Friedrich Hebbel
Julia
Friedrich Hebbel

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Zweiter Akt.

(Sarg mit herumstehenden Gueridons, auf denen Valentino die Lichter anzündet.)

Erste Szene.

Valentino. Man sagt, die Sonne sieht nichts Neues; ob ihr auch dies nicht neu ist? Wenn ich noch mehr solcher Dinge erlebte, ich könnte verrückt werden! Seit acht Tagen sag' ich nun kein wahre Wort und bin schon so aus dem Geleise gebracht, daß, wenn mich einer frägt, ob ich Valentino heiße, ich nur kaum noch mit Ja zu antworten wage. Wahrlich, mir ist nicht wohl zumut. Freilich komm' ich ins Testament und darf jetzt die vollen Schränke und Kasten im Hause mit ganz andern Augen betrachten, wie früher. Aber das gibt mir vollends den Rest! Was machte ich mir sonst daraus, wenn ich etwas zerbracht oder verdarb? Jetzt zittre ich für jeden silbernen Löffel, ich habe nachts eine Angst vor Dieben, die mich nicht schlafen läßt, ja ich hätte meinen Herrn, als er heute mittag sein Trinkglas etwas heftig niedersetzte, anfahren und ihn, als ob ich schon Besitzer wär', zur Vorsicht ermahnen mögen. Gebe nur der Himmel, daß der Totengräber nicht ein solcher Unhold sei, als man glaubt! Man legt ihm sein nächtliches Arbeiten auf dem Kirchhof nicht zum besten aus, so viel er auch von übertriebenem Sterben und von der Unmöglichkeit, bei Tag mit den Gräbern fertig zu werden, fabelt. Wenn er auf den Gedanken käme, sich mit dem Brecheisen an diesem Sarg zu versuchen, und die Steine fände, die ich hineingelegt, die alten Kleider, womit ich sie umwickelt habe, wir wären verloren! Er würde schon, ohne sich selbst zu verraten, einen Verdacht zu erregen wissen und – es kommt jemand! Da hab' ich die Tür offen gelassen – willst du noch einen weiteren Beweis, Mensch, wie es mit dir steht? Am Ende wiegt sie nicht schwer genug, oder zu schwer, und die Totenträger –

Zweite Szene.

Antonio (stürzt hinein). Ist es wahr? Ist es wahr?

Valentino. Was denn?

Antonio. Ich hörte – Wer liegt in diesem Sarg?

Valentino. Wer denn wohl sonst, als – – Lesen Sie das Schild! Name und Jahreszahl stehen ja sauber eingegraben darauf!

Antonio. Signora Julia, Tochter des Signor Tobaldi, alt achtzehn Jahr, gestorben am elften um die Mittagsstunde. Vortrefflich! Herrlich! Aber, Teufel, du verrechnest dich!

Valentino. Vortrefflich! Herrlich!

Antonio. Wäre ich noch nicht dein, ich würde mich dir vielleicht ergeben, aber jetzt – wie starb das Fräulein?

Valentino. Wie? Nun –

Antonio. Du bist verlegen – Sie nahm Gift? Sie brauchte – (Er zeigt einen Dolch.)

Valentino. Gift? Dolch? Das nicht! O nein! Wie hätte sie –

Antonio. Freilich, wie hätte sie! (Für sich.) Willst du sie noch im Sarge beflecken? (Laut.) Sie war so jung, so schön, so blühend frisch, daß ein natürlicher Tod fast noch unmöglicher erscheint, als ein anderer! Sahst du nie eine Rose, die sich selbst brach, weil sie zu voll war?

Valentino. Nein! Allerdings! will ich sagen – (Er bläst ein Licht aus.) So ging's! (Er zündet's wieder an.) Schnell, als ob droben plötzlich ein Engel heiser geworden wäre, für den sie das Hosianna singen sollte. Sagen die Leichenfrauen nicht so in solchen Fällen?

Antonio. Aber vorher – vorher – War sie traurig? Fand man sie zuweilen – – Du bist ja der einzige Bediente im Hause und mußtest oft um sie sein – – fand man sie in Tränen? Schien sie sich zu grämen? Du weißt, der Tod kündigt sich doch gewöhnlich auf irgend eine Weise an – Ahnungen stellen sich ein, eine Niedergeschlagenheit ohne Grund bemächtigt sich des Menschen – Was bemerktest du?

Valentino. Nichts! Gar nichts! –

Antonio. Nichts?

Valentino. Nichts von dem, was Sie meinten. Sie war fröhlich, wie immer!

Antonio. Das ist nicht wahr! Dann müßt' ich zweifeln, daß sie mich – – So! Fröhlich!

Valentino. Wenn ich sie sah!

Antonio. Wenn du sie sahst. Ja, ja. Wenn er sie sah. Sei ruhig, wahnsinniges Herz, das es fast tröstlicher zu finden scheint, sie gemordet zu haben, als ihr gleichgültig geworden zu sein.

Valentino. Aber ich weiß nicht, wie ich dazu komme –

Antonio. Öffne, öffne den Sarg!

Valentino. Den Sarg?

Antonio. Ich muß sie noch einmal sehen – Schnell! schnell!

Valentino. Noch einmal sehen? Haben Sie sie denn schon gesehen? Sie sind völlig fremd in diesem Hause, und, wie mir deucht, auch in der Stadt.

Antonio. Was fragst du viel! Nimm! (Gibt ihm eine Börse.) Und öffne!

Valentino. Der Sarg ist verschlossen, und der Vater hat den Schlüssel.

Antonio. Führe mich zu ihm, er wird barmherzig sein, ich will ihm dafür alles, alles vergeben, was er an meinem Vater und durch den an mir verbrochen hat.

Valentino. Verbrochen? Signor Tobaldi verbrochen?

Antonio. Ja! ja! Ist der Name Grimaldi in diesem Hause unbekannt? Ich bin sein Sohn, und das Blut wallt mir auf, wenn ich – Führ' mich zu ihm!

Valentino. Ich darf ihn nicht stören!

Antonio. Was will ich auch! Mit Blumen wird sie die Todeswunde bedeckt, mit Lächeln den Schmerz übergüldet haben, um sich erst in der Nacht, auf die kein Tag mehr folgt, auszuweinen! Soll ich sie stören, soll ich den Verdacht, der jetzt schläft, wie sie schläft, wecken und – – Nein! Fahre wohl, Julia, fahre wohl, du milder schöner Stern! Mein Herz ist der Stein, der sich dadurch erwärmte, daß er deine Strahlen in sich sog. Nun wird er, wie jener, der nach Sonnenuntergang noch dankbar fortglüht und von der Sonne zeugt, noch ein wenig leuchten und dann erlöschen, wie du! (Er zieht die Pistole hervor.) Ja, ja, wie du! (Zu Valentino) Wann wird sie begraben und wo?

Valentino. Heute noch und auf Sankt Lorenzo.

Antonio. Das ist da, wo die Ulmen so düster über die Mauer schauen. Dahin! dahin! Diesen Alten möchte ich zu meinem Erben machen, da er mein letzter Wegweiser ist, ich möchte ihm den Edelstein schenken, der mir jenseits des Weltmeers das Haus bauen sollte! Doch nein, das Vermächtnis eines Räubers könnte schreckliche Folgen für ihn haben! Eines Räubers! Du hörst dies Wort doch nicht, Tote? Sonst möchtest du wieder aufstehen und dein junges Leben von dem Menschen zurückfordern, der dich zwar anders betrog, als du vielleicht glaubtest, der dich aber doch betrog! Ich will den Stein wegwerfen. Hebe ihn auf zu Fluch oder Segen, wer will. Ein spielendes Kind, das nicht weiß, was es findet und den Fund wieder für eine Blume hingibt oder – (Zu Valentino.) Wundre dich nicht über mich, Alter! Ich habe dein Fräulein geliebt, wenn sie auch nichts davon gewußt hat, ich habe sie oft in der Kirche gesehen.

Valentino. Darüber verwundre ich mich gar nicht. Es ist hier noch einer in der Stadt, Anselmo heißt er, der über diesen plötzlichen Todesfall rasend geworden ist. Man hat ihn mit Stricken binden müssen, damit er sich nur nicht aus dem Fenster stürze. (Feierlich.) Sein Blut komme nicht über mich, wenn er's doch tut! (Für sich.) Was red' ich da wieder? (Zu Antonio.) Ich wollte nämlich nie einen Brief für ihn bestellen, nicht einmal Blumen und Früchte überbringen, obgleich ich die Hälfte für mich hätte behalten können.

Antonio. Und nun – (Er küßt den Sarg.) Heute früh, als ich ankam, trank ich auf ihr Wohl und wünschte ihr so viele Jahre, als der Sonnenstrahl mir Perlen im Wein zeigte. Das war mein letztes Glas! Nun, alles hat ein Ende, und wenn morgen doch, warum nicht heut? Warum an gestern? könnt' ich auch fragen, könnt' ich eher fragen. Die Wunde hier, die mich für Monate darniederwarf, die mich in dem Augenblick darniederwarf, wo ich zu ihr eilen wollte, um mit ihr zu entfliehen und in einem neuen Weltteil ein neues Leben anzufangen, warum mußte sie wieder heilen? Wenn einem meiner mißtrauischen Teufel die Macht verliehen war, sie mir in der Stunde der Entscheidung zu versetzen, warum gebrach ihm die Kraft, tief genug zu stoßen, und warum mußte sich ein anderer aus schnöder Dankbarkeit zu meinem Beschützer und Pfleger aufwerfen? Gleichviel! Nach St. Lorenzo! (Ab.)

Dritte Szene.

Valentino (allein). Nach Sankt Lorenzo! Der will doch nicht einen Totenträger vorstellen, der sich selbst dahinträgt? Mir graust! Einer wird wahnsinnig, der andere – – Nichts soll mich verhindern, gleich morgen zu beichten! Mein Herr! Gottlob, daß er nicht früher kam! Das hätte, des Fremden wegen, was gegeben! Wie er dreinschaut! Keck und sicher, als wären die Steine schon unter der Erde! Welche Strafe wohl auf einen solchen Betrug gesetzt ist!

Vierte Szene.

Tobaldi (tritt auf, einen erbrochenen Brief in der Hand). Du bist hier? Rasch hinunter! Der Vater des jungen Anselmo wird gleich klopfen. Ich sah ihn über die Straße gehen. Unter keiner Bedingung bin und zu sprechen!

Valentino. Ich werde ihn abweisen. Sein Sohn soll –

Tobaldi. Ich bin kein Irrenarzt. Was geht's mich an? Kennst du ein Mädchen, das Haare hatte, wie meine Tochter? Schwarz und glänzend, daß kein Unterschied zu bemerken wäre?

Valentino. Die Mädchen haben Haare von allen Farben.

Tobaldi. Spür' eine auf. Es hat Zeit bis morgen. Du mußt mir eine Locke schaffen. Geh!

(Valentino ab.)

Fünfte Szene.

Tobaldi. Ja, liebe Schwester, dein Wunsch soll erfüllt werden, wär's auch nur zum Dank dafür, daß du zur rechten Zeit krank geworden bist! Du hättest dir sonst dein Recht auf den Leichenkuß schwerlich nehmen lassen, und das würde mich in Verlegenheit gesetzt haben. Nun ist's bald vorüber! Wenn diese Lichter niedergebrannt sind, wenn diese Holzkiste mit Erde bedeckt ist, hab' ich in den Augen der Welt keine Tochter mehr. Wie leicht das alles ging!

Sechste Szene.

Alberto (tritt ein). Nun?

Tobaldi. Dank dir für deinen schwarzen Rock! Ihr Herren pflegt sonst die Zahl der Raben hinter einem Sarg nicht zu vermehren!

Alberto. Und du bist und bleibst entschlossen?

Tobaldi. Du fragst wie aus dem achten Jahre heraus, und hast das Westerhemdchen doch, wie mir deucht, schon geraume Zeit abgelegt. Als ob ich noch zurück könnte! Als ob auch nur eine Möglichkeit vorhanden wäre! Ich meine nur. Nicht, als ob ich zurück wollte!

Alberto. Es würde dir nicht zur Schande gereichen! Ein solcher Betrug –

Tobaldi. Gegen die Würmer ist unverantwortlich! Du hast recht. Ich hab's auch schon gedacht. Eine ganze Gesellschaft zusammenbitten und eine Schüssel ohne Braten auf den Tisch stellen! Welch ein – Aber sei ruhig, sie sind's schon gewohnt, es geschieht nicht zum erstenmal! Ich wiederhole bloß, was mir längst ein anderer vorgemacht hat!

Alberto. Und was also nicht geglückt sein muß, weil du es sonst nicht wissen könntest!

Tobaldi. Was so sehr geglückt ist, daß man in meiner Geburtsstadt bis zur Stunde nicht weiß, wer der Urheber war, und sich das Rätsel, das der Kirchhof aufgab, durch den Teufel löst.

Alberto. Wenn ich mir denke, daß dein armes Kind vielleicht hilflos und verlassen in der Welt umherirrt –

Tobaldi. So ist das wahrscheinlich ebenso richtig, als wenn der junge Anselmo sich denkt, daß sie im Sarg liegt und in Staub zerfällt.

Alberto. Wenn ich mir das denke, und mich dabei erinnere, wie manchen Kuß sie mir vor ihrem siebenten Jahre gegeben hat – – ich sage dir, da könnt' ich auf der Stelle tun, was der junge Anselmo tun würde, wenn er wüßte, was ich weiß, ich könnte mich, wie ein irrender Schäfer, aufmachen und –

Tobaldi. Du würdest sie sicher nicht finden! Ich biete die Wette! Du sollst sie, am hellen Sonntag Mittag, wenn alles, was Beine hat, spazieren geht, und alles, was keine hat, vor der Tür auf der Steinbank sitzt, zurückführen, und ich will dir, sobald du den Wink gibst, demütig entgegenkommen und vor dem Fräulein mit Handkuß auf die Knie fallen! Ich meine, wenn du sie triffst, und wenn sie will!

Alberto. Mensch, welch ein Widerspruch! Wie kannst du so gut von ihr denken und so, wie du tust, gegen sie handeln!

Tobaldi. Ich denke nicht gut von ihr, ich denke gut von mir selbst!

Alberto. Ich täte, was ich sagte, wenn mir nicht gerade ein Patient im Sterben läge, und ein Goldmacher obendrein! Und die Versicherung geb' ich dir! Ich störe dein Vorhaben nicht, jetzt nicht mehr. Ich werde ehrbar, wie du selbst, hinter diesem Sarg einherschreiten und mir den Mangel an Tränen vom gaffenden Volk ruhig auf Rechnung eines verstockten Herzens setzen lassen. Dessen sei aber gewiß, daß ich mich ihrer annehmen werde, wo und wie ich sie finde!

Tobaldi. Über Nacht sah ich sie unter Brennesseln liegen, einen Dolch in der Brust, und einer stand neben mir – vielleicht warst du's – und fragte mich: bereust du nichts? Ich sagte: Nein! Was hältst du von Träumen?

Alberto. Ich begreife deine starre Kälte nicht!

Tobaldi. Nein, denn du begreifst nicht, daß man in der Tochter zum zweitenmal die Mutter besitzen, und daß man sie in ihr also auch zum zweitenmal verlieren kann! Du begreifst nicht, daß es Menschen gibt, die nur einmal lieben, wie sie nur einmal leben und sterben, und die, wenn der Tod zwischen sie und den Gegenstand ihrer Liebe tritt, ihr ganzes Gefühl auf ein Bild, das über ihrem Schreibtisch hängt, übertragen können, wie viel mehr auf eine Tochter, die – Halten wir der Toten die Leichenrede, damit wir erfahren, was wir an der Lebendigen hatten! (Tritt an den Sarg.) Hier liegt ein Mädchen, das dem Vater schon bei der Geburt teuer verschuldet ward, denn es kam als Muttermörderin zur Welt, es schrieb sich mit Blut ins Buch der Lebendigen ein! Er würde das Mädchen gehaßt, er würde es wenigstens mit ausgedörrtem Herzen von sich entfernt haben, wenn der Blick der Sterbenden nicht noch im Erlöschen auf dem Kinde, wie auf dem letzten hell gebliebenen Punkt der verdunkelten Erde geruht, wenn sie bei einem zufälligen Laut desselben nicht noch aus dem Todeskampf heraus selig gelächelt hätte. Nun mußte er es wohl lieben und an seiner Seite behalten, er mußte sich dazu zwingen, denn er mußte zittern, die Entschlafene durch andere Empfindungen noch jenseits des Grabes zu verwunden. Was siehst du mich an, sieh weg, weg!

Alberto. Ich tu's ja.

Tobaldi. Und es ging ihm wunderbar, diesem Vater. Anfangs konnte er das kleine Wesen, das sich in dumpfer Genügsamkeit an eine fremde Brust schmiegte und gleichgültigen Lippen die Küsse aufdrückte, unter denen die erblaßten mütterlichen wieder aufgeblüht sein würden, nicht ohne einen bitteren Schmerz betrachten. Aber so wie es sich allmählich aus dem ersten dämmernden Nebel verschwimmender Umrisse zu bestimmteren Formen entwickelte, trat eine solche Ähnlichkeit mit der Hingeschiedenen hervor, daß ihm nach und nach ward, als hätte er sie nicht verloren, als hätte sie sich nur aus Laune oder aus Scheu vor ihm wieder ins Kind zurückgezogen und mache nun aus dieser freundlichen Maske heraus gebrochene Erkennungszeichen. Das Mädchen ward größer und der Traum, den ihr stilles Leben und Weben dem Vater aufschmeichelte, voller und schöner; nie konnte er aufhören, sich bei dem Gedanken an die Vorangegangene vereinsamt zu fühlen und zu vermissen, was er schon besessen hatte, aber wenn er sich auch von ihrer Gegenwart ausgeschlossen sah, so durfte er sich einbilden, daß ihm zum Ersatz für seine Entbehrung ein holder Nachgenuß ihrer Vergangenheit, ihrer Kindheit und Jugend, gegönnt sei, und ihm war zuweilen, als ob der heilige Duft der Blüte, den er einsog, ihn entschädige für den Honig der Frucht. Du hast die Abgeschiedene gekannt – – (Tritt vom Sarg weg.)

Alberto. Ich habe, Freund, ich habe, und ihretwegen habe ich dem lieben Gott seinen Rippendiebstahl halb und halb vergeben – verzeih, ich kann ja das Vaterunser nicht einmal mehr beten, ohne einen Harlekinssprung dazwischen zu machen – – aber freilich, freilich habe ich sie gekannt!

Tobaldi. Du hast sie gekannt; sprich selbst, ob die Tochter nicht geboren schien, den Lebensfaden der Mutter nur so wieder aufzunehmen und ihn völlig abzuspinnen! Waren es denn etwa bloß zufällige Äußerlichkeiten, die mich täuschten? Die Farbe des Haars und der Augen oder der Ton der Stimme? Sprach durch diese Augen, durch diese Stimme nicht dieselbe Seele zu mir, die mich einst – – – Wußte ich nicht, wenn ich eine Frage an sie stellte, was sie antworten würde, weil ich mich erinnerte, was die Mutter geantwortet hatte? Und konnte ich sie nicht, als sie mich um das Bild der Mutter bat, zum Spiegel führen, ohne ein Narr zu sein, und sprechen: sieh hin? Wurde die Ähnlichkeit, wenn noch etwas fehlte, nicht völlige Gleichheit, als sie sich, wie die es an unserm Hochzeitstage machte, mit verwirrtem Lächeln abwandte und ihr Gesicht an meiner Brust zu verbergen suchte? Mir war, als säh' ich sie selbst.

Alberto. Es ist wahr!

Tobaldi. Mußte ich also der Lebenden nicht vertrauen, wie ich der Toten vertraut hatte? Und ist es ein Wunder, wenn ich's jetzt, da die eine mich so schrecklich getäuscht hat, nicht für unmöglich halten, daß auch die andere mich noch hätte täuschen können, wenn sie länger –

Alberto. Wahnsinniger!

Tobaldi. Wahnsinnig oder nicht, ich sage dir, sie hat mir ihre Mutter zum zweitenmal ermordet, sie hat ihr Bild in meinem Herzen verfinstert, und darum soll sie mir sein, als ob sie nicht mehr in der Welt wäre! Dies Leichenbegängnis ist kein bloßes Possenspiel; was sie mir war, das begrab' ich; was von ihr übrig blieb, das gilt mir weniger als nichts.

Alberto. Jetzt zum erstenmal gönne ich sie dir!

Tobaldi. Wen?

Alberto. Die Tote! Denn jetzt sehe ich, daß ich dir unrecht tat, wenn ich glaubte, daß du nur ein halbes Gefühl für ihren Wert gehabt hättest!

Tobaldi. Und warum glaubtest du das?

Alberto. Weil du dich gleich, nachdem sie die deinige geworden war, in Dinge einließest –

Tobaldi. Die mir den Hals hätten kosten können, meinst du. Ja, sieh, darin unterscheidet sich ein Mann, wie ich, von einem Grimaldi. Ich tat's, als ich alles gewonnen, er, als er alles verloren hatte; ich, um für ein Glück, das ich nur dadurch verdienen zu können glaubte, den Preis zu bezahlen, er, um sich für sein Unglück zu rächen!

Siebente Szene.

Valentino (tritt ein). Ein fremder Herr bittet –

Alberto. Jetzt?

Valentino. Ein sehr vornehmer Herr!

Alberto. Hat er dir das gesagt?

Valentino. Er nicht, sein Wagen, vier Pferde und zwei Bediente –

Alberto. Ist es dringend? So laß ihn kommen! Und hieher, damit er um so eher wieder geht!

Valentino. Da ist er schon!

Achte Szene.

Graf Bertram (tritt ein). Ich habe die Ehre?

Tobaldi. Verzeihung, daß ich Sie empfange, wo Sie mir angemeldet wurden.

Graf Bertram. Es gilt mir gleich!

Tobaldi. Mit einem Leichenbegängnis beschäftigt, wie ich bin, darf ich Sie vielleicht ersuchen, mir gleich zu sagen, was mir das Vergnügen verschafft –

Graf Bertram. Mit einem Leichenbegängnis?

Tobaldi. Sie haben wahrscheinlich die Bahre vor der Tür bemerkt. Oder war sie noch nicht gebracht? Hier steht der Sarg, und bald wird der Geistliche mit den Chorknaben erscheinen.

Graf Bertram. Und wen, wen begraben Sie, wenn ich fragen darf?

Tobaldi. Warum nicht? Sie werden mir gewiß eine Träne des Mitleids schenken! Meine Tochter, meine einzige Tochter! Dahingerafft, da sie eben als Königin des Rosenfestes –

Graf Bertram. Ihre – Unmöglich! Unerhört!

Tobaldi. Unerhört? Wie das? Haben Sie meine Tochter gekannt? Und wenn – haben Sie noch nie vernommen, daß der Tod zuweilen en Mädchen abruft, ehe es sich sattgetanzt hat?

Graf Bertram. Nicht das meine ich, nicht das! Aber unerhört ist es, (ihm ins Ohr) daß man sich untersteht, Menschen das Leichenbegängnis zu halten, die noch leben!

Tobaldi. Das käme freilich nicht alle Tage vor!

Graf Bertram. Irren kann ich mich nicht, nicht im Hause, nicht in Ihrer Person; denn Julia selbst hat mich geleitet, und drunten sitzt sie verschleiert in meinem Wagen. Sie wagt nicht ohne Ihre Erlaubnis Ihre Schwelle zu überschreiten.

Tobaldi. Verschleiert! Das gefällt mir. Da wird sie keiner erkennen. Nicht ohne meine Erlaubnis! Das gefällt mir noch mehr!

Graf Bertram. Lassen Sie uns allein miteinander reden!

Tobaldi. Warum allein? (Zu Doktor Alberto.) Träume sind Schäume! Das schöne Fräulein, wovon wir so viel sprachen, ist noch weit davon entfernt, sich durch Wallfahrten auf ungebahnten Wegen bei Hitze und Staub den Teint zu verderben, auch hat es viel zu viel Respekt vor Gottes Meisterstück, um sich mit einem spitzigen Eisen daran zu versündigen. Es befindet sich in der Obhut dieses Kavaliers, und es spricht jetzt auf ein Stündchen bei uns vor, weil es gern wissen möchte, wieviel Pläsier der alte spanische Kaiser empfand, als er sich bei lebendigem Leibe beisetzen sah. (Zu Graf Bertram.) Ich vermute das; denn daß die Dame kommt, weil sie hofft, mich schon beerben zu können, möcht' ich nicht gern annehmen. Jedenfalls würde sie sich irren, der Schmerz um sie hat mich, Sie sehen es selbst, noch nicht getötet.

Alberto. Laß mich sprechen!

Graf Bertram. Ja, mein Herr, helfen Sie mir einen Vater begütigen, der sich gekränkt fühlen darf, schwer gekränkt, der aber in Gefahr steht, sich an der Unschuld dafür zu rächen!

Tobaldi. An der Unschuld? Ist die Dame vielleicht plötzlich mondsüchtig geworden und hat sich in diesem Zustand unter Räuber verirrt? Ein berüchtigter Wald ist freilich nah, aber ich bitte doch um Beweis!

Graf Bertram. Ihre Tochter ist vor Gott ohne Schuld. Sie würde es auch vor Ihnen sein, wenn Sie in ihr Herz geschaut hätten!

Tobaldi. Und warum ist denn das, was in diesem Herzen zu lesen steht, Ihnen so bekannt, wie ein Wirtshausschild, und mir, dem Vater, so unbekannt, wie der Inhalt eines Buchs, das erst geschrieben werden soll?

Graf Bertram. Alles, was sie zu verklagen scheint, fällt dem Mann zur Last, der sie in eine Lage versetzte, die so furchtbar war, daß sie entschuldigt sein muß, wenn sie ihre Pflicht gegen Sie nur noch durch die Flucht aus Ihrem Hause erfüllen zu können glaubte.

Tobaldi (zu Doktor Alberto). Du, ist hier von meiner Tochter die Rede, von dem Mädchen, das wir beide kennen, oder von einer jüngeren Schwester der Königin Kleopatra und von ihren unbekannten Verhältnissen mit Cäsar und Antonius?

Graf Bertram. Hören Sie mich. Ich bin da, um wieder gut zu machen, was schlimm gemacht ward!

Tobaldi. Äußerst gnädig!

Graf Bertram. Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter!

Tobaldi. Schenk' mir dies, ich hab's dir gestohlen und möchte es gerne rechtmäßig besitzen.

Graf Bertram. Ich bin ein deutscher Graf, in Tirol begütert, und der letzte Sprosse einer der ältesten Familien. – Verzeihen Sie, daß ich von Dingen zu Ihnen rede, über die ich sonst nur meine Bedienten mit Torschreibern und Bankiers verhandeln lasse. Es kann hier nicht umgangen werden.

Alberto. Kurioser Mann, der Sie sind! Erst ein Mädchen zu entführen, dann mit ihr zurückzukehren und ehrbar bei ihrem Vater um sie anzuhalten! (Zu Tobaldi.) Aber ich dächte, jetzt läge das Herz deiner Tochter offen, wie ein Buch, vor dir da! Wenn du auch noch nicht weißt, was der Herr Graf anwandte, um sie zur Flucht zu bereden, so mußt du doch schon wissen, was sie aufbot, um ihn zur Umkehr zu bewegen. Mir deucht, ich sehe ihre Tränen, ihre Beschwörungen, und vielleicht (zu Graf Bertram) finden Sie es nicht unbillig, uns auch das, was vorherging, mitzuteilen; denn Sie begreifen, daß Ihre Handlungsweise in unsern Augen etwas seltsam erscheint!

Graf Bertram. Denken Sie von mir, wie Sie müssen; daß hier ein Geheimnis obwaltet, fühlen Sie wohl selbst, daß ich es nicht aufdecken kann, müssen Sie mir glauben, daß ich (zu Tobaldi) Ihrer Ehre auf keine Weise zu nah getreten bin, und daß Ihre Tochter Ihrer väterlichen Achtung so würdig ist, wie sie es war, verbürge Ihnen mein Wort!

Alberto (zu Tobaldi). Die Dichter erzählen von Königen, die sich in Schäferinnen verliebten und vor der Erklärung den Zepter mit dem Hirtenstab, den Purpurmantel mit dem Wollkittel vertauschten, um sicher zu sein, daß die Liebe auf sie selbst fiele, nicht nebenbei auf die Krone. Vielleicht hat er Herr Graf es ebenso gemacht und zuletzt noch, um sich zu vergewissern, daß er das Herz der Geliebten nicht mit dem Vater teile, ein Opfer verlangt, das ihr und dem Vater zugleich das Herz hätte brechen können.

Graf Bertram. Vielleicht! (zu Tobaldi.) Meine Bitte habe ich angebracht, darf ich –

Tobaldi. Sie sagen, daß meine Tochter nicht ohne meine Erlaubnis die Schwelle meines Hauses überschreiten wird. Wohl! Die Erlaubnis gebe ich nicht.

Graf Bertram. Bedenken Sie, was Sie tun, ich beschwöre Sie!

Tobaldi. Sie sagen, daß sie unten im Wagen vor meiner Tür hält. Gehen Sie, und verkünden Sie ihr, daß ich ihr befehle, auf der Stelle umzukehren, die Stadt zu meiden, einen anderen Namen anzunehmen und mich nie wieder an ihr Dasein zu erinnern. Tut sie das, so will ich meinen Fluch zurückhalten, wie meinen Segen, und das ist mehr, als sie verdient. Gefällt es ihr nicht, so ist es ihr ein Leichtes, mich vor aller Welt zuschanden zu machen, sie braucht nur ihren Schleier zurückzuschlagen und ihr schönes Antlitz zu zeigen; dann aber werde ich, ich selbst das Haus meiner Väter verlassen und als ein Bettler von hinnen gehen, mag sie's bewohnen, wenn der Blitz des Himmels sie nicht wieder daraus verjagt!

Alberto. Tobaldi! Du weißt nicht –

Tobaldi. Ich weiß, was sie getan hat! Was gehen mich ihre Gründe an! Gründe! Auch der Bube, der dir bei Nacht den Dolch ins Herz stößt, hat Gründe! Und freilich wär's ihm lieb, wenn du sie anhören und ihm im Verscheiden noch versöhnt die Hand reichen möchtest!

Graf Bertram. Und das wäre Ihr letztes Wort?

Tobaldi. Die Nacht bricht ein, die Leichenträger müssen gleich hier sein. Sprechen Sie mit Ihrer Dame; ich muß wissen, ob ich meine Tochter begraben oder eine Reise anzutreten haben. (Da Bertram sprechen will.) Verzeihen Sie, ich kann nichts weiter hören! (Ab.)

Alberto. Sie müssen fort! Machen Sie an der Tochter gut, was Sie am Vater verbrachen! Sie hat in mir einen Freund, der darüber wachen wird!

Neunte Szene.

Julia (verschleiert, in höchster Aufregung). Eine Bahre wird vor dem Hause niedergesetzt – Die Wände, die Treppengeländer sind beflort – ein Sarg! Allmächtiger Gott, wer kann darin liegen, als mein Vater! (Sie fällt am Sarge nieder.)

Zehnte Szene.

Tobaldi (erscheint im Hintergrunde). Doch!

Alberto. Ja! Weil sie dich für tot hält! Laß sie! Du kannst jetzt einen Blick in ihr Herz tun, wie Gott!

Julia. O du, der du nicht mehr siehst, nicht mehr hörst, laß mich noch einmal zu dir reden, als ob du noch sähest und hörtest! Ich wäge meine Sünden nach ihrer Strafe und fühle deinen Tod wie einen Mord – – O, daß ich den Brautkranz im Haar trüge, damit ich dir das beweisen, damit ich ihn herabreißen und dir den Menschen opfern könnte, der mir das getan hat! Jetzt bin ich frei von ihm, ganz frei, jetzt hasse ich ihn!

Alberto. Hörst du dies?

Tobaldi (sehr laut). Was soll's mir?

Julia (springt auf). Bin ich wahnsinnig? Wer liegt denn da?

Tobaldi. Meine Tochter!

Elfte Szene.

Valentino (tritt ein). Priester und Chorknaben harren vor der Tür, die Leichenträger sind im untern Saal versammelt, schon zum drittenmal brachte ich ihnen Wein!

Tobaldi. Wurde sie bemerkt, als sie ins Haus ging?

Valentino. Kaum von mir selbst.

Julia. Öffne den Sarg! Begraben soll ich werden? Ich bin bereit, mich hineinzulegen! Öffne! Ich werde nicht pochen, wenn sie mich forttragen, wenn sie mich an schwankenden Seilen in die Grube hinablassen und die rollenden Erdschollen mich polternd mahnen, den letzten Augenblick wahrzunehmen, der noch mein ist. Ich werde nicht wimmern, wenn mir drunten die Luft nicht früh genug ausgeht und ein tierischer Hunger mich vielleicht zwingt, mit den Würmern gemeinsame Sache zu machen oder ihnen gar zuvorzukommen! Öffne! Ich habe schon Schlimmeres erlitten!

Tobaldi. Schlimmeres? (Zu Graf Bertram.) Herr – ich fordre Sie vor meinen Degen!

Julia. Dieser Mann ist ein edler Mann!

Tobaldi. Edler Mann! Und doch –

Julia. Ich –

Graf Bertram. Was beginnen Sie?

Julia. Warum nicht? Wenn ich ihm nichts mehr bin, wenn er mich schon aus der Welt getilgt hat, wie aus seinem Herzen, warum das Wort zurückhalten, das seinen Zorn noch einmal entflammen und ihn bewegen wird, diesen Kasten wieder aufzuschließen, mich hineinzupacken und den Schlüssel in den Brunnen zu werfen, aus dem ich achtzehn Jahre trank!

Graf Bertram. Schweigen Sie! Ich sprach schon! Sie haben mehr Pflichten, als eine, und Sie haben diese eine erfüllt! Das will ich vor Gottes Thron wiederholen!

Alberto. Reisen Sie ab!

Tobaldi. Auf der Stelle, ja! Aber erst muß der Sarg fort und das Haus von Zeugen leer sein! Bis dahin –

Julia. Gott selbst will nichts als Reue von Menschen! Das zeigt, daß der Mensch nichts weiter geben kann. Willst du mein Leben obendrein? Ich darf jetzt nicht sagen: Da ist's! Aber bald! Sprich ja und setz' einen Tag fest! Dann komm' und spei' mich an, wenn du keinen roten Fleck auf meiner Brust findest!

Tobaldi. Bis dahin ins Nebenzimmer! Und – eine Locke kannst du mir zurücklassen! Eine oder zwei! Nicht für mich! Meine Schwester will ein Andenken, und wer weiß, wer noch sonst!

Alberto (zu Graf Bertram). Ihr Name?

Graf Bertram. Graf Bertram.

Alberto. Aus Tirol! Wohl. Gehen Sie! Mich sehen Sie bald! (Graf Bertram und Julia ab.)

Tobaldi. So weiß ich nun doch auch, wie mein Eidam heißt! (Zu Valentino.) Die Träger!

Valentino. Graf Bertram! Daß ich's nur nicht vergesse! Vollständige Beichte, vollständige Absolution! Aus Tirol! (Ab.)

Alberto. So schickst du sie wirklich ohne Schutz und Beistand mit dem Fremden ins ferne Land, und –

Tobaldi. Vorhin war einer da, der aus Geratewohl ausziehen wollte, sie zu suchen, und nun will er sie nicht einmal begleiten oder ihr folgen? Nun, er tue es, er unterlasse es, – mir ist beides recht!

Alberto. Ich wollte ihn nur versuchen! Julia, du hast gesiegt, obgleich er es keinem eingestehen wird, nicht einmal sich selbst! Nun, das muß er mit deinem Verlust bezahlen! – Ich reise mit. Bei dem Kuß, den ich deiner Mutter im Sarg aufdrückte! Bei der Liebe, die ich früher für sie fühlte, als dein Vater, und die ich ihr nie verriet, weil sie nur Augen für dies Muttermal auf meiner Stirn zu haben schien. Bei dem Freiwerberamt, das ich später, um ihr Herz noch besser zu prüfen, für deinen Vater übernahm! Ich werde dich nie, nie verlassen!

Tobaldi. Ich will sie nie wieder sehen! Aber – ich kann wieder anders von ihr denken!

Zwölfte Szene.

Die Leichenträger (erscheinen im Hintergrunde).

Valentino (folgt ihnen). Nun fällt mir der mit der Pistole wieder ein, der auf dem Kirchhof harrt! Was soll ich machen, wenn der – (Er macht die Pantomime des Erschießens.) Soll ich ihn ruhig gewähren lassen, als ob er unter die Spatzen im Kirschbaum schösse, oder soll ich – Gern bliebe ich hier, aber ich muß ja mit hinaus!

(Die Leichenträger fassen den Sarg an. Gesang hinter der Szene.)


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