Wilhelm Hauff
Phantasien im Bremer Ratskeller
Wilhelm Hauff

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Guter Wein ist ein gutes geselliges Ding, und jeder Mensch kann sich wohl einmal davon begeistern lassen.

Shakespeare.

»Mit dem Menschen ist nicht auszukommen«, sagten sie, als sie in meinem Gasthof die Treppe hinabstiegen, und ich konnte es noch deutlich hören. »Jetzt will er wieder schlafen von neun Uhr an und leben wie ein Murmeltier; wer hätte das gedacht vor vier Jahren!«

Sie hatte nicht Unrecht, die Freunde, daß sie mich in Unmut verließen. Gab es ja doch heute abend eines der glänzendsten musikalischen, tanzenden und deklamierenden Butterbrote in der Stadt und hatte sie sich nicht alle mögliche Mühe gegeben, mit, dem Landfremden, einen angenehmen Abend dort zu verschaffen? Aber es war wahrhaftig unmöglich; ich konnte nicht gehen. Warum sollte ich einen tanzenden Tee besuchen, wo sie nicht tanzte, warum ein singendes Butterbrot, wo ich (ich wußte es zum voraus) hätte singen müssen, ohne von ihr gehört zu werden; warum einen trauten Kreis von Freunden durch Trübsinn und finsteres Wesen stören, das ich nun heute nicht verbannen konnte? O Gott! ich wollte ja lieber, daß sie mir auf der Treppe einige Sekunden fluchten, als daß sie sich von neun Uhr bis ein Uhr langweilten, wenn sie nur mit meinem Körper sich unterhielten und bei der Seele umsonst anfragten, die einige Straßen weiter auf Unserer Lieben Frauen Kirchhof nachtwandelte.

Aber das tat mir wehe, daß mich die guten Gesellen für ein Murmeltier hielten und dem Drang nach Schlafe zuschrieben, was aus Freude am Wachen geschah. O nur du, ehrlicher Hermann, wußtest es mehr zu würdigen! Hörte ich denn nicht, wie du unten auf dem Domhof sagtest: »Schlaf ist es nicht, denn seine Augen leuchteten. Aber entweder hat er wieder zu viel oder zu wenig Wein getrunken, das heißt, er trinkt noch welchen und – allein.«

Wer verlieh dir denn diese prophetische Kraft? Oder konntest du ahnen, daß meine Augen wacker waren, weil sie heute nacht alten Rheinwein schauen sollten? Konntest du wissen, daß ich gerade heute von dem Patent und Erlaubnisschein, vom Rate auf meine Person ausgestellt, Gebrauch machen werde, um die Rose und eure zwölf Apostel zu begrüßen? Und überdies, war denn heute nicht mein Schalttag?

Meines Erachtens ist es keine üble Gewohnheit, die ich von meinem Großvater angenommen, nämlich hie und da Einschnitte zu machen in den Baum des Jahres und singend dabei zu verweilen. Wenn der Mensch nur Neujahr und Ostern, nur Christfest und Pfingsten feiert, so kommen ihm endlich diese Ruhepunkte in der Geschichte seines Lebens so alltäglich vor, daß er darüber hinweggleitet ohne Erinnerung. Und doch ist es gut, wenn die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch ein paarmal auf ein paar Stunden einkehrt im eigenen Gasthof ihrer Brust, sich bewirtet an der langen Table d'hôte der Erinnerung und nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam schreibt, wie Frau Hurtig dem RitterFalstaff. . Der Großvater nannte solche Tage seine Schalttage; nicht daß er etwa ein Bankett veranstaltet mit seinen Freunden, oder den Tag lustig und in Freuden lebte, in Saus und Braus; nein, er kehrte ein bei sich, und seine Seele schmauste in der Kammer, die sie seit fünfundsiebzig Jahren kannte. Noch jetzt, da er längst im kühlen Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem holländischen Horaz ansehen, welche Stellen er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes blaues Auge sinnend auf den vergilbten Blättern seines Stammbuchs weilen; und wie deutlich sehe ich, wie dieses Auge nach und nach sich füllt, wie eine Träne in den grauen Wimpern zittert, wie der gebietende Mund sich zusammenpreßt, wie der alte Herr langsam und zögernd die Feder ergreift und »einem seiner Brüder, der geschieden«, das schwarze Kreuz unter den Namen malt.

»Der Herr hält seinen Schalttag«, pflegten die Diener uns zuzuwispern, wenn wir Enkel laut und fröhlich wie gewöhnlich die Treppe hinanstürmten; »der Großvater hält seinen Schalttag«, flüsterten wir uns zu und glaubten nicht anders, als er beschere sich selbst den heiligen Christ, weil er ja doch niemand habe, der ihm den Christbaum anzünde. Und war es nicht so, wie wir in kindlicher Einfalt glaubten? Zündete er nicht den Christbaum seiner Erinnerung an, flammten nicht tausend flimmernde Kerzen auf, die Lieblingsstunden eines langen Lebens, und schien er nicht, wenn er am Abend des Schalttages still und ruhig im Sessel saß, sich kindlich zu freuen an den Gaben der Vergangenheit?

Es war sein Schalttag wieder eingetreten, als sie ihn hinaustrugen. Ich mußte weinen, als ich dachte, daß der alte Mann seit langer Zeit zum erstenmal wieder in die freie Luft komme. Sie führten ihn den Weg, auf dem ich so oft an seiner Seite gegangen war. Aber nicht lange, so bogen sie über die schwarze Brücke und legten ihn tief in die Erde. »Nun hält er seinen rechten Schalttag«, dachte ich, »aber wundern soll es mich doch, wie der alte Herr wieder da heraufkommen will, denn sie haben doch viele Steine und Rasen auf ihn hinabgeworfen.« Er kam nicht wieder. Aber sein Bild blieb in meinem Gedächtnis, und als ich herangewachsen war, gehörte es zu meinen liebsten Beschäftigungen, seine feine, offene Stirne, das klare Auge, den gebietenden und doch so freundlichen Mund mir vorzumalen. Mit seinem Bilde stiegen tausend Erinnerungen auf, und seine Schalttage waren mir die Lieblingsstücke in der langen Bildergalerie.

Und ist denn heute nicht der erste September, den auch ich mir zum Schalttag erwählte? Und ich sollte Butterbrot verzehren in einer Gesellschaft und allerlei Arien absingen hören mit beigefügtem Applaus und Gezwitscher? Nein! Heraus mit dir, köstliches Rezept, das kein Arzt der Erde so köstlich mischt! Hinab zu dir, alte, wahrhaftige Apotheke, um »nach Vorschrift jedesmal einen Römer voll zu nehmen.«

 


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