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Die alte Mama.

Die alte Mama und Schwester Julia wohnten in einem Städtchen in der armen Gegend, zu der keine Eisenbahn führte, wo keine Diva sang und die Moden erst anlangten, nachdem sie in Paris und Wexiö alt geworden waren.

Die alte Mama hieß eigentlich Frau Stark und ihre Julia folglich Mamsell Stark und die alte Mietze »Starken's Katz'«. Sie hatten nur zwei kleine Stuben und Mitbenutzung der Küche, denn Papa Stark, der Vater der Familie, beanspruchte keinen Platz. Er hatte seit vier Jahren sein Schlafzimmer draußen im Westen der Stadt, wo die Schlummernden nie in ihren Träumen gestört werden und die Sonne in jedem Frühlinge neue grüne Gardinen um die Stämme der Ahornbäume webt.

Papa Stark war Tischler gewesen und hatte unverdrossen gearbeitet. Besonders seit Emil, der Sohn, nach Upsala ging. Es ist schrecklich, wie viel Geld drauf geht, bis man so gelehrt ist, daß man ein richtiger Referendar werden kann. Und Papa wollte nicht von den lumpigen Hellern nehmen, die er für Mama und Julia erspart hatte, aber es sollte Emil doch an nichts fehlen. Was konnte er da wohl Anderes thun, als für zwei arbeiten und seiner theuren Pfeife nach dem Mittagessen entsagen und den alten Sonntagsrock, der schon zwei Pastoren und drei Bürgermeister in Knapköping überlebt hatte, wieder wenden lassen. Und wenn sein guter Freund Meister Falk, der Schuhmacher war und seinen eigenen Jungen auf den Schusterschemel gesetzt hatte, Sonnabends Abends, vorsprach und fragte ob Stark mit in den Rathskeller käme, um einen Grog zu trinken, da konnte er nicht anders als Nein sagen.

Während der alte Stark Stühle und Tische anfertigte und Nachts noch spät in der zugigen Werkstatt stand, fing er so allmählich an, seinen eigenen Sarg zu hobeln, ohne daß er es merkte, und bald war dieser fertig, und die Bewohner von Knapköping sahen das gefurchte Gesicht und das weiße Haar des alten Tischlers nicht mehr durch das Werkstattfenster.

Emil kam nach Hause und machte sich außerordentlich gut in dem neuen schwarzen Frack, der mit Papas letztem Arbeitslohn bezahlt war. Er weinte sehr, zog Mama und Julia in die Arme und versprach, fleißig in seinen juristischen Studien zu sein, damit er ihnen eine Stütze werden könnte.

Da saßen nun die beiden, Mutter und Tochter, an dem kleinen mit Geranien geschmückten Hoffenster. Eine Nähmaschine stand zwischen ihnen; sie summte so fleißig und sang so munter: Emil studirt ... nickenickenick ... Emil kommt ... nickenickenick ... Emil macht bald sein Examen ... nickenickenick ... nicketennicketennicketenick. Die Geranienblüten fielen ab und knospeten wieder, und die alte Mama fiel ab, ohne wieder zu blühen, und Mamsell Julia wurde bleich und mager und bekam so gräßliche Schmerzen im Rücken vom jahrelangen Sitzen an der Maschine.

Manchmal verstummte diese, und mitten am hellen Vormittage wurde ein angezündetes Stearinlicht auf den Tisch gestellt. Und dann kam Mamsell Julia von der Sparkasse mit großen, feinen Bankzetteln, die die alte Mama wie liebkosend und segnend mit der Hand streichelte und sie dann mit einem Seufzer in ein großes Couvert steckte, das Mamsell Julia mit fünf Siegeln verschloß.

Wie lang und schwer doch das Studium der Rechtswissenschaften sein muß!

Die Briefe erregten wirkliche Freude, wenn sie in der Vaksalastraße 24 ankamen, wo sich gewöhnlich irgend ein guter Freund nach Emil umsah.

»Nein, ein solcher Glückspilz! Moos mitten im Semester! Deine Alte ist die Perle aller nordischen Familienmütter, das muß ich sagen.«

»Ja, gut ist sie, das läßt sich nicht leugnen. Nun müssen wir aber hin und uns etwas Eßbares zu Gemüt führen. Heute Abend treffen wir dann die anderen Jungen im »Bienenkorb«.

Doch wenn Mama den großen Brief mit den schönen Zetteln abgeschickt hatte, seufzte sie wieder und gab Mamsell Julia zwölf Pfennige:

»Wir nehmen auch heute wieder Strömling zu Mittag, mein Kind!«

Als das Sparkassengeld immer mehr zur Neige ging, konnten die Knapköpinger, die Abends durch die Gasse gingen, die Köpfe der beiden Frauen noch bis spät in die Nacht hinein an der Nähmaschine am Fenster sehen; und der alte Kopf wurde immer weißer und runzeliger, der junge immer eckiger und bleicher und ein nie endender Strom weißen Leinens wälzte sich durch die blanke Maschine. Doch die Maschine war gewiß auch müde geworden, denn sie sang gar nicht mehr so munter. Glückliche Bräute kamen und brachten einen wonnigen Frühlingshauch von Licht und Freude in das kleine Zimmer. Mamsell Julia sollte ihnen die Aussteuer nähen und erhielt obendrein noch einen kleinen Ueberschuß ihrer übersprudelnden Freude.

Doch wenn ihr die jungen, strahlenden, sonnigen Mädchengesichter einen Abschiedsgruß genickt und die Thür hinter sich geschlossen hatten, dann kamen Mamsell Julia viele Gedanken, während sie die Leinenballen zu Tischtüchern, spitzenbesetzten Kopfkissen und allem Möglichen Zuschnitt.

*

Da war ein kleines Theegedeck mit roter Borte, gerade für zwei passend. Wie müßte es sein, wenn man in einem hübschen Zimmer dies Tuch über den kleinen Tisch vor dem weichen Sopha ausbreiten dürfte, während aus der Sophaecke zwei liebevolle Augen gierig jeder Bewegung der kleinen Hand, die das Gebäck und die Tassen ordnete, folgten?

*

Feinstes holländisches Leinen, reiche Spitzen, farbige Stickerei um Hals und Aermel! Ach unter ihnen würde ein junges, glückliches, sehr glückliches Frauenherz pochen!

*

Nanu, Mamsell Julia, alte Närrin! Blick' auf. Du brennendes Auge; die Naht muß grade werden! Tritt rasch. Du schmerzender Fuß! Emil braucht Geld ...

*

Ihr gegenüber, an der anderen Seite des Tisches, tummelten noch frohe, rosige Träume unter dem schneeigen Scheitel. Die alten Augen blicken immer weiter in die Zukunft, je schwächer sie werden. Wovon träumt die Alte? Welches Gaukelspiel der Phantasie kräuselt wohl die welken Lippen zu einem Spätsommerlächeln?

*

Ja, Emil hat seine Studien mit Glanz durchgemacht und ist nun Bürgermeister in einer großen, großen Stadt, viel größer als Knapköping mit ganzen 4-5000 Einwohnern. Die alte Mama wohnt im wärmsten Zimmer der großen Bürgermeisterwohnung. Heute ist Gesellschaft. Ein Bürgermeister »muß« ja hin und wieder eine Gesellschaft geben. – »Komm jetzt, Mamachen!« – »Nein, Emil, ich will nicht hinein zu Deinen seinen Gästen.« – »Was denn, Mama! Der Herr Präsident wartet auf meine Mutter.« – »O ... Emil ... Emil ...« Und dann legt er liebevoll ihre kleine, welke Hand auf seinen starken Arm, führt sie mit strahlenden Blicken und erhobener Stirn in den Saal und schämt sich seiner alten Mama gar nicht. Und die feinen Herren verbeugen sich vor der Mutter des Wirtes, und zuweilen erhebt der Eine oder der Andere sein Glas und sagt: »Darf ich auf Ihr Wohl trinken, Frau Stark!« – O, Emil ... Emil!

*

»Mama, unsere Feuerung ist zu Ende, und ich habe noch nicht die Bezahlung für unsere letzte Arbeit.«

»Ach, Kind, was sagst Du? Ich träumte so schön ...«

*

»– – – – – –
Beim Becher, beim Becher
Sieht man den Dritten gern
– – – – – –«

lallt eine schläfrige Stimme aus dem trotz der Winterkälte geöffneten Fenster des Dachstübchens, Vaksalastraße 24. Müde, mit glühenden Wangen und verglasten Augen begiebt sich Emil Stark auf die Entdeckungsreise nach Schwefelhölzern und Licht. Sieh' da! Nun, ging es vielleicht nicht schließlich doch! Aber – was tausend ... ein Telegramm! Und er war fortgewesen und hatte »den ganzen Tag gefrühstückt!«

»Mama krank. Will dich sehen! Komme sofort! Julia.«

Er wurde totenbleich, und seine Lippen zuckten. Aus dem armen Hause ein Telegramm, das eine ganze Mark kostete! Das war nicht zum Frühesten abgeschickt, das wußte er. O, das war der Tod ... der Tod, der sie, die ihm alles geopfert, dahinraffte, ehe er ihr etwas anderes als Sorge bereitet hatte! Und er hatte sie seit drei Jahren nicht gesehen ...

Er besaß keinen Pfennig zur Reise. Er versetzte, er bettelte, er weinte, tobte und flehte. Man zuckte die Achseln und murmelte: »Wir kennen Dich, Freundchen!«

»Sie haben ja Ihre Uhr noch nicht eingelöst, Herr Candidat.«

»Nein, Stark, komm' mir nur nicht mit solchen Geschichten!«

Schließlich hatte er die ganze Summe erbettelt.

Welche Fahrt! Er war allein im Coupé und kroch mit aufgeschlagenem Rockkragen in eine Ecke, preßte die Lippen zusammen, damit der Schaffner ihn nicht schluchzen hören sollte, und sah jede Minute nach der Uhr, um auszurechnen, wann er wohl da sein könnte. Und dann zwanzig Kilometer im Schlitten! Die Gedanken eilten ihm voraus, er sah Julia verweint in der Thür stehen und stumm in's Zimmer deuten; und dort sah er so deutlich seine alte Mama starr und kalt liegen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und jede Fiber erschauerte vor Angst.

Da lag endlich die kleine Stadt, und da war das gelbe Haus. Die Geranien standen wie sonst am Fenster, – aber die beiden Köpfe waren fort, der alte und der junge.

Mit dem um Gnade flehenden Blicke eines zum Tode Verurteilten begegnete sein Blick dem Auge Julia's und las darin, daß das Leben noch nicht entflohen war.

»Aber leise, Emil, Mama phantasiert! Es wird bald zu Ende sein ...«

Er schwankte zum Fußende des Bettes und verbarg das Gesicht in den Kissen.

»So ... da bist Du ja ... Emil ... geliebter Junge ... faß ... faß an ... Emil ... es liegt mir ein schweres Gewicht auf der Brust ... und Julia kann es nicht heben ... faß an ... lieber Junge ... dann geht es schon ... Es ... war gut ... daß Du nun kommst und Deine alte Mama ... zu ... Dir nimmst ... denn weißt Du ... wenn ich noch länger ... hätte warten müssen ... so glaub' ich ... wäre mir ... das Herz ... gebrochen. Hebe den Balken ... der mir auf der Brust liegt ... ein wenig auf ... Emilchen! Danke ... mein lieber ... guter Junge! Julia ... geh' ... geh' gleich zu Frau Berglöf und sage ihr: »Nun ist Herr Emil wirklich ... wirklich Assessor!« ... Ja so ... Du kommst und willst uns holen ... ich will kein großes Zimmer haben, Emil ... nur einen kleinen ... kleinen Winkel ... wo ich liegen und Gott bitten kann, die Liebe meines Jungen zu belohnen ... und dann mußt Du gut gegen Julia sein ... armes Mädchen! ... Sie kann ja nicht dafür, daß sie ... nicht ... so hübsch und ... so begabt ist ... wie Du ... Nein, Julia ... nicht Hering heute ... wo der Herr Assessor gekommen ist ... Wissen sie in der Stadt ... daß Du nun ... wirklich ... Assessor bist? O ... nun will ich ein Bißchen schlafen ... Nein danke ... Ihr lieben Leute ... jetzt kein Holz mehr ... jetzt ziehe ich ... zu ... meinem Sohn ... dem ... As ... sess ...«

*

Auf einmal wurde es still. Emil erhob sein verweintes Gesicht. Die alte Mama war dahin gegangen, wo keine Hoffnung mehr getäuscht wird.

Doch sie hat Schwestern hienieden. Geduldige, leidende, sich auf die Zukunft vertröstende Schwestern. Habt Erbarmen mit ihnen, Ihr Jungen!

 


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