Gerhart Hauptmann
Einsame Menschen
Gerhart Hauptmann

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Erster Akt

Das Zimmer ist leer. Durch die nur angelegte Tür des Studierzimmers vernimmt man eine predigende Pastorenstimme, und als diese nach wenigen Sekunden verstummt, die Töne eines auf einem Harmonium gespielten Chorals. Während der ersten Takte wird die Tür vollends geöffnet, und es erscheinen: Frau Vockerat sen., Frau Käthe Vockerat und die Amme mit einem Kinde im Steckkissen, alle festlich geschmückt.

Frau Vockerat, sie ist eine Matrone in den fünfziger Jahren. Schwarzes Seidenkleid. Wellenscheitel. Nimmt und tätschelt Käthes Hand. Er hat doch sehr schön gesprochen! Nicht, Käthchen? Frau Käthe, zweiundzwanzig Jahr alt. Mittelgroß, zart gebaut, bleich, brünett, sanft. Späteres Rekonvaleszentenstadium. – Sie lächelt gezwungen, nickt mechanisch und wendet sich dem Kinde zu.

Die Amme. Der kleene, liebe Kerl! Hä-hä! Sie wiegt ihn im Arm. Nun is er aber an't Einschlafen – ksss, ksss, ksss! – Nu will er nich mehr von wissen. Sie beseitigt ein dem Kinde unbequemes Schleifenband. So, so! – hm, hm, hm! Schlaf, du mein Putteken, schlaf. Sie singt mit geschlossenen Lippen die Melodie von »Schlaf, Kindchen, schlaf«. Aber den Pastor hat er anjetrotzt –: so! Sie ahmt es nach. Hä-hä! bis det Wasser kam, hä-hä! det war'n aber doch zu bunt. Sie dudelt. Vaterken mit's Röhreken, hau mir nich zu sehreken! – hä-hä! denn schrie er aber los, au weh! su, su, su! Schlaf, Kindchen, schlaf . . . Sie tritt mit dem Fuße den Takt.

Frau Käthe. Herzliches, aber nervöses Lachen.

Frau Vockerat. Ach, sieh bloß, Käthchen! wie niedlich! Was nur der Junge für lange Wimpern hat!

Die Amme. Hä-hä! det sin Maman ihre. Schlaf, Kindchen . . . Reene Troddeln sind det.

Frau Vockerat. Nein wirklich, Käthchen: die ganze Mutter! Frau Käthe schüttelt energisch abwehrend den Kopf. Wirklich.

Frau Käthe, mit Zwang redend. Ach Mamachen – das wünsche ich mir gar nicht. Mir – soll er gar nicht ähnlich werden. Mir – Sie kommt nicht weiter.

Frau Vockerat sucht abzuleiten. Ein kräftiges Kind.

Die Amme. 'n Staatskerl.

Frau Vockerat. Sieh nur, Käthe, diese Fäuste.

Die Amme. Fäuste hat der – wie'n Goliath. Frau Käthe küßt das Kind.

Frau Vockerat. Gelt? ein solides Brustkästchen?

Die Amme. Det könn Se jlooben, Frau Oberamtmann, wie so'n General. Ksss, ksss! Der nimmt et mal mit fünfen uff.

Frau Vockerat. Na wissen Sie . . . Sie und Frau Käthe lachen.

Die Amme. Der hat jesundes Blut, ksss, ksss! Die Kinder leben ja vom Blute, ksss, ksss! Halb singend. So, so, so! Nu komm, nu komm! – nu wolln – wir – in – die – Nauni gehn – in – die – Nauni. Ja, ja! wir – gehn – jetzt – in die Nau–ni, ksss, ksss, ksss! Schlaf, Kindchen . . . Ab ins Schlafzimmer.

Frau Vockerat hat die Tür hinter der Amme geschlossen, wendet sich, belustigt den Kopf schüttelnd. Z, z! diese Person! aber recht tüchtig ist sie doch deshalb. Ich freu' mich, Käthchen, daß du's so gut getroffen hast.

Frau Käthe. General – liebes Gottchen! Sie lacht. Ihr Lachen wird krampfhaft, schließlich mehr Weinen als Lachen.

Frau Vockerat, erschrocken. Du! – Du!! –

Frau Käthe bezwingt sich.

Frau Vockerat hält Käthe umarmt. Kathinkerle!

Frau Käthe. Mir – ist ja – wirklich nichts.

Frau Vockerat. Jawohl ist dir was. 's is ja weiter kein Wunder, du bist eben noch angegriffen, komm, leg dich paar Minuten.

Frau Käthe. 's is ja – schon wieder gut, Mama.

Frau Vockerat. Aber so streck dich doch nur'n Augenblickchen.

Frau Käthe. Ach, bitte nein – bitte nein! Es muß ja auch gleich gegessen werden.

Frau Vockerat, am Tisch, wo Wein und Kuchen steht, ein Glas mit Wein füllend. Da nimm wenigstens'n Schluck. Koste mal! – Es schmeckt süß. Frau Käthe trinkt. Das stärkt. Nicht?! – Liebes, gutes Kindchen, was machste mir denn für Geschichten? Na, na! Du mußt dich eben noch schonen, weiter is nichts nötig. Und laß gut sein! – Mach dir weiter keine unnötigen Sorgen! – 's wird alles werden. Jetzt habt ihr den Jungen, nu wird alles anders werden. Johannes wird ruhiger werden . . .

Frau Käthe. Ach, wenn nur, Mama!

Frau Vockerat. Denk doch bloß, wie er sich gefreut hat, als der Junge kam. Und er ist doch überhaupt der reine Kindernarr. Verlaß dich drauf. Das ist immer so. 'ne Ehe ohne Kinder, das ist gar nichts. Das ist nichts Ganzes und nichts Halbes. Was hab' ich bloß den lieben Herrgott gebeten, er soll eure Ehe mit einem Kinde segnen. Sieh mal, wie war's denn bei uns: erst haben wir uns hingeschleppt, vier Jahre – ich und mein Mann – das war gar kein Leben. Dann erhörte der liebe Gott unsre Bitten und schenkte uns den Johannes. Da fing unser Leben erst an, Käthchen! Wart nur erst, wenn erst das dumme Vierteljahr wird vorüber sein, was du für Spaß haben wirst an dem Kinde! Nein, nein! Du kannst ganz zufrieden sein. Du hast deinen Jungen, du hast deinen Mann, der dich liebhat. Ihr könnt ohne Sorgen leben. Was willst du denn mehr?

Frau Käthe. Es is ja auch vielleicht Unsinn. Ich seh's ja ein. Ich mach' mir ja manchmal wirklich unnütze Sorgen.

Frau Vockerat. Sieh mal! – du mußt mir aber nicht böse sein! –, du würdest viel mehr Frieden finden, Käthchen, viel mehr – wenn . . . Sieh mal, – wenn ich mal so recht voller Sorgen bin, und ich hab' mich dann so recht inbrünstig ausgebetet, hab' so alles dem lieben Vater im Himmel ans Herz gelegt, da wird mir so leicht, so fröhlich ums Herz . . .! Nein, nein! und da mögen meinetwegen die Gelehrten sagen, was sie wollen –: es gibt einen Gott, Käthchen! – einen treuen Vater im Himmel, das kannst du mir glauben. Ein Mann ohne Frömmigkeit, das ist schon schlimm genug. Aber eine Frau, die nicht fromm ist . . . Sei mir nicht böse, Käthchen! Schon gut, schon gut. Ich rede ja nicht mehr davon. Ich bete ja so viel. Ich bitte Gott ja täglich. Er erhört meine Bitten schon noch, ich weiß es. Ihr seid ja so gute Menschen. Der liebe Gott wird euch auch noch zu frommen Menschen machen. Sie küßt ihre Tochter. Der Choral ist zu Ende. Ach, ich verplaudre mich.

Frau Käthe. Wenn ich doch schon besser fortkönnte. Mamachen, 's is mir schrecklich, so immer nur zuzusehen, wie du dich abmühst.

Frau Vockerat, in der Flurtür. I, das wär' der Rede wert. Das sind ja Ferien hier bei euch. Wenn du ganz gesund sein wirst, lass' ich mich von dir bedienen. Ab.

Frau Käthe will ins Schlafzimmer. Bevor sie noch hinausgeht, kommt Braun aus dem Taufzimmer. Braun, sechsundzwanzig Jahr alt. Gesicht bleich. Müder Ausdruck. Umränderte Augen. Flaumiges Schnurrbärtchen. Kopf fast kahlgeschoren. Kleidung modern, nahezu schäbig-gentil. Braun ist phlegmatisch, meist unbefriedigt, deshalb übelgelaunt.

Braun. So! Während er steht und seinem Etui eine Zigarette entnimmt. Der Schmerz – wäre überstanden!

Frau Käthe. Na, sehen Sie, Herr Braun, Sie haben's ganz gut ausgehalten!

Braun, im Anrauchen. Ich hätte lieber – malen sollen. – Sünde und Schande – solches Wetter um die Ohren zu schlagen.

Frau Käthe. Sie bringen's schon wieder ein.

Braun. Äh! wir sind alle durch die Bank Schlappiers! Er läßt sich am Tische nieder. Übrigens, so'ne Taufe hat doch was!

Frau Käthe. Haben Sie Johannes beobachtet?

Braun, schnell. Auffallend unruhig war er?! – Ich dachte immer, 's würde was geben. Ich hatte schon Angst, er würde dem Pastor in die Rede fallen. Ein Stuß war das aber auch, nicht zum Glauben.

Frau Käthe. Aber nein, Herr Braun!

Braun. Das ist doch klar, Frau Käthe! – Ich bin ja sonst ganz zufrieden. Vielleicht mal' ich sogar mal so was. Riesig feine Sache.

Frau Käthe. Machen Sie Ernst, Herr Braun?

Braun. Wenn ich das male, da muß einem aus dem Bilde so'n erinnerungsschwerer Duft entgegenschlagen. So'n Gemisch, wissen Sie, von Weißwein – Kuchen – Schnupftabak und Wachskerzen, so'n . . . So angenehm schwummrig muß ein zumute werden, so jugenddußlig, so . . .

Johannes Vockerat kommt aus dem Taufzimmer. Achtundzwanzigjährig. Mittelgroß, blond, geistvolles Gesicht. Reges Mienenspiel. Er ist voller Unruhe in seinen Bewegungen. Kleidung tadellos: Frack, weiße Halsbinde und Handschuhe.

Johannes seufzt, zieht die Handschuhe ab.

Braun. Na, bist de nu gerührt wie Apfelmus?

Johannes. Kann ich gerade nicht behaupten. Wie steht's mit dem Essen, Käthchen?

Frau Käthe, unsicher. Draußen auf der Veranda, dacht' ich.

Johannes. Wie denn? Ist gedeckt draußen?

Frau Käthe, zaghaft. Ist dir's nicht recht? Ich dachte . . .

Johannes. Käthel, nicht so zimmtig tun! Ich fress' dich nicht auf. – Das is mir wirklich schrecklich.

Käthe, gezwungen fest. Ich hab' draußen decken lassen.

Johannes. Na, ja! Natürlich! – Es is ja sehr gut so. – Als ob ich'n Menschenfresser wäre!

Braun brummt. Äh! Schnauz nicht so!

Johannes, Käthe umarmend, gutmütig. 's is wirklich wahr, Käthe. Du tust immer so, als ob ich so'n richtiger Haustyrann wäre. So'n zweiter Onkel Otto oder so was. Das mußt du dir wirklich abgewöhnen.

Frau Käthe. Dir ist's doch manchmal nicht recht, Johannes . . .

Johannes, aufs neue heftig. Na, wenn auch, das ist doch kein Unglück. Trumpf mir doch auf! Wehr dich doch! Für meine Natur kann ich nichts. Laß dich doch nicht unterkriegen. Ich wüßte nicht, was mir so zuwider wäre, als wenn jemand so geduldig ist, so madonnenhaft . . .

Frau Käthe. Na, reg dich nur nicht unnütz auf, Hannes! Es is ja nicht der Rede wert.

Johannes, sich überstürzend. Oh, oh, oh! Nee, da täuschst du dich gründlich. Ich bin keine Spur von aufgeregt, keine Ahnung. – Es ist wirklich merkwürdig, wie ich immer gleich aufgeregt sein soll. Braun will reden. Na, schön! – Ihr wißt's ja besser. Schluß! Reden wir von was anderem . . . Ach, ja, ja!!

Braun. Mit der Zeit wird's langweilig, das ewige Seufzen und Seufzen.

Johannes faßt sich an die Brust, verzieht das Gesicht schmerzlich. A . . . ach!

Braun. Na, was denn!

Johannes. Gar nichts weiter. – Eben die alte Geschichte. Stiche in der Brust.

Braun. Stich wieder, Hannes.

Johannes. Du, das ist wirklich nicht zum Scherzen. A . . . ach!

Frau Käthe. Ach, Hannes, das darf dich nicht ängstigen. Das ist nichts Schlimmes.

Johannes. Na, wenn man zweimal die Lungenentzündung gehabt hat.

Braun. Das nennt sich nun Offizier der Reserve.

Johannes. Was ich mir dafür koofe.

Braun. Alter Hypochonder. Kohl nicht! Iß was! Die Predigt sitzt dir in den Knochen.

Johannes. Aufrichtig gestanden, Breo . . . du sprichst so von der Taufe . . . Wie ich zu der Sache stehe, weißt du. Jedenfalls nicht auf dem christlichen Standpunkt. Aber's bleibt doch immer 'ne Sache, die soundso vielen heilig ist.

Braun. Aber mir nicht.

Johannes. Das weiß ich. Mir direkt auch nicht. Mir schließlich ebensowenig. Aber du wirst doch noch'n Rest Pietät für 'ne Feier aufbringen, die noch vor . . .

Braun. Du mit deiner Pietät.

Johannes. Hätt'st du nur was davon.

Braun. Vor jedem Knüppel, der einem zwischen die Beine fliegt, möchte man Pietät haben. Gefühlsduselei einfach!

Johannes. Du – nimm mir's nicht übel, wenn ich . . . 'n andermal vertrag' ich's vielleicht besser als gerade heute. Ab auf die Veranda, wo man ihn heilgymnastische Übungen machen sieht. Braun erhebt sich verlegen, lacht unmotiviert.

Frau Käthe, am Nähtisch stehend. Sie haben ihn verletzt, Herr Braun.

Braun, verlegen lächelnd, dann brüsk. Kann mir nicht helfen, ich hasse nun mal alle Halbheit bis in den Tod.

Frau Käthe, nach einer Pause. Sie tun ihm unrecht.

Braun. Aber wieso denn?

Frau Käthe. Ich weiß nicht . . . ich kann mich nicht ausdrücken. Jedenfalls . . . Hannes ringt ehrlich.

Braun. Seit wann ist er denn wieder so schrecklich reizbar, möchte ich wissen.

Frau Käthe. Seit die Sache mit der Taufe schwebt. Ich war schon so froh . . . das hat ihm wieder alle Ruhe genommen, 's is doch nur 'ne Form. Sollte man deshalb den alten Eltern einen so namenlosen Schmerz . . . nein – das ging ja gar nicht. Denken Sie doch mal, so fromme, strenggläubige Menschen. Das müssen Sie doch zugeben, Herr Braun!

Johannes öffnet die Glastüre und ruft herein. Kinder, ich bin etwas gratzig gewesen. Seid fidel! Ich bin's auch. Ab in den Garten.

Braun. Schaf. Pause.

Frau Käthe. So rührend ist er mir manchmal. Pause.

Der alte Vockerat und Pastor Kollin sehr geräuschvoll aus dem Taufzimmer. Vockerat ist in den Sechzigen. Grauen Kopf, roten Bart, Sommersprossen auf Gesicht und Händen. Stark und breit, zur Korpulenz neigend. Er ist schon ein wenig gebeugt und geht mit kleinen Schritten. Er fließt über von Liebe und Freundlichkeit. Heiteres, naives, lebensfrohes Naturell. Pastor Kollin, dreiundsiebenzigjähriger Greis, trägt Käppchen und schnupft.

Vockerat, den Pastor an der Hand hereinführend, mit weicher, schwach belegter Stimme redend. Vielen, vielen Dank, Herr Pastor! Vielen Dank für die Erhebung, tja. Es war mir eine rechte Seelenstärkung, tja, tja. Da bist du ja, liebes Töchterchen. Geht auf Käthe zu, umarmt und küßt sie herzhaft. Nun, meine liebe, liebe Käthe! Glück zu von ganzer Seele! Kuß. Der liebe Gott hat sich wieder mal in seiner großen Güte, tja . . . in seiner unendlichen Güte offenbart. Kuß. Seine Gnade und Güte ist unermeßlich. Er wird nun auch, tja . . . er wird nun auch seine Vaterhand über den Schößling, tja – halten, tja, tja. Zu Braun. Erlauben Sie, Herr Braun, daß ich Ihnen auch die Hand schüttle. Johannes kommt herein, Vockerat ihm entgegen. Nun, da bist du ja auch, Herzens-Johannes. Kuß. Starke Umarmung. Fast lachend vor Rührung. Ich freu' mich für dich. Kuß. Ich freu' mich wirklich. Ich weiß nicht, wie ich dem lieben Gott genug danken soll, tja, tja!

Pastor Kollin, ein wenig zitterig, kurzatmig, drückt feierlich Frau Käthes Hand. Nochmals, Gottes reichen Segen! Drückt Johannes' Hand. Gottes reichen Segen!

Vockerat. Und nun, lieber Herr Pastor, dürfen wir Ihnen mit etwas dienen? Nicht? Oh!

Johannes. Ja, Herr Pastor – ein Glas Wein gewiß. Ich hole eine neue Flasche.

Pastor Kollin. Keine Umstände, hören Sie nur! Keine Umstände.

Johannes. Darf ich Ihnen Weißen oder . . .

Pastor Kollin. Wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen. Aber – hören Sie nur! – Beileibe keine Umstände, wenn ich bitten darf. Johannes ab. Inzwischen will ich . . . Er sucht nach seinen Sachen: Hut, Paletot, langer Umschlagschal am Kleiderständer neben der Tür.

Vockerat. Sie werden doch nicht schon gehen, Herr Pastor?

Pastor Kollin. I, hören Sie nur! – Meine Predigt, tja. Wer soll denn morgen meine Predigt halten?

Braun hält des Pastors Paletot zum Anziehen bereit.

Pastor Kollin, in die Ärmel fahrend. Danke – junger Mann!

Frau Käthe. Würden Sie uns nicht die Ehre geben, Herr Pastor, ein einfaches Mittagbrot . . .?

Pastor Kollin, mit Anziehen beschäftigt. Sehr schön, sehr schön – liebe Frau Vockerat! Aber . . .

Vockerat. Mein lieber Herr Pastor, das müssen Sie uns wirklich zuliebe tun.

Pastor Kollin, unsicher. Aber, hören Sie nur! – Hören Sie nur . . .

Vockerat. Wenn wir Sie alle recht schön bitten?

Pastor Kollin. Und das liebe Gotteswort, hehä? das ich morgen predigen soll? Jawohl, – predigen – hören Sie nur – Gottes Wort – morgen. Johannes ist wiedergekommen, gießt Wein ein.

Vockerat nimmt ein Glas, kredenzt es. Nun zunächst . . . Das werden Sie uns doch jedenfalls nicht abschlagen wollen.

Pastor Kollin übernimmt das Glas. Das nicht – nein – hören Sie nur. Also ja – also auf das Wohl . . . auf das Wohl des Täuflings! Es wird angestoßen. Auf daß er ein echtes und rechtes Kind Gottes bleiben möge!

Vockerat, still. Das walte Gott.

Johannes bietet dem Pastor Zigarren an. Sie rauchen doch, Herr Pastor?

Pastor Kollin. Danke, ja! Nimmt Zigarre, schneidet ab. Danke! Nimmt Feuer von Johannes. Pf, pf! Er zieht mit großer Anstrengung. Endlich brennt die Zigarre. Sich umschauend. Schön eingerichtet sind Sie, pf, pf! – sehr geschmackvoll, hören Sie nur! Er sieht sich um, betrachtet die Bilder erst obenhin, dann genauer. Vor einem Bilde, das den Kampf Jakobs mit dem Engel darstellt. Ich – lasse dich – nicht, du – pf, pf! – segnest mich denn. Er brummelt befriedigt.

Frau Käthe, ein wenig ängstlich. Papachen, ich möchte dir vorschlagen . . . im Garten draußen ist's nämlich so reizend jetzt. Viel wärmer wie im Zimmer. Vielleicht gehst du mit Herrn Pastor . . . Ich kann ja die Gläser rausbringen lassen.

Pastor Kollin ist bei den Gelehrtenporträts um den Bücherschrank angelangt. Eine bunte Gesellschaft! Das sind wohl – pf, pf! – Ihre Lehrer, Herr Doktor? Hören Sie nur!

Johannes, ein wenig verlegen. Jawohl . . . das heißt . . . mit Ausnahme von Darwin natürlich.

Pastor Kollin, mit den Augen dicht an den Bildern. Darwin? Darwin? – Ja, so! Darwin! Ach, ja! mhm! Hören Sie nur! Er buchstabiert. Ernst – Haeckel. Autogramm sogar! pf, pf! Nicht ohne Ironie. Der ist also Ihr Lehrer gewesen?

Johannes, schnell, mit Feuer. Ja, und ich bin stolz darauf, Herr Pastor.

Vockerat. Meine Tochter hat recht, lieber Herr Pastor. Es ist draußen viel wärmer. Wenn es Ihnen recht ist. Ich nehme die Gläser und den Wein.

Pastor Kollin. Jawohl! pf, pf! schön! pf, pf! aber nur, hören Sie nur – auf paar Minuten, ja! Während er mit Vockerat abgeht, pikiert. Der Mensch, Herr Oberamtmann! der Mensch ist nämlich, pf, pf! ist nämlich kein Ebenbild Gottes mehr, hören Sie nur. Der Affe nämlich, pf, pf! wollte sagen, die Naturwissenschaft hat herausbekommen . . . Ab auf die Veranda, von der beide Herren, lebhaft gestikulierend, in den Garten hinuntersteigen.

Braun lacht vor sich hin.

Johannes. Weshalb lachst du denn?

Braun. Ich? Weshalb? Ich freue mich.

Johannes. Du freust dich?

Braun. Ja! soll ich nicht?

Johannes. Bitte, bitte! Er geht umher, seufzt und sagt plötzlich zu Käthe, die sich entfernen will. Sag mal, – ich bin wohl etwas anzüglich gewesen?

Frau Käthe. Bißchen, ja!

Johannes, achselzuckend. Tja, Kinder! – da kann ich ihnen nicht helfen. Das vertrag' ich nicht. Es hat alles 'ne Grenze. Wenn sie mich provozieren wollen . . .

Frau Käthe. Na, es war ja immerhin zart.

Johannes. So.

Frau Käthe. Wer weiß, ob er's überhaupt gemerkt hat.

Johannes geht, kratzt sich in den Haaren. 's is mir aber doch unangenehm.

Braun. Hast de doch wieder was zu ärgern, Hannes.

Johannes, plötzlich wütend. Zum Donnerwetter, sie sollen mich in Frieden lassen! Sie sollen's nicht zu weit treiben, sonst – wenn mir die Geduld reißt . . .

Braun. Wär' nit schlecht!

Johannes, gegen Braun. Gesinnungsprotzen seid ihr, weiter nichts. Was kann mir denn dran liegen, dem alten Manne die Wahrheit zu sagen, was denn? Siehst du, wenn du mir so kommst, dann heilst du mich augenblicklich von meinem Ärger. Da wird mir sofort klar, daß es einfach kindisch ist, sich über solche Leute irgendwie aufzuregen. Gerade so, als wenn ich mich darüber aufregen wollte, daß die Kiefer Nadeln und nicht Blätter hat. Objektiv muß man sein, lieber Sohn.

Braun. In der Wissenschaft vielleicht, aber nicht im Leben.

Johannes. Ach Kinder! Der ganze Kram ist mir so verhaßt . . . so verhaßt . . . Ihr könnt euch nicht denken, wie. Läuft umher.

Braun, vom Ofen, an dem er gestanden, zum Tisch tretend, Zigarettenrest in den Aschenbecher legend. Mir wohl nicht? Mir auch, oft genug. Aber wenn man deshalb ewig heulen und flennen sollte, Kreuzmillionenschockschwerenot!

Johannes, verändert, lachend. Nee, nee, ereifre dich beileibe nicht! Von ewig heulen und flennen ist gar nicht die Rede. Wenn man auch mal'n bißchen seufzt. Das ist'n bissel Lufthunger, weiter nichts. Nee, nee, ich stehe überhaupt gar nicht so schlecht mit dem Leben, so bankerott wie du bin ich jedenfalls noch lange nicht.

Braun. Kann schon sein.

Johannes. Spielst du Charakter auf?

Braun. Nicht im geringsten.

Johannes. Ach bankerott, bankerott, was heißt überhaupt bankerott! Du bist ebensowenig bankerott wie ich. Wenn ich nur lieber dem Alten und dem Pastor die Laune nicht verdorben hätte!

Frau Käthe, Johannes umarmend. Hannes, Hannes! Fidel, fidel!

Johannes. Und meine Arbeit liegt mir auch auf der Seele. Jetzt hab' ich wieder über vierzehn Tage nichts tun können.

Braun. Du bist feig! Du gestehst dir nicht ein, wie miserabel es ist . . .

Johannes hat nicht gehört. Was?

Braun. Wenn's regnet, is's naß, wenn's schneit, is's weiß, wenn's gefriert, is's Eis.

Johannes. Schaf!

Frau Käthe. Fidel, Hannes! Denk an Philippchen! Wir mummeln uns recht gemütlich ein hier im Winter. – Paß mal auf, wie du da arbeiten wirst.

Johannes. Weißt du schon, Breo, das vierte Kapitel ist fertig.

Braun, interesselos. So?

Johannes. Sieh mal: dies Manuskript! Zwölf Seiten Quellenangabe allein. Das ist Arbeit! nicht? Ich sag' dir, da werden die Perücken wackeln.

Braun. Glaub's schon.

Johannes. Sieh mal, zum Beispiel hier. Er blättert im Manuskript. Hier greif' ich Du Bois-Reymond an.

Braun. Du . . . wahrhaftig, lies jetzt nicht. Ich bin jetzt in einer so faulen Stimmung . . . 'n andermal.

Johannes, resigniert. Natürlich! nee, nee! Ich hatte ja gar nicht die Absicht. Ich . . .

Frau Käthe. Es wird ja auch gleich gegessen.

Johannes. Natürlich! nee, nee! Ich dachte ja auch gar nicht dran, ich wollte ja nur. – Äh! Er legt seufzend das Manuskript in den Bücherschrank zurück.

Frau Käthe. Hannes, fidel, fidel!

Johannes. Aber Käthe, ich bin's ja!

Frau Käthe. Nein, du bist's wieder nicht.

Johannes. Wenn nur ein Mensch in der weiten Welt etwas für mich übrig hätte. Es braucht ja nicht viel zu sein. 'n klein bissel guter Wille. 'n klein bissel Verständnis für meine Arbeit.

Frau Käthe. Du sollst vernünftig sein. Du sollst dir keine Schmerzen machen. Du sollst geduldig sein. Die Zeit wird schon kommen, wo sie einsehen werden . . .

Johannes. Und bis dahin? Glaubst du, daß das leicht ist so ganz ohne Beistand . . . Glaubst du, daß man's aushalten wird so lange?

Frau Käthe. Das glaub' ich. Komm, Hannes, wenn Gedanken einem lästig werden, da muß man machen, daß man davon loskommt. Komm, sieh dir mal Philippchen an. Zu niedlich ist der Junge, wenn er schläft. So liegt er immer. Sie ahmt die Stellung seiner Ärmchen nach. Solche Fäustchen macht er immer. Zum Schießen lustig. Komm!

Johannes, zu Braun. Kommst du mal mit?

Braun. Ach nee, Hannes, ich hab' keenen Sinn für kleine Kinder. Ich geh' 'n bißchen in'n Garten. Ab über die Veranda.

Johannes. Sonderbarer Kerl.

Frau Käthe hat die Schlafzimmertür behutsam geöffnet. Zu niedlich, sag' ich dir! – Psch . . . t, leise! ganz leise . . . Beide ab auf den Zehenspitzen und Hand in Hand.

Frau Vockerat und ein Mädchen waren während des Vorhergehenden damit beschäftigt, den Tisch auf der Veranda zu decken. Plötzlich hört man mit großem Geräusch eine Menge Porzellan auf die Steine fallen und zerschellen. Ein kurzer Schrei wird ausgestoßen, und das Mädchen kommt bleich durch das Zimmer – von der Veranda nach dem Flur – gelaufen. Frau Vockerat erscheint ebenfalls, hinterdreinscheltend.

Frau Vockerat. Aber nein, Minna! Sie machen's auch wirklich zu bunt. Sie zerkrachen auch wirklich alle Tage was. Die schöne Mayonnaise! Mädchen ab durch die Flurtür. Na, bei mir dürfte so was nicht vorkommen. Da sollten die Mädchen was kennenlernen!

Johannes, durch das Geräusch gelockt, aus dem Schlafzimmer. Was ist es denn, Mutterchen? Er umarmt sie beschwichtigend. Ruhig, ruhig! nur ja nicht ärgern, Mutti.

Frau Käthe, durch die Türspalte. Was war denn?

Johannes. Nichts! gar nichts. Frau Käthe zieht den Kopf zurück.

Frau Vockerat. Ich danke schön, gar nichts. Für zehn Mark Geschirr hat se fallen lassen. Gar nichts. Und die ganze schöne Mayonnaise! nee . . . Wehrt Johannes ab.

Johannes. Mutti, Mutti! Essen wir mal keine Mayonnaise.

Frau Vockerat. Nee, nee! Ihr seid viel zu leichtsinnig. Ihr habt's auch nicht zum Wegwerfen. Ihr seid viel zu nachsichtig mit den Mädels. Da wer'n sie bloß übermütig.

Johannes. Na, wenn sie immerfort mit den Sachen umgehen . . .

Frau Vockerat. Ich bin auch kein Tyrann. Ich hab' meine Mädel sechs, sieben Jahre gehabt. Aber was se zerschlagen, das müssen se ersetzen. Freilich, bei euch da kriegen se Baisertorte und Kaviar, nee, nee! Das sind solche neue Ideen. Damit laßt mich zufrieden, hört ihr!

Johannes, heiter. Sei gut, Mutti!

Frau Vockerat. Gut bin ich ja, Junge! Sie küßt ihn. Verrückter Struzel du! Ich sag' schon! Du paßt gar nicht für de Welt.

Man sieht das Mädchen auf der Veranda trockenwischen und Scherben zusammenlesen.

Johannes stutzt. Ja, Mutter! Belustigt. Aber warum machst du denn immer solche . . . solche Augen? solche Angstaugen? solche gespannte?

Frau Vockerat. Ich? Ach, wo denn! was . . .? Ich wüßte gar nicht . . .! Was soll ich denn für Augen machen!

Johannes. Sieh mich noch mal an!

Frau Vockerat. Dummer Kerl! Sieht ihn starr an.

Johannes. So ist's schön.

Frau Vockerat. Dummer Junge! Ich möchte eben, daß du zufrieden wärst, 'n zufriedener Mensch, Hannes!

Johannes. Mutter! das wirst du nie erleben. Die zufriedenen Menschen, das sind die Drohnen im Bienenstock. Ein miserables Pack.

Frau Vockerat. Was nutzt das alles . . .

Johannes, ernster, zugleich bewegter. Der Junge dadrin, der soll mir auch so einer werden, so'n recht Unzufriedener.

Frau Vockerat. Das verhüte Gott, Hannes!

Johannes. Der soll überhaupt'n andrer Kerl werden wie ich. Dafür wer' ich sorgen.

Frau Vockerat. Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Wir haben unser möglichstes auch getan.

Johannes. Na, Mutterchen! So'n ganz Mißratener bin ich schließlich auch gerade nicht.

Frau Vockerat. Nein doch! das sag' ich ja nicht! das will ich ja gar nicht . . . Aber du sagst doch selber, Philippchen soll anders werden. Und . . . und . . . sieh mal: du glaubst doch auch nicht . . . Du glaubst doch einmal nicht an den lieben Gott. Du hast doch auch wirklich keine Religion. Das muß ein doch Kummer machen.

Johannes. Religion, Religion! Ich glaub' allerdings nicht, daß Gott so aussieht wie'n Mensch und so handelt und einen Sohn hat und so weiter.

Frau Vockerat. Aber Johannes, das muß man glauben!

Johannes. Nein, Mutter! Man braucht das nicht glauben und kann doch Religion haben. Ein wenig getragen. Wer die Natur zu erkennen trachtet, strebt Gott zu erkennen. Gott is Natur! »Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße, im Kreis das All am Finger laufen ließe? Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen«, sagt Goethe, Muttel! und der wußte es besser wie sämtliche Pastoren und Superintendenten der Welt.

Frau Vockerat. Ach, Junge. Wenn ich dich so reden höre . . . 's is doch jammerschade, daß du nicht Theologe geblieben bist. Ich weiß noch bei deiner Probepredigt, was der Diakonus zu mir sagte . . .

Johannes, belustigt. Mutter, Mutter! Vergangne Zeiten!

Die Hausklingel geht.

Frau Vockerat. Die Haustür – is doch offen. Macht ein paar Schritte nach der Flurtür. Es wird an die Flurtür gepocht.

Waschfrau Lehmann, im blauen, verschlissenen Kattunrock, tritt schüchtern ein. Juten Tag.

Frau Vockerat und Johannes, nicht ganz zu gleicher Zeit. Guten Tag, Frau Lehmann.

Frau Lehmann. Ick wollte man bloß mal nachschaun. Nehm S't nich iebel, Frau Vockerat. Ick such' mein'n Mietsherr such' ick schon 'ne janze Zeit.

Johannes. Jawohl, Frau Lehmann. Herr Braun is hier.

Frau Lehmann. Z, z! Sich umschauend. Wer's so haben kann!

Frau Vockerat. Wie geht's Ihn'n, Frau Lehmann?

Frau Lehmann. Ach, Frau Vockerat. Mir hat et nich jut jejehn. Ick hab' mein'n Alten mußt fortjagen. 't jing nich mehr. Ick muß nu halt zusehn, wo ick bleibe mit meine Fünfe.

Frau Vockerat. Was Sie sagen! Aber . . .

Frau Lehmann, immer gesprächiger. Ja sehn Se wohl, Frau Vockerat, wenn ick nich so schwächlich wär'. Aber ick bin man zu schwächlich. Un der Ärjer, verstehn Se, der kriecht d'n Menschen under. Mir kann det keener nich verdenken. Ick ha zu meinem Alten jesagt: Adolf! sach ick, jeh du man in Jottes Namen bei deine Brieder, sach'k. Bei deine Saufbrieder, sach'k, jeh du man! Ick will mir man for meine fünf Kinder alleene schinden. Sieh du, sach'k, wo du wat herkriegen dust, und denn jag et dir man immer feste durch die Jurgel, sach'k. Du hast ja jar keen'n Jeist, sach'k. Wenn du Jeist haben dätst, sach'k, denn hätt's du deine Frau un deine Kinder nich in Elend jebracht, sach'k. Sehen Se, Frau Vockerat, det hab' ick em jesagt, un det können Se glooben, et is mir durch und durch jejehn. Wie'n Stachel, möcht' ick sprechen. Aber wat helft det allens. Uffrichtig, wenn ick soll die Wahrheet sprechen: 't is jut so! – Nu denk' ick doch, der liebe Jott wird mir wieder mal vorholen mit meine fünf Kinder. Sie schneuzt sich und wischt sich die Augen aus.

Frau Vockerat. Wir müssen nur immer . . .

Frau Lehmann. Ja, ja, det ha'k ooch jesagt. Jeh du nach die Indianers hin, sach'k. Jeh du man. Wenn man ehrlich is, sach'k, un arbeeten kann, sach'k, un die paar Pfennige zusammenhält, sach'k, denn kann man schonst noch bestehn. Un ehrlich bin ick, Frau Vockerat. Vor mir kann allens stehn un liegen bleiben. Ooch nich mal so viel, wie under'n Fingernagel jehn dut . . .

Johannes. Wollten Sie Braun sprechen, Frau Lehmann?

Frau Lehmann. I, nee! Det hätt' ick ja wirklich bei en Haar janz verjessen. 't is a Freilein da, die'n jerne sprechen will.

Durch die Flurtür steckt Fräulein Mahr den Kopf herein, fährt sogleich zurück. Johannes hat es bemerkt.

Johannes. Bitte sehr . . . bitte sehr, näher zu treten. Zu den Frauen, die nichts bemerkt haben. Das Fräulein. Es war das Fräulein. Zu Frau Lehmann. Sie hätten sie hereinführen sollen. Er öffnet die Flurtür. Bitte, gnädiges Fräulein! Sie wollen meinen Freund Braun sprechen. Haben Sie die Güte, näher zu treten.

Fräulein Anna Mahr ist vierundzwanzig Jahr alt, mittelgroß, mit kleinem Kopf, dunklem, schlichtem Haar, feinen, nervösen Zügen. In ihren ungezwungenen Bewegungen ist Grazie und Kraft. Eine gewisse Sicherheit im Auftreten, eine gewisse Lebhaftigkeit andrerseits ist durch Bescheidenheit und Takt derart gemildert, daß sie niemals das Weibliche der Erscheinung zerstört. Anna ist schwarz gekleidet.

Fräulein Anna kommt herein. Ach, ich muß recht sehr um Verzeihung bitten. Es ist mir äußerst peinlich, Sie zu stören.

Johannes. Aber bitte sehr! bitte sehr!

Fräulein Anna. Frau Lehmann kam nicht wieder – und da wollte ich ihr nur sagen – daß es ja . . . daß ich ja Herrn Braun ein andermal treffen könnte.

Johannes. Aber bitte recht sehr! – Ich will Braun sogleich rufen. Nehmen Sie doch Platz, bitte!

Fräulein Anna. Ich danke sehr! Bleibt stehen. Aber wirklich! es ist mir recht peinlich, es . . .

Johannes. Aber ich bitte Sie, gnädiges Fräulein! Ich hole Braun im Augenblick.

Fräulein Anna. Aber Sie machen sich Mühe, ich . . .

Johannes. Nicht im geringsten, Fräulein. – Um Verzeihung einen Augenblick. Ab über die Veranda. Kleine Verlegenheitspause.

Frau Lehmann. Na, nu will ick mir man wieder kleenemachen. Zu Fräulein Anna. Zerück wär'n Se ja woll alleene finden.

Fräulein Anna. Ich danke Ihnen sehr für die Begleitung. Darf ich Ihnen eine Kleinigkeit . . . Gibt ihr Geld.

Frau Lehmann. Dank' scheen, dank' scheen! Zu Frau Vockerat. Det's mei Handjeld heite, Frau Vockerat. Wahrhaft'jen Jott! Nee nee, leicht is et nich, aber lieberscht, sach'k, doch's Fell janz un jar verkoofen, als wie mit so'n Saufaus, sach'k, so'n . . . Un wenn man nur an'n lieben Jott festhält. Der liebe Jott hat mir noch niemals in Stich jelassen. Türklinke in der Hand. Nu will ick man jleich beim Krämer hin. Wat zu holen for meine fünf Wirmer. Ab.

Frau Vockerat ruft ihr nach. Gehen Sie mal in die Küche! 's gibt Abfälle. – Sie bringt einen Stuhl neben den für Fräulein Mahr hingesetzten und läßt sich darauf nieder. Bitte, Fräulein! wollen Sie nicht inzwischen Platz nehmen?

Fräulein Anna, zögernd sich niederlassend. Ich bin gar nicht müde, ich . . .

Frau Vockerat. Kennen Sie die hiesige Gegend?

Fräulein Anna. Nein! – Ich stamme aus den russischen Ostseeprovinzen, ich . . . Verlegenheitspause.

Frau Vockerat. Die hiesige Gegend ist sehr sandig. Ich bin nicht gern hier. Ich bin aus der Umgegend von Breslau. Und alles so teuer hier, Sie können sich keinen Begriff machen. Mein Mann ist Rittergutspächter. Da geht's ja noch, da können wir den Kindern manchmal was schicken. Haben Sie den See gesehen? Das ist wirklich hübsch. Der See ist wirklich hübsch, das muß man sagen. Wir haben's recht bequem. Wir liegen direkt am Ufer. Zwei Kähne haben wir auch unten im Garten. Aber ich hab's nicht gern, wenn die Kinder Kahn fahren. Ich bin zu ängstlich. – Sie wohnen jetzt in Berlin, wenn ich fragen darf?

Fräulein Anna. Ja. – Ich bin zum erstenmal da. Ich wollte mir einmal Berlin ordentlich ansehen.

Frau Vockerat. O ja! Berlin is sehenswert. – Aber so geräuschvoll.

Fräulein Anna. Oh, ja! geräuschvoll ist es. Besonders wenn man an kleine Städte gewöhnt ist.

Frau Vockerat. Sie kommen – woher, wenn . . .?

Fräulein Anna. Ich komme aus Reval und gehe nach Zürich zurück. Ich bin die letzten vier Jahre in Zürich gewesen.

Frau Vockerat. Ach ja! die schöne Schweiz! – Sie haben gewiß Verwandte in Zürich.

Fräulein Anna. Nein – ich studiere.

Frau Vockerat. Sie . . . an der Universität?

Fräulein Anna. An der Universität.

Frau Vockerat. Das is wohl nicht möglich! Also Studentin sind Sie?! Was Sie sagen! Das ist ja höchst interessant! – Also wirklich Studentin?

Fräulein Anna. Allerdings, gnäd'ge Frau!

Frau Vockerat. Aber sagen Se bloß! Das viele Lernen, gefällt Ihnen denn das?

Fräulein Anna, belustigt. Oh, ja! ganz gut – bis zu einem gewissen Grade.

Frau Vockerat. Ist's die Möglichkeit!

Johannes und Braun werden auf der Veranda sichtbar. Die Damen bemerken ihr Kommen und erheben sich.

Fräulein Anna. Ich bedaure aufrichtig, gnädige Frau, Sie gestört zu haben.

Frau Vockerat. Bitte, liebes Fräulein! Es hat mich wirklich gefreut, einmal eine richtige Studentin von Angesicht zu Angesicht zu sehn. Unsereins bildet sich mitunter so dumme Vorstellungen. Sie sind verwandt mit Herrn Braun?

Fräulein Anna. Nein – in Paris haben wir uns kennengelernt, auf der Ausstellung.

Frau Vockerat gibt ihr die Hand. Leben Sie wohl! Es hat mich wirklich gefreut . . .

Fräulein Anna. Und bitte . . . bitte nochmals um Entschuldigung.

Frau Vockerat mit Verbeugung ab durch die Flurtür. Johannes und Braun hatten einen Augenblick auf der Veranda beraten. Infolge der Beratung hat sich Johannes auf der Veranda niedergelassen, während Braun nun hereinkommt.

Braun, erstaunt. Fräulein Mahr! Sie?!

Fräulein Anna. Ja – aber ich hoffe, Sie halten mich nicht für so taktlos . . . Ihre Wirtin, Ihre originelle Frau Lehmann ist schuld daran, daß ich Sie bis hierher . . .

Braun. Heiliger Bimbam!

Fräulein Anna. Lebt der immer noch, der heilige Bimbam?

Braun. Das hätt' ich mir aber wirklich nicht im Traume einfallen lassen. Das ist ja wirklich vorzüglich.

Fräulein Anna. Also immer noch vorzüglich. Bei Ihnen ist alles immer noch vorzüglich. Sie haben sich auch gar nicht verändert, wirklich!

Braun. Meinen Sie? Aber legen Sie doch ab, Fräulein.

Fräulein Anna. Nein, nein! – Wo denken Sie hin? Ich wollte nur mal sehn, was Sie machen. Schalkhaft. Nach Ihrem großen Gemälde wollte ich mich hauptsächlich erkundigen. Kann man schon bewundern?

Braun. Kein Schatten, keine Idee, nicht mal die Leinewand dazu, Fräulein Mahr!

Fräulein Anna. Das ist bös, das ist wirklich sehr bös. Und Sie haben mir's so fest versprochen.

Braun. Der Mensch denkt, und der Kutscher lenkt. Aber nochmals, legen Sie ab.

Fräulein Anna. Ich habe Sie nun gesehen, Herr Braun, und hoffentlich . . .

Braun. Nein, nein, Sie müssen hierbleiben.

Fräulein Anna. Hier?

Braun. Ach so? Sie wissen wohl nicht, wo wir sind? Bei Johannes Vockerat. Na, Sie kennen ihn ja wohl zu Genüge aus meinen Erzählungen. Es ist übrigens Taufe heut. Sie kommen gerade zur rechten Zeit.

Fräulein Anna. Ach nein, nein! Das geht ja gar nicht. Ich hab' überhaupt noch heut mehrere Wege in der Stadt zu machen.

Braun. Die Geschäfte sind alle geschlossen.

Fräulein Anna. Das tut nichts, ich hab' nur Bekannte zu besuchen. Aber glauben Sie nur deshalb nicht, daß Sie mich los sind. Wir müssen uns noch mal auf länger sprechen. Ich muß Ihnen noch den Text lesen, Sie Wortbrüchiger. Sie scheinen mir immer noch so ein Kopfmaler . . .

Braun. Erst muß man sich geistig klar sein. Die Pinselei kommt noch lange zurecht.

Fräulein Anna. Na, wer weiß!

Braun. Aber fort dürfen Sie jetzt nicht, hören Sie!

Fräulein Anna. Ach bitte, Herr Braun, lassen Sie mich ruhig . . .

Braun ruft. Hannes!! Hannes!!!

Fräulein Anna. Ich bitte Sie.

Johannes kommt, errötet.

Braun. Erlauben Sie! Mein Freund Johannes Vockerat – Fräulein Anna Mahr.

Fräulein Mahr und Johannes, zu gleicher Zeit. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.

Braun. Denk dir, Hannes: das Fräulein will schon wieder fort.

Johannes. Das würde meiner Frau und uns allen sehr leid tun. Wollen Sie uns nicht den Nachmittag schenken?

Fräulein Anna. Ich weiß wirklich nicht . . . Aber wenn Sie mir sagen, daß ich nicht lästig falle – dann bleibe ich gern.

Johannes. Aber durchaus in keiner Weise. Er hilft ihr ein Jäckchen ausziehen, gibt es Braun. Häng mal das auf, bitte! Ich möchte nur schnell meiner Frau sagen . . . In der Schlafstubentür, ruft hinein. Käthe! Ab ins Schlafzimmer.

Fräulein Anna ordnet vor dem Spiegel ihre Kleidung. Ihr Freund ist sehr liebenswürdig.

Braun. Ein bißchen zu sehr vielleicht.

Fräulein Anna. Ach, wieso?

Braun. Ich scherze ja nur. 'n grundguter Kerl is er. Nur wenn er auf seine Arbeit kommt, da wird er unverdaulich. Passen Sie auf, wenn Sie den Nachmittag hierbleiben, liest er Ihnen unfehlbar seine Arbeit vor.

Fräulein Anna. Was ist's denn für 'ne Arbeit?

Braun. Mir zu gelehrt. Philosophisch-kritisch-psychophysiologisch – was weiß ich?!

Fräulein Anna. Das interessiert mich. Bin ja selbst »der Philosophie beflissen« – so sagt man ja wohl.

Braun. Na, Fräulein! da kommen Sie nicht so bald fort. Wenn Sie für seine Arbeit sich interessieren, das freut ihn ja namenlos.

Johannes, aus dem Schlafzimmer kommend. Braun!

Braun. Und?

Johannes. Geh doch mal zu Käthe hinein. Beruhige sie bißchen. Ein Rippchen stünde zu weit raus beim Jungen.

Braun. Ach was!

Johannes, 's hat gar keine Bedeutung; aber geh nur! Sie macht sich unnütz Sorgen.

Braun. Schön, schön! Geh' schon. Ab ins Schlafzimmer.

Johannes. Meine Frau läßt sich entschuldigen, Fräulein! Sie kommt in einigen Minuten. Sie hat mir aufgetragen, Ihnen inzwischen unsern Garten 'n bißchen zu zeigen. Wenn's Ihnen also gefällig ist.

Fräulein Anna. Oh, sehr gern!

Johannes, lächelnd. Wir haben nämlich ein recht schönes Grundstück – das heißt nur gemietet. Das Wundervolle daran ist der See. Kennen Sie den Müggelsee? Er übergibt ihr den En-tout-cas. Beide im Gespräch auf die Tür der Veranda zu. Ich hasse nämlich die Stadt. Mein Ideal ist ein weiter Park mit einer hohen Mauer ringsherum. Da kann man so ganz ungestört seinen Zielen leben.

Fräulein Anna. Epikur.

Johannes. Ganz recht, ja! Aber ich versichere Sie: ich habe keine andere Möglichkeit . . . Wird Ihnen nicht zu kühl sein?

Fräulein Anna. Oh, nein! Ich bin abgehärtet. Johannes läßt Anna vorangehen und folgt ihr auf die Veranda. Hier verweilen beide einige Sekunden. Man sieht, wie Johannes der Fremden die Aussicht aufweist und erklärt. Endlich verschwinden beide in den Garten.

Braun kommt, gefolgt von Frau Käthe, aus dem Schlafzimmer.

Braun, sich umsehend. Sie sind fort.

Frau Käthe. So?!

Braun. Nein, nein! das mit der Rippe ist was ganz Natürliches.

Frau Käthe. Mir is wirklich ordentlich beklommen zumute.

Braun. Beklommen? Weshalb?

Frau Käthe, lächelnd. Ich hab' direkt Herzklopfen.

Braun. Sie sind eben noch nervös.

Frau Käthe. Ist sie sehr stolz?

Braun. Wer?

Frau Käthe. Das Fräulein mein' ich.

Braun. Die Mahr? Stolz? – Keine Spur.

Frau Käthe. Na, ich seh' nicht ein! Ich würde mir was einbilden, wenn ich . . .

Braun. Keine Spur! Nein, nein! Da unterschätzen Sie sie wirklich.

Frau Käthe. Im Gegenteil! – Ich habe einen furchtbaren Respekt vor ihr.

Braun. I, na! . . . Übrigens, bißchen arrogant ist sie schon manchmal. Das gewöhnt man ihr ab, einfach. Pause.

Frau Käthe. Da hat Hannes einen Bogen liegen lassen vom Manuskript. Versteht sie davon was?

Braun. Das glaub' ich schon.

Frau Käthe. So? Ach! – Unsereiner spielt doch solchen gebildeten Wesen gegenüber eine etwas armselige Rolle.

Braun. A – ach! – Ich weiß auch nicht viel. Ich hab' auch nicht studiert. Aber das kann mir weiter nicht imponieren, das bißchen Schulwissen, was einer hat.

Frau Käthe. Sie spricht wohl sehr glänzend?

Braun. Glänzend? Nee. – Sie spricht halt so . . . wie wir alle sprechen. Ganz gescheit ist sie – na ja! – aber deshalb –

Frau Käthe, lächelnd. In meiner Mädchenzeit hatte ich eine reine Klabatschker. Das ging den ganzen geschlagenen Tag über nichts und wieder nichts. Das habe ich mir nun doch wenigstens abgewöhnt. Aber jetzt wag' ich mir wieder gar nichts mehr. Jetzt fürcht' ich mich überhaupt, 'n Wort zu sprechen. An der Verandatür, ruft hinaus. Muttchen! rechne auf einen mehr!

Frau Vockerat, von der Verandatür aus, wo sie eben wieder den Tisch ordnet. Wer kommt denn?

Frau Käthe. Das Fräulein.

Frau Vockerat. Wer? – Ach so! – Schön! – Gut, Käthe.

Frau Käthe, wieder zu Braun, seufzend. Ach! man ist eben verpfuscht! Man müht sich ja. – Was nutzt das! 's is doch zu spät! Vor einem Rosenstrauß. Sehn Sie mal: das sieht recht schön aus. Noch Rosen! Hält sie Braun zum Riechen hin. Und wie stark sie noch duften!

Braun. Wundervoll!

Frau Käthe stellt den Strauß an seinen Ort. Ist sie jung?

Braun. Wer?

Frau Käthe. Fräulein Mahr.

Braun. Ich weiß nicht mal, wie alt sie ist.

Frau Käthe. Ich bin schon zweiundzwanzig. Ja, ja! 's geht abwärts!

Braun. Stark abwärts. Er lacht.

Frau Käthe. Ach! eine beschränkte Seele bin ich doch!

Frau Vockerat steckt den Kopf durch die Tür.

Frau Vockerat. Kinder! Ich bin so weit! Zieht den Kopf zurück. Ruft draußen von der Veranda in den Garten. Papa!! Papa!!

Herr Vockerat und der Pastor, beide in sehr vergnügter Laune, steigen die Verandatreppen herauf.

Vockerat, an der offenen Tür, mit dem Paletot des Pastors. Na ja! Wollen Sie dann gefälligst eintreten und ablegen. Hahaha! Lacht herzlich.

Pastor Kollin, mit Hut, Schal und Stock in den Händen – zwischen Lachen und Zigarrenrauchen. Hahaha! zu drollig wirklich, hören Sie nur! Pf, pf – zu drollig. Lacht.

Vockerat. Und die Geschichte soll wirklich passiert sein, Herr Pastor! Er bringt den Überzieher nach.

Pastor Kollin. »Herr Neugebauer«, – lacht – pf, pf! »Herr Neugebauer, wünschen Sie vielleicht noch was?« Lacht. Hängt Schal und Hut auf, behält das Käppchen auf dem Kopf.

Vockerat, mitlachend. – »Herr Neugebauer . . .« Zu Braun. 's war nämlich 'n Begräbnis auf dem Lande bei uns, Herr Braun. Und da stehn nun die Leidtragenden um den Sarg, wissen Sie, – den Schreck markierend, schnell – auf einmal rührt sich was. 's mochte einer mit dem Stuhl gerückt haben oder so – 's rührt sich was. Er stellt das Entsetzen dar. Alle fahren zusammen. – Nur der Kirchendiener, hahaha! der faßt sich 'n Herz, der is couragiert. Der geht nu ganz vorsichtig zum Sarge hin, hahaha, und klopft an. Die Stimme des Kirchendieners nachahmend, mit Knöchel auf die Tischplatte klopfend. »Herr Neigebauer! – Herr Neigebauer! winschen Sie vielleicht noch was?« – Wiederholtes lebhaftes Lachen.

Pastor Kollin, lachend. Hören Sie nur! Pf, pf! das ist echt! Ich kenne die Kirchendiener.

Frau Vockerat kommt herein. Na, Papachen, bitte! daß die Suppe nicht kalt wird.

Vockerat. Also, Herr Pastor, ich bitte sehr.

Pastor Kollin. Sie haben mich übertölpelt, hören Sie nur! Er wirft den Zigarrenrest in den Aschbecher und bietet Frau Vockerat den Arm. Frau Vockerat!

Vockerat, im Begriff, seiner Schwiegertochter den Arm zu geben. Aber wo ist denn Johannes?

Frau Vockerat. Und das Fräulein? – Nein, das ist aber nicht hübsch von Johannes. Das ganze schöne Essen wird ja . . .

Vockerat, lustig. Da sehen Sie, Herr Pastor: »Zwischen Lipp und Becherrand . . .«, hahaha!

Pastor Kollin. ». . . schwebt der finstren Mächte Hand«, hahaha!

Vockerat. Das war wohl die Dame. Wir sahen ein Pärchen auf dem See draußen. Nicht wahr, Herr Pastor?

Pastor Kollin. Jawohl, jawohl! Sie werden hinausgerudert sein.

Frau Vockerat. Ach, ich denke, wir fangen an!

Vockerat. Wer nicht kommt zur rechten Zeit . . .

Braun, der von der Veranda gespäht hatte, kommt herein. Sie kommen! Sie kommen!

Vockerat. Das war höchste Zeit.

Johannes und Fräulein Anna treten über die Veranda herein.

Johannes. Kommen wir zu spät?

Vockerat. Gerade noch zurecht.

Johannes. Ich bitte um Entschuldigung, wir hatten . . . Es war so wundervoll auf dem Wasser . . . Gestatten Sie! Vorstellend. Herr Pastor Kollin! Mein Vater! Meine Mutter!

Frau Vockerat. Wir kennen uns schon.

Johannes. Meine Frau – Fräulein Mahr.

Man ordnet sich und begibt sich auf die Veranda. Frau Vockerat am Arme des Pastors, Frau Käthe am Arme des alten Vockerat, Fräulein Mahr geführt von Johannes. Allein und als letzter folgt Braun.

Das Zimmer ist leer. Aus der Schlafstube dringt der leise Gesang der Amme. »Eia popeia, was raschelt im Stroh, 's sind die lieben Gänschen, sie haben keine Schuh.« Das Klirren der Teller und Bestecke von der Veranda her. Plötzlich kommt Käthe herein, um noch etwas aus dem Schubfach des Tisches zu holen. Johannes kommt eilig nach.

Johannes. Aber Käthe – du sollst doch nicht . . . du sollst doch nicht laufen. Laß mich doch . . .

Frau Käthe. Ach, so schwach bin ich doch nicht.

Johannes, Feuer und Flamme. Übrigens, du! Das ist'n ganz wundervolles Geschöpf! Dieses Wissen! Die Selbständigkeit im Urteil! Und wenn man nu bedenkt, so'n Wesen hat kaum so viel, um knapp auszukommen. Du weißt ja, Braun hat uns doch immer erzählt. Eigentlich ist's unsre Pflicht und Schuldigkeit, du, daß wir sie auffordern, 'n paar Wochen hierzubleiben.

Frau Käthe. Wenn du willst.

Johannes. Nee, ich will nicht! Dir ist es viel nötiger als mir, du sollst wollen! Von so einem Wesen kannst du noch sehr viel lernen.

Frau Käthe. Du bist wirklich manchmal häßlich, Hannes.

Johannes. Aber hab' ich denn nicht recht? Du solltest geradezu fieberhaft jede Gelegenheit ergreifen, geistig 'n bißchen weiterzukommen. Du solltest treiben dazu! Du solltest das Fräulein hier festhalten. Ich begreife nicht, wie man so gleichgültig sein kann.

Frau Käthe. Ich bin ja ganz dafür, Hannes.

Johannes. Gar kein bißchen Feuer ist in euch! Kein bißchen Initiative – schrecklich!

Der Pastor schlägt draußen ans Glas.

Frau Käthe. Ach Hannes, geh nur, geh! – Der Pastor toastet. Ich komme gleich! Ich bin ja ganz dafür! Wir können doch nicht beide fort sein, wenn . . .

Johannes. Na sei gut! Sei gut, Käthe!

Er küßt ihr die Tränen aus den Augen und begibt sich eiligst auf die Veranda. Man hört die Stimme des Pastors. Der Schlummergesang der Amme klingt noch immer leise. In Käthe ist etwas vorgegangen. Sobald Johannes fort ist, wird sie gleichsam welk und muß, während sie sich bemüht, auf die Veranda zu kommen, Stützpunkte mit den Händen suchen. Mehrmals leichter Schwindel. Schließlich kann sie nicht weiter und ist genötigt, sich zu setzen. Sie hält nun die Augen starr vor sich hin gerichtet und bewegt lautlos die Lippen. Ihre Lider stehen voll Wasser. Der Pastor ist zu Ende. Es wird angestoßen. Käthe rafft sich zusammen, erhebt sich, schreitet weiter.

 


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