Gerhart Hauptmann
Einsame Menschen
Gerhart Hauptmann

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Zweiter Akt

Ein schöner Herbstmorgen. Frau Vockerat im Hauskleide, mit Schürze und Schlüsselbund, ordnet den Tisch für das Frühstück. Man vernimmt das von Männerstimmen gesungene Lied: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen.« Ein Gesangverein zieht am Hause vorüber. Fräulein Anna Mahr, am Arm einen Korb mit Weintrauben, erscheint vom Garten her auf der Veranda. Sie steht still, lauscht dem Gesange und blickt dann, die Augen mit der Hand schützend, über den See in die Ferne. Der Gesang tönt schwächer. Anna kommt herein. Sie trägt ein schwarzes, kurzärmliges Morgenkleid und hat ein schwarzes Spitzentuch um Kopf und Hals gelegt. Vor der Brust ein Strauß bunter Herbstblätter.

Frau Vockerat. Schön guten Morgen, Fräulein!

Fräulein Anna stellt den Korb beiseite, eilt auf Frau Vockerat zu und küßt ihr die Hand. Guten Morgen, Mama Vockerat!

Frau Vockerat. So zeitig auf den Beinen, liebes Fräulein!?

Fräulein Anna. Wir nehmen den Wein ab, Herr Johannes und ich.

Frau Vockerat. Das war auch höchste Zeit. Sie kostet Beeren aus dem Korbe. Süßer wird er doch nicht. – Aber ist Ihnen nicht kalt, Fräulein? Tippt mit dem Finger auf Annas bloßen Arm. So leicht . . .? Mir scheint's ziemlich frisch heut!

Fräulein Anna, während des Folgenden die Trauben einzeln und mit Sorgfalt, auf ein Holztablett legend. Schön frisch ist's. – Aber mir macht's nichts. – Ich bin abgehärtet gegen Kälte. – Wundervoll ist die Luft. – Die Pfähle im See – ich meine die Pfähle, wo die Kähne festgemacht sind – die wären ganz weiß bereift sogar – heut früh zeitig: – das sah ganz einzig aus. Überhaupt ist's hier wunderschön. – Kann ich Ihnen nun etwas helfen, Mama Vockerat?

Frau Vockerat. Wenn Sie mir die Zuckerdose mal rüberreichen wollten!

Fräulein Anna hat die Zuckerdose auf den Tisch gestellt. Noch über den Tisch gebeugt, seitlich aufschauend. Sind Sie mir nicht böse, wenn ich Sie Mama Vockerat nenne?

Frau Vockerat lacht. Ach woher!

Fräulein Anna. Ich bin so glücklich, wenn Sie mir's erlauben. Küßt Frau Vockerat unversehens und stürmisch. Ach! ich bin Ihnen überhaupt so dankbar, daß Sie mir erlauben, hier zu sein.

Frau Vockerat. Aber Fräulein Ännchen.

Fräulein Anna. Ich fühle mich so sehr glücklich in Ihrer Familie. Sie sind alle so herzlich zu mir. Sie sind überhaupt alle so gute Menschen.

Frau Vockerat. I du mein . . .! Sie haben Sommerfäden aufgelesen. Sie liest die Fäden von Annas Kleid.

Fräulein Anna. Und daß man so glücklich sein kann in einer Familie! Mir ist eben so was ganz fremd gewesen bis jetzt.

Frau Vockerat, immer noch Spinnefäden ablesend. Man muß so was nicht berufen, Fräulein! – Warten Sie! – Hier . . . Reine Schnüre wirklich!

Fräulein Anna. Sind Sie abergläubisch, Mama Vockerat?

Frau Vockerat. Ach nein, nein, mein Herzchen! Es is ja richtig: der liebe Gott meint's ja ganz gut mit uns. Aber alles ist gerad auch nicht so, wie's sein könnte.

Fräulein Anna. Da wüßt' ich wirklich nicht . . . Sie sind doch alle . . . Ach nein, das müssen Sie nicht sagen!

Frau Vockerat. Nein, nein! Da haben Sie auch recht. Man soll auch nicht murren. Ablenkend. Einstweilen ist es wunderhübsch, daß wir Sie bei uns haben. Geheimnisvoll. Sie sind auch für Johannes ein guter Geist.

Fräulein Anna, überrascht. Wechselt die Farbe. Plötzlich heftig. Mögen Sie mich wirklich ein klein wenig leiden?

Frau Vockerat. Ich hab' Sie sogar sehr lieb, Fräulein.

Fräulein Anna. Aber nicht so wie ich. Wie meine wirkliche Mutter lieb' ich Sie. Den leeren Korb nehmend, im Begriff, wieder in den Garten zu gehn. Herr Johannes hat doch ein zu gutes Herz, fast zu weich.

Frau Vockerat. Wieso denn?

Fräulein Anna. Ach, überhaupt. – Gestern auf der Straße zum Beispiel trafen wir einen Betrunknen. Die Kinder kamen gerade aus der Schule. Und auch die Erwachsnen ließen ihn nicht in Ruh'. Vor dem Müggelschlößchen war ein großer Auflauf.

Frau Vockerat. Ja, ja! so was kann er nicht leiden. Da is er nicht zu halten. Da hat er sich schon viel Unannehmlichkeiten zugezogen.

Fräulein Anna. Finden Sie das nicht schön, Mama Vockerat?

Frau Vockerat. Schön? – Ach . . . Nu ja, warum denn nicht! Er is ja'n guter Junge. – Aber wenn man's recht bedenkt: was nützt denn das alles! Was nützt denn alle Güte! Und wenn er noch so gut is: seinen Gott hat er halt doch verloren. – – Das is gar nicht leicht. Das könn'n Se wirklich glauben, Fräulein! für 'ne Mutter . . . für Eltern – die ihr Herzblut, möcht' ich sagen, drangesetzt haben, ihren Sohn zu einem frommen Christenmenschen zu erziehen. Sie schneuzt sich, um ihre Rührung zu verbergen. Der dumme Schnupfen! Schon die ganzen Tage . . . Sich mit Staubwischen beschäftigend, nach einer Pause. Gut is er ja! das is alles recht gut und schön, aber das macht ein ja doppelt kummervoll. Und man sieht doch auch, wie sich's rächt: es liegt kein Segen über seiner Tätigkeit. Immer und ewig Unruhe und Hast. Die reine Hetzjagd nur immer. Und wenn noch was dabei rauskäme. Aber man sieht's ja, er kommt nicht vorwärts. – Wie war der Junge bloß früher! Ein Kind . . . Ein reines Wunderkind war er. Ich weiß noch, Pastor Schmidel . . . Alles staunte nur so. Mit dreizehn Jahren Sekundaner. Mit siebzehn hatt' er's Gymnasium durch – und heut? Heut haben sie ihn fast alle überholt. Heut sind welche, die nicht halb so begabt waren, längst im Amt.

Fräulein Anna. Das ist aber im Grunde doch ganz natürlich. – Das beweist doch eben gerade, daß Herr Johannes über das Hergebrachte hinauswill. Die ausgetretenen Wege, die sind eben nicht für jeden. Herr Johannes gehört eben auch unter diejenigen, welche neue Wege suchen.

Frau Vockerat. Dafür gibt'n aber doch kein Mensch was, Fräulein Anna! Was nützt denn das alles, wenn er sich aufreibt? Da will ich doch hundertmal lieber, daß er'n einfacher Landmann – oder Gärtner – oder meinetwegen auch 'n Beamter oder so was wäre – und das ganze Grübeln Grübeln sein ließe – – Na, Fräulein! Lassen Sie sich nicht etwa Ihre frohe Laune verderben, 's kommt halt manchmal so über mich. Da is mir's so manchmal, als wenn's gar nicht möglich wär'. Aber wenn man sich 'ne Weile gegrämt hat, dann sagt man sich auch wieder: der liebe Gott wird schon alles wohl machen. – Ja, ja! da lächeln Sie. So altmodisch bin ich noch. Von dem lass' ich nicht. Von dem dort oben, mein' ich . . . von dem kann mich keine Macht der Welt losreißen.

Fräulein Anna. Das will ich auch nicht. Und gelacht hab' ich auch nicht, Mama Vockerat. Aber sehn Sie: Sie selbst sind schon wieder heiter geworden. Kommen Sie! Wollen Sie nicht? Es ist wundervoll auf der Veranda.

Frau Vockerat. Nein, nein! Ich erkält' mich. Ich hab' auch zu tun. Gehn Sie nur – und bringen Sie Johannes mit. Das Frühstück ist fertig. Fräulein Anna ab.

Während Frau Vockerat einige Möbel abstäubt, hört man Trommeln und Querpfeifen. Frau Vockerat eilt ans Fenster. Das Geräusch der Instrumente läßt nach und verstummt. Frau Käthe im Morgenrock aus dem Schlafzimmer.

Frau Käthe, abgespannt. Es ist zu lebhaft am Sonntag.

Frau Vockerat. Turner aus Berlin, Käthel! Prächtige Menschen. Guten Morgen, Käthemiezel. Nu –? Wie haste geruht, Kind? Gut? Siehst nicht zum besten aus gerade.

Frau Käthe. Der Kleine kam zweimal. Da hab' ich wachgelegen 'ne Zeitlang. Wart mal, Mutter! Ich muß mir mal überlegen . . . ich muß denken.

Frau Vockerat. Du solltest schon nachgeben, Kindel, und die Amme allein schlafen lassen mit Philippchen.

Frau Käthe, gelinde vorwurfsvoll. Ach, Mutter, du weißt doch.

Frau Vockerat. Aber warum denn nu nicht?

Frau Käthe. Du weißt ja doch, das tu' ich nicht.

Frau Vockerat. Du wirst's am Ende doch mal tun müssen, Käthchen?

Frau Käthe, gereizt. Ich lasse mich aber nicht trennen! Philippchen ist mein Kind. So ein kleines Kind ohne Mutter . . .

Frau Vockerat. Aber Kindel, Kindel! Bewahre! Wer denkt denn so was! Komm! – Ich hol' dir was. – Kaffee. – Soll ich dir'n Schnittchen streichen inzwischen – oder . . .?

Frau Käthe, am Tisch sitzend, erschöpft. Ach ja, bitte! Nach einer Pause, während Frau Vockerat das Brot mit Butter bestreicht, fährt Käthe fort. Wo ist denn Johannes?

Frau Vockerat. Sie nehmen den Wein ab – er und das Fräulein.

Frau Käthe, Kinn auf die Hand gestützt, gedehnt. Sie is sehr lieb. Nicht?

Frau Vockerat. Ich hab' sie auch gern, muß ich sagen.

Frau Käthe. Nu sag mal selbst, Mutterchen: Du warst immer so schlecht zu sprechen auf die Emanzipierten.

Frau Vockerat. Alles was recht is! Ich muß wirklich auch sagen . . .

Frau Käthe, schleppend. So schlicht und weiblich. Keine Spur von aufdringlich. – Trotzdem sie doch sehr viel weiß und sehr klug ist. Das find' ich so nett. Nicht, Mutterchen? Sie will so gar nicht glänzen mit ihrem Wissen. – Über Johannes freu' ich mich jetzt recht. – Find'st du nicht, Mutter: er ist immer so heiter jetzt?

Frau Vockerat, überrascht. Ja, ja! Du hast recht. Er ist wirklich jetzt manchmal ganz ausgelassen.

Frau Käthe. Nicht wahr, Muttchen?

Frau Vockerat. Weil er nun jemanden hat, siehst du, vor dem er seine gelehrten Sachen auskramen kann.

Frau Käthe. Das is sehr wichtig für ihn.

Frau Vockerat. Das kann schon sein, ja, ja! Pause.

Frau Käthe. In vielen Dingen muß ich Fräulein Anna recht geben. Sie sagte neulich: wir Frauen lebten in einem Zustand der Entwürdigung. Da hat sie ganz recht. Das fühl' ich hundertmal.

Frau Vockerat. Ach, darum kümmere ich mich nicht. Weißt du – überhaupt – mit solchen Sachen darf sie mir alten, erfahrenen Frau nicht kommen. Das hat se auch schon gemerkt. Dazu bin ich zu alt und habe zu viel Erfahrungen gemacht.

Frau Käthe. Aber sie hat doch recht, Mutter. Das ist zu sonnenklar, daß sie recht hat. – Wir sind wirklich und wahrhaftig ein verachtetes Geschlecht. – Denke mal: es gibt einen Paragraphen in unseren Gesetzen – das erzählte sie gestern –, danach hat der Mann noch heut das Recht, seine Frau in mäßiger Weise körperlich zu züchtigen.

Frau Vockerat. Das kenn' ich nicht. Darüber will ich gar nichts sagen. Das wird wohl auch nicht so schlimm sein. Aber wenn du mir'n Gefallen tun willst, Käthel, gib dich mit den neuen Geschichten nicht ab. Das macht den Menschen bloß konfus. Das raubt'n die Ruhe und den Frieden. Wart, Kindel, nu hol' ich dir Kaffee. – Das ist meine Meinung, Käthel. Ab.

Frau Käthe sitzt am Frühstückstisch, das Kinn in der Hand, den Ellenbogen auf der Tischplatte. Plötzlich gehen draußen Johannes und Fräulein Anna laut redend und lachend vorüber. Frau Käthe schrickt zusammen, zittert und erhebt sich, um mit den Augen das Paar verfolgen zu können. Ihr Blick ist voll Angst, sie atmet schwer. Nun hört man Frau Vockerat mit der Kaffeekanne klirren. Gleich darauf erscheint sie und findet Käthe noch in derselben Stellung am Tisch, in der sie sie zurückgelassen.

Frau Vockerat, mit Kaffee. So. – Da. – Nun trink und stärk dich! Fräulein Anna und Johannes von der Veranda herein. – Schön, daß ihr kommt.

Johannes, die Tür offenlassend. Wir lassen offen. Die Sonne wärmt schon tüchtig. – Hatten Sie sich sehr verletzt, Fräulein?

Fräulein Anna, einige lange Weinranken mit hereinziehend. Ach, nein, gar nicht! Das Spalier war so naß, da glitt ich aus mit der Schere. Eilt auf Käthe zu, faßt ihre beiden Hände und küßt ihr die Stirne. Guten Morgen, Frau Käthe! – Hu, kalte Hände . . . Was für kalte Hände haben Sie. Sie reibt ihr die Hände warm.

Johannes küßt Käthe von rückwärts auf die Wange. Guten Morgen, Käthe! – Mit komischem Erstaunen. Ach, du liebes Gottchen! wie siehst du bloß wieder aus! Jammervoll! Wie so'n krankes Hühnchen vollständig.

Frau Vockerat. Aber ihr bringt Kälte herein! Nächstens müssen wir wirklich heizen. – Na kommt nur jetzt. Sie hat allen eingegossen.

Fräulein Anna, den Tisch mit den Ranken schmückend. Bißchen dekorieren.

Frau Käthe. Wunderhübsch!

Johannes, sitzend. Nun urteilt mal: wie sieht Fräulein Anna heut aus, und wie sah sie vor acht Tagen aus – als sie ankam?

Fräulein Anna. Es geht mir zu gut hier. Ich werde abreisen müssen.

Frau Vockerat. Man merkt die Landluft.

Johannes. – Und wer hat sich damals gesträubt und gesträubt –?

Frau Vockerat. Was wird Papachen jetzt machen?

Johannes. Er wird sich tüchtig bangen nach dir.

Frau Vockerat. Na, er hat zu tun. Die Wintersaat ist zwar rein – aber er schrieb ja auch: ich sollte nur ja bleiben, solange ich nötig wär'.

Johannes. Er wird dich abholen, Mutti?

Frau Vockerat. Ja, wenn ich ihm schreibe, kommt er. Zu Fräulein Anna. Er benutzt ja zu gern jede Gelegenheit, die Kinder mal wiederzusehen. Und nu noch gar das Enkelchen! Nein, wie damals euer Telegramm kam: Gesunder Junge. Nein, dieser Mann! – da war er aber wirklich rein außer sich vor Freude.

Frau Käthe. Das gute Papachen! Du mußt nun auch wirklich bald zu ihm. Das wäre zu egoistisch von uns . . .

Frau Vockerat. I komm mer nur! Erst schaff dir andre Backen an!

Fräulein Anna. Ich wäre ja auch noch da. Was denken Sie! Ich verstehe auch zu wirtschaften. Und was ich Ihnen alles kochen könnte! Russisch! Borschtsch oder Pilaw. Alle lachen.

Frau Vockerat, unwillkürlich hastig. Nein, nein! Ich gehe ja doch keinesfalls.

Frau Käthe. Nu, wenn's dir wirklich nichts macht, Mutterchen . . . Pause.

Johannes. Gib mal den Honig, Käthel.

Frau Käthe. Ach, da kommt Braun!

Braun. Überzieher, Hut, Schirm, Reisetasche, Buch unterm Arm. Er macht einen gelangweilten Eindruck. Müder und nachlässiger Gang.

Braun. Morgen!

Johannes. Wo führt dich der Kuckuck her, schon so zeitig? Frau Vockerat schlägt nach etwas mit der Serviette. – Eine Biene, Mutti! nicht schlagen, nicht schlagen!

Braun. Ich wollte nach Berlin. Farben holen aus meiner Bude. Hab' leider den Zug versäumt.

Johannes. Du! Das passiert dir oft.

Braun. Na, morgen ist auch noch ein Tag.

Frau Käthe nimmt, als ob die Biene um ihren Teller summe, die Hände in die Höh'. Sie spürt den Honig.

Fräulein Anna. Gehn denn nicht mehr Züge? Blickt auf den Busen herab, drohend. Bienchen, Bienchen!

Braun. Die sind mir zu teuer. Ich fahre nur Arbeiterzug.

Johannes. Die fahren nur ganz zeitig. – Sag mal! Malen kannst du doch noch?

Braun. Ohne Farben? Nein.

Johannes. Breo, Breo! Du kommst mir ins Bummeln.

Braun. Tag früher oder später berühmt. – Ach, überhaupt die ganze Malerei . . .

Johannes. Lieber Schach spielen, wie?

Braun. Wenn du nur für so was mehr Sinn hätt'st. Aber dein Meer hat keine Häfen, lieber Sohn. Du lebst ohne Pausen.

Johannes. Ach, 's is wohl nicht möglich! –

Frau Vockerat fährt auf, schreit. Eine Wespe, eine Wespe! Alle schlagen mit den Servietten nach Frau Vockerat.

Johannes. Schon hinaus.

Frau Vockerat, wieder Platz nehmend. Infame Tiere. Alle setzen sich.

Johannes. Na, komm, setz dich! – Was hast du denn da?

Braun. Möcht'st du wohl gern wissen? Interessante Sache.

Johannes. Na, komm, frühstück noch'n bißchen.

Braun hat sich gesetzt und Johannes das Buch gegeben, der darin blättert. Ja, das tu' ich sehr gern. Ich hab' nur ganz flüchtig . . . Such mal: »Die Künstler« – von Garschin –

Johannes, blätternd. Was hast du denn da wieder aufgegabelt?

Braun. Was für dich, Hannes.

Fräulein Anna. Ja, das ist eine sehr gute Novelle. Sie kannten sie noch nicht?

Braun. Nein. Heut früh im Bett erst fing ich zu lesen an. Deshalb hab' ich eben den Zug versäumt.

Fräulein Anna. Sind Sie nun für Rjäbinin oder für Djedoff?

Johannes. Jedenfalls bist du jetzt mehr fürs Lesen als fürs Malen.

Braun. Augenblicklich sag nur lieber: weder fürs Lesen noch fürs Malen. Zieh dir nur auch mal die Geschichte von Garschin bißchen zu Gemüte. Es gibt vielleicht Dinge zu verrichten, die augenblicklich wichtiger sind als sämtliche Malereien und Schreibereien der Welt.

Fräulein Anna. Sie sind also für Rjäbinin?

Braun. Für Rjäbinin? – Oh, oh – na – das kann ich nicht mal sagen – so bestimmt.

Johannes. Was ist das eigentlich für 'ne Geschichte: »Die Künstler«?

Fräulein Anna. Zwei Künstler werden geschildert: ein naiver und ein sogenannter denkender Künstler. Der naive war Ingenieur und wird Maler. Der denkende steckt die Malerei auf und wird Schullehrer.

Johannes. Aus welchem Grunde denn?

Fräulein Anna. Es scheint ihm augenblicklich wichtiger, Lehrer zu sein.

Johannes. Wie kommt er denn zu dem Entschluß?

Fräulein Anna hat das Buch genommen, blättert. Warten Sie! – Es ist das einfachste, ich lese Ihnen die Stelle vor. – Hier! Sie hält den Finger auf die gefundene Stelle und wendet sich erklärend an alle. Djedoff, der ehemalige Ingenieur, hat Rjäbinin in eine Dampfkesselfabrik geführt. Die Leute, welche die Arbeit im Innern des Kessels verrichten, werden nach einiger Zeit gewöhnlich taub von dem fürchterlichen Geräusch des aufschlagenden Hammers. Deshalb werden sie von den andern Arbeitern in Rußland »die Tauben« genannt. So einen »Tauben« zeigt ihm Djedoff bei der Arbeit. Sie liest. »Da sitzt er vor mir im dunklen Winkel des Kessels, in einen Knäuel zusammengeballt, in Lumpen gehüllt, vor Müdigkeit fast zusammenbrechend . . . Seinem bläulich roten Gesicht . . . der Schweiß herunterrinnt . . . Seiner gequälten, breiten, eingefallenen Brust . . .«

Frau Vockerat. Aber warum schildert man nun überhaupt solche schreckliche Sachen? Das kann doch niemand erfreuen.

Johannes, lachend, seiner Mutter liebevoll über den Scheitel streichend. Mutterchen, Mutterchen! muß denn immer gelacht sein?

Frau Vockerat. Das sag' ich nicht. Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.

Johannes. Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.

Fräulein Anna. Rjäbinin ist auch nicht erfreut. Er ist in seinem Innersten erschüttert und aufgewühlt.

Johannes. Denk doch mal an die Landwirtschaft, Muttel! Da muß der Boden auch aufgewühlt werden – alle Jahre, mit dem Pflug, wenn was Neues drauf wachsen soll.

Fräulein Anna. In Rjäbinin zum Beispiel, da wächst auch was Neues. Er sagt sich: solange noch solches Elend existiere, sei es ein Verbrechen, irgend etwas anderes zu tun, was nicht unmittelbar darauf abzielt, diesem Elend zu steuern.

Frau Vockerat. Elend hat's immer gegeben.

Johannes. Die Idee, Lehrer zu werden, ist da doch aber ziemlich verfehlt.

Braun. Wieso denn? Ist das etwa nicht was Nützlicheres als Bilder malen und Bücher schreiben?!

Johannes. Wie hoch du deine Arbeit anschlägst, mußt du ja wissen. Ich für mein Teil denke gar nicht gering von meiner Tätigkeit.

Braun. Du gestehst dir's nicht ein, und ich gestehe mir's ein.

Johannes. Was denn? Was gesteh' ich mir nicht ein?

Braun. Nu eben das.

Johannes. Was?

Braun. Daß deine ganze Schreiberei ebenso zwecklos ist wie . . .

Johannes. Was für eine Schreiberei?

Braun. Na, deine psychophysiologische da.

Johannes, barsch. Davon verstehst du ja nichts.

Braun. Liegt mir auch gar nichts dran.

Johannes. Na, höre! dann bist du ein armseliger Ignorant einfach, dann stehst du auf einer Bildungsstufe . . .

Braun. Ja, ja, spiel nur deine Schulbildung wieder aus.

Johannes. Auf meine Schulbildung spucke ich; das weißt du recht gut. Aber so viel steht fest . . .

Braun. Das sagst du hundertmal, und doch guckt dir der Bildungshochmut durch alle Ritzen. Ach, hören wir überhaupt auf davon! Das sind heikle Sachen, die jeder schließlich mit sich selber ausmachen muß.

Johannes. Wieso denn heikel?

Braun. Es hat ja keinen Zweck. Du wirst immer gleich so heftig. Du alterierst dich wieder und . . .

Johannes. Drück dich doch aus, lieber Sohn! Drück dich doch klar aus!

Braun. Ach Unsinn! Es hat ja wirklich keinen Zweck. Sehe jeder, wie er's treibe!

Johannes. Ja! treib' ich's denn so schlimm, sag mal!

Braun. Nicht schlimmer wie die andern alle. Du bist eben 'n Kompromißler.

Johannes. Verzeihe, wenn ich dir darauf keine Antwort gebe. – Die Sache langweilt mich einfach. – Erregt ausbrechend. So steht es nämlich! Ihr Freunde habt radikale Phrasen gedroschen, und ich habe euch ein für allemal gesagt, daß ich das nicht mitmache: deshalb bin ich'n Kompromißler.

Braun. So drückst du's aus, aber die Sache ist die: Wenn wir andern mit unsern Gedanken rücksichtslos vordrangen, da hast du für das Alte und Überlebte in jeder Form gegen uns das Wort geführt. Und deshalb hast du deine Freunde von dir fortgetrieben und dich isoliert.

Frau Käthe, besänftigend. Johannes!

Johannes. Die Freunde, die ich von mir forttreiben konnte . . . auf die Freunde, aufrichtig gestanden! . . . auf die pfeif ich.

Braun erhebt sich. Du pfeifst auf sie? Mit Blick auf Anna. Seit wann denn, Hannes?

Frau Käthe, nach einer Pause. Wollen Sie schon fort, Herr Braun?

Braun, beleidigt, im gleichgültigen Tone. Ja. Ich habe noch was zu tun.

Johannes, gut. Mach keine Torheiten!

Braun. Nee wirklich.

Johannes. Na dann –: tu, was du nicht lassen kannst.

Braun. Guten Morgen! Ab. Pause.

Frau Vockerat fängt an, das Geschirr zusammenzustellen. Ich weiß nicht! Ihr schwärmt immer so von dem Braun. Ich muß ehrlich sagen: ich hab'n nicht sehr gern.

Johannes, gereizt. Mutter! Tu mir die einzige Liebe . . .!

Frau Käthe. Braun is aber wirklich nicht nett zu dir, Hannes!

Johannes. Kinder! Mischt euch bitte nicht in meine Privatangelegenheiten.

Es tritt wieder eine Pause ein. Frau Vockerat räumt den Tisch. Frau Käthe erhebt sich.

Johannes, zu Käthe. Wohin willst du denn?

Frau Käthe. Den Kleinen baden. Sie nickt Fräulein Anna gezwungen lächelnd zu, dann ab ins Schlafzimmer.

Frau Vockerat, einen Teil des Geschirrs auf dem Tablett tragend, will ab. In diesem Augenblick öffnet sich die Flurtür ein bißchen, ein Hökerweib wird sichtbar und ruft herein. Die Grünfrau!

Frau Vockerat antwortet. Ich komm' ja schon. Ab durch die Flurtür. – Nach einer Pause.

Fräulein Anna, erhebt sich, stellt ihre Uhr. Wie spät mag es sein – genau? Wendet sich zu Johannes, der mißmutig dasitzt. Nun, Herr Doktor! – Sie singt leise die Melodie von »Brüderlein fein«, sieht schalkhaft dabei Johannes an. Beide müssen lachen.

Johannes, wieder ernst, seufzt. Ach, Fräulein Anna! Es ist leider bittrer Ernst.

Fräulein Anna, ihm schalkhaft mit dem Finger drohend. Aber lachen Sie nicht!

Johannes lacht wieder, dann ernst. Nein wirklich. Sie wissen bloß nicht, was alles dahintersteckt: hinter so einer Äußerung von Braun.

Fräulein Anna. Haben Sie mich schon Klavier spielen gehört?

Johannes. Nein, Fräulein! – Aber ich denke, Sie spielen überhaupt nicht.

Fräulein Anna. Nein, nein! Ich scherze auch nur. – Also wir rudern heut morgen?

Johannes. Ich habe wirklich nicht recht zu was Lust mehr.

Fräulein Anna, freundlich drohend. Herr Doktor! Herr Doktor! Wer wird gleich so trübe sein!

Johannes. Ich begreife nicht, daß ein Mensch wie Braun . . .

Fräulein Anna. Also noch immer Braun! Haben Ihnen wirklich seine Äußerungen einen so tiefen Eindruck gemacht?

Johannes. Fräulein! Das sind alte Geschichten, die dadurch wieder aufgerührt werden und . . .

Fräulein Anna. Die soll man ruhen lassen, Herr Doktor, – die alten Geschichten. Solange man rückwärts blickt, kommt man nicht vorwärts.

Johannes. Sie haben auch wirklich recht. Also lassen wir's. – Das ist übrigens interessant, wie sonst kluge Leute immer auf ein und denselben Irrtum – durch Jahre hindurch zurückkommen. Das ist nämlich sein voller Ernst. Er hält nämlich meine philosophische Arbeit für etwas Nichtsnutziges. Können Sie sich das vorstellen?

Fräulein Anna. Es gibt solche Menschen.

Johannes. Man soll öffentlich tätig sein, lärmen, sich radikal gebärden. Man soll sich nicht kirchlich trauen lassen, auch nicht aus Rücksicht für seine kirchlich erzogene Braut. Man soll überhaupt keine Rücksicht nehmen, und wenn man nun gar wie ich innerhalb seiner vier Wände einer wissenschaftlichen Aufgabe lebt, dann ist man in den Augen seiner Freunde ein Mensch, der seine Ideale verraten hat. Ist das nicht sonderbar, Fräulein?

Fräulein Anna. Ach, Herr Doktor, legen Sie doch nicht so viel Gewicht auf das, was Ihre Freunde sagen. Wenn Ihre Anschauungen Sie selbst befriedigen können, – lassen Sie sich's doch nicht anfechten, daß die andern dadurch nicht befriedigt werden. Die Konflikte bringen die Menschen um ihre Kraft.

Johannes. Ach, nein, nein! Gewiß nicht. Ich lasse mich gewiß nicht mehr beeinträchtigen dadurch. Wem es nicht behagt, dem kann ich einfach nicht helfen! Immerhin ist's einem nicht immer gleichgiltig gewesen. Man ist aufgewachsen mit seinen Freunden. Man hat sich daran gewöhnt, von ihnen ein wenig geschätzt zu werden. – Und wenn man diese Schätzung nun nicht mehr spürt, da ist's einem, als ob man plötzlich in einem luftleeren Raum atmen sollte.

Fräulein Anna. Sie haben doch die Familie, Herr Doktor.

Johannes. Gewiß. Jawohl. Das heißt . . . Nein, Fräulein Anna! – Sie werden mich nicht mißverstehen. Ich habe bisher noch zu niemandem darüber gesprochen. Sie wissen ja, wie sehr ich mit meiner Familie verwachsen bin. Aber, was meine Arbeit anbelangt, da kann mir meine Familie wirklich nicht das mindeste sein. Käthchen hat ja wenigstens noch den guten Willen – 's is ja rührend! Sie findet ja alles immer wunderschön. Aber ich weiß doch, daß sie kein Urteil haben kann. Das kann mir doch dann nicht viel nützen. Deshalb befind' ich mich ja buchstäblich wie im Himmel, seit Sie hier sind, Fräulein Anna. Das passiert mir ja das erstemal im Leben, daß jemand für meine Arbeit, für das, was ich zu leisten imstande bin, ein sachliches Interesse hat. Das macht mich ja wieder frisch. Das is ja wie 'ne Heide förmlich, auf die's regnet. Das . . .

Fräulein Anna. Sie sind ja poetisch beinah, Herr Doktor!

Johannes. Das ist auch durchaus zum Poetischwerden. Aber da täuschen Sie sich sehr. Meine Mutter haßt das arme Manuskript direkt. Am liebsten möchte sie's in den Ofen stecken. Meinem guten Vater ist es nicht weniger unheimlich. Also von da habe ich nichts zu erwarten. Von meiner Familie habe ich nur Hemmnisse zu erwarten – was das anbelangt. – Übrigens wundert mich das ja nicht. Nur daß man Freunde hat – und daß auch die nicht einen Gran Achtung für meine Leistung aufbringen – daß ein Mann wie Braun . . .

Fräulein Anna. Es wundert mich, daß gerade Braun Ihnen solchen Kummer macht.

Johannes. Ja, Braun . . . das ist . . . Wir kennen uns von Jugend auf.

Fräulein Anna. Das heißt: Sie kennen ihn von Jugend auf?

Johannes. Ja, und er mich –

Fräulein Anna. Er Sie? Ach, wirklich?

Johannes. Na ja – das heißt bis zu einem gewissen Grade.

Fräulein Anna. Sie sind so grundverschieden, scheint mir nur.

Johannes. Ach, meinen Sie!

Fräulein Anna, nach einer Pause. Herr Braun ist ja noch so unfertig in jeder Beziehung – so . . . Ich will nicht sagen, daß er Sie beneidet, aber es ärgert ihn . . . Ihr zähes Festhalten an Ihrer Eigenart ist ihm unbehaglich. Es mag ihn sogar ängstigen. – Er hat etwas imputiert erhalten: gewisse sozial-ethische Ideen, oder wie man sie sonst nennen will; und daran haftet er nun, daran klammert er sich, weil er allein nicht gehen kann. Er ist keine starke Individualität als Mensch, wie sehr viele Künstler. Er getraut sich nicht, allein zu stehen. Er muß Massen hinter sich fühlen.

Johannes. Oh, das hätte mir jemand vor Jahren sagen sollen, als ich fast erlag unter dem Urteil meiner Freunde! Oh, hätte mir das ein Mensch gesagt, damals, wo ich so furchtbar darniederlag, wo ich mir Vorwürfe machte, daß ich ein schönes Haus bewohnte, daß ich gut aß und trank, wo ich jedem Arbeiter scheu auswich und nur mit Herzklopfen an den Bauten vorüberging, wo sie arbeiteten! Da habe ich meine Frau auch was geplagt; alles verschenken wollt' ich immer und mit ihr in freiwilliger Armut leben. Wirklich, eh ich solche Zeiten wieder durchmachte, lieber . . . – Ja wahrhaftig! – lieber der Müggelsee. – Nun will ich aber doch – er greift nach seinem Hut – den dummen Kerl, den Braun, noch zur Vernunft bringen.

Fräulein Anna sieht ihn an mit eigentümlichem Lächeln.

Johannes. Meinen Sie nicht?

Fräulein Anna. Tun Sie nur, was Sie müssen, Sie großes Kind Sie!

Johannes. Fräulein Anna!

Fräulein Anna. Ihr Herz, Herr Doktor, das ist Ihr Feind.

Johannes. Ja, sehen Sie, wenn ich mir denke, daß er rumläuft und sich ärgert, so – das raubt mir die Ruhe.

Fräulein Anna. Ist es gut, wenn man so sehr abhängig ist?

Johannes, entschlossen. Nein – es ist nicht gut. Er wird zwar nun überhaupt nicht wiederkommen. Er ist nie zuerst zu mir gekommen. Einerlei! Sie haben recht. Und deshalb werde ich auch nicht gehn – diesmal – zu Braun. – Wollen wir also unsere Seefahrt antreten?

Fräulein Anna. Aber Sie wollten mir das dritte Kapitel lesen.

Johannes. Wir könnten es mitnehmen – das Manuskript.

Fräulein Anna. Ja – schön. Dann kleid' ich mich an, schnell. Ab. Johannes tritt an den Bücherschrank, entnimmt ihm sein Manuskript und vertieft sich hinein.

Frau Vockerat durch die Flurtür, zwei Büchelchen, mit Goldschnitt in der Hand.

Frau Vockerat. Siehst du – nun nehme ich mir einen von euren bequemen Stühlen – setze mir die Brille auf – und feire meine Morgenandacht. Ist's warm zum Sitzen auf der Veranda?

Johannes. Gewiß, Mutter. Vom Manuskript aufblickend. Was hast du denn da?

Frau Vockerat. »Worte des Herzens«. Du weißt ja – meinen geliebten Lavater. Und hier habe ich Gerok – »Palmblätter«. – Das war ein Mann! – Der gibt's e Gelehrten manchmal gut. O weh! Sie legt den Arm um Johannes und ihren Kopf an seine Brust; zärtlich. Na, alter Junge!? Grübelste schon wieder!? Nicht ohne Humor. Du junger Vater du!

Johannes, zerstreut aufblickend vom Manuskript. Na, mein Mutti!

Frau Vockerat. Wie ist dir denn so zumute, in deiner neuen Vaterwürde?

Johannes. Ach, Mutti, nicht so besonders. – Wie immer.

Frau Vockerat. Na, tu nur nicht so! Erst biste gehopst ellenhoch, und nu . . . Biste etwa wieder nicht zufrieden?

Johannes, zerstreut aufblickend. Ach, sehr zufrieden, Mutti!

Frau Vockerat. Sag mal, du ziehst ja jetzt immer den guten Anzug an. Das Fräulein Anna nimmt dir's doch gewiß nicht übel. Trag doch die alten Sachen ab hier draußen.

Johannes. Aber ich bin doch kein kleines Kind mehr, Mutter!

Frau Vockerat. Gleich wirst de gnatzig! Umarmt ihn fester; eindringlich zärtlich. Und sei klein bißchen fromm, alter Kerl. Tu's deiner alten Mutter zuliebe. Der alte Haeckel und der tumme Darwin da: die machen dich bloß unglücklich. Hörst de! Tu's deiner alten Mutter zu Gefallen.

Johannes, gen Himmel blickend. Ach, guten Leutchen! Bei euch muß man wirklich sagen: vergib ihnen, Herr, denn sie wissen nicht . . . Glaubst du denn wirklich, daß das so einfach geht – mit dem Frommwerden?

Frau Vockerat, im Abgehen. Es geht, es geht! Du brauchst bloß wollen, Hannes. Versuch's bloß, Hannes. Versuch's bloß einmal, Hannes. Ab auf die Veranda, wo sie sich auf einen Stuhl niedersetzt und liest. Johannes wieder in sein Manuskript vertieft.

Frau Käthe kommt mit Briefen.

Frau Käthe, lesend, dann aufblickend. Hannes! Hier ist ein Brief vom Bankier.

Johannes. Bitte, Käthchen! Ich habe jetzt wirklich keinen Sinn dafür im Augenblick.

Frau Käthe. Er fragt an, ob er verkaufen soll.

Johannes. Komm mir jetzt nicht damit, um Gottes willen!

Frau Käthe. Aber es eilt, Hannes.

Johannes, heftig. Hier! Da! Schlägt mit dem Zeigefinger krampfhaft auf das Manuskript. Meine Sache eilt noch mehr!

Frau Käthe. Meinethalben mag's liegenbleiben. Dann sind wir eben ohne Geld morgen.

Johannes, noch heftiger. – Nein – Käthe! – wir passen wirklich nicht zusammen! Da wundert ihr euch immer, warum man zu keiner Ruhe kommt. Wenn sich's nur mal'n bißchen in mir geordnet hat, – da kommst du – und da greifst du hinein – mit Fuhrmannshänden geradezu.

Frau Käthe. Gar nicht. Eben kam der Briefträger, und da sag' ich's dir einfach.

Johannes. Das ist's ja eben. Das beweist ja eben eure absolute Verständnislosigkeit. Als ob das so wäre wie Schuhemachen. Der Briefträger kommt, und du sagst mir's einfach. Natürlich! Warum nicht! Daß du mir dabei eine ganze, mühselig zusammengehaspelte Gedankenkette durchreißt, das kommt dir nicht in den Sinn.

Frau Käthe. Aber das Praktische muß doch auch bedacht werden.

Johannes. Wenn ich dir aber sage: meine Arbeit geht vor! Sie kommt zuerst und zuzweit und zudritt, und dann erst kann meinetwegen das Praktische kommen. Versuch doch mal das zu begreifen, Käthe! Unterstütz mich doch mal'n bissel! Oder sag mir gar nichts vom Praktischen! Besorg das auf deine Faust! Leg mir nicht . . .

Frau Käthe. Ich mag nicht verantwortlich sein, Hannes!

Johannes. Siehst du, da hast du's wieder. Nur keine Verantwortung! Nur ja keinen selbständigen Entschluß fassen! Macht ihr euch denn nicht mit aller Gewalt abhängig!? Macht ihr euch denn nicht um jeden Preis unmündig!?

Frau Käthe will ihm den Brief reichen. Ach, Hannes! sag doch was.

Johannes. Aber ich kann jetzt nicht, Käthe.

Frau Käthe. Wenn soll ich denn damit kommen, Hannes? Ich kann doch nicht, wenn das Fräulein dabei ist . . .

Johannes. Das ist auch so recht kleinlich, philisterhaft. Da gibt es so gewisse Dinge . . . Da muß immer so heimlich getan werden mit Geldsachen. Das ist so unfrei! Ich weiß nicht . . . Das riecht so nach kleinen Seelen, – äh!

Frau Käthe. Und wenn ich nun anfinge, wenn das Fräulein dabei ist – da möcht' ich dich sehen.

Johannes. Immer das Fräulein, das Fräulein. Laß doch Fräulein Anna aus dem Spiele! Die stört uns gar nicht.

Frau Käthe. Ich sag' ja auch nicht, daß sie uns stört. Aber es kann doch unmöglich sehr interessant für sie sein . . .

Johannes. Ach Käthe, Käthe! – Das ist ein Leiden! Immer die Geldsachen, immer die Angst, als ob wir morgen schon am Verhungern wären. Das ist ja schrecklich. Das macht ja wirklich den Eindruck, als ob dein Kopf und dein Herz ganz und gar nur voll Geld wären. Und da hat man seine Ideale von der Frau gehabt . . . Was soll man denn schließlich noch lieben.

Frau Käthe. Wegen meiner sorg' ich mich doch nicht. Aber was soll denn werden aus Philippchen, wenn . . . Und du sagst doch selbst, daß du auf Verdienst nicht rechnen kannst. Da muß man's doch zusammenhalten.

Johannes. Na ja! Du hast eben immer deine Familieninteressen, und ich habe allgemeine Interessen. Ich bin überhaupt kein Familienvater. Die Hauptsache ist für mich, daß ich das, was in mir ist, rausstelle. Wie Pegasus im Joch komm' ich mir vor. Ich werde noch mal ganz und gar dran zugrunde gehen.

Frau Käthe. Johannes! Es ist schrecklich für mich, so was mit anzuhören.

Johannes. Fräulein Anna hat ganz recht. Die Küche und die Kinderstube, das sind im besten Fall eure Horizonte. Darüber hinaus existiert nichts für die deutsche Frau.

Frau Käthe. Einer muß doch kochen und die Kinder warten. Das Fräulein hat gut reden! Ich möchte auch lieber Bücher lesen.

Johannes. Käthe! Du solltest dich nicht absichtlich kleinmachen. Die Art, wie du über ein Geschöpf redest, das so hoch steht wie Fräulein Anna . . .

Frau Käthe. Nu, wenn sie solche Sachen sagt!

Johannes. Was für Sachen?

Frau Käthe. Von uns deutschen Frauen – solche dumme Sachen.

Johannes. Sie hat keine dummen Sachen gesagt. Im Gegenteil. In diesem Augenblick widerstrebt es mir fast, dir zu sagen, wie gut sie von dir gesprochen hat. Ich möchte dich nicht zu sehr beschämen.

Frau Käthe. Sie hat aber doch von unserm engen Horizonte gesprochen.

Johannes. Beweise, daß sie sich irrt!

Frau Käthe, in Tränen, leidenschaftlich. Nein, Hannes . . . So gut wie du auch bist – manchmal . . . manchmal bist du so kalt, so grausam – so herzlos!

Johannes, ein wenig abgekühlt. Da bin ich nun wieder herzlos! Wieso denn nur, Käthe?

Frau Käthe, schluchzend. Weil du mich – quälst – du weißt recht gut . . .

Johannes. Was weiß ich denn, Käthchen?

Frau Käthe. Du weißt, wie wenig ich selbst zufrieden bin mit mir. – Du weißt es – aber . . . aber du hast keine Spur von Mitleid. Immer wird mir alles aufgemutzt.

Johannes. Aber, Käthchen, wieso denn?

Frau Käthe. Anstatt – daß du mal – gut zu mir wärst, mein Zutrauen zu mir selbst – bißchen stärktest . . . Nein – da werd' ich nur immer kleingemacht – immer klein – immer geduckt werd' ich. Ich bild' mir weiß Gott nichts ein auf meinen großen Horizont. Aber ich bin eben nicht gefühllos. – Nee wahrhaftig, ich bin kein Licht. Überhaupt: ich hab's schon lange gemerkt, daß ich ziemlich überflüssig bin.

Johannes will ihre Hand fassen, Käthe entzieht sie ihm. Du bist nicht überflüssig: das hab' ich nie gesagt.

Frau Käthe. Das hast du vorhin erst gesagt. Aber wenn du's auch nicht gesagt hättest, ich fühl's ja doch selbst: – dir kann ich nichts sein, denn deine Arbeit versteh' ich nicht. Und der Junge . . . na ja! Dem gibt man seine Milch, man hält'n sauber . . . aber das kann 'ne Magd auch machen, und später . . . später kann ich'm doch nichts mehr bieten. Wieder stärker weinend. Da wär' er – bei Fräulein Anna viel besser aufgehoben.

Johannes. Du bist wohl . . . aber liebes Käthchen!

Frau Käthe. Aber – ich sag' ja nur so. Es ist doch wahr. Sie hat doch was gelernt. Sie versteht doch was. Wir sind ja die reinen Krüppel. Wie soll man denn da jemand anders eine Stütze sein, wenn man nicht mal . . .

Johannes, voll Glut und Liebe, will Käthe umarmen. Käthchen! Du goldnes, goldnes Geschöpf! Du hast ein Herz wie . . . Du tiefes, tiefes Märchenherz du! Oh, du mein süßes Wesen! Sie drängt ihn von sich, er stammelt. Ich will ehrlos sein, wenn ich . . . Ich bin roh und schlecht manchmal! Ich bin deiner nicht wert, Käthe!

Frau Käthe. Ach nein – nein Hannes! – Das sagst du bloß so, jetzt, das . . .

Johannes. Wahrhaftig, Käthchen! – Ich will ein Schuft sein, wenn ich . . .

Frau Käthe. Laß mich, Hannes! Ich muß denken. – Und der Brief, der Brief!

Johannes. Ach, dummes Käthchen, was mußt du denn denken?

Frau Käthe. Es stürmt so viel auf mich ein. Laß! Laß sein!

Johannes, heiß. Ach, laß jetzt den Brief! Du mein süßes, süßes Weib du!

Frau Käthe. Nein, mein Hannes! Nein. Sie hält ihn von sich.

Johannes. Aber wie bist du denn!

Frau Käthe. Komm, Hannes! Sieh dir's mal an. Sie hält ihm den Brief hin. Er fragt, ob er verkaufen soll.

Johannes. Welche Papiere?

Frau Käthe. Die Spinnereiaktien.

Johannes. Langen denn die Zinsen nicht?

Frau Käthe. Wo denkst du hin! Wir haben diesen Monat wieder über tausend Mark verbraucht.

Johannes. Aber Käthe! Das ist ja fast gar nicht möglich! Kinder, Kinder! seid ihr mir auch sparsam genug?!

Frau Käthe. Es ist alles notiert, Hannes.

Johannes. Das ist mir rein unfaßlich.

Frau Käthe. Du gibst zu viel fort, Hannes. Da schmilzt es eben zusammen, das Kapital. Soll er nun verkaufen?

Johannes. Ja, ja – natürlich. – Wart nur ab! Überhaupt – es hat gar nichts auf sich. – Wo gehst du hin?

Frau Käthe. Antwort schreiben.

Johannes. Käthe!

Frau Käthe, Wendung in der Tür. Wie, Hannes?

Johannes. Willst du wirklich so gehn?

Frau Käthe. Was denn?

Johannes. Ich weiß auch nicht, was.

Frau Käthe. Was willst du denn?

Johannes. Käthchen, ich weiß nicht, was mit dir ist?

Frau Käthe. Gar nichts, Hannes. Nein, wirklich.

Johannes. Magst du mich nicht mehr?

Frau Käthe senkt den Kopf und schüttelt ihn verneinend.

Johannes, den Arm um Käthe. Weißt du nicht, Käthchen, daß wir von vornherein ausgemacht haben: kein Geheimnis voreinander? Nicht das kleinste. – Er umarmt sie heftiger. Sag doch was! – Hast du mich nicht mehr lieb, Käthchen?

Frau Käthe. Ach, Hannes! Das weißt du doch.

Johannes. Aber was ist dir denn da?

Frau Käthe. Du weißt ja.

Johannes. Was denn nur? Ich weiß nichts. Keine Ahnung habe ich.

Frau Käthe. Ich möchte dir was sein können.

Johannes. Aber du bist mir viel.

Frau Käthe. Nein, nein!

Johannes. Aber, so sag mir doch . . .

Frau Käthe. Du kannst ja nichts dafür, Hannes, aber – ich genüge dir nicht.

Johannes. Du genügst mir. Du genügst mir völlig.

Frau Käthe. Das sagst du jetzt.

Johannes. Das ist meine heilige Überzeugung.

Frau Käthe. Jetzt, im Augenblick.

Johannes. Aber woraus willst du denn schließen, daß . . .?

Frau Käthe. Das seh' ich ja.

Johannes. Käthchen, hab' ich dir je Grund gegeben . . .?

Frau Käthe. Nein, niemals.

Johannes. Nun siehst du! Umarmt sie inniger. Das sind Grillen. Böse Grillen, Käthchen, die man verjagen muß. Komm, komm! Er küßt sie innig.

Frau Käthe. Ach, wenn es nur Grillen wären!

Johannes. Verlaß dich drauf.

Frau Käthe. Und – ich hab' dich ja auch – so furchtbar lieb, Hannes! – So ganz unsagbar. Eher könnt' ich noch Philippchen hergeben, glaub' ich.

Johannes. Aber, Käthchen!

Frau Käthe. Gott verzeih' mir's! – Der kleine, liebe, drollige Kerl. An Johannes' Halse. Du Lieber! Guter! Pause stummer Umarmung.

Fräulein Anna, zur Kahnfahrt angezogen, öffnet die Verandatür.

Fräulein Anna ruft herein. Herr Doktor! Ach, verzeihen Sie! Sie zieht den Kopf zurück.

Johannes. Gleich, gleich, Fräulein. Er nimmt sein Manuskript. Wir fahren Kahn, Käthchen! – Und keine Grillen mehr, versprich mir's! Er küßt sie zum Abschied, nimmt den Hut, wendet sich im Abgehen. Kommst du etwa mit, Käthchen?

Frau Käthe. Ich kann nicht fort, Hannes!

Johannes. Also Wiedersehen! Ab.

Frau Käthe sieht ihm starr nach, wie jemand, der eine schöne Erscheinung in nichts zerfließen sieht. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

 


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