Carl Hauptmann
Der letzte Wille
Carl Hauptmann

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III.

Es war Mitternacht, als Sender sich einen Augenblick auf's Bett gestreckt hatte. In der Mutter Röcheln und Ächzen war einige Ruhe eingetreten, und in ihm begann die Abmüdung arg und grausam zu wirtschaften. Er hatte hier keine Zuflucht. Er wäre am liebsten hinaus in die Nacht gelaufen. Er hatte schon einige Male vor der Tür gestanden, nur um die Kälte der Winternacht an sein Gesicht streicheln und ihn aus der Fühllosigkeit seines Zustands, aus der gänzlichen Verwahrlosung seines Hin und Her aufrütteln zu machen. Und er wäre hinausgelaufen, wer weiß, wohin, nur um auch aus der Umklammerung zu fliehen, in die ihn die sterbende Mutter und die beiden Jungen, die oben in Umarmungen schliefen und im Kampfe gegen den Vater sich mehr als je Eins fühlen konnten, hineingezogen hatten. Im Grunde ging jeder Gedanke und jeder Wunsch, auch der drängendste, fast gefühllos vorüber, und er war im Schein des kleinen Lämpchens um die Kranke herum, hatte freundliche Sorgenworte und leichte Mahnungen leise hingeredet, daß es schon werden oder schon gehen würde – und nun lag er auf seinem Bette und schloß, fast wie im Krampfe, die Augen. Und kaum geschlossen, war es ihm, als ob er blind wäre, und als ob ihm der Tod die Augen gewaltsam schlösse, daß er sie nie wieder aufmachen würde. Und so sehr ihn die Angst auch peinigte, und so sehr ihm auch schien, daß er die Gewalt, die ihn ängstigte, überwinden könnte, so hartnäckig sah er in's Ratlose und in Schrecknisse, die er kaum noch reimen konnte. Und dann gingen ganze Totenreihen an ihm vorüber, daß er wer weiß wen aus dem Dorfe, auch seinen Vater und seine Mutter und alle in weißen Kleidern sah. Auch Sohn und Tochter, die ihn nicht ansahen. Auch oben einen Kerl, der immer im Gemeindehause lebte, trank und an der Straße seine Arbeit tat – alles in weißen Kleidern. – Er begriff nicht, daß alles sich in Feier bewegte und alle auch tot waren – und fand, daß der Tod ganz festlich sei und wollte einmal . . . aber ehe er hinzutrat, entschwand alles wie eine leise Flucht. – Wehend, dachte er, wie Blätter! – so ging es hin und stieg es auf: – nur des Straßenmannes Frau stand da und nahm aus dem weißen Gewand eine häßliche, giftiggrün aussehende Bulle und lachte mit häßlicher Grimasse. – Eine Flucht – eine Jagd – eine Unruhe – die erst recht wiederkam, weil jetzt der abscheuliche Engel sich aufreckte und ihn umgarnte, und es wieder heranschwebte. Und im Schweben auch alles drückend und schwer war.

»O, – o – o – eim Himmel – eim Himmel –« Er hörte es nur im Traume. Und es griff ihn an allen Ecken, daß er glaubte, sie rissen an seinen letzten Kleidern. Und er empfand sich nicht mehr, wie er war – er schrumpfte zusammen – Jugend kam – er war nur noch ein ganz jämmerliches, kleines Kind, das da in Windeln lag. Und jetzt nahm ihn seine Mutter und riß ihn heraus – und ein lächerliches Weinen verzerrte seine Züge, er weinte und weinte und zerfloß fast in Tränen und ächzte zugleich: »Ach – ach – ach! –« Bis er erwachte – und lange lag – und alles hörte – alles fühlte, was um ihn war, das dämmerhelle Stübel und die Mutter, die noch immer wimmerte im Halbschlafe, und die Uhr, die tickte – und oben in der Kammer rührten sich die Jungen, daß man es hören konnte, wie nackte Füße schlichen, und keine Ruhe fanden. Aber er lag und ermannte sich nicht. Schwere wie Blei hielt ihn in seiner Lage. Er machte nicht die Augen auf. Er war geängstigt. Er suchte einen Ausweg und wagte nicht mehr, sich zu rühren, daß er die Mutter nicht in's Leben und in ihre Wünsche zurückrief.

Oben die Junge hatte keinen Schlaf gefunden. Sie dehnte sich an der Seite ihres jungen Mannes und erhob sich, wie er fest eingeschlafen. Denn er schlief wie immer tief und ohne Verklärung und begann bald, auch kräftig zu atmen und zu schnarchen. Im Grunde war sie froh, daß sie nun einmal allein war. Sie entzündete Licht, hüllte sich leicht ein Tuch um die Schultern und saß in großen Filzschuhen, um sich einen Rock auszuflicken. Es kam ihr so in den Sinn. Wenn es auch nicht Zeit war. Diese Nacht fand sie es gut, auf zu sein, wenn der weiche Gustav durchaus seinen Schlaf haben mußte. Und sie besann sich, wie weich und nachgiebig der Junge im Grunde war, er würde schließlich auch damit zufrieden sein, dachte sie, wenn eine Neue in's Haus und in's Herrschen einzöge. Und sie sah in ihre Stiche hinein, die die Hand hastiger machte und hörte kaum, daß die Dachbretter in der Kälte knackten und krachten, die eisige Luft an ihre Beine floß und sie fast erstarrt war. Und sie dachte sich in die Wut hinein, daß sie fast eine Art inneren Kampfes vor sich sah – mit wem? – das zerfloß, als sie es fassen wollte. Und es stieg neu in den Schein ihres Lichtes, als sie wieder zu hören versuchte. »Nee nee, das soll gewiß nee werden – und die Mutter stirbt ni' ehnder«, dachte sie zum Trost und kroch wieder unter das Deckbett. Daß der Junge vom Hauche der kalten Luft halb geweckt, die Arme nach ihr ausstreckte, wie ein blöd Lachender dalag und sie begehrte im unerwarteten Lichtschein, aber auch gleich die Lage begriff und sich beruhigt drein gab, als sie ihn nach der Seite stieß.

»Sei nee verwerrt! Ich will de Lampe brennen lussen, man kann doch nee wissen, wie's werd unten.« Dann lagen beide mit den Gesichtern nach den Dachsparren, die Schatten warfen, und sannen. Und es kam über sie ein Dämmern, in das sie mehr und mehr trübe, von ihren Wünschen und Gieren gepeinigt, versanken.

In der Kranken gab es ein langes, endlos langes Nichtsterbenwollen und Nichtsterbenkönnen. Ausgezehrt lag sie da und sah nichts mit offenen Augen und hörte nichts mit ihren scharfen Ohren und genoß nichts mehr, denn sie wußte nicht mehr, ob sie Wasser oder Wein auf ihren Lippen trug. Und ein Hören – ein unbegreifliches feines – trug sie doch durch Bretterwände und weite Räume, daß sie sich manchmal vorkam, als entschwebe sie schon unter Sternen, und dann zurücksank, wie aus allen Himmeln, wenn es ihr einfiel, daß sie im Häusel liege, und daß sie noch immer nicht sterben dürfe.

»O – o – o« sie lag wieder im halben Wahne und rief: »O nee – nee, Vater, siehste nee, der Tud – der Tud – o – 's werd immer schiener – 's werd immer schiener –«. Sender sprang empor. Er stand am Bette und hörte gespannt auf die Worte und war jetzt wieder jenes unbarmherzige, maschinenmäßige Bewegtsein für die Ächzende.

»O – o – ju ju – 's is ju schien – eim Himmel – eim Himmel! Jeses – ei a Himmel war' ich kumma – Vaterla – – Vaterla – – –«

»Was is denn, Mutter?« Er nahm und reichte ihr einen Löffel Wein zur Stärkung. Aber die Kranke sprudelte, als er ihn an den Mund gebracht, daß er ihn wieder auf den Tisch legte. Nein, nichts mehr, nichts mehr wollte sie hier im Leben. Der Tod war in ihr in ganzer Macht. Es war auch kein Entrinnen mit Wasser und Wein nicht, und nicht mit Speise, wenn sie sie hätte genießen können. Und nicht mit Worten der Liebe, wenn sie auch Sender gefunden hätte. Und Sender fand sie jetzt plötzlich: »Ach, Mutterla, Mutterla! Jeses!« – wie er nun die Alte ansah – »bise hah'n mir ni gelebt, Mutter?! – sa's amol!«

»Nee – nee – Vater – bise nee.«

»Und wenn a Mensch hie und har rennt und manchmol was tutt und sa't –«

»O Jeses – nee – nee – Vater. Ju ju – enner und der Andre –«

»Ma is halt manchmal a su –«

»Mir ha'n alle nischte zu verga'n – Vater –«

»Nee wuhr – siehste – Mutter!«

»Vaterla –«

»Mei himmlischer Vater – was könnt ich denn nee glei –« Sender war im Augenblick des Sterbens völlig benommen.

»Wenn nu der Tud – wenn nu der Tud –«

»Nu – ju ju – Mutterla – nee Mutterla – an Augenblick mußt De aber –«, er sprach ganz hastig, »an Augenblick mußt De« – und er richtete die Sterbende auf und sah in ihre Mienen. Die Augen waren groß und einfältig, und in den Gram der Züge kam stille Verklärung.

»Vater – a Kindern – das Häusel – gib a Kindern – das Häusel – verstihst De –«

»Ju ju ju ju –!« Er starrte sie an – »nu freilich, ich war schun – ju ju, verluß Dich – nee – nee – ich vertreib se nee – ich war teelen! – Jeses, ich ha's nee a su gefühlt, aber jitze – jitze – sah ich's doch amol –«

»'S is ock – 's is ock . . .« – Sender spannte – »'s is ock wegen der Andern, wegen der Andern«, sie sprach es und lispelte fast, »wegen – Jeses– mei Junge – mei lieber Junge – ich bin doch – eemol – Häusel – de Mutter – Mutter – hie –«

»Mutterla, Mutterla, verluß Dich – verluß Dich – ach Gott –! Nee, ich rufe doch aber glei' . . .« – er war schon hinaus und rief im Hause: »Gustav, Gustav, zum Pastor!« Und die Junge kam, halb in Kleidern, und lief auch schon, wie sie war, auf die Straße, und flog zum Pastor. Und Gustav trat im nächsten Augenblick in die Stube und stand hinter dem Vater, der der Mutter Hand hielt. Die Kranke ächzte nicht mehr, sie war wunderbar still und begann schön auszusehen. Die Runzeln ihres Gesichtes begannen zu verstreichen. Der Ausdruck des Grames wich. Ihr Haar schien lose und jung, wie es nie vorher gewesen war. Sie war ganz schwach, und der Atem ging lang und fast ruhig. Und kein Wort kam mehr aus ihr. All' ihre Unruhe und ihr Rufen in Angst in unerfüllter Sehnsucht lag hingestorben. Der Blick suchte nichts mehr. Ihr Blick, wenn sie die Lider auftat, war groß, und fast mitleidig blickte sie auf die, die um sie waren. Es schien nicht mehr ihr Mann, und auch ihr Sohn war nicht mehr sichtbar für sie, wie der Junge so dastand und dumpf und starr auf sie sah. Es schienen gute, liebe Verlassene, die nun ferner und ferner rückten. Und sie sah beide an und fühlte nur noch des Vaters Hand, die ihr kaum wie ein Fädchen dünkte, das sie anband, so kindlich frei und lose hob der Tod die Alte, Verrunzelte, vom letzten Willen einst Gepeinigte empor und trug sie zurück in die geheimen Kammern des nie geschauten ewigen Lebens, aus dem sie einmal jung, als Blume oder Vogel, oder als Kindlein in der Wiege erwachen könnte.

Der Vater sah es. – Es kam Frieden in ihn. Er war zufrieden, daß er ihr die Ruhe der letzten Erdenstunde gegeben hatte. Er ging aufrecht. Er war wunderbar frei. Es ging etwas Erhabenes in ihm um, Schönes, das in ihm jubelte. Er wußte jetzt, was zu tun war. Und wie bald der Geistliche hereintrat, standen alle andächtig um das Lager, und die stille Sterbende nahm Brot und Wein und aß und trank am Tische der Versöhnung, des Versönlichsten unter den Menschen Andenken feiernd, daß alle weinten. – Nur der Vater stand aufrecht und betete stark und in der Erregung des Augenblicks laut mit dem Geistlichen, wie die Augen unter den letzten Worten sich für immer schlossen.


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