Heinrich Hansjakob
Aus dem Leben eines Vielgeprüften
Heinrich Hansjakob

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7

Es war ein heller Märztag, Die ersten Strahlen der Frühlingssonne lagen über dem Franziskanerplatz, als ich meinen Nachbar zu trösten unternahm.

»Daß ihr euch über die Menschen beklagt,« also begann ich, »ist wohl begreiflich; denn sie verkennen in ihrem Hochgefühl, Mensch zu sein, daß ihr Tiere ihnen viel näher steht, als sie wissen und glauben.«

»In Wahrheit, sie übersehen es ganz, daß auch ihr, und nicht bloß die Menschen, eine lebendige Seele habt und ein Seelenleben, und daß es auch bei euch einen persönlichen Unterschied gibt, wie bei den Menschen, in leiblicher und geistiger Hinsicht, ein Selbstbewußtsein und ein Pflichtgefühl.«

»Kein Pferd ist wie das andere; jedes ist für sich eine Ichheit, die sich von den anderen unterscheidet in Art, Gestalt, Farbe, Talent und Temperament.«

»Es gibt dumme und gescheite, faule und träge, gutmütige und böse, stolze und demütige Tiere unter euch. Manches Pferd arbeitet voll Pflichtgefühl, Tag für Tag, schwer und unverdrossen, andere dagegen müssen getrieben werden zur Arbeit.«

»Wie stolz geht das Reitpferd eines Königs daher und wie demütig der Gaul eines armen Müllers!«

»Wie sieht man dir, dem vielgeprüften Rotschimmel, den Kummer und die Schmerzen an, gerade so gut, wie einem Menschen, dessen Herz voll ist von Traurigkeit!«

»Wie gut ist euer Gedächtnis und wie kennt ein Pferd noch nach Jahren die Wirtshäuser, vor denen es öfters gestanden, und die Stellen, an denen ihm ein Unglück zugestoßen ist!«

»Also ihr seid verkannt, verkannt zu Unrecht, und deshalb behandeln euch die gedankenlosen Menschen nicht besser.«

»Die alten Heiden waren darin viel verständiger, als die heutigen hochmütigen Kulturmenschen. Sie staunten über der Tiere Kraft, über ihr Wachsen und Werden ohne Pflege und über ihre Sicherheit, Nützliches und Schädliches zu unterscheiden. Darum sahen sie in euch Sinnbilder der Gottheit und verehrten manche Tiere als göttlich.«

»Aber selbst die Menschen unserer Tage, so sehr sie die Tierwelt verkennen, zeigen unbewußt, wie nahe sie mit euch verwandt sind. Jeder Mensch hat Vorliebe und Neigung zu irgend einer Tiergattung und fühlt sich zu ihr hingezogen nach dem Sprichwort: ›Gleich und gleich gesellt sich gern‹.«

»So lieben Mädchen die Schafe, Knaben die Pferde, alte Wibervölker die Katzen und die Papageien.«

»Und dann vergessen die Menschen in ihrem Hochmut und in ihrer Brutalität euch gegenüber, daß sie ja längst ihre Familiennamen von euch verachteten Tieren angenommen haben!«

»Sie nennen sich Schaf, Hund, Roß, Katz, Marder, Fuchs &c. und meinen dabei doch, sie seien hoch erhaben über die Tiere.«

»Auch das übersehen die Menschen, daß ihr Tiere Tugenden und Leidenschaften mit ihnen teilt.«

»Ihr wißt, wie eure brutalen Herren, was Liebe und Haß, was Freundschaft und Feindschaft heißt. Und ihr seid in Liebe und Treue, in Freundschaft und Anhänglichkeit nicht selten erhaben über sie.«

»Ihr übertrefft die Menschen aber auch an Geduld im Leiden und an Mut im Sterben. Ihr seid in Schmerzen und Todesnöten keine solche Heul- und Angstmeier wie sie.« –

»Endlich denken die heutigen Menschen nicht mehr daran, daß ihre Ahnen Jahrhunderte lang ihre Sünden getilgt haben mit Tierblut, und daß ihre Nachkommen schon deshalb mehr Achtung zeigen sollten vor den Tieren.«

»Die Menschen sollten überhaupt Gott nicht bloß suchen in sich und in ihren Religionen, sondern auch in der Natur und in den Mit-Geschöpfen, dann würden sie den Geist Gottes auch aus euch reden hören.«

»Was die Entschädigung der Tiere für ihre unschuldigen Leiden betrifft, so vermag kein Mensch mit Sicherheit zu behaupten, daß die Tierwelt völlig untergeht mit dem Tode.«

»Vielleicht ist auch sie bestimmt, auf der neuen Erde nach dem Untergang der alten eine Stelle einzunehmen.«

»Der hl. Apostel Paulus schreibt: ›Auch selbst das Geschöpf wird befreit werden von den Banden der Verderbtheit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes‹.«

»Sicher ist, daß gerade das Pferd eine große Rolle spielen wird beim Weltgericht. Beim Oeffnen der sieben Siegel im Himmel werden in der Bibel vier Rosse genannt, auf denen die Engel sitzen, so am Weltgericht teilnehmen.«

»Und die Zahl der apokalyptischen Reiter wird in der ›Geheimen Offenbarung‹ des hl. Johannes auf zwanzigtausend mal zehntausend angegeben.«

»Sie sitzen auf eben so vielen Pferden, die Löwenköpfe haben, von denen Feuer, Rauch und Schwefel ausgeht, wodurch der dritte Teil der Menschheit getötet wird.«

»Ja, selbst der Weltrichter und Besieger des Bösen wird auf einem Pferde sitzen am Ende der Tage. Denn in der gleichen Offenbarung heißt es: ›Und ich sah den Himmel geöffnet und siehe, ein weißes Roß; und der da saß auf ihm, ward genannt Getreuer und Wahrhaftiger, und in Gerechtigkeit richtet und streitet er. Und sein Name wird genannt Wort Gottes und König der Könige und Herr der Herrscher‹.«

»Du siehst also, vielgeprüfter Rotschimmel, welch merkwürdige und ausgezeichnete Rolle dem Pferde zugeteilt wird, wenn es gilt, Gericht zu halten über die Menschen.«

»Also tröste dich. Es kommt der Tag und die Stunde, da ihr Rache nehmen werdet an dem bösen Menschengeschlecht. Auch beneide dasselbe nicht um den jenseitigen Lohn für seine Leiden. Es steht diesem Lohn auch die Strafe gegenüber für seine Sünden, auch für die Sünden gegen die unschuldige Tierwelt.«

»Gott selbst hat Freude an seinen Tieren und spricht bei Moses zu den Menschen: ›Ich errichte meinen Bund mit euch, mit jeglicher lebendigen Seele, die bei euch ist an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren der Erde‹.«

»Und ist es nicht eine Ehre für die Tierwelt, daß der Weltheiland genannt wird der Löwe vom Stamme Juda und das Lamm Gottes?«

»Und im Buche Job redet der Herr mit einem gewissen Stolze von den Tieren, die er geschaffen und mit verschiedenen Kräften ausgestattet hat. Gerade vom Pferde heißt es da, wo der Herr aus dem Wettersturm zu Job spricht: ›Gibst du dem Rosse Stärke und lässest du aus seinem Hals Gewieher ertönen?‹

›Kannst du es aufspringen lassen wie Heuschrecken? Das Schnauben seiner Nüstern, wie furchtbar ist es!‹

›Den Boden scharrt es mit dem Hufe, steigt stolz empor, entgegen sprengt es dem Gewappneten; es lacht der Furcht und wendet sich vor dem Schwerte nicht um.‹

›Auf ihm erklingt der Köcher, blitzt die Lanze und der Schild; schäumend und tobend schürft es den Boden und merkt auf nichts bei der Trompeten Klang‹.« –

»Und auf daß es die Leute nicht wunder nimmt, wenn du, alter Rotschimmel, und ich mit einander reden, so wollen wir ihnen sagen, daß schon im Buche Job das Pferd sprechend eingeführt wird.«

»Der Schlußsatz über das Pferd in diesem Buche heißt: ›Sobald es die Trompete hört, spricht es: Ah! von ferne wittere ich die Schlacht, der Führer Donner und des Heeres Feldruf.‹«

»Du kannst aus dieser Stelle der Heiligen Schrift ersehen, daß Gott selbst des Lobes voll ist über das Pferd, und er wird auch die Unbill rächen, welche die Menschen euch antun, und auf einer neuen Erde auch eurem Geschlechte gerecht werden.«

»Vielleicht kehrst dann auch du wieder in verjüngter Gestalt und kannst sorgenlos werden auf den ewig blumigen Matten einer verklärten Erde.«

»Aber selbst auf dieser Erde hat eure Erlösung schon begonnen. Die Eisenbahnen haben Millionen von Rossen die Lasten und die Leiden abgenommen. Die Elektrizität ist nachgefolgt und befreit euch abermals von schwerer Arbeit. Und das große Narren-Fuhrwerk der neuesten Zeit, das ihr so fürchtet – das Automobil – es wird in Bälde euch vollends befreien vom Wagen- und Droschkendienst.«

»Vielleicht werden in Zukunft auch die Völker vernünftiger, verbieten ihren Fürsten Krieg zu führen und machen Weltfrieden; dann braucht ihr auch keine Militärdienste mehr zu leisten und nicht mehr in den Schlachten verstümmelt zu verbluten.«

»Du siehst also, mein vielgeprüfter Freund, auch deine und deines Geschlechtes Zukunft ist weder diesseits noch jenseits hoffnungslos. Auch ihr dürft die Fahne der Hoffnung erheben und sagen: ›Es kommen bessere Zeiten auch für das gequälte Pferdegeschlecht!‹«

So sprach ich zu dem Rotschimmel am Morgen des 1. Februar 1903, und wie die deutschen Studenten auf den Hochschulen, gab er mir Beifall durch ein Füßegetrampel. Auch ein fröhliches Wiehern ließ er hören, das erste, seitdem er auf dem Platze steht.

Dann wandte er sich, eine Freudenträne im Auge, zu mir und sprach: ›Habe Dank, alter Pfarrer, für deine Trostworte. Nun will ich gern noch weiter dulden und leiden und meinen Milchkarren ziehen bis zum Ende. Möge dann ein gütiges Geschick es fügen, daß, wir zwei alte, bresthafte und vielgeprüfte Knaben uns wiedersehen auf den seligen Fluren einer neuen Erde!‹

* * *

Kaum war nach dem ersten Erscheinen dieses Büchleins die Lebensgeschichte des Vielgeprüften bekannt geworden, als ihm die teilnehmende Aufmerksamkeit mancher Leute zuteil wurde. Er erhielt und empfing Besuche, wenn er auf dem Franziskanerplatz stand. Die einen streichelten ihn, die anderen gaben ihm Brotstücke.

Besonders zeichneten sich hiebei die Wibervölker aus; denn sie verkehren ja gerne mit Vielgeprüften und mit Existenzen, die einen Namen haben, und der Rotschimmel hatte jetzt einen solchen.

Der arme, alte Gaul war überglücklich, daß er so viele teilnehmende Herzen gefunden. Ich gönnte es ihm vollauf, aber ich mahnte ihn, der mir manch dankenden Blick zuwarf, dem Glück nicht allzu sehr zu vertrauen. Wer zum Märtyrer bestimmt sei hienieden, dem scheine die Sonne des Glücks nie lange.

So war es auch bei meinem alten Freunde. Kaum hatte er sich einige Tage der ihm gewordenen Huldigungen erfreut, als er samt seinem Herrn vom Platz für immer verschwand. Statt seiner erschien ein Braun mit einem andern Milchmann.

Ich zog Erkundigung ein und erfuhr, daß der Pius Mäder Roß und Wagen und Milchhandel an einen andern Mann aus Stegen verkauft habe.

Als dieser das erstemal mit dem Rotschimmel aus der Stadt heimfuhr, scheute im Dreisamtale der alte Märtyrer und wollte wieder in die Stadt zurück, wahrscheinlich seiner Huldigungen halber.

Der neue Herr, Daniel Schweizer, verstand aber den Spaß, der ihm hätte gefährlich werden können, falsch. Er verkaufte den Störrigen alsbald an den Fuhrhalter Bernhard in der Vorstadt Wiehre.

Bald darauf sah ich auf einer Fahrt in die Karthause meinen Freund schweißtriefend an einem Steinwagen. Unsere Blicke trafen sich, und als schämte er sich seines neuen Schmerzensweges, wollte er umkehren, damit ich nicht länger in seinen Augen lesen könnte.

Der Fuhrknecht schlug aber so kräftig mit der Peitsche auf ihn ein, daß ihm sein Vorhaben verging.

Von den Huldigungen auf dem Franziskanerplatz bis zum Steinwagen und zur Peitsche war es also nur ein Schritt gewesen.

Jahr und Tag war er im neuen harten Dienst – dann hat ihn der Bernhard verkauft an einen Bauer ins Oberland in dem alten Städtchen Neuenburg am Rhein.

Ein gütiges Geschick leuchtete ihm so in letzter Stunde; er kam krank und alt dahin, wo er einst glücklich gewesen und von wo er einst stolz ausgegangen war – zum Bauernvolk.

Mögen ihm hier das Leben und die Arbeit leicht sein, bis der Tod ihn erlöst von allen irdischen Uebeln.

Ich aber will ihm, so lange ich noch am Fenster sitze, ein ehrendes und freundschaftliches Andenken bewahren.

 


 


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