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Seit Stunden ging Teut in seinem Zimmer auf und ab. Immer neue Gedanken durchkreuzten sein Gehirn. Oft warf er sich in einen Stuhl, schlug nach seiner Gewohnheit, wenn ihn etwas erregte, heftig mit den Hacken seiner Reitstiefel aneinander und strich lebhaft seinen langen, blonden Schnurrbart. Die Backenknochen seines stark markierten, mageren Gesichtes traten scharf hervor, und fortwährend ließ er das Glas, das in seinem linken Auge steckte, fallen, um es im nächsten Augenblick wieder an seinen Platz zu schieben. Wenn dies, der neueren Zeit angehörende Monocle nicht sein Gesicht verunziert, und wenn er nicht den Husarenrock getragen hätte, würde man geglaubt haben, einen Ritter früherer Zeiten vor sich zu sehen. Diese hohe, wettergebräunte und schon etwas stark gefurchte Stirn, diese blitzenden, unheimlich kühnen Augen, dieser sarkastische Mund und dieser halbschlanke, große, starke, geschmeidige Körper erinnerten an die Gestalt eines Recken vergangener Jahrhunderte.

»Der Teufel werde klug aus der Geschichte!« murmelte er, endlich sein Sinnen unterbrechend, griff in eine Kiste mit schweren Cigarren, entzündete eine, verschluckte den Rauch und stieß ihn in einer mächtigen Säule wieder von sich.

In diesem Augenblick öffnete sein Diener Jamp die Thür und überreichte die Rechnung eines Blumenhändlers in Höhe von einigen hundert Thalern. Es war der aufgesummte Betrag für die frischblühenden Bouquets, welche Ange ausnahmslos jeden Tag in ihren Zimmern fand. Teut prüfte, zog das Schubfach und fügte der Zahlung ein reichliches Trinkgeld bei. Nun schloß sich wieder die Thür und nun waren auch Teuts Gedanken wieder bei Ange. Er rief sich die letzte Unterredung mit Clairefort ins Gedächtnis zurück und alles das, was vorhergegangen war. Oft erschien ihm wie ein Traum, was er in den letzten zehn Monaten erlebt, vornehmlich das, was er an sich selbst erfahren hatte.

Als jüngerer Offizier, kurz bevor ihm das Vermögen seines Vaters und seiner Geschwister zugefallen war, hatte er um ein junges Mädchen aus bürgerlichem Stande geworben und seine Heiratspläne unter Umständen aufgeben müssen, die ihm das weibliche Geschlecht verächtlich gemacht hatten. Er sah fortan in den Frauen nur ein Spielzeug, fast weniger als das.

Nun war er Ange Clairefort begegnet und liebte sie nach acht Tagen mit einer brennenden Leidenschaft.

Wenige Tage nach dem erwähnten Gespräch ritt er mit Ange aus. Es war ein wundervoller Herbsttag, einer jener Tage, an denen Frühling und Sommer noch einmal auf die verlangende Erde zurückzueilen und alle ihre Schönheit reifer und gemilderter zugleich über die Welt auszuströmen scheinen.

Die Sonne funkelte in den Bäumen, verwandelte mattes Gelb in glänzendes Gold und braune Blätter in goldkupfernes Metall. Die ganze Natur durchströmte sie mit einer durchsichtigen Helle, mit einer Klarheit, als sei jedes unreine Stäubchen von erfrischenden Lüften fortgeweht, und als seien diese selbst herabgestiegen aus kühlen, stillen Himmelshöhen.

Teut war kein Mensch, der sich jemals in Gefühlsäußerungen erging. Er empfand alles Schöne und Gute, aber es lag nicht in seiner Natur oder es fehlte ihm der Drang, seine Empfindungen in Worte zu übersetzen.

Anders Ange. Die sanften Farben auf ihren Wangen glühten, sie sog die Luft ein, hielt das seit einer Viertelstunde rasch dahintrabende Pferd an und warf einen fragenden Blick auf ihren Begleiter. Sie hatten, seitdem sie das Haus verlassen, kein Wort gewechselt. Niemals war Teut so stumm gewesen wie heute.

»Drüben!« sagte er und zeigte auf ein kleines unter den Bäumen verstecktes Häuschen. Er hielt nicht, wie Ange, sein Pferd an.

»Weiterreiten?« fragte sie, als ob sie ihn nicht verstanden. Sie ärgerte sich über seine formlose Art, die sie ihm schon häufig im stillen vorgeworfen hatte. Teut nickte, ohne etwas hinzuzufügen.

So erreichten sie beide – Ange in einer etwas unbehaglichen Stimmung – das Wirtshaus. Ehe der Stallknecht herbeieilen konnte, war Teut herabgesprungen und hatte Ange vom Pferde gehoben. Es war, als ob Christophorus das Jesukindlein über den Fluß tragen wolle. Wie ein zartes Püppchen lag sie ihm im Arm, und wie ein Riese setzte er sie nieder.

»Drüben ist eine herrliche Aussicht. Wollen wir gehen?« fragte er artig und reichte ihr den Arm.

Aber sie dankte, schürzte das Reitkleid und schritt neben ihm durch einen linksseitig einbiegenden, mit Bäumen besetzten Weg. Nach wenigen Augenblicken berührten sie eine Kirche und einen Gottesacker. Es sah recht verwildert dort aus. Aus der zerbrochenen eisernen Einfriedigung hingen Schlingpflanzen in den Farben des Herbstes, und Unkraut wucherte auf den Gräbern. Dann stiegen sie eine leichte Anhöhe empor und schritten auf einen Eichenwald zu. Kleines, kurzes Gebüsch drängte sich über den Fußpfad, es ging unregelmäßig bergauf, bergab.

Endlich umfing sie der Herbstwald und die Kühle. Hier glänzte es hell durch die Bäume; lange, wundervolle Lichtstreifen lagen auf dem grünen Erdboden. Dort flimmerte es im dichteren Gebüsch, als ob kleine versteckte Sonnen vergeblich hervorzubrechen versuchten, und einmal, bei einem Durchblick zur Rechten, schauten sie in einen verlassenen, gänzlich abgeschlossenen, mit Gras dicht bewachsenen Feldweg, auf dem die Einsamkeit einen märchenhaften Schlaf zu träumen schien. Aber sie schritten weiter, erreichten endlich eine Bank auf einer von blätterreichen Eichen umstandenen Anhöhe, und sahen nun meilenweit ins Land.

Es ging ein sanftes Jubilieren durch die blaue, durchsichtige Luft. Die letzten Vögel zwitscherten, und riesige Lichtströme warf die Sonne über Wiesen, Felder und ferne Wälder. Hier und dort glitzerten Streifen eines in malerischen Windungen auftauchenden Flusses zwischen den sanft dahingestreckten Matten, als ob plötzlich die Erde ausgebrochen sei und flüssiges Silber seine Bahn suche.

Ange ward gedrängt, ihrem Entzücken Ausdruck zu geben, aber ihr Begleiter war scheinbar noch ebenso mißmutig wie vorher.

»In welch schlechter Laune haben Sie mich heute begleitet?« hob sie an und richtete ihren lebhaften Blick auf sein unbewegliches Gesicht.

»Nein!« erwiderte er. »Aber ich habe einiges auf dem Herzen, und hier« – er lud sie zum Sitzen ein – »will ich Ihnen einmal sagen, wozu bisher stets der rechte Augenblick gefehlt hat.«

Die feine Röte auf Anges Gesicht wich einer leichten Blässe. Ein halb zaghafter, halb ungeduldiger Ausdruck stahl sich in ihre Mienen, und sie faßte die Reitgerte fester. Aber sie überwand sich und sagte ungezwungen:

»Wohlan, setzen wir uns und erzählen Sie mir etwas. Aber nichts, nichts Unangenehmes heute, lieber Teut. Ein andermal. Ich bin fröhlich; weshalb mir das nehmen? O, ich bin glücklich hier in dieser schönen Welt. Bitte!«

Teut zuckte zusammen. Immer, wenn sie in diesem zärtlichen und bittenden Tone sprach, zögerte er, ihr auch nur durch tadelnden Blick eine Verstimmung zu bereiten. Wieviel besser verstand er jetzt Claireforts Zaudern als ehedem! Dieses unschuldsvolle Kind mit seiner sorglosen Fröhlichkeit und seiner Freude am Leben erschien ihm wie ein eben aus der Hand des Schöpfers hervorgegangenes Kunstwerk. Und diesen reinen Spiegel sollte er trüben, gar zersplittern? Aber einmal mußte es doch geschehen. Er strich wiederholt den Schnurrbart und sagte endlich:

»Liebe Frau Ange! Hören Sie zu. Ich bitte Sie bei unserer Freundschaft darum.«

Etwas ganz Besonderes mußte es doch sein. In Anges Gesicht trat ein hilfloser Ausdruck, und ein eigener Glanz schimmerte in ihren sanften Augen.

»Ich höre!« sagte sie leise und legte die Hände ineinander.

»Sehen Sie, liebe Ange – Darf ich Sie so nennen?« Er wandte sich zu ihr, sah sie fragend an und über sein edles, männliches Gesicht flog ein hinreißender Zug von Herzensgüte. Und sie nickte mit einer Miene und bejahte mit einem Blicke, als ob sie ein Engel sei, der einem Sünder Gottes Verzeihung überbringe.

»Wir kennen uns nun schon fast ein Jahr. Durch Sie hat sich mein Leben fast ganz verändert. Ich hatte bereits von allem Abschied genommen, was Haus und Familie heißt, und mich in die Rolle eines alten Junggesellen hineingefunden. Meine dienstliche Beschäftigung, der Umgang mit den Kameraden, die Befriedigung allerlei berechtigter und unberechtigter Passionen, nach Umständen einmal ein Stück ungehinderter Freiheit – ich könnte ja ganz ein freier Mann sein und meinen Neigungen leben, aber ich fühle Pflichten in mir gegen mein Vaterland und meinen König – genügte mir. Da sah ich Sie, Ange; und weshalb sollte ich es verhehlen – ich liebte Sie bei unserer ersten Begegnung und werde Sie lieben, solange ein Atem in mir ist.«

Er sah sie nicht an, während er sprach.

Wenn er emporgeschaut hätte, würde er bemerkt haben, daß sie wie träumend ins Land und in die Ferne schaute; aber er würde auch in ihrem Angesicht gelesen haben, wie sie alle seine Worte verschlang und wie die letzten sie erbeben machten.

Ein feuchter Glanz verdunkelte auf Augenblicke ihre Augensterne, und versteckt strichen ihre kleinen Finger über die Wimpern.

»Aber weil ich Ihnen so gut bin – Sie wie ein Bruder und Freund liebe,« fuhr Teut fort, »muß ich Ihnen etwas sagen, was Ihr Glück betrifft.« Und nun sprach er in langer Rede auf sie ein. Er tadelte und tröstete, er forderte und flehte. Er teilte ihr Carlos' Worte an jenem Tage mit, klärte sie über ihre Verhältnisse auf und ließ das Bild einer düsteren, vielleicht durch ihre Handlungsweise heraufbeschworenen Zukunft vor ihr Auge treten. Atemlos horchte sie auf und erbebte. Welch drohende, vernichtende Wolken hingen über ihrem ahnungslosen Haupt! Nachdem er geendet, saß sie lange stumm und sprach kein Wort. Aber als dann aus seinem Munde ihr Name drang: »Liebe Ange, liebe Freundin, zürnen Sie mir?« da überwältigte sie ihr Gefühl und sie neigte das Haupt und schluchzte.

Er wagte es: er strich sanft über ihr Haar; er that, als ob er nichts anderes fühle als Mitleid, nichts anderes geben wolle als Trost, und doch bedurfte er seiner ganzen Kraft, um sie nicht in dem Ausbruch unterdrückter Leidenschaft ans Herz zu ziehen.



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