Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Weg der Plicht.

Weit hinten in der fernen smaländischen Einöde, wo kein Dampfroß schnaubt, keine der Verfeinerungen des Lebens hingedrungen ist, lag die kleine Gemeinde in einem Wald ohne Bäume, an einem See ohne Wasser.

Wohl hatte der Wald Bäume gehabt; doch der hungrigen Mündchen gab es in den kleinen Heimwesen gar viele, und die Ackerstreifen, die sich zwischen den Steinhaufen hinzogen, waren klein und mager, mit kurzen Halmen und vertrockneten Aehren; so hatten die Bauern, um die vielen lebenden Wesen in den kleinen Hütten ernähren zu können, eine Last nach der andern den fünf und eine halbe Meile langen Weg zur Bahnstation fahren müssen, erst dicke Balken, dann dünne und zuletzt Reisig! Und jetzt sah es gar unheimlich aus auf den weiten, steinigen Feldern voller Haidekraut, wo die Eulen auf halb verfaulten Baumstümpfen saßen und sich vom Tode der Waldesriesen erzählten.

Wohl war einmal Wasser in dem See gewesen, aber als der Wald zu Ende ging, und die Aecker zwar noch ebenso klein, aber noch magerer und ausgesogener waren und sich wegen des gebirgigen Terrains und des Gesteins nicht vergrößern ließen, als man sich doch verheiratete und Kinder bekam, die auch essen wollten, als das Brotkorn nicht länger als bis Weihnachten reichte, da legte man den See mit großer Mühe und drückenden Schulden trocken, um ein Feld zum Säen, eine Wiese zum Mähen zu bekommen.

Doch auch der See selbst lag so voller Steine, daß Saat und Gras dort kaum wachsen wollten, und den trostlosen, grauen, steinigen Ufern dieses See's, der nicht mehr da war, entstiegen Fieber und Seuchen; unter den kümmerlichen Porschbüschen und Zwergbirken lauerten Krankheit und Tod. Die Natur rächte sich grausam für das Stören ihres Haushaltungsplans, sie strafte die Gewalt, die man ihr angethan hatte, ohne Schonung, und endlich – verringerten sich der Hunger und die Zahl der Esser in diesem baumlosen Walde, an diesem wasserlosen See.

In diesem armen Stückchen von Smaland lag ein Pfarrhaus unter einem geteerten Lattendach, während die Hütten der Bauern nur mit Rasen gedeckt waren. Im Stalle war Platz für vier Kühe, aber auf der Wiese kaum Futter für drei, und die sechs Stachelbeerbüsche, die an der Südwand des Wohnhauses standen, trugen jeden Frühling kleine, farblose Blätter, hatten aber nie eine Beere für die Kinder des Pastors. Hinter dem Hause standen acht schlanke Birken in einer Gruppe zusammengedrängt, und dies nannte die Pastorin ihren Park.

Der Pastor Olof Wallander lebte natürlich in sehr dürftigen, armseligen Verhältnissen, aber er war auch ein Mann mit geringen Gaben. Junge, vielversprechende Diener des Herrn, die je nach Bedarf weihevoll oder grob und scharf reden konnten, die jeden Zuhörer zu Weihnachten und bei der Kollekte für den Prediger zu Thränen rührten, die bemühten sich nicht um eine Pfarre wie Westanskog. Deshalb wurde der Sieg bei der Wahl leicht für Pastor Wallander, der eine Versorgung, so kümmerlich sie auch war, brauchte, da er sich schon als Adjunkt auf Gottes Vorsehung hin verheiratet hatte, die freilich noch nie einen Hülfsprediger hat ganz verhungern lassen, ihn aber zuweilen fühlen läßt, wie es dabei zugeht.

Es war ein armes Hirtenzelt ohne viel Freude und Sonnenschein. Die drei Zimmer unten waren recht klein, sahen aber trotzdem noch leer und kahl aus; Stühle und Tische waren vom einfachsten, gebeizten Birkenholz; die ersteren trugen verblichene Bezüge, die zu Hause gewebt waren, und standen so weit von einander, wie die Infanteristen bei der Schützenkette, und es sah aus, als wollten sie einander fragen: »Wie in aller Welt bist Du hierher gekommen?« Oben in dem kleinen Giebelzimmer, das der Pastor bewohnte, sah es etwas gemütlicher aus. Ein paar Bücher, drei einfache Pfeifen, eine Wandkarte und ein Schreibtisch von Tannenholz gewährten dem Auge etwas mehr Abwechslung.

Doch was hier Leben und Sonnenschein verbreitete, das waren die Kinder. Ich glaube gern, daß, wenn es darauf ankommt, man die Kleinen im reichen Hause ebenso heiß und innig liebt; doch dort macht ihnen so vieles andere den Rang streitig. Oelbilder und Statuen, Pfeilerspiegel und Seidenplüsch, Eitelkeit und Prahlerei, und dann weiß man dort auch nicht recht, was sie kosten, wie viel Sorgen und Entbehrungen sie repräsentieren. Doch bei dem armen Pastor in Westanskog, wo alles außer den blauen Augen und den kleinen, roten Plappermäulchen häßlich und geschmacklos, wo alles außer den weißblonden Köpfchen düster und alles außer dem Trippeln zerrissener Stiefelchen still war, wo der Papa oft auf den zweiten Teller Milchsuppe verzichtete, weil der kleine Gustav so begehrliche Blicke nach der Suppenschüssel warf; wo man die Kleinen Jahr für Jahr mit Sorgen, Kummer, Angst und Entbehrung erkaufte, da machten sie den ganzen Inhalt des Daseins aus und verbreiteten Freude, wie man sie anderswo selten findet.

Als die Westanskoger Pastor Wallander ein paar Jahre gehabt hatten, fanden sie seine Gaben nicht mehr so gering. Er sprach nicht ganz so schön, wie der Pastor der Muttergemeinde, das war allerdings richtig, aber er sprach als Mensch zu Menschen und nicht wie ein Kronvogt Christi, der in den Seelen rückständige Steuern eintreiben will, und wenn man sich nicht nur von dem »schönen Gotteswort« in einen Gefühlsdusel einwiegen lassen wollte, sondern versuchte wirklich auf das zu hören, was der Pastor sagte, so war es ganz merkwürdig, wie gut man ihn verstehen konnte und wie seine Worte auf alle Lebensverhältnisse paßten. Und wenn Pastor Wallander an's Krankenlager und an's Todtenbett trat, dann schritten Trost und Frieden mit ihm über die Schwelle, sein liebevoller, vertraulicher Gruß war allein eine halbe Predigt, und die geringen Gaben brachten auf den starken Armen warmen Gebetes untrügliche Schätze dar in der Stunde der Not und dem Thale der Todesschatten. – Zuletzt widerstand ihm nur noch ein Herz in der Gemeinde, und das war ja auch gerade nicht so wunderbar, denn das Herz war hinter den Wänden eines stattlichen, zweistöckigen Hauses verwahrt und durch fünfzigjährige Arbeit im Dienste des Mammons verhärtet. Ein Pelz von Waschbärfell und ein dickes Taschenbuch schützten es auch noch, und so konnte man ihm nicht leicht ankommen; im Uebrigen glaubte der Pastor fest und sicher, daß dieses Herz nicht schlechter als andere sei, obgleich es dem Gerichtsbauern in Holma gehörte. Der Gerichtsbauer war der einzige wohlhabende Bauer im Kirchspiel, er war allmächtig in der Gemeindeversammlung und hart gegen die Armen. Nicht daß der Pastor mit diesem Matadoren Streit angefangen oder ihm sein Mißfallen deutlich gezeigt hätte! Er fühlte, daß dies vielleicht eigentlich seine Pflicht gewesen wäre, aber die Armut und die geringen Gaben hatten ihn demütig gemacht. Der humanisierende Einfluß seiner Wirksamkeit hatte es jedoch zu Wege gebracht, daß die Kleinbauern selbst über die Anmaßung des Gemeindekönigs zu murren begannen und einige Male eine barmherzigere Ansicht, als die des Gerichtsbauern, im Punkte der Armenverpflegung durchgesetzt hatten. Das hatte diesen für immer zum Feinde des Predigers gemacht.

Mit dem Frühling kam das Scharlachfieber in's Dorf. Ein Grab nach dem anderen wurde gegraben; kleine weiße Särge wurden oft am Pfarrhause vorübergetragen, und Frau Karin erbebte, wenn sie ihren Mann des Sonntags inmitten dieser Särge im Kreise der Leidtragenden stehen sah, die in so enger Gemeinschaft mit der gefährlichen, ansteckenden Krankheit gewesen waren. Andere waren vorsichtig und schlossen sich ab, aber der Priester durfte ebenso wenig weichen wie der Arzt. Und oft ging er selbst in's Trauerhaus, um eine verzweifelnde Mutter zu trösten oder mit den leidenden Kleinen in einer für sie verständlichen Weise zu sprechen. Und wenn er dann des Abends Gustav auf dem einen Knie und Anna auf dem anderen hielt und Gretchen auf dem Fußboden umherkroch und sich manchmal dicht an die Gruppe schmiegte und die kurzen, dicken Aermchen nach dem Vater ausstreckte, da wurde Frau Karin's Herz von schmerzlicher Unruhe ergriffen. Wo würde der bleiche Gast zunächst anklopfen?

Endlich kam er auch in's Pfarrhaus. Sein Besuch galt Aennchen, und nach einigen Stunden lag sie glühend rot im Bette und streckte die fieberheiße Hand unaufhörlich nach dem Wasserglase aus. Als Pastor Olof eines Abends nach Hause kam, trippelten ihm nur zwei Paar zerrissener Schühlein in der Thür entgegen.

Das wurde ein Kampf zwischen dem Tode und der Liebe. Wir wissen, daß die Liebe die Stärkere von beiden ist, aber nicht hienieden. Nachdem der Streit zwischen Hoffnung, Furcht und Verzweiflung eine Woche gedauert hatte, schüttelte der kleine Engel des armen Heims den Staub von den Flügeln, und wieder wurde ein kleiner, weißer Sarg in die dichte Reihe der frischen Gräber um die kleine Kirche auf dem Hügel niedergesenkt.

Bist Du je in einem Hause gewesen, aus dem ein Kind eben fortgegangen ist? Dort ist das Leben ein Spiel auf einem Instrumente, dessen Saiten zerrissen sind. Das Unbedeutendste reißt die Wunde wieder auf. Die Zuckerdose, nach der das Kind immer das Händchen ausstreckte, macht die Augen überfließen. Der Vater starrt mit verzogenen Zügen in eine Ecke der Kammer, wo kein Fremder etwas Merkwürdiges sehen kann. Aber er sieht einen kleinen, zerbrochenen Kreisel, der unter dem Sopha vergessen worden ist. Er sieht kleine, tappende, eifrige Hände, die sich nie, nie mehr rühren werden. Er hört ein Lachen, wie Vogelgezwitscher über den summenden Tanz des alten Kreisels, ein Lachen, das in dem weißen, mit Blumen geschmückten und mit Thränen benetzten Särglein verstummt ist. Die Mutter sitzt stumm da und blickt immer wieder nach der Schlafkammerthür. An der Thür ist ja gar nichts zu sehen! Ach, siehst Du denn nicht links im Rahmen eine kleine Stelle, wo das Holz dunkler und die Farbe verschwunden ist? Dort haben sich die dicken Fingerchen mit den Grübchen immer festgehalten, um den kurzen, unsicheren Beinchen über die Schwelle zu helfen. Und hinten in der Garderobe, neben Mamas Sonntagskleid, die kleine Blouse mit den Flecken, für die es Schelte bekam! Und noch nach Monaten und Jahren oben auf dem Boden im Flickenkorbe ein kleiner Strumpf mit einem Loch in der Ferse und Erinnerungen in jeder Masche!

Der Sommer vergieng und der Herbst kam, kam mit kühlen Tagen und Stürmen, die sausend über die öden Hungerfelder von Westanskog fuhren. Grau und düster, noch düsterer als gewöhnlich lag das Pfarrhaus im Schneeregen und in der Novemberbeleuchtung da. Doch im Kamin des Eßzimmers knackte das Birkenholz und Papa und Mama saßen mit ihren Kleinen vor dem Feuer.

Die giftigen Nebel aus dem See ohne Wasser hatten ihre Ernte fortgesetzt, die gleich schnell vor sich ging, ob die Sichel nun Ruhr oder Typhus hieß. Nun hatte die gefährlichste Seuche von allen, die Diphteritis, ihren Feldzug in den Hütten begonnen, hatte sich aber bisher nur auf die Kinder beschränkt. Frau Karin schloß Gustav fester in die Arme und wandte sich bebend und schüchtern an ihren Mann:

»Olof, kleinen Kindern brauchst Du doch wohl keine Krankenbesuche zu machen? Ach, Olof, ich zittere für Gustav und Grete!«

»Wir wollen nicht davon sprechen, Karin!«

»Es sind uns nur noch zwei geblieben, Olof! Bis jetzt haben ja nur Kinder Diphteritis. Wenn es Gottes Wille ist, daß keine Altern erkranken, so braucht doch der Prediger nicht zu den kleinen Kindern zu gehen, die gar nicht fassen können, was er sagt? Alle anderen hüten sich davor, alle andern meiden die Häuser, in denen Ansteckung droht. Du brauchst doch nicht zu den Kindern zu gehen, sprich?«

Pastor Olof's Stimme klang weich und traurig, als er antwortete:

»Zu ihnen vielleicht nicht, aber zu den gebrochenen Müttern und Vätern, Du weißt selbst, Karin, daß Vater und Mutter in der Zeit der Prüfung des Trostes und der Liebe bedürfen.«

Frau Karin wagte nicht, noch mehr zu sagen, doch sie preßte: den Knaben krampfhaft an sich, als wollte sie ihn dadurch vor allem Bösen und Gefährlichen auf der Welt schützen.

»Hier ist ein Bote, der mit dem Herrn Pastor sprechen will«, schallte es aus der Küchenthür.

Der Pastor ging in die Küche und schloß die Thür zum Eßzimmer.

»Was willst Du, mein Junge?«

»Ja, ich soll vielmals von der Bäuerin in Holma grüßen und Herrn Pastor bitten, auf der Stelle zum Gerichtsbauern zu kommen, denn er liegt im Sterben an der Diphteritis! Es eilt, Herr Pastor!«

Der Pastor ging wieder hinein.

»Lebe wohl auf ein paar Stunden, Karin! Ich muß fort, und es lohnt sich nicht, daß Du aufbleibest und auf mich wartest.«

Frau Karin fuhr zusammen und starrte regungslos in das Feuer. Dann sprang sie auf, schlang die Arme um seinen Hals und fragte heftig, halb schluchzend:

»Wohin gehst Du, Olof?

Leise strich er ihr über ihr weiches, braunes Haar und blickte zu den Kindern hinüber, die vor dem Feuer spielten. Und dann antwortete er mit warmem, aber festem Ton:

»Den Weg der Pflicht, Karin!«

 


 << zurück weiter >>