Heinrich Hansjakob
Aus dem Leben eines Vielgeprüften
Heinrich Hansjakob

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6

Es vergingen einige Tage, bis ich mich wieder mit meinem Freunde in Rapport setzte. Ich hatte meine »Nerven«, und wenn ich selber elend bin, mag ich nicht auch noch das Elend anderer hören. Aber am ersten Tage, da ich etwas besser aufgelegt war, setzte ich mich wieder ans Fenster, und der Alte fuhr fort:

»Es ist ja das Los des edelsten und besten Pferdes, von Stufe zu Stufe zu sinken, bis ein gewaltsamer Tod seinem Leben ein Ende macht.«

»Ihr Menschen laßt ja kein Tier, das in eurem Dienste steht, eines natürlichen Todes sterben. Es ist aber dieser gewaltsame Tod meist auch die einzige Wohltat, die ihr uns erweist.«

»Vom Droschkengaul zum Tramwagenpferd ist kein Avancement. Die Tiere, die man sonst nirgends mehr brauchen kann und die alle Fehler unseres Rossegeschlechtes haben, kommen in der Regel an den Tram.«

»Und doch gefiel es mir in Freiburg dienstlich besser als in Straßburg. Einmal war unser neuer Herr, der Jenne, die Liebenswürdigkeit selber. Er bändigte durch diese Liebenswürdigkeit die bissigsten und bösartigsten Gäule und brachte die lahmsten zum Springen.«

»Sodann gab es Pausen im Dienst, während deren wir unter Dach und Fach standen, was einem Droschkengaul nicht zuteil wird.«

»Endlich war große Rossegesellschaft beim Jenne. Gegen Hundert meinesgleichen standen in seinen Stallungen, und da fehlte es nie an Unterhaltung. Es war allerdings die Unterhaltung in einem Asyl für Kranke, Bresthafte, Altersschwache und Unglückliche. Alle Bresten und alle Stände waren vertreten. Es gab steife, krumme, hinkende, kollerige, flußgallige Gäule, Asthmatiker, Neurastheniker und Schwindsüchtige. Es gab Araber, Engländer, Russen, Mecklenburger, Franzosen und Deutsche. Es gab Rosse von herabgekommenem Adel und aus den besseren und besten Ställen: denn die Droschken- und Trambahngäule sind ja meistens Tiere, die bei hohen und höchsten Herrschaften und beim Militär gedient haben.«

»Es gab darunter echte Adelige von blauem, englischem und arabischem Blut. Die meisten hatten einst stolze Namen getragen, wie Regina, Ajax, Viktoria, Imperator &c«

»Eine ganze Bibliothek hätte man schreiben können über das Leben dieser im Dienste der Menschheit herabgekommenen Geschöpfe. Alle waren empört über die Behandlung und über die Undankbarkeit, die sie erfuhren von seiten der Menschen.«

»Und jetzt in ihren alten Tagen noch mußten sie sich, wenn der milde Meister Jenne nicht um den Weg war, zu der schweren Arbeit hin beschimpfen und schlagen lassen von den Stall- und Fuhrknechten.«

»Ich lernte nach und nach die meisten meiner Leidensgefährten kennen; denn bald war ich mit diesem, bald mit jenem am Tram.«

»Neben mir ging meist ein alter Schimmel mit einem Maulkorb. Er stand auch neben mir im Stall, und wir wurden die besten Freunde.«

»Er war von uns allen am erbittertsten gegen die Menschen. Wo und wie nur einer ihm nahte, biß und schlug er, trotzdem er immer dafür geschlagen wurde. Sein Haß war aber noch größer als sein Schmerzgefühl.«

»Aus einem fürstlichen Gestüte von Eltern arabischen Vollbluts stammend, war er ehedem an königlichen Staatskarossen gegangen und nach und nach im Dienste der Menschheit herabgesunken bis zum Tramwagengaul.«

»Seine Gesinnung war die eines Anarchisten gegen alles, was Mensch heißt. Gern hätte er jeweils den Tramwagen umgeworfen oder in einen Abgrund geführt, wenn's auf ihn allein angekommen wäre.«

»Er schalt die Menschen feige, brutal und servil. Mut hätten sie nur nach unten, nie nach oben, darum ließen sie sich von ihren eigenen Herren alles gefallen, während sie gegen die Tiere unbarmherzig und tyrannisch seien.«

»Als er noch am Wagen des Königs gelaufen, hätte er oft gesehen und gehört, wie die Menschen hoch schrieen und Bücklinge machten vor ihrem Landesfürsten, der sie behandelte, wie sie es verdienten, d. i. schlecht.«

»Ja, selbst den leeren Wagen ohne König hätten sie mit Hochrufen begrüßt, in der Meinung, der Allerhöchste sei drinnen.«

»Auch die königlichen Hunde und Pferde hielten sie für höhere Wesen und waren voll von Staunen und Bewunderung, wenn sie dieselben sahen.«

»Wie feige die Menschen nach oben seien, könne man in unserem Stall sehen. Wenn der Meister Jenne die Knechte Lumpen und Faulenzer schimpfe und ihnen alles Böse nachsage, schwiegen sie, machten die Faust in der Tasche und ließen ihren Zorn nachher an uns aus.«

»Wo man hinschaue im Leben der Menschen, überall trete einem Unrecht und Charakterlosigkeit entgegen.«

»Selbst das sei ein Unrecht, daß nur die armen Teufel unser zusammengeschundenes Fleisch verzehren müßten, statt derer, die uns vom stolzen Karossier herunterkommen ließen zum Tramwagengaul.« –

»Zwei Jahre diente ich,« so fuhr mein Rotschimmel fort, »dem Meister Jenne am Tram und bin in dieser Zeit unzählige Male schweißtriefend mit meinen Unglücksgefährten die Kaiserstraße in Freiburg auf- und abgesprungen.«

»Man sagt immer, Freiburg sei eine schöne Stadt. Das gebe ich gerne zu, aber für einen Tramwagengaul ist es gleich, wo er ziehen muß. Ja, in seiner Lage macht eine schöne Stadt den Unglücklichen nur noch unglücklicher.«

»Und oft, wenn ich zur Sommerszeit am Ende der Trambahn stand und den Sternenwald sah und die vielen, heiteren Spaziergänger, dann trug ich mein Los noch schwerer.«

»Zwei Jahre also zog ich den Tramwagen, bis die Stunde der Befreiung kam. Die elektrische Bahn wurde am 1. Oktober 1901 in Betrieb gesetzt, und unser Jenne schrieb seine Tramwagenpferde zur Versteigerung aus.«

»In seinem Hof wurden wir aufgestellt und von den Liebhabern, meist Bauersleuten, gemustert. Bei der Versteigerung ward ich meinem heutigen Herrn, Pius Mäder in Stegen, um 160 Mark zugeschlagen.«

»Er führte mich alsbald talaufwärts. Ich sah wieder Natur – Berge und Wälder, Wiesen und Bach – und atmete wieder auf.«

»Und als er mich in seinem friedlichen Weiler in den Stall führte und mir Futter nach Belieben vorwarf, glaubte ich nach so vielen Prüfungen noch an einen schönen Lebensabend.«

»Aber schon der erste Morgen stimmte meine Hoffnungen wesentlich herab. Ich mußte mit dem Milchwagen wieder in die Stadt und bei Wind und Wetter auf diesem Platz stehen. Mein Rheumatismus von Straßburg her nahm zu, und unter stechenden Schmerzen stehe ich meist vor deinem Hause, und von den vielen Menschen, die an mir vorübergehen, bist du der einzige, der an meinem Schicksal Anteil genommen hat.«

»An Sonn- und Feiertagen sehe ich die Menschen zahlreich über den Platz in die Kirche eilen, um ihrem Gott ihre Leiden und ihren Kummer zu klagen. Aber an meine Leiden denkt keiner der Kirchengänger.«

»Ich höre oft die Kapläne von St. Martin, von denen einzelne mit wahrer Löwenstimme reden, predigen von der Vergeltung der Leiden und Schmerzen dieses Lebens in einer anderen Welt. Ich frage mich aber dabei oft, ob das nur von den Leiden der Menschen und nicht auch von denen der viel unschuldigeren Tiere gelten möchte.«

»Könntest du mir am Schluß meiner Erzählung nicht darüber Auskunft geben und auch mich, den vielgeprüften Dulder, etwas trösten und in mir und mit mir meine zahlreichen Leidensgenossen?« –

So endigte der arme Rotschimmel die Geschichte seines Lebens, und ich war von tiefem Mitleid ergriffen über sein Schicksal.

Eben wollte ich ihm meine tröstliche Antwort zukommen lassen, als der Pius Mäder mit seinen leeren Milchkannen daherkam und unserem Verkehr für heute ein Ende machte.

Ich schaute dem vierbeinigen Märtyrer ins Auge und tröstete ihn aufs nächstemal. Dankbar schaute er mich an, ehe er den Platz verließ, mühsam sich fortschleppend.

 


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