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Als Hans das von einem Graben umgebene und von schönen Anlagen umschlossene Wulfsdorffsche Herrenhaus betrat, fand er niemand auf dem mit alten, in breiten Goldrahmen eingefaßten Gemälden geschmückten und mit allerlei Garderobegegenständen angefüllten Flur.

Zur Rechten in einer Ecke und an der Wand hingen viele, dem Grafen gehörende Mäntel und Kopfbedeckungen, Jagdmützen, Kappen, Sturm-, Stroh- und Filzhüte mit breiten und schmalen Rändern in allen Formen. Der hellgelbe Parkettfußboden glänzte und war so glatt, daß man auf dem ausgebreiteten Brüsseler Läufer einherschreiten mußte, um nicht auszugleiten.

Jedenfalls aber bot diese Vorhalle mit ihren sanftgemalten, hellen Wänden, den über den Türen eingelassenen Landschaftsbildern, den alten, oval eingefaßten Gemälden und hohen, schmalen Spiegeln einen auserwählt vornehmen Eindruck. Was Hans nun nach langer Zeit draußen und hier drinnen wieder sah, regte auch seinen Schönheitssinn in außerordentlicher Weise an. In dieser so ganz andern Welt trat vorübergehend Wiebkes Bild völlig zurück, und Türenna von Wulfsdorff mit den tiefen, sanft funkelnden Augen, dem reizvollen Körper und der vollendeten Auserlesenheit des Wesens beherrschte seine Vorstellungen allein. Hier war eine reine Seele und ein wie aus einem frischen Bade emporgestiegener Körper, dort – plötzlich drängte es sich dem Studenten auf – lauerte eine verderbenbringende, die Sinne verwirrende und Krankheit des Geistes heraufbeschwörende Schönheit.

Während er noch unschlüssig dastand, öffnete ein Diener, ein großes, silbernes Tablett auf der hochgehobenen Hand haltend, die Türen zu dem Gartenzimmer, und indem nun ein anheimelnder Kaffeeduft den Flur durchwürzte, drang aus dem Gemach ein lustig helles Lachen aus Türennas Kehle. Alsbald ward sie auch seiner gewahr, und Carlos kam rasch herbeigeeilt und zog den Freund unter liebenswürdigsten Bewillkommnungsworten ins Gemach.

Herr von Wulfsdorff sah mit seinem weißen, kurzen Schnurrbart, den gesund gefärbten Wangen und dem energisch ausgeprägten wetterfesten Gesicht ganz wie ein Reiteroberst aus. Er besaß auch das derbfreimütige Wesen eines Soldaten.

Seine Frau besaß eine süßlich dunkle, weiche Gesichtsfarbe, schöne, stille Augen und war, trotz ihrer Jahre, mädchenhaft schlank gewachsen. Immer noch konnte sie wie ein Kind erröten, wenn Fremde sich ihr näherten, oder irgend etwas Außergewöhnliches ihren Geist in lebhaftere Bewegung setzte.

Ihrem Manne gegenüber legte sie eine sanfte Unterordnung an den Tag und ließ immer erst ihn das Wort nehmen, wenn es sich um irgend etwas Wichtiges handelte.

Das Gemach war in hell abgetönter blauer Seide tapeziert und mit altfränkischen, gelbseidenen Gardinen versehen, die schlank von den Fenstern herabfielen und sich weit über den Fußboden ausbreiteten.

»Mein lieber Herr Appen! Welchen ritterlichen Dienst haben Sie unserer Türenna geleistet! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen,« begann Herr von Wulfsdorff mit großer Wärme, umfaßte vertraulich Hans' Schultern und führte ihn zu seiner Frau. Auch sie legte einen Ausdruck von Güte in ihre Augen, der ihn ganz gefangennahm.

Man war in der Folge um ihn, als sei er ein Gast, der durch sein Erscheinen dem Hause gleich große Ehre und Freude bereitet habe, und erst als Carlos wiederholt etwas ungeduldig zum Aufbruch mahnte, ließ der alte Herr den Nachbarsohn unter dem Ersuchen ziehen, sich so oft wie möglich während seiner Anwesenheit sehen zu lassen.

Sie schritten, nachdem Türenna rasch das Kleid gewechselt, durch die Halle seitwärts zur Linken durch einen Korridor hinaus an einem großen, blitzsauberen Hühnerhof vorüber, und von dort auf einem breiten Wege zwischen den Scheunen und Ställen zu dem Inspektorhaus. Hier hielt bereits der Reitknecht mit den drei Pferden, und wenige Minuten später hatten sie sich in den Sattel geschwungen und flogen in der Richtung nach Norden durch die blühenden Fluren dahin.

Türenna saß tadellos zu Pferde, plauderte beim Schrittgang der Tiere aufs lustigste und sah in ihrem dunklen Reitkleid und dem wehenden, grünen Schleier so verführerisch aus, daß Hans, sein gewohntes, mehr abwartendes Wesen abstreifend, ihr einige Komplimente zu sagen wagte.

»Nein, nein, nein, gar nicht!« wehrte sie gutmütig ab und spitzte den reizenden Mund. »Ich bin ja ein so kleines Heinzelmännchen, daß an mir nichts zu bewundern ist. – Wissen Sie, daß ich eigentlich recht darunter leide, daß ich so schmächtig geraten bin, Herr Appen. Wie schön, recht groß und stattlich zu sein! Meine Schwester Willy hat die Frauengröße, die ich mag. Aber sehen Sie dort drüben, wie herrlich die Felder beleuchtet sind! Ah, wie ich mich glücklich fühle, wenn die Reize unserer nordischen Natur auf mich eindringen. Es gibt doch nicht ihresgleichen!«

Und sich höher in dem Sattel hebend, sog sie gleichsam mit den Augen die Bilder auf, die solchen Eindruck auf sie hervorriefen.

Hans aber nickte, und während ihr Wesen berückend auf ihn eindrang, stellten sich abermals die Vergleiche ein, und er fragte sich, ob Wiebke jemals eine so selige Freude empfinden, gar der Natur sich mit solcher Begeisterung zuwenden könne. Die selbstgestellte Frage mußte er verneinen. In ihr saß der Dämon der Schwermut, aber auch ein anderer Dämon, den er bisher nicht ergründet hatte. Sie gehörte entweder zu jenen, die, aus Unfreiheit und Abhängigkeit herausgerissen, plötzlich eine andere Haut und eine andere Seele bekommen haben, plötzlich sehen, wie groß und glänzend die Sonne strahlen kann, und nun erst zeigen, wieviel Gutes sich in ihrem Innern versteckt, oder jenen, die in der gewonnenen Freiheit der sie allein beherrschenden und so lange in Ketten geschmiedeten Selbstsucht ganz die Zügel schießen lassen.

War sie gut oder böse, er wußte es nicht. Ihr jetziges Wesen konnte der Reflex eines großen Seelenschmerzes oder grenzenlose Unbefriedigung sein. Sie wollte lieber mißverstanden werden, als ihr Inneres aufdecken! Aber es war auch denkbar, daß sie nicht Herr ihrer Leidenschaften war und nur ihr eigentliches, innerstes Wesen nicht hervorkehren wollte.

Unter solchen Erwägungen erreichte Hans mit den beiden Geschwistern ein kleines Wirtshaus und sprang, jetzt wieder mit seinen Gedanken der ihn umgebenden Welt ganz zurückgegeben, arglos auch von Türenna zum Helfen ermuntert, blitzschnell vom Pferde und hielt sie beim Herabheben für Sekunden in seinen Armen.

Über Carlos' Gesicht flog ein leichter Schatten, auch wollte er seiner Mißbilligung über Türennas freies Wesen Worte verleihen, aber er ward durch einen Blick ihrer Augen entwaffnet, in dem geschrieben stand: Sei gut, sei nicht so streng, störe mir nicht den herrlichen Tag durch unverdienten Tadel!

*

Es war dunkle Nacht. Hinter der Mühle ging Hans Appen, der das Zusammentreffen mit Carlos um seiner Abendzwecke willen auf den nächsten Tag verschoben hatte, nun schon eine lange Weile auf und ab. Bisweilen richtete er das Auge empor und suchte oben das große Weltall zu durchdringen. Und dann unter der Vorstellung der hehren, schrankenlosen Unendlichkeit erschien ihm das, was sein Inneres hier bewegte, so nichtig, der Beschäftigung und der Sorge so unwert, daß ihn der Entschluß ergriff, mit ganzer Kraft alle Gedanken an das rätselhafte, finstere Geschöpf, das ihm Atem, Schlaf und den Sinn für jegliches Tun raubte, von sich zu werfen, sich in seine Kammer zu begeben und mit dieser Nacht alles in sich auszulöschen, was für sie in ihm aufgelodert war. Aber ebenso schnell bemächtigte sich seiner wieder eine unbezwingliche Sehnsucht. Nur ihr Bild hatte Raum in seiner Seele, alles trat als bedeutungslos zurück. Die Leidenschaft erfaßte ihn mit solcher Gewalt, daß er, ihr Kommen vermutend, bei jedem Geräusch mit stockendem Herzen zusammenfuhr, und seine Phantasie war so lebendig, daß er wiederholt Wiebkes Gestalt in deutlichen Umrissen aus dem Dunkel der Ferne auftauchen zu sehen glaubte.

Daß sie nicht schlafen gegangen, wußte er; ihr Zimmer lag hinten nach dem Hofe zwischen dem Hauptgebäude und dem Wohnhaus der Alten in einem Zwischenbau. Als er sich vordem leise über den Hof geschlichen, war noch Licht hinter den Vorhängen gewesen. Vom Korridor des Haupthauses hatte das Gemach einen eigenen Ausgang. Unbemerkt von jedermann konnte sie es verlassen.

Aber es war denkbar, daß Wiebke bei ihrem Vorhaben gestört worden war, daß die Furcht, bemerkt zu werden, sie beherrschte und abhielt. Erst bei vollkommener Sicherheit wollte sie sich hinauswagen.

So dachte Hans Appen, von seinen Wünschen gelenkt, einmal, und dann wieder fielen alle Hoffnungen in einen tiefen Brunnen. Sie wollte nicht kommen! Sie hatte es ja deutlich gesagt, daß sie, was sie ihm zu erwidern habe, einem Briefe anvertraut.

Endlich, als alles Harren vergeblich war, raffte sich Hans Appen auf, umschritt die Mühle, die mit ihrem gewaltigen Leibe und den riesigen Flügeln gespensterhaft aus der Dunkelheit emporstieg, schlich langsam und leise auf dem nach dem Garten hinabführenden Feldwege bis zur Dornenhecke und stieg, als er von hier die Fenster von Wiebkes Gemach nicht zu sehen vermochte, in den Garten.

Der Mann überlegte, ob er noch ferner warten, vorsichtig an ihr Fenster pochen oder von seinen Wünschen abstehen solle.

In der Morgenfrühe würde die Post den Brief für ihn bringen. In diesem fand sich auch die Aufklärung. Weshalb also jetzt etwas erzwingen wollen, was nun einmal sich nicht fügen wollte! Gut, also verzichten!

So schlich er denn leise über den Hof. Er sah hinter den Fenstern der Bäckerei die Burschen mit hochgestreiften Hemdärmeln hantieren, entweder den Mehlteig formen oder die auf schwarzen Platten gelegte fertige Backware in den Ofen schieben, – und hielt endlich lauschend an Wiebkes Fenstern. Nein – alles still! – Infolgedessen trat er, leise die Türklinke berührend, in den Hauskorridor. Aber wie schrak er zusammen! Eine Gestalt, Wiebke, stand plötzlich neben ihm und forderte ihn mit gedämpfter Stimme auf, ihr zu folgen.

»Wollen Sie nicht Licht anzünden, Fräulein Wiebke?« flüsterte Hans Appen, ins Zimmer tretend und in der Dunkelheit tastend sich fortbewegend.

Er sprach's, obschon er sich in demselben Augenblick der Voreiligkeit des von ihm geäußerten Wunsches bewußt ward.

»Nein, nein! Es geht nicht wegen der Bäckerburschen. Bedenken Sie doch, was ich, ein unbescholtenes Mädchen, tue und wage. Nur Ihrem Drängen habe ich nachgegeben, und weil ich nicht sehe, wann und wo sich die Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung bietet. Und nehmen Sie, bitte, Platz hier. Ich will mich kurz fassen.«

»Wiebke, teure Wiebke!« flüsterte der Mann, nicht Herr seiner selbst, und griff, alles wagend, nach des Mädchens Hand. »Was habe ich gelitten in diesen Tagen! Was habe ich heute durch Ihre Kälte in mir niederkämpfen müssen! O, sagen Sie mir, daß Sie mir nicht mitteilen wollen, daß mein Onkel Sie liebt und daß Sie ihm angehören wollen!«

Aber statt eine Antwort zu hören, sah er mit bereits geschärften Augen, daß sie ihr Haupt tief herabsinken ließ und die Linke, wie um einen furchtbaren Schmerz zu dämpfen, an die Schläfen preßte.

»O Gott, o Gott, also wirklich auch Sie!« stieß sie heraus und streifte seine Rechte, die die ihre gefaßt, gewaltsam ab.

»Was ist, was ist, Wiebke? O, sprechen Sie doch!« hauchte der Mann und versuchte zwar ihre Hand nicht von neuem zu fassen, aber schob sich selbst, von seiner Qual fortgerissen, zu ihr.

Und da sie dann immer noch nicht antwortete, sprach er nochmals leidenschaftlich auf sie ein, fragte, ob Wilhelm ihr Anträge gemacht und ob auch etwa sonst noch jemand etwas von ihr wolle, gar Carlos von Wulfsdorff?

Seine Eifersucht wandte sich auch zu jenem. Alle seine Vernunft war verflogen. Nur die Leidenschaft beherrschte ihn und am liebsten wäre er, wie jüngst, jetzt gleich vor ihr niedergesunken und hätte das Geständnis seiner Liebe durch tausend Worte vervollständigt.

»Also Wiebke, teure Wiebke, haben Sie beide von Liebe gesprochen?« schloß er, sich zu ihr drängend mit seiner ganzen Seele.

Diesmal ward dem fieberhaft Lauschenden endlich eine Antwort. Ein kurzes Neigen des Hauptes folgte und schürte wirbelnde Feuer in des Mannes Brust. Für Sekunden war er auch wie gelähmt durch die eifersüchtige Qual, die ihn verzehrte. Dann aber raffte er sich mit ganzer Kraft auf, um auch noch das letzte zu hören.

»Und Sie Wiebke, Sie?« herrschte er stürmisch.

»Ich weiß nicht, ich habe schon überhaupt keine Gedanken mehr. – Weil ich glaubte, Sie könnten mir raten und helfen, bat ich Sie um eine Unterredung, die ich freilich schon gleich wieder bereute. Sie sind ja auch nicht der Rechte, mir die Klarheit zu geben, nach der ich mit allen Mitteln suche.«

»Doch, doch, Wiebke. Ich bin Ihr Freund. Wenn es sein muß, werde ich Ihnen das größte Opfer bringen – aus Liebe – es Ihnen bringen! Aber reden Sie, erlösen Sie mich aus der Ungewißheit.«

»Was soll ich tun?« stöhnte das Mädchen. »Arm, verlassen, ohne Aussichten. Einen Mann wie Ihren Onkel zu heiraten, würde jedes Mädchen als höchstes Glück ansehen –«

»Aber wenn Sie ihn doch nicht lieben, Wiebke?«

»Ich weiß es nicht, vielleicht liebe ich ihn, werde ich ihn lieben!«

Hans Appen schwieg. – Sicher! wer so antwortete, liebte keinen zweiten Mann. Er war ihr jedenfalls nichts!

Plötzlich verließ ihn jede Haltung, er glitt nieder an ihrem Schoß, drückte seinen hämmernden Kopf an ihren Körper und stöhnte.

Sie wehrte ihm zwar nicht, aber auch die mitleidige Hand, von der er gehofft, daß sie sich auf seinen Scheitel legen würde, rührte sich nicht.

Sie schien momentan dazusitzen wie eine Besinnungslose, ohne Gefühl und Empfindung, jedenfalls ohne Mitempfindung für die grenzenlose Qual seiner Seele.

Nun hob sich Hans Appen höher und tastete nach Wiebkes Hand, und als sie sie ihm nicht entzog, bedeckte er sie mit Küssen.

Auch das ließ sie geschehen. Noch immer schien sie so in Schmerz und empfindungslose Schwermut versunken, daß das, was zu ihren Füßen geschah, ihr nicht anders galt als das Zucken irgendeines lebendigen Wesen, aber das sie nur deshalb litt, weil sie Mitleid empfand, da es auch Schmerz empfand.

Und während noch so die Gedanken auf Hans eindrangen, glaubte er plötzlich draußen ein Geräusch auf dem Korridor zu vernehmen, ein leises, schleichendes, das von einem Tier, aber auch von einem Menschen herrühren konnte.

Und Wiebke hörte es auch, schrak jählings empor, schob den Mann rasch und ihren festen Willen bekundend von sich und flüsterte:

»Um Gottes willen, stehen Sie auf! Hören Sie nichts? Es ist jemand auf dem Flur. Am Ende ist's Ihre Mutter. Still, still, setzen Sie sich. Wir müssen abwarten –«

Nachdem sie eine Zeitlang regungslos gelauscht, schlich sie ans Fenster und suchte mit den Augen draußen das Dunkel zu durchdringen.

Freilich vernahm sie nichts, aber – und beide fuhren zusammen – es brüllte plötzlich eine Kuh, die am Morgen wegen Krankheit von der Wiese in den Stall gebracht war, laut und hilferufend auf, und noch einmal!

Nun wartete sie den Erfolg ab, den dieses unerwartete Geräusch auf einen etwaigen Späher draußen machen würde. Wohl eine Minute verharrte sie, den Atem anhaltend. Aber da auch jetzt sich nichts rührte, wich allmählich ihre angstvolle Besorgnis. Sie erklärte im flüsternden Ton, es würde vorher wohl nur die Katze gewesen sein, dennoch aber ersuche sie ihn dringend, sie jetzt gleich zu verlassen.

»Sie wissen ja nun alles!« schloß sie. »Ihr Onkel Wilhelm will meine Hand. Ich soll mich entscheiden. Nur um ihn handelt es sich. Bei Ihrem Freund drüben vom Gut sind's ja nur Reden! Und wenn's wirklich Ernst ist, so kann's ja doch nichts werden. Ich werde ihn nicht mehr anhören. Und ich muß nun selbst mir raten. Aber bewahren Sie mir doch, ich bitte, Ihre guten Gesinnungen, Herr Appen!«

»O, Wiebke, teure Wiebke!« stieß der junge Mensch, noch einmal törichten Hoffnungen sich hingebend, wie sinnenverwirrt heraus, glitt an ihr nieder und umfaßte ihre Gestalt.

Aber ebenso rasch sprang er wieder empor. Ein Wort traf sein Ohr, das ihn völlig entwaffnete.

Rauh ihn von sich streifend, herrschte sie:

»Ah – so wissen Sie mein Vertrauen zu lohnen – nun abermals! Ich befehle Ihnen, stehen Sie auf und gehen Sie gleich. Nicht einen Augenblick darf ich jetzt noch erlauben, daß Sie hier bleiben. Nun gut, gut,« schloß sie, seinen reuevollen Worten begegnend, »ich zürne Ihnen ja nicht, ich bin auch ein Mensch und verstehe – aber entfernen Sie sich jetzt – ich bitte noch einmal, wenn Sie irgend etwas von mir halten.«

Hiernach öffnete sie behutsam die Tür und schob ihn sanft hinaus. Zum Glück regte sich draußen nichts. Wenige Minuten später war der junge Hans Appen oben in seinem Zimmer, stieß die Fenster des dumpfen Gemaches auf, um seinem wildtobenden Blut Ruhe zu verschaffen und sank dann, sich in ein langes inneres verstummen versenkend, in einen Stuhl nieder.

Erst gegen Morgen suchte er sein Lager auf und verfiel in einen wüsten, Seele und Körper marternden Schlaf.

*

Als Hans am zweitfolgenden Morgen, nach einem Tag schweren Ringens und neuer Erregung zum Frühstück herabkam, war Wiebke schon nicht mehr anwesend, die Alte, die ebenfalls bereits ihren Kaffee getrunken, saß, mit der Linken in Pausen die auf dem Tischtuch liegenden Brotkrumen zusammenscharrend, untätig da und hörte mit höchster Spannung im Ausdruck auf das, was ihr Sohn Wilhelm, der aus einer großen, sogenannten Kontortasse den Morgentrunk schlürfte, äußerst Bedeutsames zu erzählen hatte.

Frau Appen war überhaupt nicht zum Frühstück erschienen, sie hatte es allein in ihrem Zimmer verzehrt.

Sie schnitten sofort das Gespräch ab, als Hans nähertrat und ihnen einen guten Morgen bot. Aber ihre Gedanken blieben noch so sehr bei der Sache, daß beide kaum auf seine Erwiderung hörten, als sie, nur um etwas zu sagen, sich nach dem Verlauf des gestrigen Abends erkundigten. Endlich raffte sich die Alte, noch einen letzten Angriff auf die spröden Brotkrumen machend, auf und sagte, sich zum Fortgehen rüstend:

»Na ja, min Jung, du mußt ja weeten, wat du wist. Ik segg nich ›ne‹ und nich ›ja‹, ik hev ja ok niks to seggen. Ik will denn man wünschen, dat allens gud für di utfallt. Wi annern warr'n wul torech kamen, wenn't ok wahrschienlich gans anners ward, as dat hüt in de Bucht utsüht! Un wegen dine Wünsche will ik mi dat överlegen! Ik mut ers 'mal mit de Justizrat spreken –«

Bisher hatte Wilhelm mit Gleichmut dem zugehört, was seine Mutter gesagt; es war eben das, was er erwartet hatte. Aber bei ihren letzten Worten erhob er mit einer auflehnenden Bewegung den Kopf.

»Ach – lat den doch buten för!« stieß er finster heraus, »du büst doch old nog, to weeten, wat du wist, Mudder. Du hest doch frie Hand, to maken, wat di gefallt.«

Aber die Alte schüttelte entschieden den Kopf und sagte:

»Wat ik an't Enn doh, dat is en Sak för sik! Abers hör'n will ik em. Da gah ik nich von af! Un ik hev mi ok all schlüssig makt, ik will noch düssen Nachmiddag mi över de Fehr setten oder mi herinfahr'n laten, um mit em to spreken!«

»Ne, ne, dat schuf man noch up, Mudder!« wehrte Wilhelm äußerst energisch ab. »De Höhner hebt kreiht, abers de Eier sünd noch nich leggt. Töf af bit morg'n, wenn du denn dörchut dinen Will'n hebb'n wist. Hüt, spätestens morg'n früh hev ik vun, vun ehr, – en bestimmte Antwurt. Se kann ja ok ne seggen!«

»Ach, wat schull se wull!« fiel die Alte verächtlich ein. »Abers gud. Ik kann töven. Ik dach, dat Koopgeschäft wär en Sak för sik!«

Nach diesen Worten nickte sie kurz und entfernte sich, und Hans sah sie bald darauf draußen neben einem Handwagen stehen und mit ihrem Stock hantierend, auf einen der Bäckergesellen einsprechen, der Schwarzbrote hineinpackte.

Nun erhob sich auch Wilhelm, nahm die in der Fensterecke beiseite gesetzte, bereits vor dem Frühstück angebrannte kurze Pfeife an sich, stieß mit dem Zeigefinger die Asche nieder und sagte, während er ein Schwefelholz anrieb und sie dann schmauchend in Gang setzte, in seinem etwas ungelenk klingenden Hochdeutsch:

»Hast du deine Mutter schon gesehen? Sie ist doch nicht wieder krank? – Ah so, so, so! Denn ist's ja gut. Na, mein Junge, halt dich steif, ich muß nach der Mühle herauf. Heute wird viel Korn abgeladen.« Und nach der Uhr sehend: »Es ist gerade Zeit! Die Wulfsdorffschen Wagen werden gleich kommen. Sie schicken auch heute.

»Moigen, Moigen, min gude Jung!«

Dann warf er Hans einen freundlichen Blick zu und verschwand.

Dem Zurückbleibenden aber, der nur zu gut den Inhalt der Rede zwischen den Fortgegangenen verstanden hatte, schoß das Blut solchergestalt ans Herz, daß er unwillkürlich den starkduftenden Kaffee beiseite schob.

Und auch er erhob sich und stürmte, nachdem er einen Blick in den Laden geworfen, ins Freie.

Er konnte nur so die Erregung dämpfen über das, was er soeben vernommen hatte. Aber auch noch anderes bedrückte ihn tief. Als er am Abend vorher, nachdem er tagsüber mit Gewalt seine Gedanken von Wiebke abgelenkt und der Arbeit wieder zugewendet hatte, mit Carlos von Wulfsdorff in der Stadt abermals beim Glase Bier sich begegnet war, war es auf dem Heimwege zwischen ihnen zu einer lebhaften Erörterung über Wiebke gekommen. Carlos hatte nach ihr gefragt und sein Interesse in sehr deutlicher Weise für sie bekundet, aber auch eine Bemerkung gemacht, durch die abermals Hans' Eifersucht rege geworden war. Ein Wort hatte das andere gegeben, und als Hans gar so weit gegangen war, ihm vorzuwerfen, daß er ein unehrenhaftes Spiel mit der Ehre des Mädchens treibe, hatte der stolze junge Mann ihm erst empört Schweigen geboten, und als das ohne Erfolg gewesen, Hans mit kurzen Worten die Freundschaft gekündigt. Als Todfeinde waren sie auseinandergegangen.

Neben tiefer Reue wegen dieser völlig ungerechtfertigten Provozierung seines Freundes, der wegen seiner Denkungs- und Handlungsweise überall Ansehen genoß, folterte den jungen Menschen sein Verhalten gegen Wiebke bis zur Unerträglichkeit. Wie ein törichter Knabe hatte er sich benommen, statt ihr, wie er versprochen, ein Freund und Berater zu sein. Ihr Vertrauen hatte er ohne Selbstbeherrschung mißbraucht, alles verscherzt, sogar – er wußte es – fast ihre Achtung.

Es war auch seltsamerweise nach dieser Nachtszene und inneren Einkehr die Leidenschaft plötzlich ganz erloschen. Die Erkenntnis der Aussichtslosigkeit hatte ihn völlig ernüchtert; Gefühle der Scham, der Reue, der Drang, gut zu machen durch Verzicht und edelmütige, sie fördernde Handlungen, durchströmten ihn.

So gestimmt, griff Hans Appen wiederholt an die Stirn und eilte, in seiner Benommenheit auf den Weg nicht achtend, im alten Gewohnheitsdrang über das Feld dem Wulfsdorffschen Gehölz zu. Erst als er in nächster Nähe des Waldes angelangt war, fiel's ihm bei, wo er sich befand, und daß er Carlos, daß er Türenna begegnen könne. Infolgedessen nahmen seine Gedanken zeitweilig eine andere Richtung. Er überlegte, was das Fräulein zu dem Streit sagen werde, der ihn und ihren Bruder zu Widersachern gemacht hatte. Ihr reizendes Bild stieg vor ihm auf, und wie jüngst drängten sich ihm Vergleiche auf. Wie ein Zauber war's! In der Nähe des Schlosses hatte nur Türennas Bild Raum in seiner Seele. Und während ihn drüben in Halk die unruhigen Qualen der Leidenschaft verzehrt hatten, überkam ihn hier ein Gefühl sanfter Ruhe.

Nicht zum ersten Wale kam Hans Appen die Überlegung, ob er nicht dieses Mädchen für sich gewinnen könne! Freilich stahl sich ebenso schnell ein verzagtes Lächeln in seine Züge. Eher würden sich sicher die vor ihm aufreckenden Buchen in Rosenstöcke verwandeln, als daß Türenna von Wulfsdorff einen Hans Appen heiratete!

Eine Verbindung zwischen ihr und ihm lag, trotz der Vorurteilsfreiheit der Wulfsdorffschen Familie, aus dem Bereich jeder Möglichkeit.

Um den Wald nicht zu betreten, ließ sich Hans an dem Rande eines, einen kleinen Waldsaumpfad von dem Gehölze trennenden, mit Gräsern und anmutigen Blumen bedeckten, trockenen Grabens nieder, suchte ferner Klarheit in seine Gedanken zu bringen und seinem Willen einen unabänderlichen Charakter zu verleihen. Die heiligsten Entschlüsse stiegen in ihm auf, nicht rechts noch links zu schauen, nur seinen Pflichten zu folgen und nicht nur gutzumachen, wo er sich versehen hatte, sondern fördernd einzugreifen, wo seine Nebenmenschen seiner Hilfe bedurften.

Als er sich nach solcher, fast einstündigen Sammlung eben wieder erhoben hatte und im Begriff stand, über die vom Sonnenschein umfluteten Wiesen den Weg nach der Bucht zurückzunehmen, tauchte plötzlich um die Waldecke ein schnuppernder brauner Jagdhund auf, und ihm folgte, eine runde, lederne Mütze auf dem Haupt und einen eisenbeschlagenen Feldstock in der Hand, der alte Herr von Wulfsdorff.

»Ah, mein lieber Herr Appen, Sie da, und so zeitig im Freien? Das gefällt mir! Carlos ist bisweilen ein rechter Langschläfer. Auch heute war er bei meinem Fortgange noch nicht aufgestanden. Übrigens trifft sich das sehr gut. Gerade wollten wir eine Einladung an Sie ergehen lassen. Gefällt es Ihnen, morgen bei uns zu speisen, nachmittags einen Ausflug zu machen und den Abend eine Partie zu spielen? Ich hörte von meinem Sohn, daß Sie L'hombrespieler sind!

»Türenna freut sich schon im voraus auf das Zusammensein! Sie wollte mich eigentlich begleiten, aber ihre Tiere beschäftigen sie heute sehr. Sie hat sich jetzt noch einen Igel gezähmt. Sie wissen, sie hat eine sehr starke Passion für allerlei kriechendes und fliegendes Volk. – So, so – Sie sind verhindert? Das ist mir ja sehr leid. Aber dann können Sie vielleicht übermorgen uns die Freude machen. Wir steifen uns nicht auf einen Tag. Wir wollen Sie nur bei uns sehen. – Sagen wir also übermorgen?

»Topp! Sehr schön! – Wollen Sie nach der Bucht zurück! So, so – Grüßen Sie bestens, sagen Sie Ihrer vortrefflichen Großmama, daß ich allernächstens einmal vorsprechen werde. Adieu! Adieu! Gott befohlen. Ich werde Carlos von Ihnen grüßen!«

Nach diesen Worten schwenkte Herr von Wulfsdorff in den Wald ab, und Hans Appen, der die Worte für eine zweite Absage nicht gefunden, wanderte, äußerst beschäftigt durch diese Begegnung und den Inhalt der Rede des alten Herrn, dem Dorfe zu.

Gerade heute war wieder ein wahrhaft wonnevoller Tag. In der Luft zwitscherten die Vögel mit süßem, traulichem Gesang, allerlei buntes Getier, Schmetterlinge und Libellen, von dem nahen Wiesenteich angelockt, schaukelten über den grünen, mit Blumen besetzten Feldern, und als Hans einmal stillstand, zurückschaute und den Blick umherschweifen ließ, drang der Zauber der stillen Natur mit solcher Stärke auf ihn ein, daß in die Augen des ohnehin krankhaft Erregten Tränen traten.

Ringsum eine sanfte, summende Musik der Bienen und anderer geschäftiger kleiner Tiere und zarte, die Sinne umschmeichelnde Düfte, gemischt aus den Reichen der Schilfpflanzen und aus den Blüten des Thymian. Und drüben der schweigsame Wald mit seinen hohen, Kühle und Schatten bergenden Buchen, gegenüber aber die durch grüne Knickwälle eingefriedigten saftigen Landstriche, ein Streifen des Flusses, auf den die Sonne silberschimmernde Lichter warf.

Unwillkürlich breitete Hans Appen die Arme aus. Er hätte das alles an sich ziehen mögen, wenigstens diese Bilder nie freiwillig dem Auge wieder zu entfernen, gelobte er sich. Und die Sehnsucht, einst in Föhrde sich niederzulassen, als sein Weib Türenna neben sich, stieg nach der Abklärung seiner Seele als die herrlichste Zuwendung einer gnädigen Schicksalsfügung vor ihm auf. Er malte sich verführerische Bilder aus.

Als Hans ins Haus trat, sah er, daß sein Onkel neben Wiebke im Laden stand. Nun eben umfaßte er sie sanft und sprach wie ein Liebhaber auf sie ein. Noch einmal wollte sich etwas in der Brust des Jünglings regen. Aber es war nur wie ein Blitz, wie die Folge einer Gewohnheit.

Vernunft und Wille gelangten zu ihrem Recht, und sie fanden leicht Gehör, da die Leidenschaft um des Gefühls der Beschämung willen verflogen war, da er, nun erstere dahin, auch sich bewußt wurde, daß es nicht einmal eines Kampfes kostete, auf sie zu verzichten.

Er hatte ausgerast, die Krankheit der Sinne war gewichen, sein altes Ich hatte wieder von ihm Besitz genommen und schuf ein von glücklichsten Hoffnungen getragenes Frohgefühl in seiner Brust.

Als sie – ein Viertelstündchen später – alle bei Tisch saßen, führte Frau Lornsen ausschließlich das Wort und erzählte, daß jemand aus Föhrde bei ihr gewesen sei und gefragt habe, ob es sich bestätige, daß Lornsens mit der Absicht umgingen, die Gastwirtschaft, die Bäckerei und den Laden zu verkaufen. Er komme im Auftrage eines wohlhabenden Gastwirts in Lunden in Dithmarschen. Der suche etwas und habe große Lust, den Besitz zu erwerben.

»Und was sagtest du?« fragte Wilhelm, der mit ausdruckloser Miene zugehört hatte.

»Ich fragte nur, wer das wieder aufgebracht hätte. Wir wüßten von nichts. Oder es müßte schon einer kommen, der nicht Rat hätte, wo er mit seinem Gelde bleiben sollte!

»Hunnertföftigdusend Mark, wenn he de int Schapp to liggen harr, denn so let sik över de Sak villich spreken.«

Bei diesen Worten trat in Frau Appens Gesicht ein sehr gespannter Ausdruck. Sie forschte, ob ihre Mutter im Ernst gesprochen habe, aber sie sah auch auf Wilhelm, der sicher bei den Plänen, mit denen er selbst umging, eine so hohe Schätzung des bloßen Teilbesitzes nicht eben angenehm berühren würde.

Es zog in der Tat etwas über sein Gesicht, das bewies, daß er kein sehr großes Behagen an dem Gespräch fand.

Er hielt auch nicht zurück und sagte, alle seine Gedanken zum Ausdruck bringend:

»Na, und wat säh he denn to den Pries? Wem wär't? De Agent Packer?«

»Ja, Packer wärt, he meen, dat wär temlig dür, abers dat keem ja drup an, wat de Sak inbringen deh. Ik schull 'mal en Upstellung maken.«

»Ach, Dummtüg!« stieß Wilhelm gereizt heraus.

Und dann: »Ik lat mi de Kopp afsnid'n, wenn da nich de Justizrat achter stecken deiht. He will den Kooppries in de Höch schruvn. – Heft du em wirklich wat seggt?« schloß er, die Alte mißtrauisch anblickend.

Nun drängten sich die Worte auf Frau Appens Lippen. Sie wollte bemerken, daß es ihr eigentlich ganz in Ordnung zu sein scheine, daß man auch andere Kaufgebote prüfe und das Geschäft nicht verschleudere, aber sie unterdrückte doch ihre Rede. Sie fand es richtiger, einen andern Weg zur Geltendmachung dieser Ansicht einzuschlagen, und ihn im stillen zu betreten, beschloß sie.

Hans beobachtete bei diesen Erörterungen besonders Wiebke, die später zu Tisch gekommen war, aber doch gerade diesem Gespräch von Anfang bis Ende zugehört hatte. Bei der Sachlage mußte sie das alles doch im höchsten Grade interessieren. Ob der Eigennutz sich in ihren Mienen rege, wollte er beobachten. Aber in ihrem Angesicht rührte sich nichts; sie saß dabei, als ob sie die Sache so wenig kümmere, daß ein Hinhorchen Gedankenverschwendung sei.

Und Hans bemerkte, daß auch die alte Frau Lornsen einmal einen forschenden Blick auf Wiebke warf, während Wilhelm so ausschließlich mit der Angelegenheit beschäftigt war, daß alles übrige für ihn völlig in den Hintergrund gedrängt schien.

Als der junge Mann später sein Zimmer betrat, brachte ihm einer der Knechte vom Hofe ein Billett. Es war von Wiebke und lautete:

Geehrter Herr Appen!

»Nicht wahr? Alles, was geschehen, bleibt streng unter uns! Ich bitte darum, weil ich die ohnehin bestehenden Schwierigkeiten durch falsche Auffassungen über meine Handlungsweise nicht vermehren möchte. Nehmen Sie im voraus dafür meinen aufrichtigen Dank.

Heute abend will ich meine Mutter besuchen, um mich über den mir von Ihrem Herrn Onkel gewordenen Antrag zu entscheiden, hoffentlich treffe ich das Rechte. Bleiben Sie auch ferner, ich bitte wiederholt, freundschaftlich gesinnt

Ihrer W. N.«

Diese Zeilen machten Hans sehr glücklich. Aus ihnen ging hervor, daß Wiebke ihm seine jugendliche Leidenschaft verziehen habe, daß sie ihm gar noch Vertrauen schenkte.

Als er schon wieder das Zimmer verlassen wollte, fiel ihm ein, daß er sich wegen der Einladung bei Wulfsdorffs noch schlüssig machen müsse.

So trat er denn wieder zurück und setzte nach kurzem Besinnen, nicht an den alten Herrn, sondern an Carlos, die nachstehenden Zeilen auf:

»Dein Herr Vater hatte die Freundlichkeit, mich bei Gelegenheit einer Begegnung heute vormittag zum morgigen Tage, und als ich auswich, zum folgenden einzuladen.

Ich hatte keinen Grund zur Hand, mich abermals zu entschuldigen, und nahm mir vor, es schriftlich zu tun. Bei näherer Überlegung halte ich es für das geeignetste, dich zu bitten, ihm mein Nichterscheinen verständlich zu machen, und wäre dir dankbar, wenn du dabei deine Abneigung gegen mich insoweit zu unterdrücken vermöchtest, daß sich nicht auch die Deinigen, auf deren Gesinnung ich schon aus Dankbarkeit für so viele mir gewährte Güte den denkbar höchsten Wert lege, ganz von mir abwenden.

Hans Appen.«

Nachdem er diese Zeilen geschrieben hatte, eilte er auf den Hof hinab, nahm den Knecht beiseite und hieß ihn, ihm ein Geldstück in die Hand drückend, den Brief noch vor Dunkelwerden nach Hege hinüberzutragen. Er selbst aber begab sich zu seiner Mutter. Sie hatte nach Tisch die Bemerkung fallen lassen, daß sie seines Ferienbesuches kaum gewahr werde, und es drängte ihn, ihr Liebesbeweise an den Tag zu legen.

*

Am kommenden Morgen hörte Hans, spät erwachend, das Geräusch heftigen Scheltens auf dem Flur. Er erkannte deutlich seines Onkels Stimme. Es kam höchst selten, fast nie vor, daß Wilhelm aus seiner Ruhe heraustrat; es mußte also schon etwas ganz Besonderes vorliegen.

Rasch sprang er empor, kleidete sich eilig an und begab sich, da er zu seiner Überraschung niemand im Laden fand, zunächst zu seiner Mutter ins Zimmer.

Er fand sie mit finsterer Miene und wildzornig mit den Gegenständen hantierend, beim Aufräumen ihres Zimmers. Sie erwiderte, ganz sich ihrer Erregung hingebend und seiner sanften Umarmung ausweichend, auf seine Frage, was vorgefallen sei, – er habe lautes Schelten gehört:

»Die Person, die Wiebke, hat sich krank gemeldet; es war also niemand im Laden, als heute morgen Käufer kamen. Darüber fing dein Onkel Streit mit mir an. Er meinte, ich könne mich hinstellen und Zucker abwiegen!«

Ein Mitleid erregender Ausdruck, ein ähnlicher wie der, welcher uns Kinder in ihrem Schmerz so rührend erscheinen läßt, war statt des finster zornigen jetzt in ihre Züge getreten, und Tränen verhinderten sie am Weitersprechen.

»Nun, liebe Mutter?« setzte Hans Appen, sie zärtlich streichelnd, an. »Und was sagtest du?«

»Ich sagte, ich wäre nicht seine Magd und – und – da –«

Abermals hielt sie inne. Jetzt funkelten ihre Augen, die Zähne preßten sich aufeinander. Für Augenblicke schwieg auch Hans. Marternd lag's auf ihm, daß sie litt, daß man ihr wehegetan. Er umfaßte sie sanft und stand bei ihr in stummem Mitgefühl. Endlich sagte er:

»Ich hörte aber auch Großmutters Stimme, Mutter.«

»Jawohl! Mit der fing er ebenfalls an. Erst sagte er, ich könne meine Sachen packen, und dann wurde er ausfallend gegen sie.«

»Und sie ließ es sich gefallen?«

»Nein, so wenig wie ich! Großmutter rief: ›Anna bleibt!‹ Das Gewese gehöre ihr, und überhaupt ersuche sie ihn, nicht vorzeitig den Herrn zu spielen. Da schlug er die Hoftür zu, daß die Fenster klirrten, und bewegte den Kopf, als ob er sagen wollte, er werde schon wissen, was er zu tun habe.«

»Und – und – was ist denn mit Wiebke Nissen? Was fehlt ihr?«

»Ach, was weiß ich, was das intrigante Frauenzimmer hat. Es wird gar nichts sein. Nur irgendein Manöver ist's, ein Ring weiter in der Kette, womit sie Onkel festmachen will. Es sollte gleich zum Doktor geschickt werden! Mutter sollte bei ihr sein! Alles mögliche gab er vor, und tat, als ob die Person sterben könnte und wir nur da wären, ihre Dienerinnen zu sein.«

Hans schwieg auf diese bösen, sein Herz tief verwundenden Worte.

Widerspruch würde seine Mutter zu noch heftigeren Ausfällen veranlassen, er konnte es aber nicht ertragen, von Wiebke in so mißachtender Weise sprechen zu hören. Dennoch wußte er sich zu beherrschen, sprach mit tröstend beruhigenden Worten auf sie ein und begab sich endlich zu seiner Großmutter in die Frühstücksstube.

Er mußte sich heute selbst bedienen. Frau Lornsen war, wie die Magd berichtete, eben nach der Mühle gegangen. Er nickte und schritt auf seinen Platz zu. Da fielen seine Blicke auf einen Brief, der neben seinem Kuvert lag. Es war Carlos' Handschrift. Hastig öffnete er und fand die Worte

»Ihren Auftrag habe ich Ihrem Wunsche gemäß ausgerichtet. Ich muß Sie aber dringend ersuchen, von jeglichen ferneren Annäherungen an mich abzusehen.

Carlos von Wulfsdorff.«

Nicht Herr seiner dadurch hervorgerufenen Erregung, zerknitterte Hans Appen den Brief. Nun war die feindschaftliche Trennung zwischen ihm und Carlos für immer besiegelt, aber auch der Weg zu allen Wulfsdorffs abgeschnitten!

»Ah, Wiebke Nissen!« stöhnte der Mann, von der Summe des Geschehenen überwältigt. »Wärst du nie ins Haus gekommen. Uns allen wäre besser.«

*

Der folgende Tag war ein Sonntag. Alle Mitglieder der Lornsenschen Familie pflegten vormittags die Kirche zu besuchen, und nur die alte Frau hielt sich bisweilen wegen ihrer Gesundheit zurück.

An diesem Tage äußerte sie jedoch schon beim Frühstück, daß sie die Predigt hören wolle, forderte auch ihren Enkel auf, sich anzuschließen, und machte sich zur rechten Zeit, von ihm und Anna begleitet, auf den Weg.

Von Wilhelm war nichts zu sehen. Hans hatte nicht gefragt, auch nach Wiebke, die den ganzen Tag vorher nicht zum Vorschein gekommen war, nicht den Mut gehabt, sich zu erkundigen. Im Gegensatz zu den bisherigen, sonnenklaren, herrlichen Tagen war's rauh und trübe. Der am Frühmorgen aufgestiegene Nebel lag entweder noch in weißen Wolken, oder in tauige Nässe verwandelt, auf Feld, Wiesen und Wegen, und das tief melancholische Gepräge der Natur übertrug sich auch auf die Gemüter der Menschen.

Schon war, als Lornsens eintraten, die auf tausendjährigen Feldsteinen sich erhebende kleine Kirche mit Andächtigen gefüllt, vom Chor brausten die Klänge der Orgel, und eine durch diese geförderte, dem Gotteshause innewohnende Feierlichkeit stimmte Hans Appen ernst und andächtig. Etwas lange nicht Empfundenes zog durch seine Brust, während er mit den Frauen dem der Familie gehörenden Kirchenstuhl zuschritt.

Nun erhob, nachdem das letzte, von Nachzüglern herrührende Geräusch niederfallender Stuhlsitze verklungen, der Prediger seine Stimme, und als Hans das Haupt wandte und für Sekunden das Auge über die Menge schweifen ließ, sah er zu seiner Überraschung hinten auf einer der bedachten, fast im Dunkel verschwindenden Seitenbänke – Wiebke sitzen!

In der Folge ging sein Auge von dem Prediger häufig zu ihr. Sie aber erhob nicht einmal das Haupt, sie saß da bewegungslos und blaß wie die kalkgetünchten Wände der alten Dorfkirche.

Aber noch jemand sah Hans Appen später und erst dann, weil er erst nach begonnener Predigt durch einen Seiteneingang eingetreten war: Carlos von Wulfsdorff, der sich in einem von allen übrigen Sitzen abgesonderten, niedrigen, grau bemalten, mit Gittern versehenen Kirchensitz der Familie niedergelassen hatte. Aber auch er schaute nicht auf den Prediger, er hatte, Hans sah's, nur Augen für Wiebke Nissen.

Während der junge Mann noch seinen Gedanken sich hingab, warf plötzlich die draußen zum Durchbruch gelangte Sonne ihre goldenen Lichter durch die Kirchenfenster und umfing, gleichsam verklärend, das Antlitz des Geistlichen. Gerade eben sprach er mit tief eindringlicher Stimme. Pastor Bjelke, der sonst in Föhrde seines Amtes waltete und heute nur ausnahmsweise hier predigte, gehörte zu denen, die auf tote Worte nichts geben. Er suchte durch Beispiele aus der lebendigen Welt auf die Herzen der Zuhörer einzuwirken und seiner Rede einen tieferen, zugleich faßlichen Inhalt zu verleihen.

»Die Friedfertigen leben nicht nur, sie herrschen,« sagte er. »Man höre, sehe und schweige. Der Tag ohne Streit bringt Schlaf in der Nacht. Lange leben und herrlich leben, ist die Frucht des Friedens. Alles hat der, welcher dem aus dem Wege geht, was seines Amtes nicht ist. Keine größere Verkehrtheit, als sich alles zu Herzen zu nehmen. So große Torheit es ist, uns von dem das Herz durchbohren zu lassen, was uns nichts angeht, so widersinnig, daß wir uns nicht kümmern wollen um das, was zu uns gehört und wichtig für uns ist. Aber die Unterscheidung sei eine klug wägende, was unserer Beschäftigung wert!

»Wir lassen uns allzuoft unser Inneres mit Wünschen umfassen, die wir bei erster Regung schon töten sollten wie vernichtende Flammen in sich bergende Funken! Denn unsere Weisheit ist so gering, daß wir uns nicht einmal die Zeit nehmen, nachzudenken, was wir haben werden, wenn wir es erlangten. Wir vergessen, daß fast die meisten Dinge in demselben Augenblick den Reiz eingebüßt haben, wo wir sie besitzen!«

Etwas ganz Neues, Gewaltiges kam über den eindrucksfähigen und sonst im Leben streng mit sich zu Rate gehenden jungen Hans Appen bei diesen Worten.

Die Worte des Predigers fielen ihm auf die Seele! Daß man sich nicht einmal die Mühe mache, zu untersuchen, was man haben werde, wenn man das mit aller Leidenschaft Erstrebte besitzen würde. Hatte Wilhelm nicht ältere Rechte? Wie hatte er an ihm gehandelt?

So befestigte er seine guten Gedanken für Wiebke und Wilhelm, beschloß, der Zeit die Klärung dessen zu überlassen, was ihn sonst so tief beschäftigte, und hörte andächtig auf das, was noch bis zum Schluß über die Lippen des Predigers drang.

 

* * *


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