Gerhart Hauptmann
Die Atriden-Tetralogie
Gerhart Hauptmann

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Demetertempel in den Bergen nahe bei Mykene: ein seltsamer Bau von gebrannten Ziegeln. Die Hinterwand enthält sein Hauptportal mit Blick in die Landschaft, die Wand rechts eine kleine Tür zum Raum des Tempelwächters, daneben eine andere in einen kultischen Baderaum – davor eine Bank. An der Rechtswand drei Kultbilder aus Holz: Demeter, Pluton und Kore. Vor jedem Bild ein Altar.

Finsternis einer sternlosen Nacht.

Thestor sitzt auf der Bank. Vor ihm stehen Orest und Pylades, knabenhafte Jünglinge, sowie Elektra.

Thestor zu Orest und Pylades
Geht, es ist tiefe Nacht – ich fühl's –, so tief
wie hier in meinem Haupt. Noch seid ihr sicher,
Geliebte, Unzertrennliche! Wie wohl
tut selbst am Rand der Styx die Heiterkeit!
Ich wußte fast nicht mehr, was Lachen ist:
ihr beiden habt es wieder mich gelehrt.
Leb wohl, Orest, und du, mein Pylades!
Kommt wieder, wenn die Felder abgeerntet!
Dann ist Aigisth, der unsern Herrn sich lügt,
mit deiner Mutter wieder in der Stadt,
nicht mehr im Lusthaus nahe in den Bergen.
Dann seid ihr beiden sichrer hier als jetzt.

Orest
Ja, ich bin heiter trotz der Sorgenlast,
die auf mir liegt. Der mir die Mutter nahm,
Zeus, gab dafür mir einen Pylades,
der mit mir leidet, meine Not versüßt.

Thestor
Ja, Knaben, haltet aneinander fest!
Durch manche schwere Prüfung wirst du gehn,
Orest, doch seh' ich deine Zukunft hell
trotzdem. Auch deine Zukunft, Pylades –
in eurer Liebe: das gilt dir, Elektra.

Elektra und Pylades umarmen sich.

Pylades
Dank für dies Wort, hellsichtiger, edler Greis!
Und du, Geliebte, trockne deine Tränen,
ertrage deiner Mutter kalten Sinn
und ihres Buhlen Hoffart: eines Wichts,
der ganz nur Schmach ist, Land und Landesgötter
nur durch sein Dasein stündlich neu entehrt.

Elektra
Komm wieder, Bruder, und auch du, Geliebter!
Allein dies Wiedersehen gibt mir Kraft,
dem Unerträglichen noch standzuhalten.

Pylades
Sei des gewiß: kein Feld, kein Fluß, kein Meer,
auch nicht Zyklopenmauern und die Wut
der Feinde hindern meinen Schritt zu dir.

Orest
Noch eines, greiser Seher, sage mir:
prahlt Troja wirklich ungebrochen noch
in alter Pracht? Und ist das Griechenheer
wirklich zersprengt? Mein hoher Vater tot,
von einem Sohn des Priamos gefällt?

Thestor
Sei's, wie es sei! Ich warte hier auf ihn,
geduldig hoffend. Hoffend? Schwer, o schwer
ist es, der Götter Sprache zu verstehen.
Frag weiter nicht! Ich bin doch einer nur
von denen, die der Göttervater haßt,
um deretwillen tief im Tartarus,
begraben in der Weißglut seines Sarges,
Prometheus ewig Martern leidet. Fort!

Elektra geleitet Orest und Pylades bis zum Haupteingang, durch den beide verschwinden. Sie selbst bleibt sichtbar und kehrt sogleich zu Thestor zurück.

Elektra
Geh nun auch du zur Ruh'

Thestor
                                            So hilf zuvor
den Opferbrand für Kore noch entzünden.
Du weißt, der Schlaf erbarmt sich meiner nur,
wenn es geschehn ist.

Elektra
                                    O wie gerne tut
dies, Vater, deines treuen Kindes Hand;
es gilt ja Iphianassas Wohl im Hades.

Thestor
So ist's! Nichts Beßres konnte mir geschehen,
als daß in dies entlegene Heiligtum
mich deine Mutter bannte. Hätte sie
nur dies getan, ich küßte dankbar ihr
den Fuß: allein, dein sonstig grauses Tun,
o Klytämnestra, schlägt mir ins Gesicht
und allem ins Gesicht, was fromm und gut ist.

Elektra
Mein Herz nennt Vater dich, doch nenne du
nicht dieses Weib die Mutter deiner Tochter:
verhaßt mir wie sonst nichts mehr in der Welt!

Thestor
Sehr glaublich: sie verfolgt dich! Sie verfolgt
Oresten, deinen Bruder, weil der Gott
euch Augen gab, zu sehen, was geschieht.

Elektra
Hätt' ich nicht dich, um meine Not zu klagen
und auszuweinen Seelenweh und Gram,
ich stürbe oder müßte Taten tun,
gräßlich verrucht und blutig, den Erinnyen
selbst neu und Schauder weckend.

Thestor
                                                        Still, o still!
Oh, gestern hatt' ich einen schweren Traum:
Die Löwen an Mykenes Löwentor
brüllten gewaltig – halb, mir schien, in Wut
und halb im Schmerz, als habe sie ein Pfeil
getroffen.

Elektra
                  Vater, sprich, wie deutest du's?
Ist Argos' Herr, der Löwe von Mykene –
ist Agamemnon, ist mein Vater tot?
die Griechenmacht vor Ilion zerschlagen,
wie es Gerüchte melden überall?
und wird die Phrygerstadt, wird Ilion
ganz Hellas racheschnaubend nun mit Krieg
vernichtend überziehn?

Thestor
                                        Das steht bei Zeus!

Elektra
Oh, wer ist Zeus? Es heißt: der Göttervater –
Vater der Menschen, scheint mir, ist er nicht.
Wir sind dem Gotte ein verfemt Geschlecht,
das sich vergeblich müht, ihm zu gefallen.

Thestor
Kommt solch ein Leumund ihm aus Kindersinn,
der heiliger Demut im Gebet ihm naht,
wie seltsam muß es erst mich Alten treffen,
der wünschen müßte, taub und blind zu sein.
Es düftelt heiliger Rauch, das Opfer loht:
laß herbstlich-frische Trauben drin verzischen!
Vielleicht, daß Kore Iphianassa sich
im Reich der Tiefe dankbar dran erlabt.
Vergib, o Kind, dem Kalchas, meinem Sohn,
den Python zwang, sie in die Nacht zu stoßen! –
Nun geh, und wenn du wiederkehrst, gebrauch
mehr Vorsicht als bisher! Der Buhler weilt
mit Klytämnestra in des Königs Lusthaus,
in Bergen, Wald und Bach hier nahebei:
sie betet, so wie ich, Demeter an,
auch Kore – auch um Iphianassas willen –,
und oft, du weißt es, wird dies Heiligtum,
das sie besonders liebt, von ihr besucht.

Elektra
Sie lügt, hat Iphianassa nie geliebt,
schon darum nicht, weil sie mein Vater liebte,
der König, mehr beinahe als sich selbst.
Allein, sie liebte auch den König nicht,
schon damals. Ich, ich habe ihn geliebt,
und liebt' ich Iphianassa nicht zugleich,
in wilder Eifersucht wär' ich vergangen.
O herrlicher Atrid', o Völkerhirt,
groß und gewaltig wie kein anderer
auf Erden, schön in seiner Kraft und Macht
wie Python, an dem Feuer seiner Brust
vergehend, o glückseliges Los.

Thestor
Halt ein, halt ein! Vielleicht, daß er noch lebt:
dann lenke nicht den Neid der Götter auf ihn nieder.

Elektra
Ja, ja, er lebt! Ich fühle, daß er lebt:
der Tanz verriet es mir, der heilige Rausch,
drin meine Seele, frei vom Körper, weit
und grenzenlos, Verborgenes erkannte.
Glückselige Nacht! Mir grauet vor des Lichts
furchtbarem Anblick zwar, doch auch zugleich
wein' ich vor Freude! Arme Götter, die
nur trocknen Auges sehen und der Tränen
entraten müssen. Vater! Vater! Vater!
O nahes Wiedersehn! O Glück, o Glück!

Eulenruf von außen.

Thestor
Furchtbar ist dieser Eule Ruf! Halt ein!
Denn mich ergreift unselige Bangigkeit.
Fast möcht' ich wünschen: was dein Taumel ahnt,
es möge nie und nimmermehr geschehn.

Elektra
Er kommt, er kommt: der Löwe von Mykene
nahet! Der König steht auf goldnem Wagen,
der Rosse Feuer lenkt Eurymedon,
im Prunke folgt ein langer Heldenzug,
der hoch den Löwen von Mykene ehrt.
Triumph, Triumph!

Thestor
                                Ich höre flüstern – still!

Elektra schaut hinaus
Landfahrer, Vagabunden, schlechtes Volk,
das nach Mykene strebt, um auf dem Markt
Arbeit und Brot zu finden.

Kritolaos ungesehen
                                          Eine Stimme!
Wer spricht dort?

Elektra
                              Ganz das gleiche frag' ich dich.

Kritolaos
Ist hier ein Rasthaus?

Elektra
                                    Ja, für arme Seelen,
die Lindrung suchend um die Mauern zwitschern.

Kritolaos
So könnten wir vielleicht willkommen sein,
denn ähnlich arme Seelen sind auch wir.
Wir litten Schiffbruch, und wir suchen Hilfe.

Elektra
Ihr sprecht in Griechenlauten.

Kritolaos
                                                Warum nicht,
da wir doch Griechen sind.

Elektra
                                            Wo kommt ihr her?

Kritolaos
Poseidons schwarze Flut spie uns ans Land.
Wir bitten beim Kronion: übt das Gastrecht
und sagt uns, wo wir sind!

Thestor zu Elektra
                                            Noch nicht! Noch nicht! –
Ihr seid hier nicht am rechten Ort,
denn dieser Tempel dient der Großen Mutter
und ihrer Tochter, auch dem schwarzen Zeus,
bei dem das Gastrecht nur Verzweiflung sucht.

Ein gewaltiger Bettler in Lumpen wird sichtbar: Agamemnon.

Agamemnon
Dann sind wir doch am rechten Orte, Priester.

Kritolaos
Wir sind durchnäßt, verhungert, müde, krank.
Schenkt uns nur einen armen Bissen Brot
und laßt uns unterm Tempeldache rasten!

Thestor
Das Tempelchen hat selber kaum ein Dach.
Ich bin kein Priester. Nennt man mich hier Wächter,
fast über leere Trümmer bin ich dann
zur Wache eingesetzt.

Agamemnon
                                      Das tut nichts, Mann!
Hier ist ein Goldring, Magd: lauf bis zum nächsten Hof
und kaufe uns dafür ein wenig Brot
und, wenn es sein kann, Milch und Käse ein!
Du aber gönne uns nur so viel Zeit,
bis wir das karge Mahl genossen!

Thestor
                                                        Ich
verletze das Gebot der Königin,
wenn ich das tue, und die Heiligkeit
des Tempels außerdem. Zieht weiter!

Elektra
                                                              Nein!
Ich weiß nicht, was es ist – doch zwingt das Wort
des fremden Mannes mich, ihm zu gehorchen.

Sie nimmt den Ring und geht ab. Nun treten Kritolaos, Agamemnon und Kassandra voll in Erscheinung, ärmlich und elend gekleidet.

Thestor
Seid ihr Vertriebene?

Agamemnon
                                  Wie ihr's nehmen wollt,
der Götter Laune wirbelt uns umher:
das Unglück riß uns aus dem Bett des Glücks,
versenkte unsern Reichtum tief im Meer
und trieb uns ohne Gnade in die Armut.

Thestor
Was trägst du dort im Gürtel?

Agamemnon
                                                Hier? Mein Schwert!

Thestor
Was hast du, Fremder, mit dem Schwert zu tun?

Agamemnon
Nichts mehr, so hoff' ich – doch noch jüngst zu viel.

Thestor
Gewaltig ist dein Wuchs, auch deine Stimme
erinnert an den Allergrößten mich,
der je gelebt.

Agamemnon
                      Wen meinst du?

Thestor
                                                  Der Mykene
zur ersten Stadt in Hellas hat gemacht
und sich vor Trojas Mauern jüngst verblutet:
ihn mein' ich!

Agamemnon
                      So erzählt man's hierzuland?

Thestor
Ja, Fremder, überall – nicht nur in Argos.

Agamemnon
In Argos wären wir?

Thestor
                                  Wißt ihr das nicht?

Agamemnon
Ich weiß nicht, was ich weiß und was ich nicht weiß.
Poseidon, der mich haßt, weil Ilion
jüngst unter meinem erznen Fuß zerbrach,
lähmt mir das Hirn.

Thestor
                                So ist's, ich zweifle nicht;
denn was du da von Troja sagst und dir,
ist Wahnsinn!
    Zu Kassandra
                        Wer ist er?

Kassandra
                                          Oh, Alter, frag nicht!
Ich weiß es nicht und hab' es nie gewußt:
mein Feind? – mein Freund? Nun jedenfalls mein Herr.

Thestor
Wo stieß das Schiff, mit dem ihr scheitertet,
vom Strand? Wo kommt ihr her?

Kassandra
                                                      Ich weiß es nicht.

Thestor
Ich nehme dich für eine Phrygerin:
wie du, so sprechen Phryger unsre Sprache.
Stammst du von Troja?

Kassandra
                                        Troja, was ist das?
Ich habe diesen Namen nie gehört:
mein Auge, halb erblindet, rauchgebeizt,
erinnert sich an einen Haufen Schutt,
der glimmt und qualmt, als Ausgang unsrer Fahrt.

Thestor
Wie kamst du zu dem Griechen, deinem Herrn?

Kassandra
Er las mich auf wie einen schlechten Wegwurf
am Kreuzweg unterm Bilde Hekates,
verhungert und vertiert. Die Göttin liebt
widrige Tiere, Aasverschlinger, und
ich schien ihr wohl für sie der rechte Fraß.

Thestor
Und da erbarmte sich der Grieche, meinst du,
als er vorüberzog?

Kassandra
                                Er zog zum Meer
mit großem Troß, mit gewalt'ger Beute, Wagen
und Pferden, und ein Roßknecht nahm mich auf,
mißbrauchte mich und warf mich in den Schiffsraum.
Dort lag ich, bis das Schiff zu Scheitern ging.
Dann, von der Meereswoge ausgespien,
gab mir die Kere meinen jetzigen Herrn:
ein Leichnam schien er, halb vom nassen Sand
bedeckt, und tiefer grub die Wog' ihn ein
mit jedem Augenblick. Nah war ich selbst
dem Tod. Wollt' ich den Toten zur Gesellschaft?
Ich weiß es nicht, doch kroch ich zu ihm hin.
Sieh da: er schlug die Augen auf! Und nun
dacht' ich nicht mehr an mich, nur noch an ihn.

Elektra kommt wieder mit dem Verlangten. Sie trägt außerdem eine Amphora voll Wein auf dem Scheitel.

Agamemnon
O Segenspenderin der Demeter,
hab Dank!

Thestor
                  Nehmt, Fremde, in der Kammer Platz
hier nebenan! Eilt euch! ich tue mehr
als mir erlaubt, wenn ich euch Rast gewähre,
mißachte meiner Königin Gebot.

Agamemnon
Reich erst die Gabe des Dionysos,
liebwerte Magd, dem durstverzehrten Mann,
dem lechzenden.
    Man gießt aus dem Gefäß in eine große Schale, und Agamemnon trinkt
                              O du glückseliger Trank,
den einst Prometheus von der Göttertafel
entwendet und den Menschen hingeschenkt!
Nur mehr, nur mehr davon: auf daß ich mich
gewappnet wieder auf den Wagen schwinge,
der meinen Lenker trägt, Eurymedon,
vor dem der Rosse Hufe Funken sprühn.
    Er trinkt abermals.

Kritolaos
Wie, Priester, nennt sich deine Königin?

Thestor
Ein Priester bin ich nicht, ein Wächter nur,
so sagt' ich schon. Mein Sohn ist Priester – sei's,
daß er noch lebt –, und Kalchas ist sein Name.

Kritolaos
Was ist? Es bebt die Erde unter mir,
das Dach des Himmels bricht und stürzt zusammen.
Du wärest Thestor, Kalchas' Vater?

Thestor
                                                          Ja,
der und kein andrer bin ich.

Kritolaos
                                            Und so heißt
die Herrin dieses Landes Klytämnestra?

Thestor
Du sagst es! Sie regiert mit wilder Hand.
Ein Schwächling, geilt der Gatte neben ihr.

Kritolaos
Zehn Sommer war ich fern. Vergessen fast
hab' ich, was Frieden ist und Menschenbrauch.
Der Zeit vergaß ich fast: was ist die Zeit,
die hier sich meiner wiederum bemächtigt?
So wisse, Thestor, was du noch nicht weißt,
so scheint mir: hier steht Agamemnon, er,
der mächtige Besieger Ilions,
der aus den Stürmen eines Blutmeers heimkehrt
in eines toten Weihers laue Flut.

Thestor
Es wankt der Boden nun auch unter mir.
Klär du mich auf!

Kritolaos
                            Thestor, ich will es tun.
Vor allem aber blicke näher zu:
unschwer erkennst du dann wohl Kritolaos.

Thestor
Du bist es, ja, beim Zeus! Wo kommst du her?

Kritolaos
Vom Meeresstrande, wo wir Schiffbruch litten.

Thestor
Ihr raubt mir die Besinnung.

Kritolaos
                                              Wie's auch sei,
zwar nackt und bloß vom Meere ausgeworfen,
hat Tyche uns zuletzt doch wohl geführt
zu unserm Ziele – in die alte Heimat.

Thestor
Die alte Heimat? Ach, sie ist nicht mehr,
und was euch hier umgibt, ist nur ihr Leichnam.
Weh euch, daß ihr als Bettler wiederkehrt:
die Ohnmacht kann das Tote nicht erwecken.

Agamemnon zu Elektra
Du bist ein Landkind, und doch muß ich dich
betrachten und betrachten: was denn zieht
mich an dabei und stößt mich ab zugleich
wie Graun des Hades? Sage deinen Namen!
Nein, sag ihn nicht. Wie sollt' ich es ertragen,
wär' dieser Name der gefürchtete
vor allen. Edel bist du von Gestalt,
voll Anmut, und du hast das goldne Haar
der Atreuskinder, das verfluchte Blond:
es lügt den Segen Demeters uns vor,
das Korn. Dein Antlitz aber ist voll Leid –
was sag' ich: Qual. Persephoneiens Schreck
und Gram, als Aïdes das Kind geraubt,
der schwarze Zeus, und seine Sonne dann,
die schwarze, sie zum erstenmal beschien,
liegt auf dir – schlimmrer Schrecken, ärgerer Gram!
Und Schreck und Gram befällt mich mehr und mehr
aus deinem Anblick. Meine Seele ist
dawider schutzlos. Schutzlos ist mein Herz,
als wärest du mein allerliebstes Kind,
von blinden Schicksalsmächten mir geraubt.

Elektra
Gewohnt an Schemen, die mich nachts umlagern,
erscheinst auch du mir, Fremder, schemenhaft.
Dein Antlitz wechselt: eben noch verhärmt,
erdfahl und greisenhaft – im Augenblick
scheint mir, es zucken des Kroniden Brauen
im Blitze unter deiner mächtigen Stirn.
Wer bist du? Einen Namen wüßt' ich nur,
der dir in solchem Nu gebühren könnte,
der, höher mir und heiliger als jener
des Zeus, nie über meine Lippen kommt.
Doch dann: du bist ein Hilfesuchender,
ein Bettler!

Agamemnon
Ja, du sprichst die Wahrheit, Magd.
Und mit mir ist ein armes Bettelweib,
tagblind, der Nacht gewohnt und sie durchdringend.
Man griff es aus dem Schutt der Phrygerstadt,
verkohlten Haares, mit verbrannter Seele.
Der Fluch des Ares hat uns eng vermählt.
Wie hieß der Mann, des Namen du nicht aussprichst?

Elektra
Verlange, Fremder, nichts Unmögliches!

Agamemnon
So sag uns, Bauernmädchen, wo wir sind!

Elektra
In einem Lande, das verwaist ist, seid ihr:
ihm fehlt der Herr. Ruchlose Buhlschaft nistet
heut im Palaste des verschollnen Königs.
Helenens Schwester, die der Göttervater
mit Leda zeugte, ahmt Helenen nach
in scheußlichem Verrat an ihrem Gatten.

Agamemnon
Wie heißt ihr Gatte?

Elektra
                                  König Agamemnon!

Agamemnon
Und der Helenens?

Elektra
                                  König Menelaos
von Sparta.

Agamemnon
                    Und das Ziel der tausend Schiffe?

Elektra
War Troja.

Agamemnon
                  Agamemnon, sagst du, ist
verschollen?

Elektra
                        Ja, er ist nicht heimgekehrt.

Agamemnon
Und wißt ihr nichts von Troja und von ihm?

Elektra
Gerüchte – und nichts weiter.

Agamemnon
                                                Hat euch niemand
gesagt, daß Troja fiel und heute nur
ein Haufen noch von grauer Asche ist,
in den vermischt; vom Wind umhergestäubt,
das prunkende Geschlecht des Priamos
gespenstert?!

Elektra
                        Also ist es wahr,
was Klytämnestra sich zu glauben sträubt?
Sie hat ein Phrygerherz, und mit ihm steht
sie kämpfend auf der Seite der Trojaner.

Agamemnon
Nun ja, ihr Gatte ging, entzweit mit ihr,
samt der Achäer Flottenmacht in See.
Sie hatte gute Gründe, ihm zu zürnen –
und mehr als das, doch freilich nur als Weib,
das nicht des Schlachtengottes Zwang begreift,
noch weniger die Faust der Schicksalsmächte,
die erzen packt und keine Sprüche schreibt.

Elektra
Wo aber wäre Agamemnon jetzt,
wenn du die Wahrheit sagst um Ilion,
und hat er dessen Fall wohl überlebt?

Agamemnon
Er war's, der es mit erznem Fuß zertrat.

Elektra
Mit erzner Sohle kehr' er denn zurück,
die Schlange im Palaste zu zertreten,
die unsres Herrschers heiligen Namen täglich
mit giftigem Biß zerreißt.

Agamemnon
                                        Des Meeres Flut,
allwogend, nenn' ich nackten Schicksals Macht:
da gibt es selbst für Sieger kein Entrinnen.
Ihr hat sich Menelaos anvertraut,
Aias, Odysseus und auch Agamemnon,
mit allem goldnen Raub der Phrygerstadt.
Doch was die grause Schicksalsflut ihm ließ,
die heulend-tückische, das weiß der Gott:
Zeus nenn' ich ihn, wer immer er auch sein mag sonst.

Elektra
So lebte Menelaos nach dem Fall
der Phrygerhochburg?

Agamemnon
                                    Ja! Samt Helena
ging er an Bord, mit ihr versöhnt, zur Heimfahrt.

Elektra
Allein, auch er ist noch nicht angelangt
im Heimathafen Spartas. Also kämpfen
er wie sein Bruder Agamemnon noch
auf schwarzer Schicksalswoge. Mögen sie,
geführt von guten Göttern, glücklich landen!

Agamemnon zu Kassandra
Schicksalsgenossin, hörst du dies Geraun
von Griechenzungen? Heilige Seherin,
du, die den Griechenlaut nur halb versteht:
nun sieh nicht nur, zu hören auch tut not.
Die Schicksalsbrandung, die drei Schiffe uns
zerschlug und allen Reichtum in sich schlang,
uns aber wie Gespei ans apische
Gefelse auswarf, meiner Heimat Strand,
scheint ungesättigt noch nach mir zu gieren.
Was zeigt dir dieses alles, und was hörst du?

Kassandra
Erlaß die Antwort mir, o Agamemnon:
erst Völkerhirt, dann Ares' rechte Hand,
Verderbenbringer über Hirt und Herde.
Gewöhnen wir uns an des Hades Nacht,
die fürder keinen Morgen mehr erwartet!

Agamemnon
Gib mir die Hand! Wir fanden uns, die fliegenden
Hunde des Zeus umkreisten uns auf See:
sie bellten Unheil. Rauchend schwarzen Qualm
ausstoßend gleichsam, glotzte über uns
das Grubenlicht der Artemis: sie gab
mich preis, verdammend, was sie einst befahl,
und Ate sah ich hinter mir am Steuer
sich regen gnadenlos, bis endlich dann
krachend zersplitterte des Seglers Wand.
Und doch hat Tyche mich mit deinem Blick,
mit deinen Wangen, deiner Brust berührt,
du Tochter Trojas. Beide wollen wir,
furchtlos vereint, in Charons Nachen steigen.

Elektra
Wer seid ihr? Was ihr sprecht, es klingt nicht wie
von Menschenzungen. Elend wie ihr seid,
von Unrat starrend und im Frost erbebend,
umgibt euch doch der Hauch aus einer Welt,
die über unsre finster sich erhebt
und fremd und groß. Hört mich! Nun will ich reden,
gleichviel ob es den Tod mir bringt, ob nicht.

Kassandra
Sprich, Mägdlein! So begann auch ich:
hellsehend ward ich an Apollons Altar,
der Lichtgott trieb dafür mich in den Tod.

Elektra
Nicht bin ich eine Magd, wie ihr mich nanntet:
ich bin des Königs Agamemnon Tochter,
die Tochter Klytämnestras und die Schwester
Iphianassas, die auf Gottes Altar
zu Aulis starb, durch meines Vaters Stahl.

Agamemnon
So fliehe mich um deinetwillen und
um meinetwillen; denn du siehst in mir
den Tochtermörder, der sich selbst verflucht
und in das eigene Herz den Stahl vergrub:
denn nur mit dieser Folter kann er leben.
Erbarmen! Denn du zeigst mein Opfer mir
leibhaftig und leibhaftig meine Blutschuld,
machst sie unsterblich und verwehrst den Tod
grausam so ihr wie mir.

Thestor
                                        Verbergt euch! Kommt,
ich schließ' euch in die Kammer, denn ich höre
ein Räderrollen draußen durch die Nacht.
Ich fürchte fast, es ist die Königin
mit ihren Frauen, die, wie oft sie tut,
kommt, um Persephoneien anzubeten.
Weh uns! Löst auf die große Wirrnis, Götter!
Dies ist kein Tag wie andre: sternenklar
ist draußen zwar die Nacht, allein, Gewölk
der Schicksalsgötter macht uns fast ersticken.

Alle gehen in die Kammer ab. Der Raum ist leer. Man hört einen gewaltigen Eulenruf. Nach einigen Augenblicken erscheint, vom Wagen gestiegen, Klytämnestra, gefolgt von Dienerinnen.

Klytämnestra
Zurück, ihr Weibsvolk! Schwatzt nicht: wehe jeder,
die meine Andacht stört! Aigisth, der König,
erscheint in kurzem. Er versprach es mir,
um mir den Heimweg zu verkürzen. Geht!
    Die Dienerinnen verschwinden. Klytämnestra ruft
Thestor!

Thestor kommt.

Thestor
              Zu deinem Dienste, Königin!

Klytämnestra
Zu ungewohnter Stunde siehst du mich,
allein, unwiderstehlich trieb's mich her
an Kores Altar, meines Kindes Seele
der Schattenkönigin ans Herz zu legen.
Zum Opfer bring' ich ihr ein schwarzes Lamm.
O Iphianassa, schuldlos reine Jungfrau!
   Sie kniet vor Kores Altar.

Thestor
Vergib: denn schlafbefangen bin ich noch.
Du sagtest . . . was? und bringst? erkläre dich!

Klytämnestra
Ein schwarzes Lamm.

Thestor
                                    Ein schwarzes Lamm, jawohl
und mitten in der Nacht? Warum das, Herrin?

Klytämnestra
Um es für Iphianassas Heil im Hades
dem schwarzen Zeus und Koren zu verbrennen.

Thestor
Und dies so jählings, plötzlich?

Klytämnestra
                                                    Aus dem Schlaf
riß mich ein böser, fürchterlicher Traum.

Thestor
Ein Traum?

Klytämnestra
                    Ein Traum!

Thestor
                                        Und was, o Königin,
hat dir geträumt?

Klytämnestra
                            Ein Abgrund riß sich auf,
und ihm enthob sich starr ein blutiger Schatten,
ein Mensch, ein Mann, gewappnet, riesengroß:
aus einer Wunde seines Hauptes ganz
von schwarzem Blute überströmt, so stand
er neben meinem Bette aufgerichtet,
bewegungslos. Ich schrie! Aigisthos kam,
er sprach mir zu, doch niemand konnte mehr
mir Angst und Grauen lindern. Alles trieb
unwiderstehlich mich hierher, allwo
die Schmerzensmutter Erde trauernd wohnt,
zur Seite die versunkene Hadesbraut,
die von den Göttern ihr geraubte Tochter.

Thestor
Wie aber deutest du dir deinen Traum?

Klytämnestra
Hast du wie ich von dem Gerücht gehört,
wonach die Griechen über Troja siegten
und Agamemnon lebt?

Thestor
                                      Ja, Herrin!

Klytämnestra
                                                          Nun –
und wenn dies blutige Raubtier wiederkehrt,
dies Ungeheuer menschlicher Gestalt:
was dann?

Thestor
Nennst du den König dieses Landes so,
den Hellas fast wie einen Gott verehrt
und der zudem dein Gatte ist?

Klytämnestra
                                                  Verflucht
der grause Tag, der in sein Bett mich riß
und mich zur Mutter seiner Kinder machte,
die ich gebar, damit er sie erschlug.

Thestor
Elektra lebt und ebenso Orest.
Apollons Spruch entriß euch Iphianassa,
und, Herrin, wahrlich weniger nicht als du
hat das holdselige Kind dein Herr geliebt.

Klytämnestra
Mein Herr! Mein Gatte! Leere Worte sprichst du –
verfaulte Hülsen sind es, wirf sie fort!
Als Iphianassa auf dem Altar starb,
damals in Aulis, starb der Mörder mit ihr:
wer setzt wohl einen Leichnam sich zum Herrn
und legt sich in das Grab zu einem Gatten?
Doch gib mir einen Trunk! Es glüht in mir
ein Fieber bald, bald übermannt mich Frost,
und ohne meinen Willen schlagen mir
die Zähne aufeinander.

Thestor
                                      Steig, o Herrin,
ins Badgewölbe, nimm ein Bad, so heiß
es aus der Erde quillt: es macht gesund.

Klytämnestra
Ich will's. Schickt meine Dienerin!

Thestor
                                                        So komm!

Er führt sie ins Badgewölbe. Geht dann ab und geleitet eine ältere Dienerin herein, die ein schwarzes Lamm führt. Er nimmt ihr den Strick des Lammes ab und geleitet sie bis zum Eingang des Badgewölbes, in dem sie verschwindet. Er, in Begleitung des Lammes, ist nun allein im Tempelraum.

Aus der Kammer, in der auch Agamemnon, Kritolaos und Kassandra verschwunden sind, kommt hastig Elektra und stürzt flehend am Altar nieder.

Elektra
Ich bin ein armes, ein verlaßnes Kind.
Ihr Götter: so erbarmt euch über mich,
begrabt mich nicht in meines Hauses Schicksal,
das wie ein Berggefelse eben jetzt
herniederbrechen will auf mich!
    Zu Thestor
                                                    Er ist's:
der Bettler ist mein Vater; Kritolaos,
er, der als Kind mich auf den Armen trug,
ist mit ihm und ein Weib, ein fremdes Weib.

Thestor
Und dort im Quellbad ist die Königin,
ist deine Mutter, wie's ihr oft beliebt
in bittren Nächten, wo sie schlaflos ist.

Elektra
Schaff sie hinweg: sie wird den Vater morden.

Thestor
Und weshalb meinst du das?

Elektra
                                                Es ist gewiß!

Thestor
Komm zu dir, fasse ruhig ins Gesicht,
was nun geschehn muß!

Elektra
                                          Alles muß geschehn,
um den Gewaltigen, der jetzt hilflos scheint,
vor Mutters Tücke, Mutters Wut zu retten.

Thestor
Sie hat den Gatten schon im Traum gesehn:
blutüberströmt.

Elektra
                          So ist er bald, wenn wir
nicht Hilfe schaffen.

Thestor
                                  Und was willst du tun?

Elektra
So schnell mich meine Füße tragen, Thestor,
eil' ich zur Stadt und mache alles kund.
Den Rat der Greise rufe ich zusammen,
das Volk, die Wache, alles im Palast,
und sage: unser Herr ist heimgekehrt,
der siegumstrahlte Herrscher Agamemnon!

Thestor
Und wenn es dennoch ein Betrüger ist?

Elektra
Niemals, niemals! Mein Blut hat ihn erkannt.

Thestor
So tue, Tantalide, was du mußt!

Elektra eilt davon. Aus der Kammer kommen Agamemnon, Kritolaos und Kassandra.

Agamemnon
Wer, Thestor, sage, lief so schnell davon?

Thestor
Die du nun kennst: Elektra.

Agamemnon
                                            Und warum das?

Thestor
Weil du umgeben von Gefahren bist,
die sie mit kindlich wilder Glut bekämpft.

Agamemnon
Zeig mir die Orte, wo den Menschen nicht
Gefahr umlauert! – Und dies schwarze Lamm?
Sag es mir – du, der meinen ärgsten Feind
erzeugt hat –, was das schwarze Lamm bedeutet!

Thestor
Es ist ein Opferlamm.

Agamemnon
                                    Schweig still, schweig still!
Auch du hast mit dem blutigen Gottesdienst
zu tun, gleichwie dein fürchterlicher Sohn
Kalchas, den Nemesis dazu verurteilt.

Thestor
Weißt du von ihm mir etwas zu berichten?

Agamemnon
Ja, er ist tot. Er hat sich selbst entleibt.

Thestor
Ich sollte zittern, sollte weinen, schrein:
seltsam, von alledem fällt nichts mich an.
Er ist nun bei der Kore, bei den andern
im Hades, wo wir alle uns nun bald
in Nacht des ewigen Friedens wiederfinden.

Agamemnon
Ich aber habe vorher noch zu tun.

Thestor
Vielleicht mehr zu erleiden.

Agamemnon
                                            Tun und leiden:
im Reich der Nemesis ist beides eins.
Langsam erkenn' ich nun auch, wo ich bin:
in der Erdmutter Haus, das Pluton teilt
und Kore, ihre Tochter, Plutons Weib.
Oft war ich hier als Knabe und als Jüngling,
voll Andacht, kindlich fromm. Oh, damals glich
dem buntbeschwingten Falter meine Seele,
die selig-überselig ein- und ausflog
und sich aus jeder Blüte Nektar sog!
In meiner Glieder jugendlichem Glanz
vermählte ich der Tempelnymphe mich
im Quell, der heiß und heilsam sprudelnd wogt –
ach, oft und oft –, und heiliger Kraft erfüllt
entließ sie mich. Heut ist ringsum ein Wall,
den ich im Blute fühle mehr als sehe,
von Eumeniden, die der Hadesstollen,
der allzunahe, auswarf. Heute bin
ich hier, ich spür' es, allzu tief gefangen.

Thestor
Dies ist der Sinn nicht, dessen wir bedürfen,
o Herr und König! Und du selbst bedarfst,
wenn je, der Kraft, die Troja niederwarf.
Nicht von den Göttern noch von Menschen ward
der Eumeniden Meute je geliebt:
wer ihnen trotzt, wird im Olymp gelobt.

Agamemnon
Lehr mich die Götter kennen, armer Greis!
Versöhnt ist Artemis und nicht versöhnt,
trotzdem ich ihr mein süßes Kind geopfert.
Ihr zäher Weiberdünkel blieb gereizt,
weil ich mich unbedachten Worts einmal
gerühmt der gleichen Jagdkunst als sie selbst.
Doch reich die Gabe mir des Bromios!
Und immer wieder, denn der Traube Saft
erlöst vom Harme, gibt uns Kraft und Mut,
macht fühllos für den Schmerz und tilgt das Leiden;
selbst Göttern stillt der Gottessohn den Durst.

Thestor reicht ihm den Weinkrug, und er trinkt tief. Klytämnestra kommt aus dem Quellraum.

Klytämnestra
Was geht hier vor?

Thestor
                                Ein Hilfeflehender,
Unglückverfolgter, Herrin, wird gelabt.

Klytämnestra
Wie fand er dies versteckte Heiligtum?

Thestor
Als Jüngling schon hat es der Mann gekannt.

Klytämnestra
Mehr Licht, zünd eine Fackel! Mag sich das
gemeine Volk am Tag den Göttern nahen,
nicht in der finstren Nacht, noch weniger
zur Zeit, die sich der Herrscher vorbehielt.

Die Fackel ist entzündet. Klytämnestra ergreift sie leidenschaftlich und hält sie Agamemnon vor das Angesicht. Im erregten Betrachten zittert ihre Hand, es entfällt ihr die Fackel und verlischt.

Thestor, bist du noch hier?

Thestor
                                            Dir nahe, Herrin!
Gleich steck' ich dir die Fackel neu in Brand.

Klytämnestra
Nein, tu es nicht: die Flamme blendet mich.
Ich möchte fort. Geh, rufe meine Mägde.
Nein, laß! Noch nicht! Woher des Weges kommt er?

Thestor
Von Ilion, das er in Trümmer warf.

Klytämnestra
Du Narr! Der Wahnsinn herrscht in dieser Nacht,
so scheint mir. Führ den Bettler in die Schlafstatt!

Thestor
Ich wag' es nicht: es lebt ein Eigensinn
in seinem mächtigen Haupte, den ich fürchte.

Klytämnestra
Landstreicher sind gefährlich überall;
die Wagenlenker sollen ihn bewachen.

Die Fackel ist wieder entzündet. Klytämnestra betrachtet abermals Agamemnon, sie weicht voll Grauen zurück und faßt sich nach der Stirn.

Ist ein thessalisch Weib wohl hierherum,
das Zauber brütet, mir den Geist verwirrt
und mit Gespenstern meine Seele knechtet?

Uhuruf um den Tempel.

Thestor
O Königin, ich zittre so wie du!
Oft hab' ich mich im gleichen Sinn gefragt,
ob deine frühverstorbne Tochter nicht
Macht habe, als Empusa uns zu ängsten.

Agamemnon
Sie hat die Macht, o Greis, und ängstet mich,
seit ich sie auf dem Altar hingeopfert.

Klytämnestra
Verschwinde, fürchterlicher Schemen; denn
unmöglich ist's, das Unausdenkliche,
die freche Lüge ekler Zauberei
in Wahrheit zu verwandeln.

Agamemnon
                                            Königin,
komm zu dir! Freilich spür' ich wohl,
daß Wahrheit mehr des Grauens dir bereitet
als der Empusa schlimme Zauberei,
die vogelartig um den Tempel jammert
und Blut verlangt. Trau deinen Augen: denn
der vor dir steht, ist niemand anders als
dein Gatte Agamemnon.

Klytämnestra
                                        Aus dem Grabe
emporgestiegen, durch den Götterwillen
Persephoneiens hier in ihrem Tempel,
darein der Hades mündet?

Agamemnon
                                            Keineswegs:
in eines Königs voller Macht und Kraft,
Mykenes Herr, dein langvermißter Gatte.

Klytämnestra
Pfui, Wegwurf, Auswurf, Bettler, wagst du das
dem widerlichen Atem zu vertrauen,
der deinem ekelhaften Schlund entströmt?
Wahr möcht' es etwa sein, sofern Erinnyen
des Kindesmörders fluchbeladenes Haupt
mit widerlichem Grind gezeichnet hätten:
dann warst du einst, was längst du nicht mehr bist,
dann ist das Tempelhaus, das du betrittst,
entehrt, entweiht durch deine Gegenwart.
Der Trank, den du geschlürft, ist weggeschüttet,
Unrat zu Unrat.

Agamemnon
                          Führe mich ins Bad,
das hier mit heiliger Woge kochend quillt!
Du wirst in mir den König wiedersehn
sogleich, vom Schmutz der Pilgerschaft gereinigt.
Zwar Gold und Purpur meiner Beute liegt
unwiederbringlich auf dem Grund des Meeres,
doch andrer Reichtum wartet meines Winks
im Phrygerland.

Klytämnestra
                          Du lügst! Du bist der nicht,
der du zu sein mit dreistem Worte lügst.
Und wärest du's, du bliebest trotzdem unrein:
kein Reiner hat Gemeinschaft mehr mit dir.
Der Tempel stößt dich aus, das heilige Bad
wird niemand dir bereiten, und Bewirtung
gibt deinen Wirt der Götterrache preis.

Agamemnon
Dank dir für deinen heimatlichen Gruß,
holdseliges, treues Weib! Der Herrscher aller
ist freud- und freundlos, wie mir längst bekannt.
Doch seines Elends Tiefe, die erst nun
mit ihrem letzten Jammer sich erschließt,
macht das bis jetzt Erlittene zur Lust.
Doch wisse: sturzbachartiges Geplärr
wie deines, Weib, es hat mich nie gebeugt.
Hör mein Gebot und rüste mir das Bad!

Klytämnestra
Ich will das Bad dir rüsten.

Kritolaos kommt, hinter ihm Kassandra.

Kritolaos
                                            Königin,
ein unsichtbarer Wirbel macht uns hilflos,
doch komme zu dir: siegreich ist das Gute!

Thestor
Ja, siegreich ist das Gute, Königin.
Groß ist der Sünde Last, die du begingst,
als du Aigisth zu deinem Herrn erhobst
und ihn zum König setztest über Argos,
darin das erste Volk der Erde wohnt:
hier steht sein Herr – es duldet keinen andren.

Klytämnestra
Sprichst du von dulden, armer alter Mann?
In meiner Hand allein ist alle Macht,
wer sich dawiderwendet, wird es büßen.
Wer ist das Weib, das dort ihr dunkles Haupt
fast bis zur Decke hebt, des weißes Antlitz,
so weiß wie Milch, mir ekles Graun erregt?

Kassandra
Kassandra hieß ich einst als Priams Tochter.
Heut bin ich eine Sklavin, weiter nichts.

Klytämnestra
Du lügst! Des Gottgeschlagnen Kebse bist du! –
Du hast dir Sehergaben angemaßt,
so heißt's, in Troja.

Kassandra
                                Nun, trotz alledem:
ich sehe heute dich zum erstenmal.
Und niemals sah ich etwas, das wie du
mir Grauen einflößt.

Klytämnestra
                                Und so fürchte mich!

Kassandra
Nein! Deine Tochter Iphianassa lebt.
In dir tobt falscher Rachedurst sich aus,
in kurzem blutig und unwiderruflich.
Der Götter liebste Waffe gegen uns,
die Menschen, ist, mit Blindheit uns zu schlagen,
so daß wir dumpf hinstolpern in die Nacht.

Klytämnestra
Du irrst! Ich sehe alles, alles wohl –
und werde meines Landes Frieden wahren,
entschlossen, wer sein Feind auch immer ist.

Kassandra
Ein Gatte fällt durch seiner Gattin Hand,
ich aber durch das Messer ihres Buhlen!

Klytämnestra
Du wagst es, nennst den König dieses Landes,
Aigisthos, meinen Gatten, einen Buhlen?

Kassandra
Der ärgsten einer und der häßlichste
von allen ist der feige Wicht Aigisth.

Klytämnestra
Mir fehlt die Waffe, dich zu töten, jetzt;
doch will ich dich erwürgen!
    Sie fällt Kassandra an.

Kassandra
                                              Blindes Weib,
wahnwitzige Mörderin des Agamemnon:
schon seh' ich dich erdrückt von dieser Blutschuld.
Doch aller Taten fürchterlichste, die
noch je ein Mensch getan, erweckt die deine:
den Muttermord! Du fällst durch deinen Sohn.

Agamemnon
Wann endet dieses Weibsgewäsch? Genug!
Doch sage mir: Was blinkt in deiner Hand?

Klytämnestra die ein Opferbeil ergriffen hat
Ein schwarzes Lamm zu opfern bin ich hier
zum Wohle meiner hingewürgten Tochter,
und dazu dienen soll das Doppelbeil.
Doch du – wer gibt ein Recht dir, dies zu fragen,
Betrüger, der für meinen Herrn sich ausgibt?
Der aber starb vor Troja, wie man weiß,
verdienten Tod durch Priams Sohn Aeneas.

Agamemnon
Ich fühle wohl, du weißt es, wer ich bin.
Und wenn du es nicht wußtest, wiß es jetzt:
Ich bin der Herr des Hauses, das du dein nennst,
der Herr von Argos bin ich außerdem,
zu meinen Füßen liegt ganz Griechenland
und Phrygien dazu, das ich zertrat.
Und gibt es den Aigisth, von dem ihr zetert,
so stirbt er bald durch mich schmachvollen Tod.

Klytämnestra stürzt vor ihm nieder, umarmt seine Knie
Ja, jetzt erkenn' ich den gewaltigen
Titanen, der die Götter zittern macht,
der knirschend nur in Wut sich ihnen beugt
und nur den Übermächten sich gebeugt hat,
als Delphis Python seinen Spruch gesagt.
Um Gnade bitt' ich dich: vergib der Gattin,
die selig neu sich deinem Bette schenkt.
Unwürdige Hüllen streif ich nun dir ab
im heiligen Bade; demutvoller Ehrfurcht
wasch' ich dich rein, so daß vergoßnes Blut,
wie dir's des Ares Handwerk abgezwungen,
vergessen oder nur noch Märchen ist.
O göttlich-hoher Held, laß dich herab,
erneure mit mir der Vermählung Stunde,
von deren Glück kein andrer je gewußt.
Dein bin ich, dein, nur dein! – Ich höre Lärm:
des angestammten Herrschers Wiederkehr
ward ruchbar. Morgendämmer überall.
Mykenes Volk strömt jauchzend bald heran,
in Wonne rasend, unsern Herrn zu grüßen.
O übermenschlich-selige Wiederkehr!
Den Königsmantel bringt, den goldnen Stirnreif!
Vom Tempel bis zum Löwentore deckt
mit golddurchwirkten Teppichen die Straße!
Er, der in Staub und Blutgetümmel sich
hindurchgekämpft zehn harte Sommer lang,
soll jetzt auf weicher Wolle seiner Herden
zärtlich hinschreiten. Nein, er ist nicht tot:
er lebt, er lebt! O jubelt, jubelt mit mir!
Du lang verlaßnes, führerloses Volk:
jauchzt, da nun endlich euer Herr zurückgekehrt!
    Es ist heller geworden. Man hört ein fernes Jubeln.
Nun aber schweigt und denkt des heiligen Orts,
drin die Erdmutter waltet, Pluton und
Kore: denn nun beginnt das heilige Bad,
das jeden, dem die Gnade es gewährt,
von allem reinigt, was nicht göttlich ist.

Sie geleitet Agamemnon durch die Tür, die zum heiligen Bade führt, und verschwindet mit ihm dahinter. Eine tiefe Stille ist eingetreten. Thestor und Kritolaos verharren in andächtiger Haltung. Kassandra steht in sich gekehrt.

Kritolaos
Was wird geschehn, o Phrygerin? Du stehst
wie eine Tote vor uns.

Kassandra
                                    Und ich bin's!

Thestor
Gleichwie ein Weltbrand überflutet uns
dies alles! Was ist gut daran, was schlimm?
Wir wissen's nicht. Allein du, Grause, scheinst
mir ungerührt und kalt.

Kassandra
                                      Wie mir's gebührt:
da ich am Eingang nicht des Totenreichs,
nein, allbereits in seinem Innern bin.

Aigisth stürmt herein
Was hat sich hier begeben, und wo ist
die Königin?

Kassandra
                      Bei ihrem Gatten.

Aigisth
                                                    Welches Wort
zu sprechen, Weibsbild, hast du dir erlaubt?
Weißt du nicht, daß man stirbt an solchen Worten:
so lern es jetzt!

Er ersticht sie. Sie stirbt lautlos.

Thestor
Du bist im Zug: so frage denn auch mich!

Aigisth
Wo ist die Königin?

Thestor
                                Faß dich in Geduld!
die wilde Menschenlöwin ist dabei,
den Löwen von Mykene zu erwürgen!

Geschrei Agamemnons aus dem Baderaum.

Agamemnons Stimme
O weh! Mich traf ein Beil in Mörderhand!

Aigisth
Dies war ein Hilferuf . . .

Agamemnons Stimme
                                      Zum zweitenmal
trifft mich verfluchte, mörderische Faust!
O weh! Mein Ende! Agamemnon stirbt!

Thestor und Kritolaos fliehen entsetzt. Aigisth steht wie versteint, Klytämnestra kommt mit gelöstem Haar in einem fast besinnungslosen Zustand.

Aigisth
Was gibt's? Was ist geschehn?

Klytämnestra
                                                  Frag nicht, Aigisth!
Mit Menschenlauten ist es nicht zu sagen.
Es starb ein Mann! Durch wen? Ich weiß es nicht.

Aigisth
Wer war der Mann?

Klytämnestra
                                  Frag nicht! Ich weiß es nicht.

Aigisth
So laß mich selber sehn.

Klytämnestra
                                        Vergeblich ist's!
Du siehst blutüberströmtes Fleisch, sonst nichts.
Der eben noch ein Mensch war, ist es nicht mehr:
du siehst nur ekles, bleiches, blutiges Fleisch.
Hilf mir! Es würgt mich! Meine Eingeweide
erbrechen sich herauf durch meinen Hals.
Ich schlug! Schlug mit der Axt! Schlug blindlings, nicht,
wie man im Wald den Baum fällt, mit der Schneide,
nein: so, wie man dem Stier die Stirn zerschlägt.
O dieser Laut, der gräßliche, als ihm
das Haupt zerbrach, dem Halbgott! Anders nicht
starb er, als wie gemeines Vieh verröchelt!
Durch meine Hand? Doch nein: er lebt, und ich
bin tot. Der heilige Quell ist rot von Blut:
ist Blut! Sein Blut? Mein Blut? wer weiß . . .

Aigisth
Wach auf! Fast weiß ich nicht mehr, wer du bist
ein Weib, ein fremdes, oder Klytämnestra?
Wo ist der Schurke, der dich überfiel?
Noch immer hält das Räuberwesen sich
in unsren Bergen – doch nun rott' ich's aus.
    Ein furchtbarer Schrei ertönt; es ist der Todesschrei Agamemnons.
Was hat dies zu bedeuten?

Klytämnestra
                                              Daß ein Mann
am Strand der Styx, vom Höllenhund gepackt,
nach Charons Rettungsschiff um Hilfe brüllt.
Still, still! Nun hilf mir, wasch mich rein vom Blut!
Was er an meiner Tochter Iphianassa
getan: nun tat ich's ihm! Es ist geschehn.
Blutrache freilich nenn' ich's eigner Art:
erfindrisch sind nun einmal Tantaliden
sowie Atriden. Fassen wir uns nun!
Grausame Morgenhelle, wie sie zunimmt,
ermöglicht kein Verschleiern und Verhüllen.
Geliebter, kehre dich von mir nicht ab,
denn nicht zuletzt um deinetwillen ist
das Gräßlich-Urgewaltige geschehn.
Tritt neben mich, wie ich mit offner Stirne!
Dein Vater war Thyest – des Toten Vater
Atreus: und Atreus stieß Thyestes aus
in Elend, doch er kehrte wieder heim
und ward von Atreus hingemordet.

Aigisth
                                                        Schreckliches,
graunvolles Weib, du bist der Wahnwitz selbst:
der Fluch der Tantaliden und Atriden,
vereinigt, rast aus dir. Was ist geschehn?
Es zu begreifen bin ich nicht der Mann –
allein, was es auch sei: das freche Weib,
das mit dämonischem Gebell mich anfiel,
hab' ich bestraft, sonst aber nichts verübt.
Und welche Schuld du immer auf dich ludest,
ich habe keinen Teil daran.

Klytämnestra
                                            Du Wicht,
du Spottgeburt der Tantaliden, du
Schmarotzer in des Atreus Bett und Haus,
du Schleicher, Schädling, Giftwurm, du
Schmeißfliege in den Küchen des Palastes,
du Ziegenmelker, Milchdieb, Säufer, Hurer,
vor dem die Magd flieht und zudem der Knecht!
Womit zehn Sommer lang du mich bedrängt –
den König abzutun, wann er nur auftaucht –,
davon rückst du nun ab, da es geschehn ist!
Du hast ihn hingemordet! Du, nur du
gabst meiner Axt den ungewollten Schwung:
dein böser Dämon hat mir beide Hände,
unlöslich fest, an ihren Stiel geleimt.

Aigisth
Nun wird das Ungeheure langsam klar!
Wär' Agamemnon denn zurückgekehrt?

Klytämnestra
O du bist blind, bist taub, du schnarchst, du schläfst!
Ein jeder Grashalm, der in Argos weht,
wußte davon beim allerersten Schritt,
mit dem der Gottmensch Heimatgrund betrat.
Du Knirps! Du Nichts! Du gabst mir Tropfen ein,
die meinen Geist verdarben, so daß ich
dich Jämmerling nach diesem Gott ertrug
und nicht mit Peitschen aus dem Tempel jagte
am ersten Tage, als du ihn entweiht.
Wer bist du, und wie heißt du? Rede nicht:
du bist kein Etwas, nein, du bist ein Nichts!
Wie könnt' ich jemals alles das vergessen?

Aigisth
Ist alles, wie ich ahne oder weiß,
so möcht' ich jetzt vergehen: Flucht, nur Flucht!
Flucht nicht ins Leben, sondern in den Tod.

Klytämnestra packt ihn an, da er Miene macht, sich zu erstechen
So leicht entrinnst du unsrem Schicksal nicht:
du lebst! Kein Auge wend' ich mehr von dir,
bis wir den großen Becher ausgetrunken,
den bittren, den uns Nemesis gefüllt,
gemeinsam bis zur Neige. Sei gewiß,
ich wende keinen Blick nun mehr von dir,
bis es geschehn ist.

Aigisth
                                Weib, schenk mir den Tod!
Nimm dieses Schwert!
Sag, daß ich deinen Gatten hingemordet
und du ihn alsogleich an mir gerächt.

Klytämnestra
Verzeih mir alles, Liebster, bleibe bei mir:
vielleicht, daß doch ein Tag uns wieder scheint,
wo uns der Ton der Syrinx ruhig macht
und im verborgnen Grün der Auen uns
Vergessen schenkt mit einem Schein von Glück.

Aigisth
Ich frage nicht, wie alles sich gefügt –
doch wag' ich einen Blick ins Mordgewölb' – – ?
    Er tut es.
Kein Zweifel mehr: er ist's! Wer dieses Haupt
einmal im Leben sah, vergißt es nicht.
Das blutige Fleisch, das dort nun reglos liegt,
ist, was von dem allmächtigen Herrn von Hellas,
dem nie bezwungnen Löwen von Mykene,
noch übrig ist. Nein, blutige Königin,
sprich nichts von Syrinx, nichts von Lämmerherden
auf blumiger Wiese! Was uns beiden blüht,
ist ein schmachvoller Tod.

Elektra kommt rasend herein.

Elektra
                                          Schmachvoller Tod!
Vor allem dir, du Pest in unsrem Land,
du Feuerbrand, der Atreus' Haus verzehrt,
hungriger Wolf, der unsre Herden auffrißt
und meine Mutter schändet Tag um Tag!
Dort drinnen liegt, was anzusehen nur
der untre und der obre Zeus sich weigern.
Allein, die Strafe naht! Von Sparta kamen
und überallher Boten in die Stadt:
Troja sank vor dem Griechenheer dahin,
des Menelaos Schiffe sind gelandet
samt ihm und Helena, von Beute schwer.
Verschlagne Schiffe meines Vaters sind
im Hafen von Korinthos eingelaufen,
fast bis zum Sinken angefüllt mit Sklaven,
Purpur und Gold und grenzenlosem Reichtum.
Man weiß nun in der Stadt: der Ilion
mit eines Halbgotts Stärke überwand,
der fast allmächtige Herrscher ist nun hier!
Man kommt mit Jauchzen, ihm zu huldigen.

Man hört die heransummenden und -brausenden Volksmassen. Sechs ehrwürdige Greise treten in feierlicher Reihe in den Tempel: unter ihnen Thestor.

Erster Greis
Von Siegesjubel rings erschallt die Luft:
Troja, die stolze, die hochfahrende,
sank hin, gezüchtigt von dem Griechenschwert.
Stumm ist die Welt, selbst die Kroniden halten
für einen Augenblick den Atem an,
es schweigt die Luft, regt sich kein Blatt am Baum.
Bekränzt, auf goldnem Wagen, der bespannt
mit Götterpferden aus Poseidons Zucht,
so zog der allgewaltige Sieger ein
in das beglückte Land, das ihn gebar.
Nike, so heißt's, hat unter Blumen ihn
verschüttet fast, des Siegeswagens Räder
beinah erstickt. Heil, König Agamemnon!

Klytämnestra
Wovon ihr Greise sprecht, wir wissen's nicht,
nichts drang von alledem zu unsrem Ohr.
Hier ist ein weltvergeßnes Heiligtum
der Erdenmutter und Persephoneiens
und ihres fürchterlichen Gottgemahls:
wir brachten ihnen in der Stille Opfer.

Elektra
Das tat sie, ja, und wie das Opfer heißt,
und wer es ist: das laßt euch nun berichten.

Aigisth
Was faselt ihr von Trojas Untergang
und Lügenmärchen lächerlichster Art?
Wo ist der goldne Siegeswagen, wo
Poseidons göttlich schnaubendes Gespann?
die Blumen wo, darin ihr Huf erstickt?
die Siegesgöttin wo, die Lorbeer regnet?
Betrogne Narren, packt euch, geht nach Haus!

Zweiter Greis
Nicht eher, bis ihr Klarheit uns verschafft
und Wissen, nicht Vermuten uns belehrt.
Es heißt, dein Gatte nahm den Weg zu dir,
o Königin, wo ist er? Unser Ruf
gilt ihm, dem Troja-Sieger, und nicht dir:
er gilt vor allem unsrem Herrn und König!

Dritter Greis
Dort liegt ein Leichnam, liegt ein totes Weib!
Was ist's mit diesem toten Weib, Aigisthos?

Aigisth
Nun ebendas: das tote Weib ist tot.

Dritter Greis
Und wer erschlug es und um welche Schuld?

Aigisth
Sie drang mit Strolchen in den Tempel ein,
das Gotteshaus besudelnd und entweihend.

Thestor
Du lügst! Es ist Kassandra, Priams Tochter,
ein Beutestück des Königs Agamemnon
und, wie man weiß, als Seherin berühmt.

Vierter Greis
Wie kommt die Tochter Priams nun hierher?
Heller und dunkler wird zugleich der Morgen.

Thestor
Als Sklavin Agamemnons war sie hier.

Klytämnestra
So sieht's des armen alten Thestors Hirn!
Den er für König Agamemnon hielt,
er war nichts als ein Lumpenkerl der Straße.
Was ihm die Seherin Kassandra ist,
war eben nichts als dieses Strolches Hure.

Elektra
Schiffbrüchig kam mein Vater hier herein,
wer ihn nur ansah, hat ihn gleich erkannt.
Und also ist's ein Irrtum, wenn ihr meint,
auf goldnem Siegeswagen sei der Held
erschienen. Und hier liegt Kassandra tot,
die Tochter Priams: niemand anders als
Kassandra, die der Held Aigisth erschlug!

Die Greise
Und also zeigt uns endlich Agamemnon!
Wir wollen unsern König sehn: wo ist er?

Mit wilder Entschlossenheit tritt Klytämnestra vor und hebt ein Beil hoch.

Klytämnestra
Gerichtet hab' ich ihn mit diesem Beil!

Die Greise
Was sagt sie? Wir begreifen noch kein Wort.

Klytämnestra
Mit Dikes Hilfe hab' ich Kindesmord,
der Greueln ärgste, so an ihm gerächt:
dem gnadenlosen Mörder meiner Tochter!

Erster Greis
Weib, hast du das gesprochen? Hörtet ihr,
was ich vernahm aus dieses Weibes Mund?

Die Greise
Wir hörten, glaubten es zu hören: doch
es kann nicht sein, da es unmöglich ist!

Klytämnestra
Gewöhnt euch an das Fürchterliche – hat
die Welt sich längst ja doch daran gewöhnt!
Vergeblich ist's, dawider sich zu wehren.
Was ihr an meinem weißen Kleid erblickt,
ist meines einstigen Gatten rotes Blut,
der Königspurpur, den ich um ihn legte,
zu würdigem Empfang. Entfernt von mir,
war dieser Unmensch nur erst halb gestorben.
Wie ein am Himmelsrande drohendes
Gewölke lag sein Dasein über mir,
schwarz und von Blitzen zuckend. Doch nun blickt
Apoll gleichmütig durch ein reines Blau,
wie ich – nun ganz erlöst erst – zu ihm auf.
Wie manchen bittren, fluchbeladnen Kelch
hat er zu Haus den Seinen angefüllt:
wir würgten unter Qual den Sud hinunter.
Nun hab' ich selbst ihm jenen Kelch gewürzt,
den jeder Sterbliche nur einmal leert:
er tat's und hat das Leben überstanden.

Erster Greis
Wer gibt dir solche Reden ein, die nur
von Wahnsinn zeugen, der sich selbst nicht kennt?
Denn wäre wirklich wahr, was du hier lügst,
selbst die Erinnyen müßten drob erschaudern.

Klytämnestra
Du Tor! Ich kenne sie, sie kennen mich:
Haustiere gleichsam sind's der Tantaliden
und der Atriden. Brandig-schwarz und rot
umwölkt der Qualm des Schreckens unsre Häuser,
darin Blutrache unermüdlich zuckt
und hin und wider blitzt mit Mord und Totschlag.
Aus Hadestiefen klirrt die Kette – hört! –,
taucht auf mit diesem und mit jenem Glied
und wird nach unten wiederum gezogen:
ein unzerreißlich Band, das Rache heißt.
Ihr Narren, Närrchen, Sperlingsvölkchen, das
von Gott und Welt nichts weiß und Honig nascht
und mit der Zunge lüstern schnalzt, sonst nichts
zu tun weiß und nicht mehr zu tun begehrt.
Geht heim! Wir gönnen gern euch eure Torheit.
Doch wagt es – Kinder! – nicht, euch einzumischen,
wo Götter mit Titanen hadern und
Halbgötter mit den Göttern wiederum.
Ihr wollt mich richten, und ihr wollt mich strafen?
Das lieber überlaßt getrost mir selbst:
groß, wie die Tat war, mess' ich selber mir
das Leiden übermenschlich zu! Das glaubt mir.

Elektra stürzt vor und schreit
Orest, Orest! Ich rufe dich, Orest:
Sie hat uns unsren Vater hingemordet!
    Sie stürzt ohnmächtig nach vorn auf das Gesicht.

Aigisth
Geht nun nach Haus! Denn was sich hier begab,
ist nur der Großen Sache, die es angeht:
für Kinder und für Greise ist es nichts.

Thestor tritt vor
Bist du ein Großer, bin ich ein Gigant!
Wenn ich ein Nichts dich nenne, tu' ich dir
von Herzen wohl – denn wenn du etwas bist,
so ganz und gar nur Niedertracht und Nichtsnutz.

Aigisth
Nur allzulange übt' ich Schonung aus.
Du bist des Kindesschlächters Kalchas Vater,
der Iphianassa auf den Holzstoß trieb
mit frech erlogenem Orakelspruch:
in Reue gab der Wicht sich selbst den Tod.
So stirb nun ihm und Agamemnon nach,
als Dritter in dem fürchterlichen Bunde!
    Er durchbohrt Thestor mit dem Schwert.

Klytämnestra
Recht so, Aigisth! Die Lüfte werden rein:
gerächt ist meine Tochter Iphianassa.
Ihr aber, Rat von Argos, geht nun heim,
sorgt für des Königs, eures Herrschers Grab.
Mit allen Ehren gilt's ihn zu bestatten.

Erster Greis
Schamloseste der Frauen, morgen gibt
der Fluch des ganzen Volks dir bittre Antwort!

Aigisth
Versucht's! Es gibt der Mittel ja genug,
hitzköpfige Schreier zu bewältigen.
Und wofür war ich Herrscher dieses Lands –
und bin es heute noch – seit vielen Jahren?
Ich will euch Alte zäumen und die Bürschchen
im Pöbel, die vielleicht der Hafer sticht
wie Fohlen: und sie lernen wohl das Tanzen!

Erster Greis
Du nennst dich König, niemand sonst im Land
hat's je getan: wir bissen unsre Zunge
uns lieber ab, als diesen heiligen Rang
dir einzuräumen, Niederträchtiger!
Dort liegt Elektra – und wir stimmen ein
in ihren Schrei nach dem vertriebnen Bruder.
Die unnatürliche Mutter stieß ihn aus,
doch will man wissen, daß Orest noch lebt
und irgendwo auf seine Stunde wartet.
Wir rufen ihn, wir rufen ihn wie sie,
die hier gequält von Ehebrechern lebt
und dort zermartert auf der Erde liegt.
Orest, rechtmäßiger Herrscher, kehre heim
und räche, räche, räche deinen Vater!

Aigisth
So weit vergißt sich ein Hellene nicht,
dem Weib, das ihn gebar, den Tod zu geben.

Erster Greis
Und doch vergaß sich ein Hellene so,
wie du zu meucheln einen armen Greis.

Aigisth
Nicht schaudern brauchst du, mein geliebtes Weib!
Wer des Gedankens auch sich unterfange,
dir strafend weh zu tun, der trifft auf mich:
ich würde mit dem Blitz des Zeus ihn schmelzen.

Zweiter Greis
Kommt heim, kommt heim aus diesem stinkenden,
von Leichendüften schwangren, eklen Kreis!
Hier triumphiert der Atem der Verwesung.
Wir aber richten unser Banner auf:
Vergeltung! heißt es. Recht! Und dann: Orest!

Aigisth
Recht so! Zu Kindern werden Greise, und
so rufen Kinder denn mit Recht nach Kindern:
gegönnet sei euch Mutterbrust und Milchnapf!
    Das Volk ist abgezogen. Klytämnestra und Aigisth bleiben allein.
Fort, fort! Legt Feuer an das Gotteshaus:
es soll zu Asche werden!

Klytämnestra
                                          Doch der Quell,
der heiße, blut'ge, heilige Quell quillt weiter.

Aigisth
Bald wächst das Gras allüberall und deckt
das Gestrige, das einst Gewesne, zu.

Klytämnestra
Doch weh, der heiße, blut'ge Quell quillt weiter!
Was ist geschehn? Was war's? Fast weiß ich nichts!
Doch freilich ja: ich hatte einen Traum,
er jagte mich von meinem Bette auf,
ich floh vor ihm, doch ließ er mich nicht los,
ich hab' ihn bis zu Ende nun geträumt.
Vorbei! Komm fort, Aigisth! Nun heißt's erwachen!

 


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