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Acht Monate waren vergangen. Teut war ein täglicher Gast im Clairefortschen Hause geworden, verkehrte mit Frau Ange und der Familie, als ob er sie von Kindesbeinen an kenne, und schien überhaupt von Claireforts fortan unzertrennlich. Dieser engere Verkehr führte mit sich, daß er bald in alle Verhältnisse eingeweiht wurde, und daß man ihn, da er neben seiner Einsicht eine entschiedene Art an den Tag legte, auch häufig um Rat fragte. Aber er nahm sich in seiner ehrlichen und derben Weise auch die Erlaubnis, zu tadeln.

»Schlecht, mordschlecht erziehen Sie die kleine Gesellschaft!« rief er Ange kopfschüttelnd zu, wenn die Kinderschar – ungezogen und trotzköpfig – ihren Höllenlärm anstimmte, die Möbel mit Stöcken und Peitschen bearbeitete und gar auf dem Teppich des Wohnzimmers mit Sand wirtschaftete. Die Dienerschaft war machtlos, denn sie fand keine Unterstützung bei der Gräfin. Entweder erließ sie Verbote, deren Zurücknahme sie sich im nächsten Moment wieder abbetteln ließ, oder sie tröstete Jorinde und Erna, wenn diese von der Gouvernante eine Strafe erhalten hatten.

Nun war eben das Mobiliar – ein Gemach nach dem anderen – neu aufgeputzt, zum Teil mit kostbaren Stoffen überzogen, alles mit einem wahrhaft verschwenderischen Luxus hergestellt worden, und schon zeigten sich deutliche Spuren von übermütigen Gewaltthätigkeiten. Der Graf war mehrmals in einen heftigen Zorn ausgebrochen, hatte Ange ihren Mangel an Ordnungsliebe und ihre grenzenlose Schwäche gegen die Kinder in den härtesten Worten vorgeworfen. Hin und wieder rief er den schnell liebgewonnenen Freund und Vertrauten zum Zeugen an, wie unvernünftig, wie unverständig seine Frau sei und wie ihn ihre Eigenschaften mit den Rückwirkungen auf die Kleinen zum Tadel reizen müßten.

Einmal brach es ungestüm aus ihm heraus, als Teut seine Bewunderung über Ange ausdrückte. »Ja, Freund,« rief er, »Sie sind nicht mit ihr verheiratet! Sie erfreuen sich an dem Guten, das sie Ihnen entgegenträgt, und schütteln das Unbequeme leicht ab, um so leichter, als Sie nur indirekt davon berührt werden! Ich aber lebe täglich, stündlich mit ihr, ich kämpfe seit Jahren gegen ihre Schwächen ohne Erfolg und habe doch für alles die Verantwortung zu tragen! Ange würde jedes Jahr eine Million verschenken, wenn sie dieselbe zur Verfügung hätte, und eine ganze Weltordnung in Verwirrung bringen, wenn sie über den Wolken herrschte! Jeder ruft mir entgegen: Welch ein reizvolles Geschöpf! und jeden Tag werde auch ich entwaffnet durch den Zauber ihrer Liebenswürdigkeit. Aber sie bringt vermöge ihrer untilgbaren, durch eine grenzenlos verkehrte Erziehung hervorgerufenen Fehler den ruhigsten, besonnensten und geduldigsten Mann zur Verzweiflung. Die größten und besten Eigenschaften eines Menschen verwandeln sich in das Gegenteil, wenn ihnen das Maß fehlt. Sanftmut und Liebenswürdigkeit sinken zur Charakterlosigkeit herab, Herzensgüte wird Thorheit, Geist und Verstand streifen an Insanie und je schöner die Hülle, desto größer der Schmerz, daß sich unter so vollendeten Formen ein so ungeordneter Geist verbirgt.«

»Sie übertreiben, Clairefort!« rief Teut warm. »Ihre Frau ist ein Engel! Ihre Fehler sind nicht so schlimmer Art; ja, ich behaupte, sie sind auch Tugenden! Weint sie nicht wie ein Kind, wenn man ihr vom Unglück berichtet, möchte sie nicht stets helfen? Hilft sie nicht? Ist sie nicht rührend besorgt um ihre Kinder und sitzt sie nicht wie jüngst, als Carlitos krank war, Tag und Nacht an ihrem Bett? Ist sie nicht stets liebevoll gegen Sie, Clairefort, sieht sie nicht zu Ihnen empor wie zu einem Höhergearteten und nimmt jeden Tadel, jedes Scheltwort ohne Murren entgegen? Ist sie nicht ohne Beispiel selbstlos? Verlangt sie je etwas für sich? Ist es nicht nur immer der Gedanke an andere, der ihre Entschlüsse bestimmt? Sah man je ein so glückliches Gemisch von natürlichem Verstand und Herzensgüte? – Ja, sie ist sorglos, kannte nie eine Einschränkung, weiß nichts von materiellen Sorgen, giebt mit vollen Händen, oft vielleicht unverständig –«

Hier unterbrach Clairefort den Sprechenden, und indem er ihn mit einem Blick anschaute, durch den man eine vertrauensvolle Äußerung einzuleiten und sich Verschwiegenheit zu sichern pflegt, sagte er:

»Nein, nein! Immer, immer unverständig! Maßlos, Freund! Ihre Verschwendung ist grenzenlos. Wie soll das überhaupt werden? Unter uns: Wenn das meine Frau noch einige Jahre so forttreibt, bin ich ruiniert. Schon lange war ich gezwungen, mein Kapital anzugreifen.«

Teut schwieg. Was er hörte, überraschte und beunruhigte ihn aufs höchste. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, weshalb der Mann, wenn die Dinge so lagen, sein Hauswesen, seine Geselligkeit nicht einschränke, die zahllose, meist überflüssige Dienerschaft nicht entlasse und Ange, die ihrer Eigenart nach auch in einfacheren Verhältnissen zufrieden leben würde, die Gelegenheit nähme, so thöricht zu wirtschaften. Aber er fand sich doch nicht berechtigt, dergleichen auszusprechen, und während seines Schwankens kam ihm Clairefort zuvor:

»Ich weiß, was Sie mir erwidern werden, Teut,« hob er, unter der Bestätigung seiner Gedanken wiederholt das Haupt bewegend, an. »Sie meinen, ich sei nicht minder schuld als Ange. Wir könnten uns anders einrichten und dadurch Einnahmen und Ausgaben in das richtige Gleichgewicht bringen. Auch Tibet drängt mich seit Jahr und Tag, aber dann – dann –«

Er hielt inne. Ein ängstlich unschlüssiger Ausdruck trat in seine Mienen, und nur mit Überwindung lösten sich die Worte aus seinem Munde:

»Sehen Sie! Es wird Ihnen rätselhaft erscheinen,« fuhr er endlich abgerissen und in Pausen sprechend, fort. »Ich liebe meine Frau grenzenlos. Ich fürchte dann – ich fürchte – daß sie sich mir entfremden könnte. Eine unbeschreibliche Angst überfällt mich, ich könnte ihre Liebe einmal verlieren – durch einen Wandel der Verhältnisse. Ich sinne selbst ratlos darüber nach, was in meiner Seele vorgeht. Tausend Gedanken bestürmen mich. Oft habe ich schon gedacht: Wenn sie doch einmal das Leben so liebt – ich möchte es ihr erhalten – ihre Fröhlichkeit ist doch lauter Sonnenschein; – und dann – dann – möchte ich, daß sie der Himmel früh zu sich nähme, damit sie Sorge und Kummer nie kennen lernt. Aber kann man eines geliebten Menschen Tod wünschen? Das ist doch unfaßbar. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich möchte ändern und vermag es nicht – vermag es durchaus nicht. Die Schwächen, die meiner Liebe entspringen, sind größer als meine bessere Einsicht.«

Teut saß stumm und schaute vor sich nieder, denn neben ihm seufzte der Mann in tiefer Bewegung auf. – Welch ein Einblick in das Seelenleben eines Menschen. Voll Klarheit, ja voll Ungeduld und Tadel über unhaltbare Zustände, und doch aus eifersüchtiger angstvoller Liebe zu schwach, um beizeiten ein zweifellos hereinbrechendes Unglück von sich, seinem Weibe und seinen Kindern abzuwenden?!

Einmal zuckte Teut unbehaglich zusammen, denn plötzlich stieg die Zukunft vor ihm auf. Die unabweisbaren Folgen solcher Verhältnisse traten unheimlich vor seine Seele. Vielleicht war ihm in dem Clairefortschen Hause eine große, undankbare Aufgabe beschieden, und jene Selbstliebe, die Unbequemes von sich stößt und nur unbehelligt genießen will, behielt die Oberhand. Was scherten ihn am Ende die fremden Menschen, dieser Mann mit seiner Unschlüssigkeit, seiner Melancholie und seinem ehelichen Unbehagen, diese in den Tag lebende Frau mit ihrer Unerfahrenheit und ihrem sorglosen Lebenswandel?

Aber das war nur eine schnell vorübergehende Regung. Er sprang auf, faßte Claireforts Hand und sagte:

»Und trotz alledem muß geschehen, was Sie für Recht erkennen, lieber Clairefort! Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, soweit es in meinen Kräften steht. Soll ich einmal mit Frau Ange reden?«

Bei diesem Anerbieten bohrte sich ein eigentümlicher Blick aus den Augen des Grafen auf den Sprechenden. Aber zum Glück bemerkte Teut ihn nicht, und als die Männer nach längerer Auseinandersetzung schieden, ging jener unter dem Eindruck, daß Clairefort, selbst machtlos zum Handeln, die dargebotene Hand aufs dankbarste ergriffen habe.

Wohlan denn! Teut war beiden näher getreten als kaum anderen Menschen je zuvor; er liebte Ange und die Kinder, die deshalb ein Recht auf ihn gewonnen hatten. Er wollte handeln – handeln wie ein Mann, aber auch wie ein kluger, besonnener Mann!



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