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Fünfzehntes Kapitel.
Schatten

Mit dem Untergang der Sonne sank die Temperatur bedeutend, es schien eine bitterkalte Winternacht werden zu sollen. Das häusliche New-York wärmte sich beim Kamin oder der Luftheizung; das vornehme New-York glänzte in Oper und Gesellschaft; das dürftige New-York fröstelte in Mietswohnungen oder drängte sich um die Oefen der Wirtschaftsstuben, das lasterhafte New-York zechte lärmend, brütete Unheil und schmiedete Ränke. Es gab Stadtgegenden, wo alle diese Elemente mit einander in Berührung kamen; je später am Abend es wurde, desto unruhiger schwärmte es dort auf den Straßen trotz Frost und Kälte, wie am hellen Mittag.

Der Himmel war klar, alle Sterne sichtbar; doch nahmen sich nur wenige Bewohner der Großstadt die Zeit, zwischen den hochstöckigen Häusern nach ihnen emporzublicken. Glücklicherweise bedürfen die Himmelslichter der Menschen nicht und wandeln unbeirrt ihre Bahnen. Sie funkelten nur schwach im Vergleich zu der elektrischen Beleuchtung, deren hartes, weißes Licht Tageshelle über die Straßen ausgoß. Auf dem Pflaster warfen die Häuser, die entblätterten Bäume, die Telegraphendrähte und die Vorübergehenden so scharfe Schatten, als wären es mit der Scheere ausgeschnittene Silhouetten.

Die Schatten, welche das elektrische Licht wirft, sind höchst eigentümlich; sie müssen jedem auffallen, der sie zum erstenmal beobachtet, so verschieden sind sie von denen, welche wir bei Sonnen- oder Mondlicht bemerken. Für den Mann jedoch, der mit der brennenden Cigarre im Munde, in tiefes Nachdenken versunken unter dem Vorbau des Gilsey-Hauses stand, gab es in New-York überhaupt wenig Neues. So genau wie er kannte kein Bürger Amerikas alle ihre Zustände und Kennzeichen, ihr Thun und Treiben. – In seiner Nähe wanderte ein verkommener Mensch die Straße hinauf und herunter, verstohlene Blicke nach allen Seiten werfend; es war das uns unter dem Namen Muggins bekannte Individuum.

Plötzlich näherte sich Muggins dem Herrn mit der Cigarre, zog ihn am Aermel und flüsterte:

»Da ist er, Herr Inspektor, das ist der Mann, den Sie suchen, Mike Mc. Gloin!«

Und dabei deutete er mit der Hand nach einem Menschen, der, sich durch die Menge drängend, rasch vorübereilte.

Der Inspektor erwachte sofort aus seiner Zerstreutheit und blickte nach der bezeichneten Richtung.

Er sah einen Mann, der noch jung an Jahren, doch im Antlitz schon alle Spuren verderbter Neigungen trug. Die Züge würden für hübsch gegolten haben, hätte nicht ihr frecher Ausdruck förmlich abstoßend gewirkt, zumal sich mit demselben eine lauernde Verschlagenheit paarte, die den gemeinen Dieb verrät. Wie er so daher kam in seiner schlotterigen Kleidung, trug er in Gang und Wesen den albernen Dünkel des Gecken zur Schau und dabei die kecke Unverschämtheit des Raufbolds.

Der Inspektor warf seine nur halb gerauchte Cigarre weg (auf die sich Muggins sofort stürzte) und trat in den Lichtkreis der elektrischen Lampen. Sein Schatten folgte dem von Mc. Gloin auf dem Fuße und hielt Schritt mit ihm. In kurzer Entfernung ging ein Untergebener hinterdrein.

Die Uhr am Gilsey-Haus, die hoch oben leuchtete wie ein Mond, zeigte auf neun. Bei dem eisigen Blasen des Nordwinds schauerte Mc. Gloin zusammen und steckte die rotgefrorenen Hände in die Hosentaschen. Dann bog er links um die Ecke, ging die Straße hinunter und trat in eine Branntweinschenke. Vor dem Fenster dieses Lokals klapperte ein zerbrochener Laden und eine düster brennende Lampe hing bei der Thür an einem verrosteten Haken.

Drinnen war der Raum mit dichtem Tabaksqualm gefüllt und der große Ofen sprühte seine Hitze aus. Um diesen gedrängt saß eine lärmende Gesellschaft, meist junge Bursche von zwanzig Jahren und darunter, welche das Gebahren ruchloser Erwachsener annahmen, in der Meinung, sie würden als Männer gelten, sobald sie die Laster der reifen Jahre nachäfften. Sie bildeten einen Halbkreis um den Ofen, die Beine in nachlässiger Stellung von sich streckend, und neben den plumpen Stiefeln erschienen auch ein Paar kleine Füße in zierlichen Halbstiefelchen mit hohen Hacken; sie gehörten einem auffallend hübschen Mädchen an, dessen Gesicht bei aller Frische der Jugend doch keine Spur mehr von jugendlicher Unschuld zeigte.

Der neue Ankömmling war offenbar eine in diesem Kreise wohlbekannte Persönlichkeit. Er lehnte am Schenktisch, goß ein paar Gläser Schnaps herunter und gab seine Ansicht über allerlei zu unternehmende Streiche zum Besten, für welche sich die Anwesenden interessierten. Diese nannten ihn ›Mike‹ und ließen sich ruhig gefallen, daß er einen hochfahrenden gebieterischen Ton gegen sie anschlug, sie verächtlich behandelte und sie überschrie. Sie schienen seine Ueberlegenheit willig anzuerkennen und machten keinen Versuch, sich gegen seine Anmaßung aufzulehnen. Das Mädchen betrachtete ihn aufmerksam, sagte jedoch nichts, obgleich er wiederholt Bemerkungen an sie richtete, die wahrscheinlich schmeichelhaft sein sollten. Auf Befragen hätte sie sich über ihn vielleicht dahin geäußert, daß man ihm seine Schlechtigkeit ansehe, trotz seines hübschen Gesichts und daß er überhaupt nicht ihr Geschmack sei. Für einnehmend konnte sein Wesen auch nicht gerade gelten. Aber wie unter den Blinden der Einäugige König ist, so war unter dieser Schar halbgesottener junger Bösewichter Mc. Gloin der Herrscher. Er hatte mehr Erfahrung, war unverschämter, abgefeimter als sie, daher erkannten sie ihn als Führer an.

Aber Mc. Gloin hatte keine Ruhe. Es litt ihn nicht lange an einem Orte. Etwas schien ihn überall fortzutreiben, wie den wandernden Juden. So war denn auch hier seines Bleibens nur kurze Zeit; er goß noch ein letztes Glas Schnaps hinunter, warf die Zeche auf den Tisch, nickte dem obenerwähnten Mädchen einen Abschiedsgruß zu und war bald wieder draußen in Kälte und Frost. Während er mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen, weiter wanderte, hielt der Schatten hinter ihm abermals mit dem seinigen Schritt. An der Ecke der nächsten Avenue war ein großer Tabaksladen. Mc. Gloin guckte durch die Glasthüre hinein und da ihn das, was er drinnen sah, offenbar befriedigte, klinkte er die Thüre auf und trat ein.

Die Gesellschaft, welche das Zimmer füllte, sah noch bösartiger aus als die Leute in der Schenke vorhin. Dies waren nicht junge Burschen, die am Anfang ihrer ausschweifenden und verbrecherischen Laufbahn standen. Sie kannten das Leben und seine Wechselfälle; sie waren Weltmenschen im schlechtesten Sinne des Wortes. Die starkknochigen Kerle mit glattrasierten Gesichtern, kleinen Augen und platten Nasen waren offenbar Preisfechter höheren Ranges; der große Mensch im weiten Ueberrock mit der Pelzmütze auf dem Kopf und dem wilden Bart am Kinn, galt als berühmter Hundekenner, der sich darauf verstand, dem Gesetz, das die Hundekämpfe verbot, ein Schnippchen zu schlagen. Rücklings auf einem Stuhl reitend, die Arme auf der Lehne, saß der riesige Athlet, dessen stets leere Kasse die feinen Herren füllen mußten, denen er die Kunstgriffe des Faustkampfes beibrachte. Die luchsäugigen Individuen, die dort in der Ecke zusammen Rats pflogen, wußten, daß ihr Glück auf dem Rennplatz blühte oder wo es sonst den Findigen und Eingeweihten lacht, und die Gruppe dreister Vagabunden im Hintergrunde schreckte sicherlich vor nichts zurück, was für ein gut Teil Frechheit und Verschlagenheit reichen Lohn versprach!

In diesem Kreise verging Mc. Gloin sein Prahlen – wie der Truthahn den Schwanz einzieht, wenn der gefürchtete Habicht über ihm schwebt. Er empfand die Ueberlegenheit dieser Männer, wie die jungen Bursche in der Branntweinschenke die seinige. Sein Bramarbasieren verwandelte sich in Geschmeidigkeit, sein keckes Auge senkte sich unterwürfig, seine anmaßende Haltung wurde kriechend und kleinmütig, sein höhnisches Lachen ein beifälliges Gekicher. Diese erfahrenen Spitzbuben waren nicht seinesgleichen, noch standen sie unter ihm; es waren seine Vorbilder, seine Herren, die Götzen seiner verruchten Abgötterei. – Er macht sich an jede Gruppe heran, welche seine Gegenwart duldet, er kriecht wie ein Hund vor denen, welche ihn beachten, es ist sein höchstes Streben, in ihrer Gesellschaft gesehen zu werden und unter ihre Vertrauten zu zählen. Sie aber haben ihre eigenen Angelegenheiten zu beraten und schieben ihn bei Seite ohne überflüssige Höflichkeit. Da drückt er sich zur Thür hinaus und steht wieder auf der eiskalten Straße. Und wie er weiter geht, gleitet wiederum beim Schein der düsteren Laternen der zweite Schatten hinter ihm drein.

Nachdem Mc. Gloin noch eine Zeitlang zwecklos umhergewandert war, innerlich erwärmt und angefeuert durch den genossenen Branntwein, erreichte er die Stelle, wo die siebente Avenue in die 29. Straße einmündet. Hier fand er ein halbes Dutzend junger Bummler in seinem Alter und ihm gleich an Gemütsart an der Ecke stehen, und gesellte sich zu ihnen. Sofort war er wieder der alte Prahlhans; er lachte, machte rohe Witze und brüstete sich so frech wie zuvor. Die lockeren Gesellen gaben sich dem angenehmen Zeitvertreib hin, grobe Späße und verliebte Blicke mit den geschminkten Dirnen im Flitterstaat auszutauschen, die um diese Zeit in den Straßen stolzierten und die Gimpel in ihren Netzen fingen. Hier war Mc. Gloin in seinem Element, er war der lauteste, der roheste, der frechste von allen und brüstete sich mit seiner Ruchlosigkeit und Gemeinheit.

Auf einmal trennte er sich von seinen Genossen und tauschte mit einem Burschen, der aus einer Nebenstraße herankam, Winke und Zeichen aus.

»Hollah, Banfield!«

»Hollah, Mike!« schallte es von beiden Seiten in gedämpftem Ton.

Die zwei traten abseits und sprachen leise und eifrig zusammen. – Der Schatten wich nicht von ihnen. – Irgend ein Unheil war im Werke, aber augenscheinlich stand die gemeinsame Ausführung nicht für heute bevor, denn an der Ecke der 30. Straße trennte sich das Paar mit dem Ruf: »Gute Verrichtung!« nach verschiedenen Seiten. Banfields Weg ging südlich, während Mc. Gloin in östlicher Richtung weiter wanderte; nach Osten zu folgte auch der Schatten.

Für diesen Abend war jedoch das Herumstreichen des Burschen zu Ende; er landete in einem schlechten Mietshause im abgelegenen Teil der Straße; der Schatten merkte sich die Nummer über dem Eingang und ging weiter, denn sein Zweck war erfüllt.

An der Straßenecke trennte sich der Inspektor von seinem Untergebenen und ging nachdenklich die sechste Avenue hinunter.

Kein Zweifel, Mc. Gloin erschien in jeder Beziehung im schlechtesten Licht. Trotz seiner Jugend war sein Name schon mit mancher ungesetzlichen Handlung verflochten; seine Genossen gehörten zur verworfensten Klasse und die Forschung dieser Nacht hatte zur Genüge kund gethan, welche Orte er für gewöhnlich aufsuchte. Was nun den besonderen Fall betraf, so lag zwar noch kein überzeugender Schuldbeweis, aber mancher schwere Verdacht, gegen ihn vor. Er wohnte nicht weit von Haniers Haus und lungerte häufig in der Nachbarschaft herum; er hatte eine Pistole besessen, mit welcher der Mord verübt sein konnte und sie war am Tage des Mordes in seinen Händen gewesen; sofort nach der Mordthat war dann eben solche Pistole bei einem Pfandleiher in der Nähe versetzt worden. War dies alles nur Zufall, oder deutete es mit Sicherheit auf ein begangenes Verbrechen? – Es galt, die noch fehlenden Beweisglieder zu entdecken oder ihr Nichtvorhandensein darzuthun. Sollte es nicht möglich sein, einen so prahlerischen und eingebildeten Menschen wie Mc. Gloin dahin zu bringen, sich selber zu verraten?

Es scheint zwar gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß ein Mörder von selbst den Kopf in die Schlinge steckt, aber der Inspektor hatte in seinem Beruf schon mehr anscheinend unmögliche Dinge sich doch ereignen sehen. Um den Verbrecher dahin zu bringen, an sich selber zum Verräter zu werden, war es indessen erforderlich, daß man seinen Charakter kannte, seine Schwächen, seinen bösen Hang. Die Wurzel aller Uebelthaten Mc. Gloins war unzweifelhaft seine Sucht, sich in den Augen der Menschen wichtig zu machen, von welchen er gern bewundert sein wollte; seine Hauptschwäche bestand in einer niedrigen, erbärmlichen Art von Eitelkeit. Wen solche Leidenschaft beherrscht, dem ist mit Klugheit und Scharfsinn beizukommen. Und so konnte Mc. Gloins Verlangen, sich einen berüchtigten Namen zu verschaffen, ihn leicht aufs Schaffot bringen.

Wer aber sollte diese verhängnisvolle Eitelkeit in ihm aufstacheln? – Dem Inspektor oder deren Untergebenen gegenüber wäre er gewiß auf seiner Hut gewesen – deren Sache konnte es daher nicht sein! Ein neues Auskunftsmittel mußte gefunden werden, seinen Argwohn, seine Schlauheit zu entwaffnen. Die Aufgabe war schwierig. Am besten, man wartete, bis der Fälscher des Pfandscheins entdeckt worden. Wenn er und Mc. Gloin vielleicht ein und dieselbe Person waren, so konnte die Lösung des Rätsels nicht mehr fern sein.

So überlegte der Inspektor, während er die erleuchtete, jetzt fast menschenleere Avenue hinunterschritt. Wer überhaupt ein Heim besaß, den hatte der eisige Wind nunmehr nach Hause getrieben. Nur vor der Schenke an einer Ecke stand noch eine lärmende Bande; der Wirt hatte die Unruhestifter, Männer und Weiber, soeben alle an die Luft gesetzt, und sie tobten und schrieen draußen, bis sie bei Annäherung eines Polizeidieners in alle Winde zerstoben. Der Inspektor war in einen Thorweg getreten; als er weiter gehen wollte, sah er beim Schein einer Laterne noch ein Mädchen – ein junges hübsches Ding – das nach einem von ihr verlorenen Schmuckgegenstand auf dem Pflaster suchte. Der Polizeichef kannte das Mädchen, das er schon einmal an diesem Abend in der Branntweinschenke gesehen, noch von früher her. Sie richtete sich jetzt vom Boden auf und als sie seiner ansichtig wurde, bemerkte man, daß das Erkennen ein gegenseitiges sei.

»Charlotte,« sagte er, »was waren das für Frauen, die ich soeben hier gesehen habe?«

Das Mädchen blickte zur Erde. »Sie wissen das so gut wie ich, Herr Inspektor.«

»Und du?«

»Ich gehöre zu ihnen.«

»Es thut mir leid, das zu hören. Als ich dich vor einem Jahr zu deiner Mutter nach Elmira schickte, versprachst du mir, von diesem Leben zu lassen.«

»Ich weiß wohl,« sagte sie mit bebender Stimme und fing an zu weinen.

»So lange du hübsch und jung bist,« fuhr jener nach einer Pause fort, »erscheint dir dies Treiben lauter Freude und Lust; aber das dauert nicht lange, dann lernst du die düstere Seite kennen! Als deine Mutter vor einem Jahr zu mir kam und mich bat, ich solle dich aufsuchen, schalt sie nicht auf dich und vergab dir alles zum voraus. Ich brachte dich ihr wieder; du schienst Reue zu fühlen; sie küßte dich, nannte dich ihre geliebte Tochter und du erkanntest, was du gethan und daß alle Pracht und Herrlichkeit der Welt nichts sei gegen die Liebe deiner Mutter; in meinem Beisein versprachst du, sie nie wieder zu verlassen, so lange sie lebte; darum wundere ich mich, dich jetzt wieder hier zu finden.«

Das Mädchen schluchzte so laut, daß es kaum sprechen konnte. Der Inspektor vernahm nur die Worte: »Das ist es ja eben.«

»Was soll das heißen?« fragte er.

»Die Mutter ist tot!« entgegnete das Mädchen unter einem Thränenerguß.

»Das ist traurig,« sagte er nach kurzem Schweigen, »sie war eine gute Mutter!«

»Das war sie,« erwiderte das Mädchen, sich gewaltsam fassend; »so wie sie war niemand, ich erfuhr das nur allzubald. Gott weiß, ich wollte mich bessern – aber keiner half mir. Sie flohen mich wie die Pest – das heißt, die ehrbaren Leute; die andern suchten mich desto mehr auf. Ich hasse sie alle, und mich selbst und die ganze Welt! Der Ort, an dem ich geboren bin, wurde mir zur Hölle; überall verfolgte und beschimpfte man mich. Geld hatte ich auch nicht; so verkaufte ich denn das kleine Haus und kam her. – Wie sollte ich mir meinen redlichen Unterhalt erwerben? Was ich in der Schule erlernt hatte, war dafür nicht zu brauchen. Es lag mir auch nichts daran – warum auch? – So kam ich denn her – und bin was ich bin!«

»Du bist noch jung,« sagte der Inspektor ernst; »du kannst ein ehrbar Leben führen, sobald du nur willst!«

»Das kann ich nicht,« rief jene, »Sie wissen es wohl! – Ginge ich in eine Besserungsanstalt, so wäre ich dort mit Frauen zusammen, die viel schlechter sind als ich und bei meiner Entlassung bliebe mir nichts übrig, als dasselbe Leben von neuem zu beginnen, nur auf einer noch niedrigeren Stufe. Daran liegt mir nichts – ich bedanke mich bestens.«

Jede Spur von Kummer und Reue war aus ihrem Antlitz verschwunden. Die leichtfertige, trotzige Dirne stand wieder vor ihm, spottend und lachend.

»Es thut mir leid um dich, Charlotte,« sagte der Inspektor und wandte sich zu gehen.

»Zeigen Sie mir doch eine andere Lebensart,« rief sie. »Was soll ich thun? Vielleicht haben Sie eine Stelle bei der Geheimpolizei für mich! Ich wäre ein Detektive erster Sorte – versuchen Sie's nur einmal mit mir!« und sie lachte wieder.

Der Inspektor drehte sich nach ihr um. Ihm war ein Gedanke gekommen. Dies Mädchen war hübsch, klug, gebildet, und noch nicht ganz gesunken. Sie konnte ein brauchbares Werkzeug werden, sich noch einigermaßen aus dem Sumpf erheben, in den sie geraten war und zugleich im Dienste der Gerechtigkeit von Nutzen sein. Er glaubte ihr vertrauen zu dürfen; sie war ihm dankbar, daß er sie zu ihrer Mutter zurückgebracht hatte und würde ihn nicht hintergehen. Es kam auf einen Versuch an, ob sie im stande wäre, Mc. Gloin sein Geheimnis zu entlocken.

»Komm mit mir, Charlotte,« sagte er, »ich will dir einen Vorschlag machen; wenn du Mut und Klugheit besitzest, kannst du noch eine bessere Zukunft vor dir haben als du meinst.«

Vorsichtig und allmählich machte er sie mit seinem Plan bekannt; die Schwierigkeiten, welche dabei zu überwinden waren, verbarg er nicht, sondern setzte sie im Gegenteil ins rechte Licht, um ihren Ehrgeiz anzufeuern.

Das Mädchen ergriff die ihm gebotene Gelegenheit mit beiden Händen – wie ein Verhungernder die nährende Speise. Ihre offenbare Befähigung für die Aufgabe war nicht zu verkennen. Ehe der Inspektor sie verließ, bestellte er sie zu einer bestimmten Stunde am nächsten Morgen auf sein Bureau, um sie genauer in ihre Pflichten einzuweihen.

Sie fand sich rechtzeitig ein und erhielt die nötigen Weisungen. Jede nähere Einsicht in den besonderen Fall blieb ihr verschlossen, wie dies bei der Geheimpolizei üblich ist. Sie erfuhr nicht einmal, um welches Verbrechen es sich handle. Ihr Auftrag ging nur dahin, sich in Mc. Gloins Vertrauen einzuschleichen und von ihm alle Mitteilungen zu erlangen, zu denen er sich herbeilassen würde.

*


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