken an Sie und die Kinder einmal einen Gewinn verheimlicht, bis die Not –« – er stockte, und Ange sah ihn fragend und furchtsam an – »bis die Not mich zwang. Wir hatten nichts mehr zum Leben. Mit diesem Betrage bestritt ich im letzten halben Jahre die Ausgaben bis, bis –«

Ange unterbrach ihn nicht; sie saß wie erstarrt.

»Ein Eid band mir die Zunge. Ich verdanke ja alles dem Herrn Grafen. Ich durfte nicht reden und litt mehr darunter, als Worte zu beschreiben vermögen, Frau Gräfin; glauben Sie mir! O, vernichten Sie mich nicht ganz, indem Sie mir Ihr Wohlwollen entziehen!«

»Gut, gut! Weiter!« drängte Ange leichenblaß und in steigender Erregung. »Und das Geheimnis? Ich will alles wissen. Auch das Schrecklichste kann mich nicht mehr erschüttern, und ist es ein Trost, eine Erleichterung – nun, um so besser.«

Noch zögerte Tibet; die Zunge war ihm wie gelähmt. Seine Knie schlotterten. Er wußte, was er hervorrief. Er hörte schon den Schrei der Empörung von ihren Lippen.

»Mensch,« rief Ange und ballte die kleinen Hände in furchtbarer Erregung, »machen Sie nun ein Ende! Ich bin ein Weib, zarter, schwacher geartet, auch nicht vertraut mit Hinterlist und Lügen –«

»O, Frau Gräfin!« ächzte Tibet bei diesen Worten. Eine fahle Blässe flog über sein Gesicht.

Sie begriff, wie tief sie ihn verwundet. Sie sah es und streckte ihm die Hand entgegen. Sie wußte nicht mehr, was sie sprach. Sie bat es ihm ab, und ein Schimmer dankbarer Freude flog über seine Züge.

»Nun denn –« sagte Tibet kurz und ohne Betonung, »wir leben bereits seit Ausbruch des Krieges von der Güte des Herrn von Teut. Ich habe monatlich tausend Mark, später fünfzehnhundert Mark bei einem hiesigen Bankhaus für unseren Unterhalt erhoben.«

Ja, nun schrie allerdings die Frau auf, daß die Gegenstände umher zu erbeben schienen. Es hallte durch das ganze Haus, drang in den kleinsten Raum.

»Carlos! Carlos!« rang es sich aus Anges Brust. Er mußte in seinem Totenschrein aufwachen bei diesem Schrei, denn er umfaßte eine Welt von Empörung, Schmerz und Scham. Derselbe Mann, der Teut durch Eifersucht verwundet, durch Mißtrauen gekränkt, noch jüngst durch hochmütige Zurückweisung von Geschenken verletzt hatte, nahm Wohlthaten in solchem Umfange und verwies im Sterben, im Selbstmord auf die Hochherzigkeit dieses Freundes.

Für Augenblicke war es totenstill in dem Zimmer. Ange brach zusammen, und Tibet stand wie eine Bildsäule. Endlich erhob sie den Blick und winkte ihm, das Gemach zu verlassen.

Bevor Anges Gatte draußen auf dem Kirchhof neben dem kleinen Carlitos bestattet wurde, trat Ange noch einmal an sein Totenlager. Die Vorhänge des nach dem Garten gehenden Zimmers waren herabgelassen, und eine erstickende Luft benahm ihr fast den Atem.

Nun sah sie ihn zum letztenmal: in einer Stunde sollte der Sarg geschlossen werden. Er glich kaum einem Abgeschiedenen. Ruhe lag auf seinen Zügen, und um die Mundwinkel spielte jetzt im Tode jenes milde Lächeln, das Ange für so manchen ernsten Blick und so manche mürrische Miene während seiner Lebenszeit entschädigt hatte.

»Vergieb, Carlos!« flüsterte sie und berührte mit ihrer Hand die weiße Stirn des Toten. Und in ihren Gedanken fuhr sie, das Auge auf ihn gerichtet, fort: »Im ersten Schmerz bäumte ich mich gegen Dich auf. Ich saß über Dir zu Gericht und vergaß, daß ich allein an allem schuld bin. In den Blättern, die Du mir hinterlassen hast, steht auf jeder Seite, wie sehr Du mich liebtest und wie Deine Gedanken sich immer damit beschäftigten, daß ich nichts entbehren möge von dem, womit Du mich seit unserer Ehe umgeben hattest. Ja, ja, mein Geliebter, Du wolltest unseren Besitz vermehren – nicht aus eitler Gewinnsucht, nein, für mich, damit ich ein Wohlleben nicht einschränken brauchte, in dem Du mich allein glücklich wähntest. Du irrtest, Carlos! Ich nahm alles, weil ich es fand, weil Du mir nie einen Zwang, eine Beschränkung auferlegtest. Ich wäre nicht minder glücklich gewesen in bescheidenen Verhältnissen, denn Deine Liebe, der Besitz unserer Kinder war mein Glück. Ja, vergieb mir, daß ich nicht selbst erkannte, wie thöricht mein Leben war, daß ich nicht aus den mich umgebenden Erscheinungen Vergleiche zog und eine Lebensweise änderte, die schon die tausendfältige Not anderer verbietet. Aber, Carlos, begehrte ich auch für meine Person viel, Du hast mir verziehen, weil ich es nicht besser verstand. Hier, hier schwöre ich Dir in dieser Stunde, mein Carlos, daß ich denen, die Gott mir erhalten hat, eine treue, sorgsame Mutter sein will und – vermag ich es – sie erziehen werde zu braven, tüchtigen, einfachen Menschen. O, wie graut mir heute vor dem Reichtum. Alles, was mich umgiebt, ekelt mich an. Es sind die Bilder des Scheins, der Lüge, der Überhebung.«

Ange sank schluchzend an dem Sarge nieder. Jetzt kamen ihr wieder die Gedanken, die sie bald nach ihres Gatten Tode beherrscht hatten: Was ward aus ihren unmündigen Kindern? Es war begreiflich, daß ein so seelenvolles Wesen wie Ange Clairefort mitten im Schmerz Betrachtungen über ihre Zukunft und die Handlungsweise ihres Mannes angestellt hatte, weil ihr Denken und Fühlen zu eng mit ihren Kindern verwachsen war. So war auch ihre Empörung, so waren auch die Ausbrüche ihrer Verzweiflung nichts anderes als ein Ausfluß ihrer Liebe, und nur zu bald wichen diese Erregungen einem sanfteren Schmerz, in welchem sie alle Schuld von dem Toten abzuwälzen suchte.

Es wäre unnatürlich gewesen, wenn sich Anges Gedanken nicht auch zu Teut gewendet hätten, wenn nicht die Hoffnung in ihr emporgestiegen wäre, er werde sie nicht verlassen, jetzt, wo die Sorge sich an sie heranwälzte.

Aber in diese Hoffnung mischten sich Angst und Scham. Jetzt, vielleicht in diesem Augenblick, war Teut schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie zitterte bei diesem Gedanken, aber sie schüttelte sich auch in seelischer Qual, wenn sie überdachte, daß sie fortan allein auf seine Wohlthaten würde angewiesen sein.

Ihr Stolz bäumte sich auf; sie faßte die wirrsten Entschlüsse, bis sie nach langen Irrgängen der Überlegung immer wieder zu der entsetzlichen Einsicht zurückkehrte: Es bleibt entweder nur die Wohlthätigkeit fremder Menschen, damit Deine Kinder leben können, damit sie nicht darben und vergehen, damit sie erzogen werden, um brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden, oder –

Ja, da kamen andere furchtbare Gedanken, die sich in ihrem Gehirn festbrannten, die geboren wurden aus Hilflosigkeit und Verzweiflung. Wie wäre es, wenn sie mit ihren Kindern dem folgte, der hier im Sarge lag? Was stand den Armen bevor! Demütigung, Entbehrung, Not – gar Schande.

Sie hörte sie klagen und weinen. Sie scharten sich um ihre Mama. Sie bettelten um die ihnen jetzt entzogenen notwendigen Dinge, sie wollen ihre unschuldigen Liebhabereien, sie kamen, damit ihre kleinen Herzen getröstet wurden.

Und die Menschen! Wie sie zischelten und mit den Fingern zeigten, wie sie sich abwandten und gar hämisch frohlockten, daß diese übermütige, verwöhnte Frau die Bitterkeit des Lebens nun auch endlich kostete wie sie selbst.

Ah, wie das alles ihre Seele marterte! Ja, lieber sollte sie ihre Kinder, sich selbst töten – –

Aber ein Herz wie das ihre mußte schon bei dem bloßen Gedanken an den Tod ihrer Kinder erstarren.

Nein! nein! Entsetzlich! Lieber Not leiden, ja betteln, als ihren süßen Geschöpfen auch nur ein Haar krümmen! Und Sterben war nicht eine Sache des Willens; zum Selbstmord gehörten tausend Dinge, die sie nicht verstand und bei deren Vorstellung ihr grauste.

»Barmherziger Schöpfer, vergieb! Vergieb auch Du mir, mein Carlos, diese gräßlichen, unreinen Gedanken!« betete Ange, faltete die Hände und atmete, aus dem Schauder ihrer Vorstellungen befreit, erleichtert auf.

Sie besaß so kostbaren Schmuck, daß sie durch dessen Verwertung noch eine Zeit lang ohne Wohlthaten leben konnte. Diese Überlegung war ihr gekommen in der letzten schlaflosen Nacht und erleichterte ihr wenigstens die nächsten Sorgen.

Bevor Ange, durch die Handwerker aufgestört, das Zimmer verließ, brachen doch noch einmal die Thränen unaufhaltsam hervor. Sie rief eilend die Kinder, ließ sie niederknien und betete mit ihnen.

»Hattet Ihr ihn lieb, Euren Papa?« schluchzte sie.

Die Kinder nickten ängstlich und scharten sich mit den feinen blassen Gesichtern um die Mama.

Als sie sich endlich zur Thür wandten, schmiegte sich die kleine Ange an ihre Mutter und sagte: »Wird Papa auch so hübsch begraben wie Carlitos?«

Bei dieser Frage zuckte Ange zusammen.

»Nein, Ange, nein! Onkel Axel ist ja nicht da.«

»Kommt er denn nicht?«

Ange antwortete nicht; sie bewegte nur das Haupt und zog hastig die Kleinen mit sich fort, die nun zum letztenmal das bleiche Gesicht ihres Papas gesehen hatten.



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