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Am Nachmittag begab sich Wilhelm, die Fähre benutzend, in die Stadt. Anna aber ließ, nachdem ihr Bruder sich entfernt hatte, anspannen und fuhr mit einem Wagen nach Föhrde. Sie wollte ihre langgehegte Absicht ausführen und einmal mit ihrem Bruder Timm sprechen.

Von Frau Lornsen hatte sie gehört, daß nun doch die Verlobung zwischen Wilhelm und Wiebke vor sich gegangen sei. Da war denn der Augenblick gekommen, sich um ihre Zukunft zu bekümmern.

Aber auch Hans, dessen Fortgang wegen des bevorstehenden Examens vor der Tür stand, wählte diesen Nachmittag, um einige Besuche in der Stadt zu machen.

Als er ein Stündchen nach seines Onkels Entfernung an den Strand hinabschritt, fand er zu seiner großen Überraschung und infolge seiner unfreien Stimmung auch seinen Wünschen sehr entgegen, Türenna von Wulfsdorff wartend am Ufer. Ein Ausweichen war um so weniger möglich, weil sie mit dem gewohnten herzgewinnenden Ausdruck grüßte, so wenig Befangenheit an den Tag legte, daß es fast den Anschein hatte, als ob sie von dem zwischen ihrem Bruder und Hans bestehenden Zwiespalt keine Kenntnis habe.

Sie trat auf ihn zu, streckte ihm ihre kleine, zierliche Hand entgegen und sagte:

»Sie wollen wohl auch nach Föhrde hinüber, Herr Appen! Da können wir also zusammen – Wie geht's Ihnen? Wir sahen Sie leider so lange nicht –«

Durch die letzten Worte klang ein so herzlich warmer Ton, daß Hans nicht im Zweifel blieb, daß sie ihm, wenn schon sie alles wußte, doch ihre Sympathie nicht entzogen hatte.

So glücklich und hoffnungsvoll gestimmt, beschloß er, um so mehr, da durch Wiebkes Verlobung nun alles entschieden war, Türenna nicht nur um eine Versöhnungsvermittlung zwischen ihm und ihrem Bruder zu bitten, sondern seine alten Herzenspläne wieder aufzunehmen. Ihr zu verraten, was er für sie fühlte, und zu prüfen, welche Empfindungen sie für ihn beherrschten, konnte er kaum erwarten.

Nachdem sie, von einer frischen Brise unterstützt, sehr rasch das jenseitige Ufer gewonnen hatten, es ihm auch unterwegs gelungen war, einen leichten Ton anzuschlagen, begann er, denselben Weg nehmend, den er damals in Wiebkes Begleitung gewählt, sogleich auf Türenna einzusprechen und sagte:

»Von größtem Wert ist es für mich, Fräulein von Wulfsdorff, Sie getroffen zu haben, von doppelt hohem, da ich schon lange den sehnlichsten Wunsch hatte, in einer gewissen Angelegenheit Ihnen mein Herz auszuschütten.«

Zunächst schlug Türenna nach diesen Worten stark betroffen das Auge empor. Der feierliche Ton ließ sie erschrecken. Aber als sie ihres Begleiters ruhigen Mienen begegnete, schloß sie, daß es sich um Carlos handelte, und sie ermunterte ihn durch eine liebenswürdige Geste zum Weiterreden.

»Kurz bevor ich jüngst Ihr Tischgast sein sollte,« begann Hans, »entstand zwischen mir und Carlos ein Streit, der damit endete, daß er mir die Freundschaft für alle Zeiten aufkündigte. Ich bat ihn dann, mein Nichterscheinen zu begründen, weiß aber nicht, in welcher Weise es geschehen ist –«

Hans hielt inne, weil er hoffte, daß Türenna etwas einschalten werde.

Aber sie bestätigte das Gesagte nur durch leichtes Neigen des Hauptes.

»Mich quält dieses Zerwürfnis mehr, als ich sagen kann, mein gnädiges Fräulein. Ich achte und liebe Carlos wie kaum einen andern meiner Freunde, und so beschäftigt mich fortwährend der Gedanke, auf welche Weise ich ihm mein Bedauern über das Geschehene an den Tag legen kann. Es liegt darin zugleich das Bekenntnis der größeren Schuld, ja, ich stehe nicht an, zu erklären, daß ich eigentlich allein im Unrecht bin, weil ich ihn durch meine Heftigkeit provozierte –«

Türenna hatte mit einem Ausdruck glücklicher Befriedigung Hans zugehört, bei den letzten Worten aber streckte sie ihm mit einer lebhaften Gebärde die Hand entgegen und drückte schon durch dieses stumme Zeichen aus, was sie empfand.

»O, das ist schön, das ist edel, das erste Wort geben, vergessen zu können!« hub sie an. »Wenn sich Freunde streiten, sagt mein Vater, sei ausnahmslos Schuld auf beiden Seiten. Nicht nur der Zornige belastet sich mit Unrecht, sondern auch der andere, da er, außer acht lassend, daß der Freund meist nur deshalb ihm Kränkendes sagt, weil seine Seele selbst verwirrt ist, es an milden Worten der Versöhnung fehlen läßt. So tragen Sie also auch sicher nicht allein Schuld, Herr Appen. Ich weiß nicht, um welchen Gegenstand es sich handelt, aber es ist für mich überhaupt ausgeschlossen, daß Sie etwas Kränkendes ohne Grund sagen oder tun können.

»Alles, was ich im Laufe der Jahre von Ihnen sah, gab mir den Eindruck, daß Sie ein gerechtes und ein edles Herz besitzen, und der, welcher heute Ihnen zürnt, mein Bruder Carlos, hat nie genug Gutes von Ihnen sprechen können. Das ist die Wahrheit, und so werden Sie auch wieder den Weg zueinander finden. Niemand würde darüber glücklicher sein als ich, Herr Appen.«

Diese warme und für ihn soviel Interesse bekundende Sprache bewegte Hans aufs tiefste! Da er sah, wie so ganz anders die neben ihm herschritt, als die meisten durch Vorurteile beeinflußten Personen, fand er den Mut, auch mit ihr in einer andern Weise zu reden.

Den Ausdruck seiner Empfindungen durch einen dankbaren Blick einleitend, sagte er:

»Wie wohltuend es ist, einmal aus dem Munde eines Menschen eine solche Sprache zu vernehmen!

»Sie zeigen eine wahrhaft seltene Vorurteilsfreiheit und einen großen Gerechtigkeitssinn. Wie vollzieht sich die Begegnung zwischen Menschen? Immer dünkt sich einer besser als der andere. In der Absonderung und in der Vermeidung freier Meinungsäußerung erkennt die Menge der sogenannten Gebildeten den Ausfluß feinerer Erziehung, während es doch Überbildung ist, daß der Mensch sich vom Menschen entfernt, und diejenigen unter die Unvernünftigen gezählt werden, die ihre Ansichten freimütig äußern. Ich erkenne Standesunterschiede an, sie bedingen sich aber nur durch die Bildung, und eine Abgrenzung ist nur da berechtigt, wo der eine herrscht und der andere dient.

»Daß der Herr oben am Tisch sitzt, und der Diener unten, ist zur Erhaltung ihrer Beziehungen erforderlich. Überhaupt dürfen wir das nachahmen, was die Natur in ihren Erscheinungen aufweist; das ist eben nicht gegen die Natur. Kraft und Intelligenz überwiegen bei den Geschöpfen der Erde. Den Löwen schuf der Höchste anders als die Maus.

»Ich fühle mich zu Ihnen allen im Hause so sehr hingezogen seit meinen Knabenjahren, weil Sie Ihren Adel durch wahre Humanität bekunden. Sie stießen sich bei meinen Angehörigen nicht daran, daß sie ein bürgerliches Gewerbe betreiben, daß meine Großmutter es nicht verschmäht, einen Laden, eine Gaststube offen zu halten. Mein Geschmack wäre eine solche Beschäftigung, offen bekannt, nicht; um so mehr erkenne ich es an, daß Sie in einer Welt, wie sie einmal zugeschnitten ist, daran keinen Anstoß nehmen. Man sagt Ihnen auch allen nach, daß Sie Ausnahmemenschen seien, daß Sie gegen Ihre nicht selten unter Vorurteilen lebenden Standesgenossen, die Ihnen wegen dieser Lebensauffassung abhold sind, das Wort nehmen und die Berechtigung Ihres Standpunktes nicht nur verteidigen, sondern jene zu Anhängern Ihrer Anschauungen zu machen suchen! Edelmut, Wohltun und Menschlichkeit stehen in Ihrem Wappenschild! Wie muß ich also trauern, einen Freund wie Carlos dauernd zu verlieren, dadurch mir die Möglichkeit zu nehmen, mit Ihnen allen ferner verkehren zu dürfen.«

Hans hielt inne und blickte auf seine Begleiterin. Er hatte voll Freimut berührt, was sich ihm durch Nachdenken und durch Vergleiche, die er gezogen, im Laufe seiner jungen Jahre aufgedrängt hatte. Eine alle Engherzigkeit und allen Dünkel bekämpfende Anschauung in Taten umzusetzen, durchglühte ihn, und jegliche Heuchelei und jegliches Nützlichkeitswesen und jede Überhebung waren ihm ein Greuel.

»Da Sie,« hob Türenna an, »selbst einen Punkt berührt haben, der von uns oft besprochen wurde, so sei es auch mir gestattet, mich darüber offen auszulassen. Sie erwähnten Ihrer Mutter und Ihres Onkels Beschäftigung; zugleich äußerten Sie, daß Sie Standesunterschiede nur insofern anerkennten, als die Bildung natürliche Unterschiede mit sich führe.

»Ihre Angehörigen sind durchaus gebildete Leute, insbesondere Ihre Frau Mutter und Ihre Großmutter. Ihr Onkel trägt ein gewisses trotziges Bestreben zur Schau, lediglich an seinesgleichen sich anzuschließen. Ihn erfüllt jener bürgerliche Stolz, der ebenso unberechtigt ist, wie der Hochmut des Adels.

»Ich stimme Ihnen bei; auch mein Geschmack würde nicht dahin gehen, einer Gastwirtschaft vorzustehen oder in einem Kramladen zu hantieren. Wir haben uns schon oft darüber gewundert, daß Ihre Verwandten so zäh daran festhalten. Sie haben es ja nicht nötig.

»Und, unumwunden gestanden, ja, im tiefsten Vertrauen zu Ihnen gesagt: ich würde aus den eben entwickelten Gründen sehr betrübt sein, wenn mein Bruder sich in ein Mädchen der unteren Stände verliebte und sie heiratete. Und das nicht aus Hochmut, sondern weil ein Mann den Anhang mitheiratet, und die verschiedene Lebensstellung und Bildung einen Verkehr mit diesem unmöglich macht. Carlos interessiert sich – er hat gar kein Geheimnis vor mir, und ich spreche jetzt so offen zu Ihnen, wie Sie zu mir – für ein junges Mädchen, das bei Ihnen den Laden besorgt. Bitte, teilen Sie mir mit, was Sie von ihr halten? Ich sehe es als ein großes Unglück an, wenn er sich die Sache nicht aus dem Kopfe schlägt. Also bitte, sagen Sie mir ehrlich Ihre Meinung! Meiner Verschwiegenheit dürfen Sie gewiß sein.«

Hans Appen antwortete nicht gleich. Indem Türenna Carlos' Neigung zu Wiebke verdammte, verurteilte sie sicher auch eine Verbindung des Mädchens mit ihrem Onkel, und da Hans sich Hoffnung auf Türennas Liebe machte, sah er in Wiebkes Verbindung mit jenem plötzlich noch ein neues nicht zu beseitigendes Hindernis für seine eigenen Herzenspläne.

»Um des jungen Mädchens willen,« hub er dann, eingedenk seines Gelöbnisses, sich kräftig für Wiebke entscheidend, an, »entstand der Streit zwischen mir und Ihrem Bruder, mein Fräulein.

»Er machte eine sie herabsetzende Äußerung, und ich nahm für sie Partei, Wiebke Nissen ist ein in jeder Beziehung so vorzügliches Mädchen, daß jedermann und ich selbst –«

Aber er sprach nicht weiter. Ein Ausdruck von Enttäuschung und Auflehnung trat in Türennas Angesicht, der ihn unfrei machte.

Auch stieß sie, den bisherigen vertraulichen Ton verändernd, frostig heraus:

»Es freut mich, daß Sie Gutes über das Fräulein zu sagen haben. Aber dennoch bleibe ich bei meiner Ansicht, daß eine solche Heirat für Carlos ein großes Unglück wäre.«

Zugleich warf sie, nach diesen steif gesprochnen Worten einen Blick ringsum, wie jemand, der wünscht, daß das Wegziel zurückgelegt sein möge, und schloß:

»Wir sind wohl bald in der Stadt? Ich bin noch nie hier gegangen. Ist's noch weit?«

Eine völlig andere schien plötzlich neben Hans einherzuschreiten, und ihn erfaßte bei seinen Hoffnungen auf ihre Gunst und Liebe durch dieses veränderte Wesen eine starke Bedrückung.

»Mir will scheinen, gnädiges Fräulein,« fiel er, zum klugen Einlenken sich aufraffend und schmiegsam sprechend ein, »daß Sie das Günstige, was ich über das Mädchen äußerte, in einem Sinne auffassen, als ob Carlos noch Gefahr drohen könne. Ich kann Sie beruhigen. Seit gestern ist Fräulein Nissen mit meinem Onkel verlobt. Sie werden in wenigen Monaten, vielleicht schon früher, Hochzeit machen.«

»Ah,« stieß Türenna von Wulfsdorff mit befreiter Stimme hervor und forschte gespannt in Hans Appens Zügen, ob er auch wirklich die Wahrheit gesprochen habe.

»Wie Sie mich glücklich machen! Doppelt glück –« setzte sie an, hielt jedoch, während eine sanfte Röte in ihr Angesicht trat, befangen inne.

Durch das Innere des Mannes aber flutete ein heißer Strom. Er wußte jetzt, daß sich Eifersucht in ihr geregt, daß sie deshalb ihm in so spröder Weise begegnet war. Dennoch drängte es ihn fiebernd, sich völlige Gewißheit darüber zu verschaffen.

Gedämpft sprechend und sich sanft zu ihr neigend, sagte er mit einem weichen Ausdruck im Ton:

»Doppelt glücklich, sagten Sie, Fräulein Türenna! Doppelt glücklich –?«

Was gab's Reizvolleres, als ein junges Mädchen, das unter der Allgewalt seiner Gefühle errötet oder erbleicht, die Augen nicht emporzuschlagen vermag, und, obschon es am liebsten dem Gegenstand seiner Neigung sich an die Brust werfen möchte, doch in zagender Scham alles anwendet, seine Empfindungen zu verbergen.

So dachte Hans, und so war's hier.

Türenna hatte eine selige Verwirrung ergriffen, doch schämte sie sich selbst des stummen Geständnisses. Infolgedessen stieß sie, gewaltsam sich verstellend, heraus:

»Ich wollte nur den Ausdruck meiner Freude dadurch verstärken, Herr Appen. Da das Fräulein verlobt ist, wird sich Carlos sicher trösten. Nun ist alles gut! Das Wort Unmöglichkeit entwaffnet die größten, entwaffnet alle Gewalten.«

Hans richtete einen langen vertieften Blick auf seine Begleiterin, fast wollte er irre werden. Aber nun waren sie auch schon an der Grenze der Stadt angelangt, und absichtlich gab er, nachdem sie von der Höhe herabgestiegen waren, und Türenna sich rechts wandte, vor, den Weg zur Linken einschlagen zu müssen.

»Also, Sie sind so liebenswürdig, Carlos mitzuteilen, daß wir uns getroffen haben, und Sie sind so gütig, ein Wort für mich einzulegen, gnädiges Fräulein? Ich danke Ihnen im voraus herzlich, und auch dafür, daß Sie mir diese Unterredung gewährten. Nichts konnte Ihren Wert in meinen Augen mehr erhöhen. Wie schön wird für mich der Tag sein, an dem ich, mit Carlos wieder vereinigt, bei Ihnen verkehren darf.«

Nun lohnte sie ihm seine Worte durch einen stillen, tiefen Ausdruck ihrer Augen, dann sagte sie:

»Sie müssen schon Ende der Woche nach Kiel, nicht wahr? Sollten wir uns wider Erwarten nicht mehr sehen – ich hoffe es aber so sehr, wie Sie – dann nehmen Sie jetzt schon meine innigsten Wünsche für ein glückliches Examen und frohe Wiedereinkehr in Föhrde entgegen. Ich denke mir, daß Sie bald ein begehrter Doktor sein werden, Herr Appen. Einem Arzt muß man Zutrauen entgegentragen, und das flößen Sie, wie wenige, ein.«

»Ein schöneres Lob kann mir nicht werden, Fräulein Türenna,« entgegnete Hans, drückte dem reizenden Kinde glückberauscht, und sicher, daß sie darin keine Überschreitung erblickte, sanft die Hand, empfing einen Gegendruck, aber auch einen letzten liebewarmen Blick, und nahm Abschied.

Wenige Sekunden noch, dann hatten sie sich getrennt.

Währenddessen saß Frau Appen neben Klara Lornsen im Wohngemach. Timm wurde jeden Augenblick erwartet.

Frau Klara war groß, hager, brünett und stubenblaß, aber besaß feine Züge. Auch waren ihre Hände, Ohren und Füße trotz ihrer Körpergröße zierlich, und ihre schwarzen Augen funkelten lebhaft.

Frau Klara besaß auch Geist und Verstand, aber ihr Dünkel grenzte an Borniertheit.

Sie war eben dabei, sich über Wilhelms Verlobung zu äußern und ihren Standpunkt darzulegen.

»Wie ist es nur möglich, daß sich Wilhelm gerade diese Person ausgesucht hat? Wenn sie nur nicht Mamsell in seinem Laden gewesen wäre! Aber die Mutter eine Waschfrau, die die Hintertreppe in den Häusern heraufgeht. Und die Tochter bisher zwischen grüner Seife und Sagomehl – das ist – na – natürlich werde ich sie empfangen, aber damit hört unser Verkehr auf. Wie schon darüber geredet wird, daß ihr noch immer eure Gastwirtschaft und euren Laden offen haltet, das kann ich dir nicht sagen, Anna! Es ist doch auch nur Eigensinn von deiner Mutter! Wozu, sie kann ja ohne die Pacht reichlich von ihren Zinsen leben. Aber nun gerade! Ich glaube, sie tut's schon, um uns zu ärgern.

»Sie hat sich beklagt, daß ich sie nicht besuche! Ja, ist sie nicht immer gereizt und macht spitze Bemerkungen? Wer will sich denn ohne Not schlecht behandeln lassen?

»Ich bin nun 'mal unter anderen Verhältnissen auferzogen. In unserer Familie wäre es undenkbar gewesen, daß man die Überlieferungen früherer Zeiten einfach beiseite geschoben hätte.

»Wir haben uns stets mit dem Adel verschwägert, ich bin die erste, die einen Bürgerlichen geheiratet hat. Ich liebte Timm und sah auf sein Ansehen. Ich habe es nicht bereut, und ich hoffe noch immer, daß er um den von eurem Urgroßvater törichterweise abgelegten Adel wieder einkommt. Schämt er sich seiner Vorfahren? Er hat dazu wahrlich keinen Grund.«

So sprach sie lebhaft erregt und preßte und drückte eine seidene Sofatroddel mit ihrer Hand.

Anna befand sich bei solchen Gesprächen in einer geteilten Stimmung.

Klaras Hochmut war ihr widerwärtig, aber alles, was jene über Wiebke äußerte, klang ihren Ohren äußerst angenehm.

Die lange Rede hatte Anna bereits durch kleine Zwischensätze beantwortet. »Gewiß! Gewiß! Ja, ja! Darin gebe ich dir recht,« oder: »Na, na, da gehst du doch zu weit!« oder sie stieß Laute heraus, durch die sie ihre abweichende Ansicht bekundete.

Sie kam auch gleich auf ihre Pläne wegen der Übersiedelung nach Föhrde und sagte:

»Ich wollte mit Timm überlegen, wie ich es anfange. Da ich nichts habe, so müßte ich etwas beginnen. Aber was? Mutter will mir jährlich etwas geben, doch abgesehen davon, daß mich das geniert und ich es euch entziehe, habe ich auch sonst noch Bedenken –«

»Ja, es ist nicht leicht,« fiel Frau Klara seufzend ein. Kein Wort der Aufmunterung, der Teilnahme, keine Äußerung eines etwaigen eigenen Verzichtes kam über ihre Lippen. Sie beschäftigte nur ein Punkt: daß nämlich Anna etwas »beginnen« wollte. Das klang schrecklich. Am Ende dachte sie an einen offenen Laden mit Wollwaren. Da war's allerdings schon besser, man verzichtete auf etwas Erbschaftskapital.

Noch eine Bloßstellung! Das fehlte wirklich. »Ich meinte, Wilhelm wollte in die Tasche greifen!« fügte sie ihren ersten Worten hinzu.

»Von ihm nehme ich unter keinen Umständen auch nur einen Groschen!« erklärte Anna kurz.

Und dann:

»Wenn Hans erst etwas verdient, kann er mich unterstützen. Von meinem Sohn zu empfangen, trage ich kein Bedenken. Es handelt sich aber um die Zeit, bis er in die Lage gerät –«

»Na, ich weiß nicht!« entgegnete Frau Klara, geborene von Kolken, mit spröder Stimme. »Das ist auch nichts Rechtes! Wenn der junge Mensch heiratet, dann hat er für seine eigenen Töpfe zu sorgen – hm – hm – es ist wirklich eine ernste Sache! Ist es denn gar nicht möglich, daß du draußen bleibst?«

Im höchsten gereizt durch die grenzenlose Gemütslosigkeit, antwortete Anna schroff: »Nein! Ich habe dir das doch alles hinreichend auseinandergesetzt!«

Frau Klara fühlte, daß sie ihre Schwägerin verletzt hatte; es war ihr deshalb äußerst lieb, daß Timm in diesem Augenblick ins Zimmer trat.

Er begrüßte seine Schwester sehr freundlich. Freilich wich die Liebenswürdigkeit schnell wieder einem beschäftigten Ausdruck in seinen Zügen.

»Entschuldige, Beste!« hub er an. »Aber das ganze Kontor war voll Menschen. Ich konnte nicht früher abkommen! Na, was führt dich zu uns?« schloß er und ließ sich, vorher seiner Frau Schultern umschlingend, um bei ihr gut Wetter zu machen, in einen der seidenbezogenen Fauteuils nieder. Alles war herrlich bei Justizrats anzuschauen. Sie waren ganz modern und überaus kostbar eingerichtet.

Nun berichtete Anna nochmals ausführlich und schaute, nachdem sie geendigt hatte, gespannt auf ihren Bruder.

»Wieviel will denn Mutter dir aussetzen?« war Timms erstes Wort. Er gab keine Meinung ab, er ging gleich für sich und sie aufs Praktische, aber auch auf das, was im Grunde ihn allein interessierte.

»Sie hat noch keine Summe genannt. Sie sagte mir nur: ich gebe dir soviel, daß du anständig leben kannst.

»Nun muß ich mich doch aber auch einrichten, mir fehlen Möbel und alles übrige. Und dann erklärte ich dasselbe schon deiner Frau: Es ist mir äußerst peinlich, zu nehmen und euch zu schädigen!«

»Hm – hm – ja, das ist ja so – so. Das ist ja eine verflixte Geschichte.

»Daß dieses verdammte Frauenzimmer da hineingeschneit ist! Ist die Sache denn nun wirklich unabänderlich?

»Von Verkaufgedanken sieht Mutter doch ganz ab?«

So ging's aus Timms Munde. Auch er – sie vernahm's voll Bitterkeit – hatte nichts, gar nichts für sie übrig, obschon sie kam, um sich bei ihm Rat zu holen.

Und weil sie's tief empörte, sagte sie, ihn absichtlich reizend, ihn und sein kaltherziges Weib:

»Es wird nichts anderes bleiben, als ein Geschäft anzufangen. Ich denke an holländische Waren.«

»Na! Um Gottes willen!« stieß Timm heraus und blickte auf seine Frau, die in der Tat zusammenfuhr, als ob sie der Schlag rühren solle.

»Ja, ihr habt gut reden!« stieß Anna trocken heraus.

»Ich meine so: Du sprichst mit Mutter und bittest sie, mir das auszukehren, was sie mir noch als Erbteil etwa zuwenden will.

»Dann lege ich mein Geld auf Zinsen und richte mich ein. So trete ich niemand zu nahe! Ich könnte ihr das auch selbst sagen, aber sie tut doch nichts ohne dich und den Hamburger Senator, von dem du Vollmacht hast. Wilhelms und Annies bin ich sicher –«

»Ja, darin will ich dir wohl gefällig sein,« erklärte der Justizrat rasch entschlossen und sehr erleichtert, aber doch in einem Ton, als ob er ihr ein Königreich gewähre. »Ja, ja! Das ist das beste. Das heißt, ich mache eine Bedingung. Du versprichst, daß du keinen Laden aufmachst, Anna!

»Du wirst denken, wir seien hochmütig. Wir sind es durchaus nicht. Aber sag selbst, es muß doch alles ein wenig zusammen passen! Du wirst dich auch ganz gut einrichten können. Nach meiner Schätzung besitzt Mutter dreihunderttausend Mark bares Geld; davon ein Fünftel, macht sechzigtausend Mark, die zu vier Prozent, geben zweitausendvierhundert Mark. Damit kannst du schon durchkommen, da dein Junge nichts mehr braucht, höchstens noch ein paar Jahre versorgt werden muß.«

»Wie? Mutter hat noch dreihunderttausend Mark?« stieß Anna gierig heraus. »Ach ne, ne! Du irrst, du irrst, keine hunderttausend hat sie. Ja, wenn sie soviel besäße, würde ich am wenigsten bei euch zum Raten und Helfen betteln gehen –«

Sie sprach's unangenehm im Ton, aber sie konnte nicht mehr an sich halten. Ihre beiden Verwandten waren ihr unnennbar widerwärtig.

»Wie ich dir sage, so ist es. Ich kenne Mutters Verhältnisse wie meine eigenen!« entgegnete der Justizrat überlegen und seine Reizbarkeit über Annas Worte unterdrückend.

Wenn man lediglich an sich und nicht an andere dachte, wenn man solcher Wonne Erfüllung teilhaftig werden wollte, mußte man schon einmal Unangenehmes einstecken.

Frau Klara hatte während dieser Auseinandersetzungen gar nicht gesprochen, nur anfänglich, Mitgefühl künstlich heuchelnd, wiederholt einmütig den Kopf bewegt.

Bei Timms Erklärung über der Alten Privatvermögen aber trat ein Ausdruck allerhöchster Genugtuung in ihre Mienen und unwillkürlich richtete sie sich empor.

Sie rechnete. Wenn die Alte starb, fielen zuzüglich des übrigen Vermögens mindestens auf jedes Kind hunderttausend Mark. Ihr Mann war überdies sehr wohlhabend. Eine gesichert materielle Zukunft gab frohe Gedanken. Durch Wilhelms Heiratspläne, den sie bereits unter die Junggesellen gezählt hatte, waren ihre Hoffnungen sehr herabgestimmt worden. Aber das, was der Justizrat hier jetzt plötzlich dargelegt, hatte ihrem habgierigen Sinn wieder reiche Nahrung zugeführt.

»Na, meine liebe, gute Anna, so wird sich denn ja alles weit besser gestalten, als wir gedacht haben. Gott sei Dank!« warf sie hin und hatte jetzt sehr weichherzige Töne.

»Wann denkst du denn von der Bucht fortzugehen? Und hast du dir schon einen Plan wegen einer Wohnung gemacht? Du wirst doch mit Hans zusammenziehen? Das kann ja sehr nett werden.«

Die Frau, auf die sie einsprach, bewegte die Schultern. Sie schien so überaus beglückt nicht zu sein.

Immer blieb noch der alten Frau Lornsen Zustimmung abzuwarten. Und wenn's wirklich so weit war, erschienen für zwei Menschen die Bissen nicht übermäßig saftig. Es konnten Jahre hingehen, bevor Hans Praxis besaß. Und junge Leute, was brauchten die! Auch hatten sie beide keine Einrichtung. Dieser Punkt war von Timm ganz übergangen worden.

Der Senator in Hamburg war so reich, daß einige tausend Taler für ihn nichts waren. Timm kam gar nicht einmal auf den Gedanken, sich für seine Schwester an ihn zu wenden. Anna hatte gehofft, er werde die Frage wegen der Einrichtung noch berühren; sie wollte ihn dann auf den Senator hinweisen. Ihn selbst zu bitten, war sie zu stolz.

Aber auch er schlug den Ton seiner Frau an. Es werde sich alles vortrefflich machen. Er wolle kommen und mit der Alten reden.

Jetzt müsse er aber gehen. Er sei allzu beschäftigt.

»Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!«

*

An diesem Tage fand auch noch eine andere Unterredung statt. Wilhelm hatte an Wiebke geschrieben, daß er am Spätnachmittag kommen und den Abend bei ihnen zubringen wolle.

Während sie, seine Zeilen in Händen, noch dastand und durch die Fenster auf die Straße schaute, sah sie plötzlich – und heiß ging's ihr ans Herz – Carlos von Wulfsdorff der Wohnung zuschreiten. Im Nu wich sie vom Fenster zurück.

Sie konnte, sie wollte ihn nicht sprechen, unter keinen Umständen. Dabei beunruhigte sie aber doch die Vorstellung, daß er sie gesehen habe, und – da ihre Mutter außer dem Hause – ihm niemand bei seinem Eintritt erklären konnte, daß sie nicht anwesend sei.

Noch unter ihrem Schwanken floh sie in die Küche, verharrte hier horchend und beschloß, gar nicht zum Vorschein zu kommen. Vielleicht begnügte er sich mit Klopfen, und ging, wenn ihm nicht aufgetan ward.

Zunächst vernahm sie nichts. Entweder war er draußen aufgehalten oder er zögerte näher zu treten.

Aber dann ward draußen wiederholt stark und anhaltend gepocht, und unmittelbar darauf hörte sie Schritte und ihren Namen rufen.

Aber es war nicht Carlos' Stimme, sondern eine fremde, die sie ohne Zaudern veranlaßte, sich herauszuwagen.

»Es ist jemand da, Fräulein!« erklärte ein Schmiedejunge mit Lederschurz und geschwärzten Armen, und hinter ihm erschien – Carlos.

»Ah, Sie, Herr von Wulfsdorff?« stieß Wiebke spröde heraus.

Und seinem werbenden Blick begegnend:

»Ich bitte, was wünschen Sie? Wollen Sie meine Mutter sprechen! Sie ist leider nicht anwesend. Sie ist auf Wunsch meines Verlobten, Herrn Wilhelm Lornsen, nach Halk hinübergefahren.«

»Ihres Verlobten, Fräulein Wiebke? Ich denke, Sie sind aus dem Hause gegangen, weil Sie ihm einen Korb erteilt haben? So wurde mir heute mittag erzählt. Eben dieser Umstand gab mir den Mut, mich Ihnen – verzeihen Sie meine Unbescheidenheit –, noch einmal wieder zu nähern.«

Und des jungen Mädchens Blick und Haltung falsch deutend, fuhr er hastig und ohne daß sie ihn zu unterbrechen vermochte, fort:

»Ich mußte Sie sehen und sprechen. Und nun sagen Sie, daß Sie doch des von Ihnen nicht geliebten Mannes Braut geworden sind? O, erzählen Sie, wie alles gekommen ist. – Was geschah! Wie konnten Sie sich so unglücklich machen?«

Und ihrer widersprechenden Miene begegnend:

»Nein, nein! Ich weiß, daß Sie mit Ihrem Herzen nicht dabei sind. Man zwang Sie. Aber ich bin Ihnen von ganzer Seele gut, Fräulein Wiebke! Kehren Sie noch um. werden Sie mein! Ich schwöre Ihnen zu! Ich nehme den Widerstreit der Verhältnisse auf. In diesen Tagen der Öde und Sehnsucht habe ich mir alles klargemacht. Ich werde die Schwierigkeiten überwinden. Sie gehen zunächst von hier fort zu Verwandten von uns. Für Ihre Mutter miete ich eine stille, behagliche Wohnung, mache sie sorgenfrei. Meine Eltern und meine Schwester werden Sie schätzen und lieben lernen. Alles wird sich gestalten; sie sind gut und human. Sie werden schließlich meinem Glück keinen Widerstand entgegensetzen. Mit Geduld, Vernunft und Zeit werde ich alle Hindernisse überwinden. Nun, Wiebke, heißgeliebte Wiebke? Wollen Sie? Ah, wer einmal in Ihre Augen sehen durfte, der ist für ewige Zeiten verloren, Wiebke – Wiebke!«

Nach diesen Worten war er im Begriff, sich dem entsetzten und angstvoll ihm wehrenden Mädchen zu nähern, als die Tür geöffnet ward und – Wilhelm Lornsen, bleich wie der Tod, aber auch wie ein zum Sprunge bereites Tier, in der Tür erschien.

Und dann Wort und Antwort und ein schriller Angstschrei aus Wiebkes Munde – aber auch ein solcher lauter Wirrwarr, daß die Menschen von nebenan sich an die Fenster drängten und hinhorchend und einander Stille zuwinkend, zu erspähen suchten, was drinnen vor sich ging – –

*

Auf ihrem Lager in der Nacht wälzte sich ruhe- und schlaflos Wiebke Nissen.

Wenn sie mit Gott hadern wollte, daß er ihr trotz allen Ringens, das Gute zu tun und dem Ungerechten aus dem Wege zu gehen, die Pfade nicht ebnete, erinnerte sie sich, wieviel besser sie es doch noch gehabt im Leben, als Millionen andere, und dann flehte sie ihn an, ihr zu vergeben. Einen, einen gab es, der Heilung für alles besaß, Pastor Bjelke! Immer tiefer kam's ihr zum Bewußtsein, weil bei dem verzehrenden Drange nach Ruhe und Friede immer mehr Sehnsucht nach ihm sich ihrer bemächtigte.

Sie vergegenwärtigte sich seine Gestalt, seine Stimme und seines Auges Blick. Sie stellte sich vor, daß sie ihren müden, wüsten Kopf an seine Brust lehnte, daß seine Hand sie weich umfaßte, und schon bei der Vorstellung sickerten erlösende Tränen aus den Augen. Und dann wollte sie wieder ihr Gesicht entstellen, damit kein Mensch jemals noch das Auge begehrlich zu ihr aufschlage. Sie wollte fort, weit fort, irgendwo mit ihrer Mutter ein bescheidenes Fleckchen ausfindig machen, arbeiten, sich etwas verdienen, sich mühen, aber heraus aus all diesem Durcheinander! Wie besessen waren die Männer!

Hans, Carlos, Wilhelm erschienen vor ihrem Auge. Alles, was geschehen, trat in ihr Gedächtnis. Und nun gar dieser letzte Abend! Wie ein fauchender Wolf war Lornsen über Carlos hergefallen und hatte ihn geschüttelt.

»Elender Mensch, der du nicht das Heiligtum des Verlöbnisses achtest! In das Haus einer Braut brichst du ein und wendest deine Künste an. Ja, einmal entpuppt ihr euch doch, ihr hohen Herren! Wie die Katze mitten im Streicheln die Krallen gebraucht, so ihr!«

Und dann hatte Carlos, nachdem er sich von dem Wütenden gelöst, stolz und mit funkelnden Augen gesprochen.

Er hatte ihm seine Rechte auf Wiebke abgestritten. Wer mehr zu verdammen sei, der, welcher ein Mädchen in die Enge treibe, sein Ansehen, seinen Reichtum und den Druck der Verhältnisse benutze, oder der, welcher unter der Voraussetzung, daß das Wort zurückgenommen, daß das Herz frei, als ehrlich Werbender aufträte?

»Ehrlich Werbender?« hatte Wilhelm höhnisch gerufen. »Lagen Sie nicht fast vor meiner Braut auf den Knien, obgleich sie Ihnen wehrte?

»Und Ihre Worte sind Lügen! Sie mußten wissen, daß das Mädchen mein war! Ich lasse meine Hand darauf, daß sie es Ihnen gesagt hatte, bevor Sie mit Liebesbeteuerungen auf sie einsprachen!

»Nun, ist dem nicht so? Antworte du, Wiebke! Also hinaus, in Sekundenschnelle, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, und wehe Ihnen, wenn Sie noch einmal wagen, meine Wege zu durchkreuzen.«

Aber Carlos war nicht gegangen. Er hatte sich mit trotziger Würde emporgerichtet und gerufen:

»Wo solcher Zwang auf ein Herz ausgeübt wurde, wie hier, da sind derartige Worte Phrasen! Eine Tatsache ist es, daß Ihnen Fräulein Wiebke einen Korb erteilte. Dann ließen Sie nicht ab, sprachen vielmehr von neuem auf sie ein. Sie haben sie überredet, ja zu sagen, sie tat's unter dem Zwang der Umstände. Ich aber wußte nur von ihrer Absage, als ich heute das Haus betrat, und ich nahte mich ihr mit demselben Rechte wie Sie, mein Herr! Ich machte ihr einen ehrlichen Antrag!

»So, das habe ich zu sagen, und nun gehe ich, nicht auf Ihren Befehl, sondern weil ich selbst will! Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem ich die Erlaubnis erteile, über mich den Herrn und Meister zu spielen. Am wenigsten Sie!«

Nach diesen Worten war er auf Wiebke zugetreten, hatte, ohne daß sie ihm gewehrt, seine Lippen auf ihre Hand gedrückt und war, während Wilhelm mit geballten Händen, bebend vor Erregung, dabei gestanden, aus dem Zimmer gestürmt.

Und dann waren die Erörterungen zwischen ihr und Wilhelm Lornsen erfolgt, bei denen Wilhelm in seiner maßlosen Eifersucht keineswegs sachlich geblieben, sondern auch ihr Schuld an dem Vorfall beigemessen hatte. Und als sie dies empört abgewiesen, war er auf Hans gekommen und hatte sie – zu ihrem Erschrecken – bei Verlust von Gnade und Seligkeit aufgefordert, zu sagen, was sie mit ihm gehabt? Die Spatzen zwitscherten es auf den Dächern, daß sie es mit mehreren Männern zugleich gehalten habe.

Furchtbare Szenen hatten sich entwickelt, in denen er bald getobt, – bald wieder ganz in den Bann ihres Wesens gezogen, – ihr alles abgebeten hatte. Aber auch sie war ihrer Besinnung nicht Herr gewesen.

Seelengemartert hatte sie erklärt, daß ihre Kräfte am Ende seien. Niemand vermöge sie es recht zu machen. Immer sei der Schein gegen sie, aus dem Geringfügigsten, aus irgendeiner Zufälligkeit, einem Blick eines Mannes würden die ungünstigsten Schlüsse gezogen. Sie habe keinen andern Gedanken und keinen andern Wunsch als den Tod.

Da war er vor ihr niedergestürzt und hatte sie beschworen, das alles zurückzunehmen. Er hatte von neuem beteuert, daß ihr alles werden solle, was sie verlange, auch zugesagt, sie nicht mit Zärtlichkeiten zu belästigen, solange ihr Inneres nicht zur Ruhe gelangt. Klug einlenkend, hatte er nichts unterlassen, sie vertrauensvoll zu stimmen und jeden unebenen Gedanken wieder zu verscheuchen.

»Die Bucht werde,« so hatte er noch einmal verheißend geschlossen, »gereinigt von allem, oder er kaufe das Herrengut bei Hege, wo sie künftig ganz allein für sich wohnen und wirtschaften würden.«

Und da hatte er sie denn bezwungen und versöhnt. Seine Liebe und Fügsamkeit hatten sie gerührt und wie stets, war dem Streit die größere Zärtlichkeit gefolgt.

*

Einen Brief an Hans Appen und einige Zeilen an Mutter Lornsen aufzusetzen, war das erste, was Wiebke am Morgen nach Läuterung ihres Innern vornahm.

»Mein lieber Herr Hans!

Infolge gestriger Umstände bitte ich Sie inständigst, jeden Schritt zu mir ferner zu unterlassen. Gewiß, Sie hielten sich bereits zurück, aber ich muß es noch einmal aussprechen, um Unglück zu verhüten. Ich gehöre jetzt Ihrem Onkel und kann und will weder rechts noch links sehen. So helfen Sie mir, ich flehe Sie an, dazu nach allen Richtungen. Wirken Sie auch, wenn Sie können, ich wiederhole dieses herzliche Ersuchen, auf Ihre Frau Mutter und die übrigen Verwandten ein. Ich richte einen Anruf an Ihre Freundschaft, Ihren Edelmut und Ihre geschwisterliche Liebe zu ihrer dankbaren

Wiebke.«

Sodann schrieb sie folgende Zeilen an Frau Lornsen:

»Hochverehrte, teure Frau!

Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin, daß Sie mich als Mitglied Ihrer Familie aufnehmen wollen, aber auch aussprechen, daß ich mich mit allen Kräften bemühen werde, Ihnen eine gute, treue und gehorsame Tochter zu werden. In den nächsten Tagen werde ich zu Ihnen in die Bucht kommen, um alles mündlich zu wiederholen. Unterstützen Sie mich in meinen ehrlichen Entschlüssen, Wilhelm glücklich zu machen, und sagen Sie auch gütigst Ihrer Frau Tochter, daß ich mir alle Mühe geben werde, ihre Liebe zu erwerben.

Ihre Wiebke Nissen.«

Kaum nachdem sie diese Briefe aufgesetzt und durch einen Boten, den sie sich im Hotel Phönix verschafft, abgesandt hatte, erreichte sie eine Zuschrift von Wilhelm. Er schickte ihr Blumen, schrieb zärtliche Worte und sandte ein Kuvert für ihre Mutter. Dies enthielt eine namhafte Summe, und er bat sie, sie »liebe Mutter« anredend, es zu benutzen, um sich sogleich eine andere Wohnung behaglich einzurichten. Daran waren Ratschläge geknüpft, welche Gegend ihm passend und welcher Möbelhändler ihm geeignet erscheine. Sie solle an nichts sparen und in Zukunft sich in diesem neuen Heim ausruhen, statt ferner zu arbeiten. Reiche die übersandte Summe nicht, so werde er sie sofort vermehren.

Das alles machte die alte Frau Nissen überselig und überraschte und rührte auch Wiebke bis zu Tränen.

Am Abend erschien Wilhelm, war herzlich und liebevoll gegen Wiebke, plauderte bis spät mit den Frauen, und erklärte, gleich am kommenden Morgen Fuhrwerk zum Aufladen der Sachen senden und selbst mit Hand an die Einrichtung der neuen Wohnung legen zu wollen.

Er wünschte, daß rasch und gründlich mit aller Vergangenheit gebrochen werde, nicht, weil die Leute sprachen, denn er wußte, heute redeten sie, morgen beschäftigte sie etwas anderes, sondern um Wiebke sobald wie möglich andere Eindrücke zu verschaffen.

Die neue Wohnung lag in einem Stadthause des Zentrums zur ebenen Erde, enthielt zwei sehr geräumige Vorderzimmer, dahinter ein großes Schlafgemach, ein Kabinett, Küche und Mädchengelaß.

Die Stuben waren hoch, hell und sehr hübsch tapeziert und eigneten sich für eine kleine Familie ganz besonders.

Schon am nachfolgenden Tage war alles in Ordnung gebracht. Wiebke hatte mit großem Geschmack gewählt. Die meisten bis dahin gebrauchten Möbel waren auf Wilhelms ausdrückliches Verlangen durch neue ersetzt, hübsche Gardinen von ihr selbst aufgesteckt worden, und auch in der Küche blitzten tadellose Gegenstände. An der Tür ward ein Schild angeheftet, worauf »Frau Witwe Nissen« geschrieben stand, und als sich Wiebke einige Tage später in die Bucht begab, um ihrer Schwiegermutter den ersten Besuch abzustatten, fehlte in der allerliebsten Wohnung auch nicht ein Nagel mehr.

 

* * *


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