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Am nächsten Tag ließ Wiebke durch Arnold bitten, sie beim zweiten Frühstück zu entschuldigen. Ein sehr heftiges Kopfweh verhindere sie am Erscheinen. Sie werde jedoch alles im Hause besorgen und auch bei Tisch wieder ihren Platz einnehmen.

Die Gräfin nickte, einen andern Grund vermutend, äußerst befriedigt. Ihre Befehle wurden mehr als genau befolgt. Es hatte also doch die entschiedene Sprache gewirkt!

Dies Fortbleiben aber gab Carlos Anlaß, ein Wörtlein über Wiebke fallen zu lassen. Er wollte zugleich die Gelegenheit benützen, seine Cousine ein wenig zu necken. Carlos fand allezeit Vergnügen daran, seiner guten Laune die Zügel schießen zu lassen. Er konnte, obgleich er sich wegen seiner ironischen Art, seiner Mokier- und Kopiersucht schon häufig Feindschaft zugezogen, nicht schweigen.

Zunächst lobte er Wiebke wegen ihrer Schönheit über die Maßen und amüsierte sich darüber, in welcher Weise seine Cousine darauf erwiderte.

Natürlich fand sie ihre Stütze aus diesen und jenen Gründen doch eigentlich gar nicht hübsch. Carlos sah seinen Schwager von der Seite an, erkannte an dessen Blick, daß er sich nicht weniger belustigte, und nahm, so ermuntert, noch einmal das Wort.

»So, so, das findest du? Ich kann dir darin nicht beistimmen. Ich muß sogar gestehen, daß mir ein ähnlich schönes Mädchen kaum noch begegnet ist. Als ich sie gestern aufforderte, mir Gesellschaft zu leisten – es war begreiflich, ihr Bösen, da ihr mich im Stich gelassen hattet – erklärte sie keine Zeit zu haben.«

»Es war aber nur ein Vorwand. Ich weiß es. Auch später nach Tisch kam sie nicht. Sie war sogar im ganzen Hause nicht aufzufinden. Ich bin überzeugt, daß sie sich eingeschlossen hatte. Hattest du ihr vielleicht Befehl erteilt?«

Fürchtetest du, ich könnte an meinen Grundsätzen scheitern? Arme Cousine! Bist du noch immer nicht von deiner Pedanterie in solchen Dingen geheilt?«

Aber was er an Empfindlichkeit bei seiner Verwandten vorausgesetzt hatte, wurde noch weit übertroffen. Mit einer Gereiztheit, die sich ihrem ganzen Körper mitteilte, fiel sie ihm in die Rede und sagte spitz und beleidigend:

»Ich muß gestehen, daß ich es für einen Gast sehr wenig zart halte, der Frau des Hauses Sottisen zu sagen, ganz abgesehen davon, daß dies zugunsten eines Dienstboten geschieht. Es ist doch wirklich vollkommen gleichgültig, ob die Person hübsch oder häßlich ist, ob sie sich zeigte oder nicht zeigte, und ebenso bedeutungslos, aus welchen Gründen sie fortblieb. Ihr scheint es wirklich darauf abgesehen zu haben, mich zu verletzen, mir durch diese Person mein Leben zu verbittern –«

»Aber Herta –«

»O nein, spart eure Einwendungen! Seit den letzten Tagen muß ich fortwährend Vorträge über die Unübertrefflichkeit des Fräuleins Nissen über mich ergehen lassen. Sie ist ein Ausbund an Schönheit, Tugend und Sittlichkeit und ich – ich behandle sie empörend. Immer nur höre ich Gespräche über sie! Aber ich danke, danke ganz entschieden dafür, und geht das so fort, muß sie aus dem Hause! Nur zu sehr habe ich den Augenblick verwünscht, wo ich auf die unglückliche Idee kam.«

»Es ist mir doch gar nicht eingefallen,« schob Carlos besänftigend ein, »dich kränken zu wollen! Dich nur ein bißchen zu necken, war meine Absicht, da ich deine Schwäche kenne.«

»Welche Schwäche?!« Die Frau sprach's mit erhöhter Reizbarkeit und richtete einen unangenehm herausfordernden Blick auf ihren Vetter.

Nun aber fiel auch der Graf ein. Die Unsachlichkeit, mit der seine Frau die Dinge behandelte, ihre zunehmende Parteinahme gegen das junge, pflichttreue Mädchen, aber auch die Erinnerung an die Szenen, die ihretwegen bereits in den letzten Tagen stattgefunden, verschärfte seinen bereits vorhandenen Unmut aufs äußerste.

»Man sollte wirklich, wenn man dich so reden hört, zweifeln, daß dir irgendwelche Objektivität und irgendwelches Gerechtigkeitsgefühl innewohnt,« stieß er schroff heraus. »Es ist unglaublich, was du alles vorbringst und in welchen völlig ungerechtfertigten Zorn du dich hineinredest. Im übrigen habe auch ich ein Wort im Hause zu sprechen. Und da sage ich: das junge, wahrhaft musterhafte Mädchen bleibt! Sie geht nicht, da sie absolut nichts versehen hat, vielmehr in tadelloser Weise ihre Pflicht erfüllte und eine große Selbstbeherrschung an den Tag legte. Nicht sie, sondern du hast zu zeigen, daß dir Haltung und Selbstzucht nicht abhanden gekommen sind.

»Und unserem Vetter und Gast derartig zu begegnen, fehlt jeder Anlaß. Er erwähnte doch nur, daß das Fräulein nicht erschienen sei, und schloß daran die Vermutung, daß du die Veranlassung gewesen. Ich bezweifle auch gar nicht, daß dem so ist, und daß dich deine törichte Eifersucht leitete.«

»O mein Gott, weshalb strafst du mich so schwer, daß du mir ein solches Geschöpf ins Haus schicktest!« stieß die Frau wie verzweifelt heraus. »Aus dem ruhigen Frieden bin ich in ein wahres Kampflager geraten. Kein Tag ohne Aufregung, Streit und Verstimmung wegen dieses – Engels in Menschengestalt!«

Und völlig alle Vernunft beiseitesetzend, schloß sie:

»Also in der Tat! Es ist darauf abgesehen, daß ich das Feld räume, und daß die hergelaufene Person meine Stelle hier einnehmen soll. Nun wohl! Tu's denn doch! Tu's denn doch! Ich habe nichts, nichts dagegen. Ich habe es satt, mich um einer solchen Dirne willen herabwürdigen zu lassen. Ha, wenn ich bedenke, wie die unverschämte Person mir antwortete, als ich ihr ihre Zudringlichkeiten verwies, als ich ihr auf den Kopf sagte, daß sie mit dir in schamloser Weise kokettiert habe.«

»So, nun ist's aber genug mit dem strafwürdigen Unsinn!« fiel der Graf ein und sprang in der Erregung empor. »Fühlst du denn gar nicht, welche Rolle du spielst? Also wirklich! Du räumst ein, daß du das arme Mädchen mit deiner Prüderie beunruhigt hast. Du gestehst zu, daß du Verbote erließest, unserm Gast Gesellschaft zu leisten? Wahrlich ungeheuerlich, denn in welches Licht stellst du dich, aber auch uns, durch solche Bevormundungen?«

»Euch in das rechte!« sprangen die Worte aus dem Munde der Frau. »Schamlos ist euer Benehmen, wenn ihr schönen Augen und einer vollen Gestalt gegenübersteht. Ihr seid alle gleich. Grundsätze? Ja, ihr! Uns schleppt ihr auf die Scheiterhaufen, wenn wir nur den Kopf drehen, ihr aber folgt ganz nach Willkür euren Launen. Und es ist auch mein fester Wille: Entweder verläßt die Person sofort das Haus, oder ich kehre zu meinen Eltern zurück –«

Nach diesen Worten griff sie mit ihren weißen Händen in die Serviette, sprang empor, schleuderte sie auf den Tisch und verließ das Gemach.

Als sie heraustrat, hatte sich Arnold eben von der Tür, wo er als Lauscher gestanden, entfernt. Er hatte alles gehört.

*

Auch bei Tisch erschien Wiebke an diesem Tage nicht, obschon sie ihr Kommen angesagt hatte. Ihr Instinkt sagte ihr, aber auch gewisse Wahrnehmungen belehrten sie darüber, daß es richtiger sei sich fernzuhalten.

Als sie zwischen Frühstück und Mittagszeit, aus ihrem Zimmer kommend, die Treppe hinabstieg, begegnete ihr der Graf. Er grüßte, im Gegensatz zu seiner sonstigen überaus freundlichen Haltung, gemessen. Ja, seine Mienen waren so ausdruckslos, daß Wiebke in eine große Unruhe geriet.

Später erklärten die Kinder, daß sie heute bei der Mama lernen und mit ihr ausgehen sollten.

Endlich streifte Wiebke eine halbe Stunde vor Beginn des Diners den jungen Baron, der von einem Spaziergang heimkehrte, auf dem Flur. Er trug ein für seine Cousine bestimmtes Blumenbukett in der Hand und sprach Wiebke zwar höflich an, hatte aber doch etwas Gezwungenes in seinem Wesen, unterließ auch jede Frage nach ihrem Befinden und Nichterscheinen.

Das alles verriet Wiebke, wie die Dinge standen, daß man allseitig gegen sie Partei nahm, völlig aufgeklärt aber wurde sie durch Arnold. Er äußerte, als er einen Auftrag für das Diner von Wiebke entgegennahm:

»Es hat heute beim Frühstück ein tüchtiges Gewitter um Sie gegeben, Fräulein. Mit Verlaub! Ich sage es Ihnen, damit Sie Bescheid wissen. Ich hörte es vor der Tür.«

Wiebke vernahm, was Arnold sagte, aber sie erteilte ihm keine Antwort. Ihr Selbstgefühl hielt sie ab, sich in derartige Unterhaltungen mit dem Diener einzulassen. Sie zog nur die Schultern, als ob sie erwidern wolle, daß sie die Dinge nicht ändern könne, und fuhr fort mit dem, was sie ihm mitzuteilen hatte.

Dis Familie sah sie an diesem Tage nicht mehr, und auch am kommenden, an dem die Herrschaften vormittags auf der Brühlschen Terrasse speisten und später das Theater besuchen wollten, fand nur eine Begegnung mit der Gräfin beim ersten Frühstück statt.

Bei dieser Berührung benahm sich die letztere in einer so kühlen, ja, hochmütig verletzenden Art, daß es für Wiebke keinem Zweifel mehr unterlag, daß ihre Tage gezählt seien. Sie wußte zufolge ihrer Erfahrungen, daß eine Kündigung erfolgen werde.

Unter solcher Stimmung schrieb sie am Spätabend in ihrem Zimmer einen Brief an ihre Mutter, in dem sie sich rückhaltlos über den Stand der Dinge aussprach.

Sie hatte solches bisher aus Schonung gegen die alte Frau unterlassen, ihr vielmehr mitgeteilt, daß sie es gut habe und ein dauerndes Verbleiben im Finkschen Hause erhoffte.

Als Wiebke nach Beendigung dieses Briefes nach der Uhr sah, fand sie es zu spät, ihn noch forttragen zu lassen.

Sie legte ihn deshalb in ihre Kommode und begab sich schwermütigen Sinnes zur Ruhe. Während sie schlaflos dalag, ließ sie alles, was geschehen, nochmals an ihrem Geist vorüberziehen. Es war offenbar! Die Gräfin hatte den Herren die Überzeugung eingeflößt, daß sie eine verächtliche Person sei, oder jene opferten sie um des lieben Friedens willen mit leichtem Herzen, mit jener Gefühllosigkeit, die man Dienstboten gegenüber ohne Skrupel anwendet.

Nur über diese Alternative sich noch eine Gewißheit zu verschaffen, wünschte Wiebke. Namentlich zu wissen, wie der junge Baron sich zu ihr stellte, fachte ihr Interesse an, das beschäftigte sie sogar lebhaft.

Zufolge ihres starken sittlichen Empfindens schalt sie sich deshalb. Sie sah darin einen Beweis für den berechtigten Unwillen der Gräfin. Aber andrerseits war es doch natürlich, daß es auch für sie Augenblicke gab, in denen das Herz Beachtung finden wollte. Ihr Inneres schrie nach Verständnis und Wärme. Die Welt aber um sie herum war so bitterkalt, daß Seele und Gemüt schier erstarrten.

*

Unterdessen war zwischen den Eheleuten der Friede wiederhergestellt worden.

Flammen, die so hoch lodern, haben keine Dauer. Auch hier hatte besinnungsloser Zorn das Zepter geführt. Als die Frau zu ruhigem Nachdenken gelangte, sah sie ein, daß zu Entschlüssen, wie der Unmut sie geboren, nicht der geringste Anlaß vorhanden sei. So gab sie ihrem Manne das erste Wort und fand das Entgegenkommen, das sie voraussetzte.

Nur zweierlei blieb, nämlich ihre Eifersucht und ihr Haß. Sie wollte, wenn sie jetzt auch äußerlich nachgab, einen Grund finden, das blasse Frauenzimmer mit dem gefährlichen Körper aus dem Hause zu entfernen. Erst dann vermochte sie das Gleichgewicht ihrer Seele zurückzugewinnen, erst dann würden die Dinge wieder den Charakter annehmen, den sie vordem gehabt hatten.

Alles, was nur irgendwie ihre Pläne fördern könne, übersann sie. Sie wünschte sehnlichst, daß die Kinder sich beklagten, dann hatte sie einen Vorwand, der einen widerspruchslosen Inhalt besaß.

Aber freilich bot sich hier wenig Aussicht. Die Kinder hingen an Wiebke. Statt eines Vorwurfs kamen nur Anerkennungsworte aus ihrem Munde.

Auch das verschärfte den Grimm der Frau. Die Kleinen sollten nicht lieben, was sie haßte. Schon seit jener Unterredung konnte sie das »Frauenzimmer« nicht mehr sehen.

So richtete sie denn ihr Augenmerk aufs Haus. Sie sah im Gegensatz zu den letzten Wochen überall in die Stuben und Ecken, in Küche und Keller, suchte nach einem Anhalt zu Rügen und Tadel und wandte solchen zuletzt ohne jeden Anlaß an.

Auch begab sie sich, als Wiebke am folgenden Tage vor dem Frühstück wegen einer Ausbesserung für Eveline im Kinderzimmer saß, in die oberen Räume hinauf, guckte in das Gemach ihres Vetters und zuletzt auch in Wiebkes Kommode. Überall schaute sie sich spähend um, und als sie zufällig die Schublade der Kommode nur angelehnt fand, ging sie ohne Bedenken an eine Untersuchung. Weniger die Voraussetzung, hier etwas für ihre Pläne Nützliches zu entdecken, leitete sie, als vielmehr eine Unbefriedigung, eine ungestillte Leidenschaft.

Um so größere Genugtuung empfand sie, als sie oben auf der Wäsche ein an Frau Witwe Nissen in Föhrde überschriebenes Kuvert liegen sah. Einen Augenblick schwankte die Frau noch, dann aber nahm sie das Schreiben ohne weiteres an sich, entfaltete es und begann zu lesen.

Aber als sie kaum begonnen, hörte sie jemand, offenbar Carlos, die Treppe heraufkommen. Dadurch im höchsten Grade erschrocken, hielt sie inne. Sie lauschte beklommen und atmete erst wieder auf, als sie vernahm, daß er in sein Zimmer ging.

Nun setzte sie die Lektüre in fliegender Hast fort. Ihre Hände zitterten, ihre Augen flogen über die Schrift.

Doch gab's nun wieder eine Störung. Bei einer Rückwärtsbewegung, die sie machte, stieß sie an einen kleinen Nachttisch und brachte ihn zu polterndem Fall.

Sie bückte sich eilig und hob ihn auf. Zugleich aber wurde draußen Geräusch vernehmbar. Ihr Bruder trat aus seinem Gemach und klopfte an Wiebkes Tür.

Was war das?

Die Frau flog in ihrem Schuldbewußtsein zusammen. Sie fand keinen Entschluß, nur das Schreiben verbarg sie zunächst rasch in ihrer Kleidertasche.

Nun klopfte es abermals.

»Sind Sie da, Auguste? Ich möchte Sie bitten, mir etwas zu nähen! – Ah, Sie verzeihen, mein Fräulein!« fuhr er fort, als keine Antwort erfolgte. »Ich glaubte, das Hausmädchen sei da. Ich wollte Sie durchaus nicht belästigen. Nochmals Verzeihung!«

Nach diesem Schlußwort trat er in sein Zimmer zurück.

Sobald die Frau ihren Vetter wieder nebenan hörte, öffnete sie vorsichtig die Tür. Sie wollte sich so rasch wie möglich entfernen.

Die Lektüre des Briefes, so überaus wertvoll sie ihr war, trat zurück vor der Furcht, entdeckt zu werden.

Nun eben ertönte unten die Glocke zum Frühstück. Wiebke kam eilend die Treppe empor, stieß die Tür auf, durch welche die Frau gerade eben entschlüpfen wollte und stand in der nächsten Sekunde vor ihr.

Und nun brach denn auch das Letzte zusammen.

Nicht einen Augenblick war's der Stütze zweifelhaft, zu welchem Zweck die Gräfin in ihr Zimmer gedrungen, was hier geschehen war.

Nachdem sie blitzschnell in die noch geöffnete Kommodenschublade geschaut hatte, verstellte sie den Ausgang und verhinderte ihre Herrin am Fortgehen.

»Nun, was soll's?« hauchte die Gräfin, sah Wiebke mit glühenden Augen an und machte eine drohende Bewegung.

»Ich wünsche die Herausgabe des Briefes, den Sie widerrechtlich an sich genommen haben. Vor einer halben Stunde war er noch hier. Ich kam herauf, um meine Kommode zu verschließen und war schon in Unruhe, weil ich es unterlassen hatte. Sodann steht es Ihnen frei, gnädige Frau, das Zimmer wieder zu verlassen, vorher aber nicht.«

Wiebke sprach's. Ein solcher Ausdruck von Entschlossenheit erschien in ihrem Angesicht, daß die Frau schier zusammenbrach. Aber noch behielt sie ihre Fassung.

»Ich verstehe ganz und gar nicht, wovon Sie sprechen. Ich weiß nichts von einem Briefe und bezeichne Ihre Annahme als eine Unverschämtheit. Machen Sie augenblicklich Platz, und nehmen Sie zugleich die Erklärung entgegen, daß Sie aus meinen Diensten entlassen sind.«

Einen Moment schwankte Wiebke Nissen. Ihre Leidenschaft drängte sie, die Frau zu packen und auf die Knie niederzuzwingen. Ihr Inneres war in einem solchen Aufruhr, daß nur ein Gedanke darin Raum hatte: sich, nicht achtend der Folgen, zu rächen mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln. Es war zuviel des Empörenden, was ihr zum Dank für ihr pflichttreues Verhalten geboten ward.

Aber sie bezähmte sich dennoch. Sie gelangte zu einem andern Entschluß, von ihrem Standort nicht weichend, rief sie:

»Gut, Ihr Wille soll erfüllt werden. Ich werde auf die Rückgabe meines Eigentums verzichten. Sie werden ehestens das Zimmer verlassen und ich werde noch heute aus Ihrem Hause mich entfernen.

»Aber einmal hier, sollen Sie hören, wie ich über Sie denke. Das wenigstens soll der gemarterten Seele Labung sein.

»Als ich damals an Sie schrieb, legte ich Ihnen mein Ich demütig zu Füßen. Ich eröffnete mich Ihnen und rief Ihre Menschlichkeit an, ich sagte Ihnen, daß ich unglücklich sei, ich bat, daß Sie mich aufnehmen möchten, und ich versprach, daß ich Ihnen Ihre Güte lohnen werde mit allen meinen Kräften. Ich sandte Ihnen mein Bild. Ich wollte Sie in keiner Weise täuschen. Sie entschieden sich alsdann für mich und mein Dank kannte keine Grenzen.

»Ich strebte auch danach, ihn zum Ausdruck zu bringen. Ich tat, was ich konnte, ja, ich darf sagen, ich führte aus, was sonst nur mehreren fleißigen Menschen obliegt: ich war die Erzieherin Ihrer Kinder, Ihre Wirtschafterin, Ihre Magd. Ich war's, obschon meine Bildung mich zu anderem berechtigt, obschon solche Anforderungen nicht an mich gestellt waren. Was Sie mir dafür vergüten, wollen wir nicht erwähnen. Doch mich verlangte auch nicht nach Geld. Was ich ersehnte, war Güte, Gerechtigkeit, ein wenig Anerkennung. Sie aber, gnädige Frau, konnten nur das Wort nehmen.

»Ach, noch weit mehr! Schon nach kurzer Zeit suchten Sie mich zu drücken, mich zu kränken, und zuletzt wagten Sie es sogar, meine Ehre anzutasten. Sie gaben mir Verhaltungsbefehle, die bewiesen, wie gering Sie mich, freilich auch Ihre Umgebung, schätzten.

»Aber auch das habe ich über mich ergehen lassen. Ich wollte abwarten. Ich kenne die Auswüchse der Eifersucht; ich kenne das Leben und lernte, wennschon ich meine Ehre nie kränken ließ, mich demütigen, heute morgen aber suchten Sie geflissentlich mich zu quälen, rügten und tadelten, nur um mir wehe zu tun. Ihren Zorn in solcher Weise an mir auszulassen, sich zu rächen, daß die Natur an Ihnen weniger günstig verfuhr, als an mir: das war erbärmlich, das war, – roh. Aber noch nicht genug.

»Wie ein Wolf brechen Sie in meine vier Wände ein und scheuen sich nicht, den Späher zu spielen und mein Eigentum anzugreifen.

»Und Sie, die Sie das alles tun, gehören zu denen, die mit dem höchsten im Himmel besondere Pakte geschlossen zu haben glauben, Sie wagen zu vermeinen, das sei Ihr Vorrecht aus Ihrer Geburt und Stellung.

»Ich aber sage Ihnen, daß ich nur Verachtung vor Ihnen empfinde, ich sage Ihnen, daß Sie tief unter mir stehen an Herzensbildung, Sittlichkeit und Tugend.

»So, gnädige Frau! Die Tür steht offen, und nur eins mag Ihnen noch gesagt sein: Verzichten Sie darauf, mich ferner zu quälen und zu verfolgen! Ich warne Sie! Heute regierte noch Friedfertigkeit meine Zunge, trotz der Empörung. Es könnte aber geschehen, daß ich nichts anderes begehre als Rache und – und dann gibt's für mich keine Schranken!«

Schon eine kurze Weile war vergangen. Die Gräfin hatte bebend an allen Gliedern und mit einem Ausdruck grenzenloser Leidenschaft das Zimmer verlassen, Wiebke aber war auf einen Stuhl gesunken, in dem sie verharrte wie eine Gelähmte.

Nun aber horchte sie auf. Sie hörte, daß nebenan jemand leise das Zimmer verließ, behutsam die Treppe hinabschritt. Es war Carlos von Wulfsdorff. Er hatte also gelauscht und sicherlich alles gehört! –

*

Einige Monate waren vergangen. In dem Hintergemach einer in der alten Stadt belegenen Konditorei saß abends gegen zehn Uhr müde und abgespannt ein junges Mädchen und arbeitete an einer Stickerei. Sie fungierte dort als Mamsell und ersehnte den Augenblick, an dem sie die Läden schließen konnte.

Ohnehin pflegte um diese Zeit kein Gast mehr zu kommen. Das Hauptgeschäft vollzog sich am Tage, insbesondere um die Nachmittagszeit.

Als sie einmal ihre Arbeit unterbrach und in dem vor ihr stehenden Nähkorb nach einer andern Sorte Seide suchte, streifte ihre Hand einen beiseite gelegten Brief. So erinnert an das vorhandene, ließ sie die Stickerei ruhen und machte sich an die Lektüre des Inhalts. Nachdem sie ihn unter deutlich hervortretendem Unwillen in den Mienen zu Ende gelesen, trat sie in den Laden und war eben im Begriff, das Schreiben zu zerreißen und in den Ofen zu werfen, als sie durch den Eintritt eines Gastes daran verhindert wurde. Aber noch mehr!

Der stark angetrunkene junge Mensch taumelte nach einigen leidenschaftlichen Ausbrüchen jählings auf sie zu und raubte ihr nicht nur einen Kuß, sondern entwand ihr auch das in ihrer Linken befindliche Schreiben.

Und nachdem sie sich gewaltsam von ihm losgerissen, drang er abermals auf sie ein, faßte die sich verzweifelt Wehrende um den Leib und redete sie eisern umklammernd, mit zudringlichen Worten auf sie ein: Sie möge doch nicht so zimperlich sein, gar eine so drohende Miene annehmen! Auch möge sie gutwillig erlauben – alles kam lallend aus seinem Munde –, daß er den Brief, der sicher ein Liebesbrief sei, lese.

»Ich rufe nach Hilfe und lasse Sie sofort entfernen, wenn Sie sich nicht augenblicklich eines anständigen Benehmens befleißigen,« hauchte Wiebke und entwand sich abermals mit schier übermenschlicher Kraft den Armen des Unverschämten. »Auch geben Sie mir den Brief augenblicklich zurück. Er hat an sich durchaus keinen Wert für mich. Es ist ein elendes Machwerk, das ich eben vernichten wollte, aber –«

In diesem Augenblick ward die Ladentür geöffnet und wiederum trat ein Herr in den Laden. Er war sehr gewählt gekleidet, verbeugte sich artig und erbat eine Tasse Kaffee.

Als er jedoch tiefer in den Raum trat und das Augenglas abnehmend die Gestalt des sich zu einem Sprachrohr neigenden jungen Mädchens näher betrachtete, erschien ein Ausdruck höchster Überraschung in seinen Mienen, und auch sie, sich umwendend und ihn wiedererkennend, schrak heftig zusammen.

Im Nu erfolgte eine Auseinandersetzung, aber während Carlos von Wulfsdorff noch ehrerbietig auf Wiebke einsprach, namentlich auch seiner Befremdung Ausdruck verlieh, sie hier in der Konditorei wiederzufinden, erhob der erste Gast, der inzwischen mit dem Briefe beschäftigt gewesen war, seine trunken lallende Stimme und begann aus demselben vorzulesen.

»Ich bitte, schönes, teures Fräulein, mir den Ort und die Stunde zu nennen, wo wir uns treffen können und wo –«

Aber weiter gelangte er nicht, von mädchenhafter Scham und von Empörung erfaßt, schoß Wiebke auf den Menschen los und entriß ihm das Schreiben. Und dann sich zu Carlos wendend:

»Ich bitte, ich beschwöre Sie, Herr Baron, helfen Sie mir diesen furchtbaren Menschen entfernen. Er ist sinnlos betrunken und bereits vorher im höchsten Grade unverschämt gewesen. Ich bin ja solchen Ausschreitungen gegenüber wehrlos.«

Wulfsdorff nickte kurz und entschieden.

»Sie haben gehört,« hub er zu dem jungen Menschen gewendet an, »was die Dame von Ihnen gesagt hat. Ich ersuche Sie, die Konditorei sofort zu verlassen oder –«

Aber die beabsichtigte Wirkung blieb völlig aus. Mit einer übermütigen, keineswegs eingeschüchterten Miene stieß jener heraus:

»Ach, ne, ne, regen wir uns nicht auf, mein Herr, um die da! Das ist die Richtige! Obenauf tugendhaft, im übrigen – Na! Sie brauchen sie bloß zu fragen, wieviel das Geschenk kosten soll. Das übrige, das übrige –«

»O Gott, bin ich denn ganz verraten und verlassen!« hauchte das junge Geschöpf, welches alles das hören, alles das geschehen lassen mußte unter der Zeugenschaft gerade des Mannes, um dessen Achtung ihr vor allem zu tun war. Dennoch verzichtete sie auf eine Erklärung und auf nochmalige Bitten.

Nachdem sie kurzerhand das Schreiben zerrissen und in den Ofen geworfen, auch den inzwischen durch einen Fahrstuhl emporgeschobenen Kaffee dem Baron hingesetzt hatte, ging sie wortlos aus dem Laden und setzte sich nebenan in das Seitengemach, hier nahm sie ihre Arbeit auf und tat, als ob jene drinnen nicht mehr vorhanden seien.

Sie hörte aber, wie nunmehr Carlos mit dem Trunkenen verhandelte. Er bat ihn, erklärend, daß er Wiebke als ein durchaus ehrbares Mädchen kenne, die Konditorei zu verlassen. Er, der Fremde, sei es sich selbst schuldig, und er wisse ja gar nicht, was er tue. Er rief den anständigen Mann in ihm an und forderte ihn auf, dem jungen Mädchen nebenan sein Bedauern über das Vorgefallene auszusprechen.

Aber alles war vergebens. Der Benebelte erhob sich, nahm einen vertraulichen Ton an, faßte den Baron, trotzdem er abwehrte, unter den Arm und raunte ihm mit gedämpfter Stimme allerlei Ehrenrühriges über Wiebke zu.

Er, Carlos, wäre gewiß hier fremd, sonst müßte er wissen, daß in dieser Konditorei stets leichtfertige Mädchen bedienten, und sie, die blasse mit den üppigen Formen, sei nicht ein Spürchen besser. Er habe allgemein gehört, daß sie eine sehr raffinierte Person wäre, die tugendhaft tue, aber gegen diejenigen, die sie gerade möchte, nichts weniger als spröde sei.

Und dann wiederum ein langes Hinundher, bis zuletzt beide nach Stock und Hut griffen – der Baron unter artiger Abschiedbegrüßung – und den Laden verließen.

Carlos ließ zudem ein größeres Geldstück zurück, der Trunkene aber nur die Asche, die er fortdauernd von seiner brennenden Zigarre abgestreift und auf den Fußboden hatte fallen lassen.

Mit der Miene eines von einer großen Gefahr befreiten Menschen trat sie sodann wieder ins Nebenkabinett, ließ sich in den Stuhl fallen und ergab sich, todeserschöpft, ihrer grenzenlos verlassenen Stimmung.

Und aus allem, was durch ihren Kopf schwirrte, löste sich eines! Es half nichts, sie mußte, nachdem sie es fast ein halbes Jahr versucht, nun doch wieder der Stadt den Rücken wenden, sie mußte überhaupt den Versuch aufgeben, in solcher Weise ihr Brot zu verdienen.

Für Schönheit in solcher Stellung gab's keine Wahl. Der Weg wies aufs Laster oder auf Flucht. Schönheit und Tugend zusammen konnte die Welt nicht gebrauchen. Die Männer hatten keinen Glauben an die Tugend einer Verkäuferin! Sie nahmen als unzweifelhaft an, daß ein Mädchen, die von der Natur derart körperlich bevorzugt war und sich in solcher Abhängigkeit befand, leichtfertig sei, daß sie heuchle, wenn sie Anträge zurückwies.

Und alles war gegen sie. Wenn auch Carlos, den sie an dem heutigen Abend zum erstenmal seit ihrer damaligen Entfernung aus dem Finkschen Hause wiedergesehen, bis dahin geglaubt hatte, sie sei ein anständiges Mädchen, seine Verwandte habe ihr unrecht getan, so hatte er doch durch diesen Vorfall seine gute Meinung eingebüßt. Und wenn sie sich dennoch irrte, wenn er nur gegangen war, um auf diese Weise den Trunkenen zu entfernen, so würde er nicht wiederkommen. Morgen würde er nicht einmal mehr an diejenige denken, die ihm zufällig nochmals in den Weg getreten war.

Und wenn doch, welchen Zweck hatte es, in das Schicksal eines fremden Menschen einzugreifen? Nur Ungelegenheiten konnten daraus entstehen! Noch wahrscheinlicher aber war es, daß er aus anderen Gründen fortblieb. Die Reden des Fremden hatten sicher ihre Wirkung geübt. Carlos hielt sie für eine Verworfene.

Und doch zitterte Wiebke bei dem Gedanken, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Sie fürchtete sich vor den Fragen der Menschen. Sie hörte sie argwöhnisch sprechen: woran es denn nun wieder gelegen habe, was sie denn jetzt beginnen wolle!?

Das letztere war das Furchtbarste. Sie wußte es nicht, sie wußte nur, daß ihre Mutter sich kaum allein zu ernähren vermochte, viel weniger Brot für sie im Hause hatte!

Wiebke war so weit, daß sie überhaupt keinen Ausweg mehr sah. Aufs Land paßte sie vielleicht, in einfache Verhältnisse, wo es wunschlosere und natürliche Menschen gab.

Durch die Not gedrängt, hatte sie nach Entfernung aus dem Finkschen Hause ein möbliertes Zimmer auf acht Tage gemietet und von hier aus eine neue Stellung gesucht. Wählerisch durfte sie nicht sein; ihre Verhältnisse, die Umstände wiesen sie darauf an, zuzugreifen, was sich bot.

Es verging fast kein Tag ohne Anfechtungen und Aufregungen. Niemals begegnete sie einem Manne mit ehrlichen Absichten, schon deshalb nicht, weil keiner an solchen Orten ein Mädchen zum Heiraten suchte. Auch hatte sich nicht ein einziges Mal in ihr ein Gefühl der Zuneigung erregt.

Der Brief, der an diesem Abend von ihr vernichtet worden war, gehörte zu einem der vielen entehrenden Anträge, die sie im Laufe ihrer Anwesenheit empfangen hatte.

Und gerade dieser letzte Vorfall raubte der Bedrückten auch die letzte Fassung. Eine grenzenlose Angst und Unruhe bemächtigten sich ihrer von dieser Stunde an. Sie sah in jedem Menschen, dem sie nicht zu willen war, einen Widersacher und Verfolger.

Sie vergegenwärtigte sich, wie lau sich Baron von Wulfsdorff von ihr verabschiedet hatte. Sie stellte sich andrerseits vor, daß er sie nachträglich um Erklärungen angehen werde. Daß sie einen Liebesbrief empfangen, konnte sie nicht in Abrede stellen. Er war ja Zeuge gewesen. Das aber warf schon ein schlechtes Licht auf sie. Sie sträubte sich dagegen, ihm zu sagen, daß man ihr fortwährend ohne Anlaß nachstelle.

Er würde es auch nicht glauben, wenigstens vermeinte sie solches. Nichts sprach für, alles sprach gegen sie.

Sie besaß keine Kräfte und in ihrem abgestumpften Gefühl für die Außenerscheinungen auch keinen Drang mehr, die Menschen von ihrem Wert zu überzeugen.

Kalt, nackt und öde, aller Farben entkleidet, lag die Welt vor ihr, und draußen – es war Winters Ende – rüttelte der Sturm an die Fenster, und ließ sie zusammenfahren.

*

Wiebke hatte sich nicht geirrt. Weder am kommenden Tage noch im Verlauf der Woche ließ Carlos von Wulfsdorff von sich hören.

Die Möglichkeit, daß es dennoch geschehen könne, war der einzige Lichtpunkt gewesen, der die Dunkelheit ihres Innern erhellt hatte. Nur dieser Hoffnungsschimmer hatte sie fernere Mißhelligkeiten ertragen und die fortwährende Angst leichter überwinden lassen, daß der letzte Briefschreiber, ein leidenschaftlich brutaler Mensch, sich an ihr für die ihm brieflich erteilte Zurückweisung rächen werde.

Nun aber war's am Ende, zumal ein Streit mit der Frau des Konditors Wiebkes Stellung völlig erschüttert hatte. Er öffnete ihr zugleich die Augen, wie wenig es sich mit einem Mädchen ihrer Art vertragen konnte, hier ferner zu verweilen.

Ein Kunde hatte sich beklagt, daß er einen bestellten Makronenbienenkorb nicht empfangen habe. Niemand aber wußte von einem solchen Auftrag, auch Wiebke nicht.

Da ließ die Frau in Gegenwart der Familie bei Tisch die Worte fallen:

»Er soll doch bei Ihnen abgegeben sein, Fräulein. Sie haben es also vergessen. Statt sich immerfort mit Männern abzugeben – jeden Morgen kommt ja wenigstens ein Brief – sollten Sie lieber auf Ihre Sachen aufpassen.«

»Ich habe keinen Auftrag erhalten, ich sage es noch einmal,« entgegnete die Gescholtene schroff, »was aber Ihre Anschuldigungen anbetrifft, so weise ich sie zurück, Frau Gürtler. Sie wollen doch wohl sagen, daß ich Liebeshändel mit Herren habe, nicht wahr? Ich erinnere Sie daran, daß ich während meiner ganzen Anwesenheit hier, nicht einen Abend, selbst Sonntags nicht, das Haus verlassen habe. Ich muß Sie also ersuchen, Ihre Anschuldigungen zurückzunehmen. Ich lasse mir das nicht gefallen. Also nochmals, nehmen Sie zurück, was Sie hier, sogar vor Ihrer ganzen Familie, Verleumderisches ausgesprochen haben!«

»Na, na, tun Sie man nicht so zimperlich. Daß Sie Ihre Augen zu gebrauchen wissen, habe ich oft gesehen. Und zurück, was Sie hier, sogar vor Ihrer ganzen Familie, Verstehen Sie!«

»Ja, ich verstehe, und ich kann auch sehen. Ich bemerkte wiederholt, daß Sie die Kundschaft mit zu geringem Gewicht bedienten,« hauchte Wiebke. »Das scheint mir weit schlimmer, als daß ich den Gästen – in Ihrem Interesse – ein freundliches Gesicht mache. Sie haben auch jüngst die Geheimrätin Jäger zweimal die Pastete bezahlen lassen. Sie berichtigte Ihre Schuld doch schon bei der Bestellung. Ich sagte Ihnen das. Sie aber strichen das Geld nochmals von der alten, vergeßlichen Dame ein. Sie redeten ihr gar zu, daß sie sich in einem Irrtum befinde. Ohnehin gehöre ich nicht in ein Geschäft, wo solche unredliche Dinge vorkommen, und muß Sie dringend bitten, daß Sie dergleichen ferner unterlassen.«

»So gehen Sie – und gleich!« schrie die Frau, eine korpulente Person, die eine weite, geblümte Jacke trug und schon durch ihr saloppes Äußeres abstieß, mit boshafter Roheit.

Wiebke aber hatte sich, ohne ein Wort zu erwidern und trotz der begütigenden Zureden des Mannes, der ein friedfertiger Mensch war, erhoben und das Zimmer verlassen. –

*

Es war Sommers Mitte und Spätnachmittag. Durch die kleinen, die Chaussee begrenzenden Pappeln am Flußufer rauschte der Abendwind mit einer geheimnisvollen Musik, wie flüsterndes Zutrauen klang's in den zitternden Blättern. Drunten aber floß das kühle Wasser, und sanft plätscherten die Wellen gegen den flachen, sandigen Strand.

Der Himmel war grau bedeckt, ringsum alles unbewegt. Nur eine Schar Drosseln rauschte hoch oben durch die Luft mit schwirrendem Geräusch. Dann, bei plötzlichem Flugschwenken, war's wieder still, jeder Laut erstorben. Bald senkten sie sich in einen dunkel emporstrebenden Wald herab, bald stürzten sie sich auf einen hohen, breitästigen Baum mit dichtem Laub und nahmen nach betäubendem Gezwitscher von dort jählings den Flug wieder hoch zum Äther empor. Wie wimmelnde Insekten erschienen sie dem Auge; aber reizvoll plastisch hoben sich ihre schwarzen Gebilde vom grauen Himmel ab.

Ein Wanderer, ein junger, kurz vor dem letzten Examen stehender Mediziner, schritt über die von der nordischen Stadt Föhrde nach dem großen Dorf Halk an diesem Wasser sich dammartig entlang ziehende Landstraße.

Es war der Neffe eines dort wohnenden Hufners und Müllers, der mit seiner Mutter und seiner verwitweten Schwester – der Mutter des Studenten – zusammen auf einem großen Besitz wirtschaftete.

Hans Appen hatte gegenwärtig Ferien und hielt sich bei seinen Verwandten in Halk auf. Heute kehrte er von einem Besuch bei seinem älteren Onkel, dem Justizrat Lornsen in Föhrde, zurück.

Dann und wann richtete der junge Mann den Blick auf die Ufer zu beiden Seiten des Flusses.

Zu seiner Linken breitete sich, malerisch hingestreckt, die reizende Stadt Föhrde mit ihren Häusern, roten Dachspitzen, grünen Gärten und hoch emporragenden Kirchen aus.

Über allem aber der ruhige, nordische Himmel, der sich mit seiner heute grauen Farbe melancholisch in dem breiten Flußband widerspiegelte.

Endlich bog Hans Appen, die Chaussee verlassend, an das hart sich an das Wasser anlehnende Halk ein. Es war ein langes, schmuckes Dorf mit Gärten, Blumen und Wiesenland, großer Schule und aufgetrepptem Wirtshaus. Überall standen Bauersleute in Hemdärmeln vor der Tür, einige ältere noch jetzt beschäftigt; viele spielende, jauchzende Kinder, und wohin das Auge sah, farbenreiche Wohlhabenheit.

Die Mühle von Lornsens lag fast mitten im Dorf auf einem zu der großen Landstelle gehörenden hohen Felde. Das Hauptgebäude unten kehrte dagegen, mit der Front schräg vorgebaut, eine Seite dem Dorfe, die andere der hier eine stärkere Biegung nach dem Ufer machenden Chaussee zu, auf der Hans eben einhergeschritten war. Vor diesem Hause, in dem zur Linken sich ein großer Laden mit Zucker, Kaffee, Reis, Sensen, Besen, Harken, Sprit, Wollenwaren, Porzellan und allen denkbaren anderen Gegenständen befand, die Räume rechts aber einer gemütlichen Gaststube dienten, war ein blumenbesetzter Garten angelegt, jedoch so weit inselartig auf die Straße herausgerückt, daß er vor dem Hause einen breiten Weg für anfahrendes Fuhrwerk freiließ.

Hinter dem Gewese lagen auf einem geräumigen, blitzsauberen Hof verschiedene Gebäude. Zur Rechten erhob sich ein altes, einstöckiges Wohnhaus, in dem Frau Lornsen und Wilhelm Lornsen wirtschafteten. Nebenan, etwas zurück, befand sich die Bäckerei, und daran stießen verschiedene Ställe und Scheunen.

In diesem Betriebe waren die Rollen so verteilt, daß die alte Frau Lornsen der Feld-, Vieh- und Hofwirtschaft vorstand, Frau Appen aber die Kühe und das feinere Hauswesen besorgte, auch die Hand über dem Laden und der Wirtschaft hielt. Freilich kam sie selten zum Vorschein. Aber sie besaß trotzdem eine straffe Art, die Mamsell in der Gaststube und das Fräulein im Laden zu beaufsichtigen, und überhaupt Ordnung in dem zu halten, was ihr einmal oblag.

Als Hans Appen das Vorderhaus betrat, um sich zunächst nach den hinter dem Laden befindlichen, vom Flur durch einen eigenen Eingang zu erreichenden Zimmern seiner Mutter zu begeben, nahm Wiebke Nissen, das neuerdings hier angestellte Ladenfräulein, den Weg nach den Vorderräumen und suchte vergeblich die Tränen zu dämmen, die über ihre Wangen rannen. So starren Gemüts war sie, daß sie dem mitleidig sie ansprechenden Studenten anfänglich nicht zu antworten vermochte. Und als es auf sein erneutes Zureden dennoch geschah, erhob sie mit einem tief beschwerten Ausdruck den Kopf und sagte:

»Es war wieder etwas mit Ihrer Mutter, die mich nun einmal nicht leiden kann. Und der Grund? Es war keiner als der, daß Ihr Herr Onkel meine Partei nimmt. Aber ich will ihr ihren Willen tun! Morgen geh' ich nach Föhrde zu meiner Mutter zurück. Dann ist Ruhe.«

Nach diesen Worten wandte sie sich mit stillem Schritt und mit der Miene eines Menschen, der sich mit stumpfer Ergebenheit, ohne Auflehnung in das Unvermeidliche fügt, dem Laden zu.

Hans trat infolgedessen nicht gleich in die Wohnstube seiner Mutter. Er wünschte ihr auszuweichen, da er ihre frostige Stimmung kannte, wenn sie Streit gehabt hatte. Ihre Seele war dann wie vereist; nichts hatte Raum in ihrem stolzen Innern als starre Unversöhnlichkeit. Der junge Mann schritt über den Hof nach dem Wohnhaus der Alten, von der er wußte, daß sie ihn, wann immer er kam, mit offenen Armen und mit Augen voll Liebe empfing. Sein Herz hing auch eigentlich mehr an dieser alten Frau mit dem liebevollen Herzen als an seiner Mutter.

Allezeit trug sie graue Kleider, breite, den Hals umschließende weiße Kragen, bis an die Handgelenke reichende, puffige, aber unten enggeknöpfte Ärmel und einen Gürtel von demselben Stoff um den Leib, von diesem hing das große Schlüsselbund herab, und immer hatte sie wegen eines etwas lahmenden Fußes einen Stock in der Rechten, auf den sie sich stützte.

Alle Lornsens waren schöne, ja, vornehm aussehende Menschen. Es hatte noch der Urgroßvater den Adel innegehabt, aber seine Söhne, scharf ausgeprägte Naturen, Gutsbesitzer in Angeln, legten ihn ab und nannten sich schlechtweg Lornsen. Sinn für Einfachheit hatte sich auf die Nachkommen übertragen.

Die Alte stand in ihrer mit Blumen besetzten Wohnstube und säuberte eine Pflanze, als Hans auf kurzes Klopfen hineintrat.

Seiner gewahr werdend und den Kopf mit den klugen Augen auf ihn richtend, rief sie angenehm überrascht:

»Wat, büst all wedder torüg, min Hartensjung? Na, schön, sett di dahl un vertell. Wat makt de Justizrat un sin vörnehme Fru?«

Es mischte sich nicht selten Ironie in die Rede der Alten, wenn sie von diesen ihren Kindern sprach.

»Es geht sehr gut bei Onkel Timm,« erwiderte Hans, hochdeutsch redend. »Er läßt bestens grüßen und will nächstens kommen –«

»Na, dat wüll'n wi aftöv'n –« murmelte die Alte in sich hinein. Und dann wieder zu dem Studenten: »Warst du schon bei deiner Mutter?«

Hans sprach ein zögerndes Nein, und dadurch ward die Frau, die sich schon wieder ihrer Pflanze, deren Blätter sie mit einem feuchten Schwamm abwusch, zuwenden wollte, aufmerksam.

Aber ehe sie ihren Enkel ansprechen konnte, ward sie abgerufen. Der Großknecht kam und holte Bescheid wegen einer Kuh. Sie eilte hinaus.

Hans sah sich in den beiden Zimmern um; immer heimelten sie ihn in gleicher Weise an. Sie hatten auch etwas Reizvolles. Alles war im altmodischen Stil, aber durch Zeit und Gebrauch gleichsam miteinander verwachsen. Und jegliches war von besonderer Art; wie Gemächer in alten Kavalierhäusern erschienen die Stuben, nur waren sie voller und überaus behaglich. Stühle mit teegrünem Seidenbezug und hohen, schmalen Lehnen, mehrere kleine Sofas ebenso überzogen, und viele heimliche Ecken, über denen mit altem Porzellan besetzte Regale angebracht waren. Nebenan im Eßzimmer blitzten silberne Kannen, Teebretter und schwere, massive Leuchter auf dem Büfett, und daneben standen zwei alte, breite, geschnitzte Schränke von großer Kostbarkeit.

Als sie zurückkehrte, nahm sie, ohne Übergang, das Gespräch wieder auf und sagte:

»Also, ich wollte noch fragen! Was war mit deiner Mutter?«

Der junge Mann schüttelte, etwas Bedeutungsloses andeutend, den Kopf: er wollte ausweichen. Aber als sie ihn so auffordernd anblickte, gab er gegen seinen Willen nach und sagte:

Ich begegnete Wiebke Nissen auf dem Flur. Sie kam von Mutter und war sehr verweint. Da ging ich lieber nicht herein.«

»Ja, ja,« bestätigte die Alte. »Deine Mutter ist ja eine Frau mit großen Eigenschaften, aber ohne Streit kann sie 'mal nicht leben. För se is Striet so veel, wie för unsereenen Slap un Middageten. – Wat hett denn nu wedder geb'n?«

»Ich weiß nicht, Großmutter.«

»Ja, ja,« machte die Alte, die in ihrer Lebhaftigkeit nichts unter den Tisch fallen ließ. »Ich kann's mir denken. Es wäre schon am besten, Wiebke ginge, obschon es eine tüchtige Person ist. Aber Friede und Ruhe, das ist auch etwas. Min Jung, so is't in de Welt. Un wenn't man en Spinn is, de ehr Nett dreiht hatt, en dösige Fleeg oder en anner fiendselig Insekt mutt't wedder vertünen. Jümmers een Kreatur gegen de anner, un se kunnen dat doch so schön hebb'n in disse herrliche Welt.«

»Was hat denn Mutter eigentlich gegen sie?« fragte der Student, dessen Neugierde nicht ohne Grund wach geworden war.

Die Alte zog ein Gesicht, dann sah sie ihren Enkel an und sagte:

»Was da ist? Dein Onkel hat wohl so ein kleines Auge auf sie geworfen. Das kann deine Mutter nun einmal nicht vertragen. – Sie mag überhaupt keine hübschen Frauenzimmer, und jedenfalls keine, bei denen sie denkt, Onkel Wilhelm könnte gar eine ernsthafte Absicht haben.«

»Ah –« stieß der Student, seine Empfindungen schlecht verbergend und mit dem Ton starker Überraschung heraus.

In diesem Augenblick ward die Tür geöffnet und Wilhelm, wie gewöhnlich in Hemdärmeln, stark bestaubt, trat zu seiner Mutter ins Gemach.

»Hest du,« begann er, mit liebenswürdiger Gelassenheit seinem Neffen die Hand reichend, »noch wat in de Stadt to besorg'n, Mudder? Hinnerk mutt Beer halen. Hüt is Klub – denn so kann he glick –«

»Ne, ne, ik hev niks, Willem. – Un segg mal –« ergänzte sie, als er schon, kurz nickend, wieder sich entfernen wollte, »wat war denn wedder mit Wiebke? Hans vertellt, dat Anna ehr stark tosett hett?«

Lornsen zog die Brauen zusammen und grub im Zorn die Zähne in die grau angebissene Kernspitze seiner Pfeife.

Dann stieß er heraus:

»Also wieder 'was? Es ist doch wirklich – Und soviel sage ich: das Mädchen bleibt! Paßt meiner Schwester Anna das nicht, so kann sie –«

Mit Rücksicht auf den Sohn hielt der Mann inne, doch seine Mienen, in denen sich ein eiserner Wille zeigte, sprachen weiter.

»Na, na, Wilhelm! Wilhelm!« schob die Alte mit sanftem Vorwurf ein. Und dann: »Soll ich 'mal mit Wiebke sprechen? Übrigens, Wilhelm, sie hat zu Hans gesagt, sie wolle morgen den Dienst verlassen –«

»Das wollen wir abwarten!« murmelte Wilhelm Lornsen mit stark auflehnendem, gleichsam auch gegen das junge Mädchen gerichtetem Ausdruck in der Stimme.

Jetzt wurde draußen auf dem Hof Hundegebell laut. Als die Sprechenden, dadurch abgelenkt, die Köpfe zum Fenster wandten, erschien plötzlich vor ihren Augen die hohe, starkknochige Gestalt der Frau Appen, und wenige Sekunden später hatte sie die Tür geöffnet.

Sie warf einen schnellen, mißtrauischen Blick auf den Kreis, den sie versammelt fand, nickte ihrem Sohn mit einem: »Schon wieder da?« mit leisem Vorwurf im Ton zu und schaute hierauf trotzig fragend auf ihren stumm und finster sich gebenden Bruder.

Nun wich Hans hinten in eine Sofaecke zurück. Die alte Frau faßte eine Topfpflanze und stellte sie ins Fenster und machte sich dort zu schaffen. Die Geschwister jedoch – man sah's – rüsteten sich zum Kampf.

»Was hast du wieder mit Wiebke gehabt?« stieß Wilhelm, seinen Ingrimm durchaus nicht unterdrückend, heraus und blickte seine Schwester mit hochmütig herausfordernder Miene an.

»Ich?« entgegnete die Frau langgezogen und in einem nicht minder stark auflehnenden Ton. »Ich wüßte nichts, wer sagt das?«

»Sie selbst –«

»Dann ist sie wohl nicht ganz klar.«

»Ja, das ist sie, glaube ich, sehr! Und etwas muß doch vorgefallen sein. Kannst du denn das Mädchen nicht in Ruhe lassen?«

»Ich sagte dir doch,« entgegnete die Frau, mit dem Fuß stampfend und ganz ihrer Leidenschaft hingegeben, »daß ich von nichts weiß! Ich verwies sie, daß sie so oft nach der Wirtsstube herüber ginge. Neulich stand ein Kunde wohl eine Viertelstunde und wartete. Wenn ihr das so in den Kopf gefahren ist, wird sie sich wohl getroffen gefühlt haben.«

»Wieso getroffen? Und überdies räumst du also ein, daß du sie wieder mit deinen ewigen Nörgeleien gereizt hast?«

»Nichts räume ich ein! – Ich will nur nicht, daß sie den Männern verliebte Augen macht. Männer, Männer, anderes hat sie nicht im Sinn! Wenn du dich bloß auf dem Flur sehen läßt, ist sie schon da –«

»Aha –« stieß Wilhelm Lornsen höhnisch heraus. »Also nun haben wir's. Das ist's. Die alte Geschichte! Aber ich möchte dich doch dringend ersuchen, daß du diese Angelegenheit mir überläßt. Nebenbei ist's niederträchtige Verleumdung, daß das Mädchen leichtsinnig ist. Sie ist eine musterhafte Person. Ich gehe oft 'mal in den Laden, auch wenn ich nichts da zu tun habe, bloß um mit ihr zu sprechen, von der können manche sehr viel lernen.«

»Meinst du vielleicht mich damit?« hauchte die Frau mit bebender Stimme. »Wenn's so ist, kann ich ja abdanken, und sie kann an meine Stelle treten. – Sie wird's ja doch, sie wird uns alle aus dem Hause bringen mit ihrer Scheinheiligkeit. Darauf ist's abgesehen! Sie will – wenn du es denn wissen willst – Frau Lornsen werden. – Dazu scheut sie kein Mittel. Ich aber denke –«

»Nun?«

»Daß man doch kein schlechtberufenes Frauenzimmer von der Straße aufzusammeln braucht, wenn man heiraten will –«

»Anna!« schrie der Mann mit einer Stimme so laut, daß die Wände zu beben schienen. Alle seine Glieder flogen, und noch einer zitterte am ganzen Leibe. Dem Studenten quoll es heiß durch die Seele, daß seine Mutter sich zu einer so schweren Anschuldigung hatte hinreißen lassen.

Die alte Frau Lornsen stand noch immer am Fenster. Eben schaute sie mit trübem Blick hinaus durch die offene Pforte auf die Landstraße und die hinter ihr sich ausbreitenden, sanft dahingestreckten Felder.

Gerade ging die Sonne unter und legte sich mit unvergleichlichen Lichtern über die Landschaft. Der Horizont schwamm in den Farben glühenden Eisens. Sein stiller Glanz erhöhte den Eindruck des Friedens in der Natur.

Alles Unruhige, Böse schien fortgeweht für alle Zeiten, nur hier, zwischen diesen vier Wänden, herrschte der Streit, aber immer nur hervorgerufen durch die dunkle Frau mit den finsteren Zügen, dem dichten, grauschwarzen, welligen Haar und den versteckt lodernden, leidenschaftlichen Augen. Ihre Bewegungen hatten etwas Ausgeglichenes, selbst im höchsten Affekt, und wenn sie im Hause einherschritt, hatte man bei der Begegnung unwillkürlich das Gefühl, man müsse erst anfragen, ob eine Rede erlaubt sei. Sie kannte kein Lachen, und höchstens glitt einmal etwas Weiches über ihre Züge, wenn von ihm, von Hans, die Rede war. Ihn liebte sie, obschon sie es nicht zu zeigen vermochte, mit einer tierischen Zärtlichkeit.

Und: »Anna!« drang's noch einmal wie Wetter vom Himmel aus dem Munde des Mannes. Er warf die Pfeife hin, fuhr sich in den dichten Bart und biß die Zähne zusammen.

Und dann knirschte er mit furchtbarer Entschiedenheit: »Wenn du noch einmal dem Mädchen wieder nahe trittst, wenn noch einmal wieder Streit und Klage ist – dann mietest du dich in Föhrde ein! Ich will's nicht mehr, ich hab's satt. Und hör's! Wiebke Nissen bleibt, bleibt unter allen Umständen!«

»Du tust in der Tat, als ob die ›Bucht‹ dein und nicht unserer Mutter Eigentum wäre,« trotzte die Frau auf. »Soviel wie du habe ich auch zu sagen.«

»Nein!« rief der vor Zorn fast besinnungslose Mann. »Du hast dein Erbteil, das dein Mann in alle Winde verstreute, weg. Was noch 'mal dein wird, kann nur aus deiner Geschwister Hände kommen, und alle müssen ›ja‹ sagen. Ich will deinem Manne nicht den Vorwurf machen, daß er das Geld nicht zu halten verstand, wenigstens nicht den vollen Vorwurf, auch dir nicht, aber von Rechten ist nicht mehr die Rede. Und – und – wenn's sein soll – ich kaufe die ›Bucht‹ und zahle alle aus!«

Nun mischte sich die alte Frau, die mit Schmerz sah, wie der junge Mann, ihr Enkel, bei diesen Erörterungen litt, und die selbst in Scham sich verzehrte, ins Gespräch. Sie redete beiden zu, wies auf den Zorn hin, der jeden mehr und anders sprechen lasse, als das Herz berge, und veranlaßte, daß sich Wilhelm, stumm brütend, in einen Stuhl warf und trotz Annas verteidigenden Worten keinen einzigen Einwand mehr erhob. Hans aber ging um alle leise herum, trat, tief Atem holend, ins Freie und nahm den Weg hinten in den Garten.

Nachdem er sein inneres Gleichgewicht zurückgewonnen, begab er sich in das Wohnhaus seiner Großmutter zurück. Es war die Zeit fürs Abendbrot gekommen. Eben legte die Alte die letzte Hand an den Speisetisch, und schon brachte die Magd dampfende Schüsseln mit Kartoffeln und eine warme Fleischspeise. Nun griff Frau Lornsen nach einer Schnur, die mit einer draußen an der Hauswand angebrachten Glocke in Verbindung stand, und gab den Hausbewohnern das Zeichen für die Mahlzeit.

Laut tönte der etwas blecherne Klang durch den stillen Abend, und nach einer Weile hörte man auch schon, wie die Stall- und Mühlenknechte in ihren Holzpantoffeln, schwer auftretend, der neben der Hausküche befindlichen Gesindestube zuschritten.

Außer Frau Lornsen, Wilhelm, Frau Appen und Hans speiste nur noch Wiebke an dem Tisch der Herrschaften. Die Mamsell in der Gaststube aß hinter dem Büfett und verließ den Raum zu diesem Zwecke überhaupt nicht.

Zuerst trat Wilhelm auf das Zeichen der Glocke ins Eßzimmer. Er schien seine gewohnte, gleichmäßig gute Laune völlig wiedergefunden zu haben, denn er scherzte mit seiner Mutter, nickte Hans mit alter Freundlichkeit zu und hob, was sonst nie vorkam, schon im voraus den Deckel von den Schüsseln, um zu sehen, was aufgetischt war. Auch grüßte er Frau Appen, die mit langsam-müdem Schritt und verschlossener Miene bald darauf folgte, mit Unbefangenheit im Ausdruck und sagte lobend:

»Es gibt ja heute Sauerbraten, mein Leibgericht, Anna! Das laß ich mir gefallen.« Und während sie sich alle setzten: »Wo ist denn Fräulein?«

Seine freundliche Begegnung hatte zur Folge, daß Anna ohne weitere Worte wieder aufstand und sich hinausbegab, um selbst nach der Gefragten zu sehen.

»Es ist noch jemand im Laden, sie wird gleich kommen,« erklärte sie bei ihrer Rückkehr in kurzgelassener Weise, und Wilhelm nickte.

Dann hörten alle auf die lebhaften Reden der Alten, die von dem Eierlegen der Hühner, einem lahmen Wallach, ihren Absichten, am nächsten Sonntag die Kirche zu besuchen und zuletzt von der eine Viertelstunde weiter am Gehölz wohnenden Familie von Wulfsdorff sprach. Sie habe gehört, daß der so lang fortgewesene Carlos von Wulfsdorff bereits seit acht Tagen auf Hege angekommen sei.

»Na, dann haben wir ja vielleicht auch bald wieder Besuch auf dem Hengst zu erwarten!« fiel Wilhelm Lornsen ein. »Ich seh' den jungen Carlos noch, wie er damals beim Umbau der Mühle oben auf der Brüstung auf und ab ritt. Es war ein tolles Stück, und nur der da drüben bringt so etwas fertig.«

Hans nickte beipflichtend, und auch die Alte, die an allem Besonderen Gefallen fand, erging sich in vielen lebhaften Worten. In diesem Augenblick trat Wiebke ins Zimmer und nahm, eine Entschuldigung aussprechend, neben Hans Platz.

Frau Appen ergriff die Fleischschüssel, um sie dem Mädchen zu reichen; zugleich aber prüfte sie, den Deckel erhebend, den Inhalt.

»Einen Augenblick! Es ist schon etwas kalt geworden, ich hole warmes!« sagte sie und ging in die Küche.

Wilhelm warf ihr zufolge dessen einen langen, freundlichen Blick nach. Es rührte ihn, daß sie wieder gutzumachen suchte, und auch auf der Alten Angesicht spiegelten sich die angenehmen Eindrücke wider.

»Wer war denn da, Wiebke?« hob die letztere an.

Wiebke zögerte; dann sagte sie:

»Zuerst Hofbesitzer Pahl, dann der Kleine von Thomsens nebenan, eben vorher –«

In diesem Augenblick trat Anna wieder an den Tisch und reichte dem jungen Mädchen die Schüssel.

»Nun –« ermunterte die Alte die Angeredete.

»Der junge Herr von Wulfsdorff von drüben. Er wollte Zigarren kaufen. – Er war schon einigemal da und fragte nach Ihnen allen.«

»Wie, was, Carlos? Davon hast du uns ja gar nichts gesagt, Anna!« stieß die Alte heraus. Und dann sich besinnend, zu Wiebke gewendet: »Wir sprachen nämlich eben von dem jungen Wulfsdorff. Ich hatte schon von Dorp gehört, daß er da wäre. – Hat er denn nicht gesagt, daß er uns besuchen will?«

»Na, er wird schon kommen, Mutter,« warf Wilhelm, seiner Mutter Eifer dämpfend, hin.

Die Alte konnte einen gewissen Verdruß nicht unterdrücken, daß der Assessor mit Wiebke im Laden geplaudert hatte; und daß er nicht einmal herübergekommen war, verstimmte sie noch mehr. Es war richtig! Alle Männer zog diese Wiebke an! Insofern hatte Anna nicht unrecht. Und doch saß sie mit ihrem blassen Gesicht so still und gesittet da, und war auch, wenn man sie beobachtete, stets von großer Zurückhaltung. Endlich wurde, nachdem noch Radies und Käse herumgereicht waren, der Tisch wieder abgedeckt, und zunächst begaben sich alle, bis auf die Alte, fort.

Wilhelm sah nach dem Abendessen stets noch einmal überall nach dem Rechten und guckte auch wohl in sein Zimmer oder in das neben dem Laden befindliche Kontor. Anna ging in die Küche, und Wiebke, die bis halb zehn Uhr das Geschäft offen zu halten hatte, nahm den Weg dahin wieder zurück.

Die Alte aber traf die Vorbereitungen für den gemeinsamen Tisch, an dem sie sich später wieder zu versammeln pflegten.

Sie räumte im Eßzimmer auf, zündete im Wohngemach noch eine Lampe an, ließ sich zuletzt, die Brille auf der Nase, in ihren Lehnstuhl fallen und griff nach der bereits von der Magd hereingelegten Zeitung.

»Na, min Jung, wat wist du? Geihst noch mit de Fähr nah de Stadt, oder blifst du hüt abend bi uns?« fragte sie, die Zeitung gerade streichend.

»Ja, ich bleibe hier, Großmutter. Jetzt will ich erst noch 'mal zu Mutter hinüber.«

Sie blickte ihn freundlich an und wandte dann die beim Sprechen über die Brille erhobenen Augen wieder der Lektüre zu. –

»Nun, kommst du auch einmal zu mir?« stieß Frau Appen bei seinem Eintritt mit sanftem Vorwurf heraus und faßte seine Hand. Dann sich niederlassend und ihn durch ihren Blick auffordernd, neben ihr Platz zu nehmen, fuhr sie fort: »Ich möchte heute abend nicht mehr hinüber! Ich möchte allein sein. Willst du es sagen? Aber du sollst bei ihnen drüben bleiben, nur jetzt leiste mir noch ein wenig Gesellschaft. Komm, lege Deine Hand einmal auf meine Stirn, es tut mir wohl. So, streiche leise auch die Schläfen.«

Nun sank ihr Haupt zurück, auch ihre Gestalt in einem leisen Anflug von Erschöpfung. Aber seine Berührung schaffte ihr sichtlich Erleichterung, und nachdem sie tief aufatmend eine andere Stellung eingenommen hatte, hub sie, als ob schon ein längeres Gespräch vorhergegangen, ohne Einleitung an:

»Weißt du, mein Hans, es ist ganz anders, als heute dein Onkel die Dinge darzustellen suchte. Dein Vater hat keineswegs das Geld, das ich ihm mitbrachte, in alle Winde zerstreut, sondern er wurde das Opfer seiner Gutmütigkeit bei einem leichtsinnigen Freunde. Wenigstens haben ihm die Verluste, die er dort erlitt, den ersten Stoß gegeben. Nachher kamen Mißernten und Krankheit dazu. Ich habe, während du noch ein Kind warst, sehr Schweres durchgemacht, und damals fand ich niemand, der mir zur Seite stand. Mutter wäre gekommen, sie wäre auch die Rechte gewesen, aber ich wollte sie ihrer Behaglichkeit nicht entreißen. Als dein Vater gestorben war und ich nach Eutin ziehen wollte – ich hatte die Absicht, eine Pension dort einzurichten –, war's gerade mein Bruder Wilhelm, der Mutters Verlangen unterstützte, daß ich zu ihnen kommen sollte. So haben sie mich also selbst gerufen! Und am Ende: ich habe mich doch auch nützlich gemacht, sogar mich all die Jahre mit Dingen beschäftigt, an denen ich wahrlich keinen großen Geschmack finde. Ja, mein lieber Hans, ich weiß, was du denkst. Und es ist wahr: ich bin verbittert. Zu früh schnitt das Glück den Faden für mich ab. Gewiß, ich habe dich, und ich habe Arbeit, und ich habe Brot; aber, mein Sohn, ich habe keine Freiheit. Ich liege seit zehn Jahren in Fesseln. Nur wer so glücklich in seiner Ehe war, wie ich, und wer dann in gleicher Abhängigkeit lebt, weiß, was dabei zu überwinden ist. Und jetzt geht's ja noch. Großmutter ist da, zwar mit ihren Eigenheiten, aber doch mit ihrem unendlich guten Herzen, und Onkel Wilhelm ist auch ein wahrhaft seltener Mensch. Aber er hat sich an dem scheinheiligen Mädchen versehen; er wird sie nehmen, er wird sie heiraten – und dann, wehe uns allen! – Kein größeres Unglück kann's geben.«

Hans hatte mit größter Spannung zugehört, und sowohl Inhalt wie Form der Rede seiner Mutter rührten sein Herz. Nur gegen die Schlußsätze lehnte er sich heftig auf.

Bei der Beurteilung Wiebkes ließ sie jede Unbefangenheit außer acht; da regte sich die Leidenschaft, und Hans begriff nicht, daß eine Frau wie sie nicht Einkehr in sich hielt und nachträglich an die Stelle eines befangenen ein unbefangenes Urteil setzte.

Hans trat auf den Flur zurück. Es kam über ihn, daß er seine Mutter kaum je so sanft und niemals so zärtlich gesehen hatte. Aber da dem so war, verstärkten sich die in ihm aufgestiegenen weichen Empfindungen für sie.

Als er vor seinen Schritten nach der Hofwohnung noch einmal durch die Glasfenster des Ladens nach Wiebke hinschaute, sah er seinen Onkel Wilhelm, die Pfeife im Munde, gegen den Ladentisch gelehnt, dastehen und mit Wiebke schwatzen. Er schaute ihr jetzt eben zu, wie sie an der großen, trübe brennenden Hängelampe drehte. Sie hatte sich zu diesem Zweck auf eine kleine Trittleiter gestellt, und indem sie die Arme emporhob, kam ihr verführerischer Wuchs voll zur Geltung. Da sein Onkel ihm fast den Rücken zuwandte, vermochte er dessen Mienen nicht genau zu beobachten, aber was er sagte, ließ keinen Zweifel, denn Wiebke sah ihn plötzlich mit einem Blick an, der Hans' Inneres jählings in einen solchen Aufruhr versetzte, daß ihm das Blut in die Schläfen schoß. Eifersucht und eine verzehrende Leidenschaft für das Mädchen erfaßten ihn und wirkten so nachhaltig, daß er nicht imstande war, jetzt irgend jemand Rede zu stehen.

In seiner Fassungslosigkeit stürzte er hinaus über den Hof durch den offenen Eingang auf die Dorfstraße. Und ziellos, nur in dem Drang, mit sich allein zu sein und die Ruhe seiner Seele zurückzugewinnen, eilte er, in der Ferne sich die erleuchteten Fenster des aus dem Waldausschnitt hervorleuchtenden Herrenhauses in Hege als Richtschnur nehmend, vorwärts.

Und: »Wiebke, Wiebke, wie konntest du das tun?« stöhnte er wie verzweifelt und drückte in dem Sturm der über ihn Herr gewordenen Begierden die Hände gegen die fiebernde Stirn.

 

* * *


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