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Zwanzigstes Kapitel.
Ein Lichtstrahl


Bei dem Portier drunten hätte das Erscheinen des kranken Herrn aus denselben Gründen fast einen Schrei der Ueberraschung hervorgerufen. Der einzige Trost des alten Mannes war, daß er den Grafen in der Gesellschaft des Barons von Breda sah. »Bei dem ist er aufgehoben, wie in Abrahams Schooß,« sagte er nachher zu den Bedienten, als diese in der Portierloge über dieses Ereigniß ihre Meinungen austauschten.

Unterdessen rollte der Wagen in die Nacht hinaus, erreichte nach kurzer Zeit das Haus vor der Stadt, fuhr in den Hof, und auf den Befehl des Barons hielt der Kutscher dicht vor dem überdeckten Eingange des Wintergartens. Das mußte im Haupthause der wartende Bediente gehört haben, denn statt daß sich dort die Thür öffnete, sah man den Lichterschein im Vestibül verschwinden, dann im Vorzimmer des Eßsalons erscheinen und bald darauf hinter den hohen Fenstern des Wintergartens glänzen.

Es war Friedrich, der Jockey, der nun hastig die Glasthüren aufriß und mit gerechter Verwunderung zuschaute, wie sein Herr dem kranken Grafen Helfenberg aus dem Wagen half und ihn sorgsam in das Vestibül geleitete.

»Ist meine Frau noch im Eßsalon?« fragte der Hausherr, worauf der Jockey entgegnete, daß sich die gnädige Baronin mit Fräulein Eugenien schon vor einer halben Stunde zurückgezogen hätte.

»Gut. Wenn Andreas noch bei der Hand ist, so soll er hier einige der Gaslichter anzünden; wir müssen doch auf unserem nächtlichen Spaziergange etwas sehen.« Damit wandte sich George von Breda an seinen Freund: »Und jetzt erlaube, daß ich dich an einen kleinen deliciösen Platz führe, wo du, wie in einer Laube sitzend, das ganze Glashaus vor dir hast.«

Hierauf schritten Beide nach dem Speisezimmer am entgegengesetzten Ende des Wintergartens und ließen sich dort auf ein paar tiefe, bequeme Gartenstühle nieder.

»Es muß schön hier sein,« sagte der Graf nach einer Pause, nachdem er einen tiefen Athemzug gethan. »Ah! wie mir die angenehme Temperatur und der Duft der Pflanzen so wohl thut! Dazu das freundliche Plätschern des Springbrunnens! Du hast eine glückliche Idee gehabt, den Wintergarten so zu sagen in dein Haus hinein zu bauen. Daran wird bei ähnlichen Anlagen so wenig gedacht. Was nützen mir zum Beispiel meine großen Glashäuser auf Stromberg? O, hätte ich mir doch schon früher etwas Aehnliches an mein Haus in der Stadt bauen lassen! – Jetzt ist es zu spät.«

»Sprich nicht so, mein lieber Hugo!« versetzte freundlich der Andere. »Wer kann in dem Falle sagen, es ist früh oder spät? Glaube mir, deine finsteren Gedanken können dir nur schaden. Wirf sie mit Gewalt weg, laß dir morgen früh deinen Baumeister kommen; so ein Gebäude von Glas und Eisen ist bald aufgeführt.«

»Meinst du?« fragte der Kranke in lebhafterem Tone.

»Ich weiß das genau; und das Entstehensehen an sich wird dich schon zerstreuen.«

»Vor einer halben Stunde noch hätte ich über einen solchen Vorschlag die Achseln gezuckt,« entgegnete der Graf, »aber ich weiß nicht, woher es kommt, – wenn ich die grünen Blätter um mich sehe und die müde Luft athme, auch das Wasser rauschen höre, so ist mir gerade, als sei ich noch einmal durch den Winter gekommen und habe alsdann noch einen langen Frühling und Sommer vor mir.«

»Den Glauben halte fest,« versetzte George von Breda, indem er seine Hand sanft auf den Arm des Freundes legte. »Gewiß, lieber Hugo, Hoffnung nährt und erhält.«

»Ja, du hast Recht,« rief der Kranke aus, doch zitterte seine Stimme mit einem Male wieder schmerzlich. »Hoffnung erhält und nährt, aber Hoffnungslosigkeit fällt gewaltsam über uns her und drückt uns ohne Rettung zu Boden. – Und ich habe keine Hoffnung – keine – keine – keine! – –«

» – Sieh, wie sich das so freundlich macht, wenn plötzlich die Lichter aufflammen! Nicht wahr, es ist so angenehm und gibt uns ein Gefühl, als wenn der Raum um uns her plötzlich in die Breite und Höhe wüchse.«

»O, es ist schön, sehr schön!«

»Und das zitternde Licht zwischen den Laubmassen, hier von unten bestrahlt, auch die Umrisse des feinsten Blattes deutlich zeigend, dort durchsichtig im saftigsten Grün.«

»Ja, es ist alles das wunderbar schön.«

»Sieh jetzt auch den Strahl des Springbrunnens; wie es im Wiederschein glänzt und flimmert! Man sieht hier und da die einzelnen Tropfen, wie an einem Frühlingstage den Thau auf den Gräsern.«

»O, so schön, so wunderbar schön! Aber für mich ist es Täuschung. Der Frühling ist noch fern, ich werde ihn nicht mehr sehen – keine – keine Hoffnung!«

Da vernahmen die Beiden mit einem Male am anderen Ende des Wintergartens eine weiche, liebe Stimme, laut, klangvoll und deutlich sprechend: »Bist du da, Onkel George? Tante droben hat das Licht im Wintergarten erblickt und sagte mir, ich solle nachsehen. – Bist du da?«

Bei dem Ton dieser Stimme war der Graf aufs höchste erregt empor gefahren; er faßte den Arm des Freundes, und dieser fühlte, wie seine Hand zitterte.

»Bist du es, Onkel George?« fragte jetzt die Stimme zum dritten Male, und im gleichen Augenblicke sah man Eugenie auf der Höhe der Treppe des Eßzimmers erscheinen. Dort flammten rechts und links vom Eingange zwei blendende Lichter und zeigten das junge, schöne Mädchen prächtig eingerahmt von den grünen Sträuchern im blendenden Glanze, und sie erschien in ihrem hellen einfachen Kleide, das dicke Haar so kunstlos um den edlen Kopf geschlungen, denen, die sie dort oben so plötzlich hervorschweben sahen, wie eine übernatürliche Erscheinung.

»Allerdings bin ich es, mein Kind,« rief der Baron und setzte hinzu, als ihm der Graf eilig etwas zuflüsterte: »Ich danke dir für deine Bemühung, liebe Eugenie. Sage der Tante, ich werde gleich kommen.«

»Du hast ja die Lichter anzünden lassen, Onkel George,« fuhr das Mädchen mit freundlich klingendem Tone fort. »Das sieht prächtig aus. Ich habe es nur ein einziges Mal und flüchtig gesehen.«

»Sie wird herunter kommen!« sprach leise der Graf mit bebender Stimme. »Thu' mir die Liebe und geh' ihr entgegen; führe sie fort, ich kann und will mich nicht sehen lassen.«

»Gut, ich werde ihr sagen, daß du da bist.«

»Daß ich – ?« fuhr der Andere auf; »ja, ja,« sprach er gleich darauf, wie sich besinnend. »Sage ihr, wenn du willst, Graf Helfenberg sei da, ein scheuer Mensch, den es unglücklich mache, jemand Unbekanntes zu sehen.«

Als hierauf der Baron vorschritt, erhob sich der Kranke langsam von seinem Stuhle und trat hinter einen der Bäume, durch deren Zweige er die ganze Gestalt Eugeniens sehen konnte; er drückte die Stirn an den Stamm, seine Augen starrten nach der lieblichen Erscheinung hin, während sich seine Lippen in wildem Schmerz auf einander preßten.

Dort stand sie und reichte seinem Freunde so herzlich die Hand, dann sagte ihr dieser leise ein paar Worte, worauf sie den Kopf ein wenig wandte und mit den großen dunklen Augen ein paar Sekunden lang in den Wintergarten hinabschaute. Dabei flog etwas wie Wehmuth über ihre Züge; sie bewegte die Lippen, und wenn sein Ohr auch begreiflicherweise nicht einen Ton ihrer Worte verstand, so war es ihm doch, als klängen sie in seinem Herzen wieder und als fühle er, daß sie sagte: »Das thut mir recht weh, o, das ist sehr unglücklich!« – Wie sie so schön war, so wunderbar schön! Es durchzuckte den Grafen ein entsetzlicher Schmerz, als er auf sie hinstarrend nun sah, wie sie sich langsam wandte, um wegzugehen, und gleich darauf bebte es wieder wie ein unnennbares Glück in seiner Brust, als sie noch einmal das glänzende Auge nach der Richtung wandte, wo er stand. O, warum durfte er nicht hervorstürzen, warum nicht ihren Namen rufen, tausendmal ihren geliebten Namen rufen: Eugenie! Eugenie! warum sie nicht zurückhalten, sie um die Seligkeit einer kurzen Unterredung bitten? – Warum durfte er das nicht? – O, das fühlte er wohl, um nicht in ihrem Herzen das mitleidige Interesse zu zerreißen, welches das junge schöne, blühende Mädchen einst empfunden, als er sie gesehen vor der Hütte im Walde, er, der Neffe des Jägers. War doch die Theilnahme, das Mitleid, welches damals aus ihren Augen leuchtete, fast das Einzige, was ihn schmerzlich und doch wieder so süß an dieses Leben fesselte. Sah er ihn doch beständig vor sich, ihren feuchten, glänzenden Blick, als er es gewagt, ihre Hand zu berühren, ihre warme süße Hand; ja, als er sich sogar unterstanden, ihre Finger leicht und flüchtig zu küssen. – O Seligkeit jenes Augenblickes, o tiefer Schmerz des gegenwärtigen! – Es war ihm, als zöge sie ihn gewaltsam nach, wie sie nun da droben verschwand; er warf die Hände wie flehend vor, um sie zurückzuhalten, oder mit dem glühenden Wunsche, ihr folgen zu dürfen, nicht körperlich, so elend wie er war, nein, alles Leid, allen Schmerz, sein Leben hinter sich lassend, ihr nahe bleiben, sie umschweben zu dürfen, ein seliger Geist.

Aber so freundlich und wohlwollend tritt der Tod nicht leicht zu einem Sterblichen; aufs tiefste erschüttert, zusammenbrechend, sank der arme Kranke wohl auf die Bank nieder, vor welcher er stand, aber sein Bewußtsein blieb ihm, das Bewußtsein seines Elends, seines Unglücks, seiner Hoffnungslosigkeit. Er preßte die Hände vor das Gesicht und war glücklich über die erleichternden Thränen, die aus seinen Augen stürzten.

Als George von Breda zurückkehrte, fand er den Freund schwach und willenlos wie ein Kind. Wohl richtete er sich auf, doch bat er den Baron, ihn noch einige Augenblicke ruhig sitzen zu lassen, da ihn eine plötzliche Schwäche übermannt.

»Du wirst mein Begehren, dich hieher zu begleiten, thöricht finden,« sagte er nach einer Pause mit matter Stimme, »und ich habe mir ein wenig zu viel zugemuthet; anderentheils aber hat es mir wohl gethan. Es war vorher eine Aufregung in mir, eine Unruhe, die ich nicht bemeistern konnte, die mich die ganze Nacht gequält hätte. Gott sei Dank! die ist etwas gewichen, und wenn ich mich auch abgespannt fühle, so bin ich doch ruhiger, angenehm ermüdet. Aber du, mein lieber George, wirst dich für ähnliche Besuche bedanken. Nun, das wird ja nicht häufig vorkommen.«

»Sprich nicht so, Hugo,« fiel ihm der Baron ins Wort, »Du kennst mich doch wohl genugsam, um zu wissen, daß ich ein paar Nachtstunden gern aufbleibe, und besonders, wenn ein Zweck damit verbunden ist wie heute. Laß die Grübeleien, erinnere dich lieber an frühere Zeiten, wo wir manch ehrliches Theil des Schlafes geopfert, ohne etwas davon zu haben, als anderen Tages einen schweren Kopf und einen leeren Geldbeutel.«

»Das war damals, als wir spielten.«

»Ja, als wir verspielten,« erwiderte George von Breda lachend, »und du immer gewannest.«

»Ich hatte im Spiel ein seltenes Glück,« sagte träumerisch der Graf, »habe aber auch die Wahrheit des Sprüchworts empfunden: Glück im Spiel, Unglück in der Liebe.«

»Das ist ein Kapitel, worüber du noch nie gesprochen.«

»Und auch nie sprechen werde. Es liegt in meinen Papieren, und meine Erben brechen es auf,« recitirte der Kranke mit so leiser Stimme, daß der Andere seine Worte kaum verstand. »Aber jetzt genug des grausamen Spiels,« fuhr er nach einem augenblicklichen Stillschweigen heiterer fort, »des grausamen Spiels nämlich, dir deine Nachtruhe zu stehlen. Warum ich dich noch plagen will, ist, einen Gang mit mir durch den Wintergarten nach deinem so oft gerühmten Eßsalon zu machen; ich muß mir das ansehen, denn es ist fast lächerlich von mir, es auszusprechen, und doch wahr: dein Rath, in meinem Hause an der Stadt einen ähnlichen Wintergarten zu bauen, hat mir wirklich gefallen. Es gäbe mir wenigstens eine Unterhaltung, wenn auch nur für kurze Zeit. Deßhalb laß mich dieses Appartement sehen, bis wo es in dein Haus mündet.«

Damit schritten die Beiden langsam durch das Glashaus dahin.

»Du hast die Pläne selbst gemacht?« fragte der Graf.

»Ich habe sie entworfen und durch einen Architekten ausführen lassen.«

»Den Mann kannst du mir recommandiren; wenn es dir genehm ist, kann er mir die genaue Zeichnung des Wintergartens, des Eßsalons, ja, wenn du nichts dawider hast, deines ganzen Hauses machen und mir die einzelnen Theile selbst erklären. Mich interessirt das. Ist dir's recht?«

»So recht, daß ich mich herzlich darüber freue, Hugo; ja, es macht mich ganz glücklich, daß du wieder einmal an so etwas denkst und nicht immer von – anderen Dingen sprichst. Ich versichere dich, meine Leidenschaft ist das Bauen,« setzte er lachend hinzu, »und wenn du bei dir anfängst, so werde ich deinen Bauaufseher machen. Ich bringe bei dir neue Dinge an, an welche ich hier leider zu spät gedacht. Hast du wirklich Lust, zu bauen?«

»Es könnte wohl sein, daß ich etwas bauen will,« entgegnete der Graf mit einem sonderbaren Tone der Stimme. Fast schämte er sich, gegen den Freund falsch zu sein, denn er dachte in Wirklichkeit nicht im Entferntesten daran. Ihm war es nur darum zu thun, einen Plan des Wintergartens und des Hauses zu erhalten, um die Stellen zu suchen, wo sie sich aufhielt, wo sie wandelte, wo sie ihre Tage zubrachte.

Sie befanden sich jetzt auf der kleinen Terrasse, die ins Eßzimmer führte, wo Eugenie gestanden. Genau auf denselben Platz trat der Graf ebenfalls und blickte in das Glashaus zurück, wie sie vor wenigen Minuten gethan. O, ihm war so wohl, so selig in diesem Augenblicke! Es war ihm, als sei die Atmosphäre wunderbar verwandelt, als umwehe ihn ein eigenthümlicher geistiger Hauch, und deßhalb ging er fast bebend in den kleinen Eßsalon.

»Hier speist ihr jeden Tag?« fragte er mit leiser Stimme.

»Fast jeden Tag, und nachher bleibt meine Frau und Eugenie dort am Kamine sitzen.«

»So auch heute Abend?« fragte hastig der Kranke. »Man sieht es, dort stehen noch die beiden kleinen Fauteuils. – Und hat deine Frau nicht gelesen?« setzte er mit einem fast lauernden Blicke hinzu. »Ja, es muß so sein, auf dem Gesimse des Kamins ist die Lampe stehen geblieben.«

»Ja doch, sie wird gelesen haben,« erwiderte unbefangen George von Breda. »Dort hat sie ihren Platz. Eugenie sitzt ihr gegenüber.«

»Den Kamin muß mir der Architekt nicht vergessen,« sprach der Graf scheinbar sehr ruhig. »Es muß sich vortrefflich daran sitzen.«

Bei diesen Worten ließ er sich mit einer Aengstlichkeit, als begehe er etwas Schlimmes, auf den kleinen Fauteuil nieder, in welchem das junge Mädchen gesessen. Er blickte beinahe furchtsam auf seinen Freund hin, als halte er es für möglich, dieser könne seine Absicht merken; doch hatte der Baron, gewiß ohne dergleichen zu denken, die Lampe von dem Kamin genommen und setzte sie auf den Tisch.

»Auch die Zeichnung eines solchen Fauteuils bitte ich mir aus,« fuhr Graf Helfenberg nach einer Pause fort; »ich habe wahrhaftig nichts so Bequemes. O, wie es sich angenehm darin sitzt!«

Und in der That durchströmte ihn ein angenehmes, wonniges Gefühl; er fuhr mit der Hand über die Lehne hinab; er legte sie alsdann auf das Kamingesims; ja, er berührte nach der Reihe alle Gegenstände, die er von seinem Sitze aus erreichen konnte, den blanken Feuerschirm, der sich hin und her rücken ließ, die zierliche Schaufel und Zange, endlich den Teppich zu seinen Füßen, um sich zu überzeugen – so sagte er – ob derselbe sehr dick und weich sei – dann stand er seufzend auf.

»An diesen Eßsalon,« sprach der Hausherr, indem er die andere Thüre öffnete, »stößt noch ein kleines Kabinet, welches alsdann ins Haupthaus führt.«

»Das ist ein hübsches Kabinet,« antwortete der Graf und dabei trat er hinein bis zur anderen Thür, deren Drücker er leicht mit seinen Fingern berührte. »Und nun ist es gut,« sprach er darauf, »mache deiner Frau mein Compliment und sage ihr, ich lasse um Entschuldigung bitten, sie so spät am Abend gestört zu haben; aber ohne Versprechen, daß ich es nicht noch einmal so mache. Der Wintergarten sei deliciös, und ich hoffe, ihn noch einmal in aller Einsamkeit besuchen zu dürfen. Dann vergiß du mir die Zeichnungen nicht.«

»Daran soll es nicht fehlen, und du wirst sie sehr schnell erhalten,« versetzte George von Breda, indem er den Grafen freundschaftlich unter den Arm faßte und durch das Eßzimmer nach dem Ausgange des Wintergartens geleitete. »Auch wiederhole ich dringend meine Einladung, mein Haus als das deinige anzusehen. Komm, wann du willst, und du wirst sehen, daß wir deinen Wunsch, allein sein zu wollen, respectiren.«

»Ich danke dir herzlich,« antwortete der Kranke, und dabei reichte er dem Freunde beide Hände; »du hast mir einen angenehmen Abend gemacht. Gute Nacht, mein lieber George!«

»Warum gute Nacht? Ich begleite dich bis in deine Wohnung.«

»Welche Idee! Wozu das? – Auf keinen Fall! Dein Kutscher wird mich sicher nach Haus bringen. – Herzlichen Gruß den Deinigen und gute Nacht!«

Damit stieg er in das Coupé, und ehe der kleine Friedrich, der diensteifrig am Schlage stand, diesen schließen konnte, rief er nochmals hinaus: »Aber vergiß mir die Pläne nicht!«

»Gewiß nicht.«

»Gute Nacht!«

Damit rollte der Wagen von dannen, und Graf Helfenberg befand sich für kurze Zeit in einer angenehmen, behaglichen Stimmung. Doch verflogen die lieblich gaukelnden Bilder, welche ihn beim Anblick der freundlich grünen Bäume des kleinen Eßsalons mit seinen traulichen Plätzen umschwebt, wie ein plötzlich zerrissener Traum, als nun die kalte, unheimliche Nacht ihn wieder umgab. Am Himmel wurden die fliehenden Wolken von heftigem Winde gejagt, und die nackten Aeste der Bäume beugten sich vor dessen rauher Hand. Im zweifelhaften Mondlichte erblickte der einsam Fahrende dort den Weg, der über die Höhe führte nach jenen stillen Thälern, wo er für kurze Zeit so glücklich gewesen war und wieder so entsetzlich elend; nur einen Augenblick sah er die hellere Straße, dann wurde sie bei einer raschen Wendung des Wagens seinem Gesichtskreise entrissen, – ja, hinweggerissen, wie auch alles, was er liebte, was ihn so unendlich glücklich gemacht hätte, hinweggerissen wurde von seinem schmerzerfüllten Herzen. Selbst die Wolken über ihm flohen rückwärts, keine schien freundlich mit ihm ziehen zu wollen; ja, die welken Blätter am Boden, Regen und Schnee mochten nicht einmal mit ihm gemeinsame Sache machen: sie, die auch vergänglich waren wie er, sie jagten dorthin, wo er her kam, sein Pfad schien ihnen zu kurz, zu traurig. – Und warum mußte es so sein? Warum konnte er, so jung noch, nicht mehr freudig in das Leben hinein sehen, das ihm des Schönen, des Herrlichen so viel hätte bieten können? Warum stand er in den Jahren, wo man sich freuen und immer inniger fühlen soll, schon am Ende seiner Tage? Warum? – warum? Und dieses warum? fragte er sich oft, und bei jeder neuen Frage schloß er jetzt, wo er allein war, krampfhafter seine Hände, biß er sich die Lippen blutig. – Warum? – warum? Für die Erde, die jetzt kalt, schwarz und finster um mich liegt, ist diese Sturmnacht, diese winterliche Erstarrung nur ein vorübergehender schwerer Traum, warum nicht auch für mich? Gräser und Blumen, die jetzt der starre Tod umfangen hält, werden aufleben zu einem frischen Dasein wie früher, warum ich nicht? Sie werden noch mit Liebe angeschaut werden, noch lange, lange Jahre von leuchtenden, liebenden Menschenaugen; warum ich nicht? Warum? – warum?

Damit biß er aufs Neue die Zähne zusammen, und wie leuchtende Blitze fuhr das, was er vor kurzer Zeit gesehen, die glänzend bestrahlten Blätter des Wintergartens, einen zierlichen Rahmen bildend, in welchem ihre wunderbare Gestalt erschien, an seiner Seele vorüber, und wie es nicht mehr geschehen seit längerer Zeit, so erfaßte jetzt auf einmal wieder grimmige Verzweiflung sein Herz; er bäumte sich auf und stöhnte: Nein, ich will nicht! – ich will nicht!

Da war es gut für den Unglücklichen, daß in diesem Augenblicke der Wagen aus schnellem Laufe mit einem plötzlichen Rucke hielt und so gewaltsam seine finsteren Träumereien zerriß. Zu abgespannt und gleichgültig, um nach der Ursache des Haltens zu blicken, drückte er sich fest in die Ecke des Coupé's, und doch konnte er sein Ohr, wie er wohl gewünscht, nicht verschließen, und vernahm deßhalb die Stimme des Kutschers, der scheltend sagte: »Das lief noch einmal gut ab, aber wer heißt Euch auch wie toll und blind in meine Pferde hineinlaufen?«

Darauf antwortete eine andere Stimme: »Sie werden mir zugeben, lieber Freund, daß man bei der finsteren Nacht gerade nicht blind zu sein braucht, des andern Prädikats gar nicht zu gedenken, um mit einem so polizeiwidrig rasch fahrenden Wagen, der nicht einmal Laternen hat, auf höchst unangenehme Art zusammen zu gerathen. Statt zu schimpfen, hätten Sie besser gethan, sich zu entschuldigen; item, merken Sie sich das für ein ander Mal.«

Der Graf horchte auf, als er diese Stimme vernahm, die ihm bekannt vorkam; er blickte hinaus. Schon setzte sich der Wagen in Bewegung, da erkannte er die kleine Gestalt des Armenarztes, der an der Straße stand und heftig mit seinem Regenschirm gesticulirte.

Warum mußte gerade dieser die Ursache sein, daß der Graf seinen finsteren Gedanken entrissen wurde? Warum mußte ihm der Arzt gerade jetzt in den Weg treten, als er verzweifelnd nirgend mehr Hülfe und Rettung sah? Oft erscheint, wenn wir in dunkler Nacht gehen, dicht vor unseren Augen etwas wie ein zuckendes Licht – es ist nicht das Leuchten eines Blitzes, es ist nicht der Strahl eines Sternes, aber es zerreißt auf Momente die trostlose Finsterniß, es ist im Stande, unsere Gedanken zu wenden. So war es dem Grafen, als er plötzlich die kleine Gestalt des Arztes der Armen, seines Arztes vor sich sah; gehörte er doch auch zu denen, die in dessen Pflege waren; war er doch ärmer als alle die Armen.

Ein Zug an der Schnur, die von dem Arme des Kutschers in das Coupé hinein ging, machte die Pferde augenblicklich wieder halten; Graf Helfenberg öffnete den Schlag und rief den Namen des Doktors, welcher alsbald näher trat und erstaunt ausrief: »Aber ums Himmels willen, Euer Erlaucht, bei diesem Wetter auf der Straße? Sie werden mir erlauben, daß mich das fast noch mehr wundern muß als vorhin der Ueberfahrungs-Versuch Ihres Kutschers.«

»Und Sie, bester Doktor, was machen Sie so spät hier?«

»Was ich so spät hier mache? O, gnädiger Herr, den Glücklichen und den Aerzten schlägt keine Stunde.«

»Erklären Sie mir das deutlicher. Aber, wenn ich bitten darf, in meinem Wagen – ich fahre Sie nach Hause.«

»Meinetwegen denn; ich folge Ihrem Befehl. Aber ehe ich einsteige, werden Sie mir die Bemerkung erlauben, daß bei diesem Nachhauseführen doch nur die Wohnung Euer Erlaucht gemeint sein kann.«

»Nein, nein, die Ihrige, lieber Doktor,« sagte hastig der Graf. »Aber kommen Sie in den Wagen.« – Der kleine Arzt war immer noch auf dem Tritte des Wagens stehen geblieben.

»Euer Erlaucht werden mir verzeihen, wenn ich in dem Punkte eigensinnig bin wie ein altes Maulthier. Aut Caesar, aut nihil, das heißt nach Ihrer Wohnung fahren oder gar nicht.«

»Ich sehe wohl, mit Ihnen ist nicht zu spaßen. So kommen Sie denn herein. Wenn Sie aber vorher die Gefälligkeit hätten, dem Kutscher zuzurufen, er solle nach Hause fahren, so wäre ich sehr dankbar dafür.«

Also that Doktor Flecker, dann schüttelte er seinen Regenschirm ab und trat in das Coupé, welches im raschen Laufe der Pferde davon fuhr.

Gleich darauf erreichten sie das Pflaster, wo das Rollen auf den Steinen die Conversation sehr beschwerlich gemacht hätte, weßhalb eine solche unterblieb. Wenige Zeit nachher kamen sie auch vor das Palais des Grafen, der Wagen hielt unter dem Thorbogen, und augenblicklich wurde der Schlag geöffnet, worauf der Doktor zum großen Erstaunen der Dienerschaft dem Coupé entsprang. Sorgfältig half er dem Grafen aussteigen und geleitete ihn bis an die Haustreppe. Hier wollte er sich empfehlen, doch sagte ihm der Kranke: »Wenn Sie nicht gar zu sehr pressirt wären, mein lieber Doktor – eine Frau, die Sie sehnlich erwarten könnte, haben Sie, glaube ich, nicht – so würde ich es als eine Gunst ansehen, wenn Sie noch eine halbe Stunde bei mir eintreten wollten. Es wäre ein gutes Werk, mit mir noch ein wenig zu plaudern, das wäre Recept und Arznei, die Sie einem armen Kranken, wie ich bin, nicht vorenthalten dürfen.«

»Und woraus ich mir ein Vergnügen mache,« entgegnete heiter der Doktor. »Wenn Eure Erlaucht mir also erlauben, so steigen wir hinauf. Die Luft auf der Treppe ist ein bischen kühl.«

Damit faßte er den Grafen unter den Arm, und Beide stiegen langsam an den Ritterfiguren, die bei den flackernden Lichtern, welche die Lakaien trugen, fast freundlich aussahen, vorüber, die Treppe hinauf.

Der alte Portier drunten blickte seinem Herrn und dessen Begleiter einen Augenblick voll Theilnahme nach, dann patschte er Einem von der Dienerschaft, der bei ihm stehen geblieben war, mit der dicken, fleischigen Hand auf die Brust und sagte: »Wenn ich je einmal König werden sollte, der kleine Doktor müßte mein Leibarzt werden. Was der Mann mit den einfachsten Hausmitteln auszurichten versteht, davon habt Ihr gar keine Idee.«

Dieses Lob des alten Pförtners gründete sich darauf, daß ihm der Doktor bei allerlei Magenbeschwerden, die er häufig hatte, bald diesen, bald jenen Liqueur verordnete, oder ihn bei Indigestionen mehrere Tage lang auf Kamillenthee und sonst nichts gesetzt hatte. – Hausmittel in der That, die denn auch immer eine vortreffliche Wirkung geäußert.

Der Graf war schon längst oben in den Zimmern verschwunden, als ihm der Portier immer noch nachblickte, immer noch kopfnickend, in tiefes Nachsinnen versunken, und dann, ehe er in seine Loge zurücktrat, seufzend bemerkte: »Ja, Hausmittel! Hausmittel! die hätten dem armen Herrn auch besser gethan als all die Kuren, mit denen sie ihn schon gequält haben. Wie schon gesagt, ich König und der kleine Doktor da mein Leibarzt.«

Oben in dem uns bekannten Kabinette angekommen, ließ sich Graf Helfenberg, von dem Exceß, den er begangen, doch einigermaßen ermüdet, in seinen Lehnstuhl am Kamine nieder, nachdem der Kammerdiener für den Doktor einen anderen herbeigerollt.

»Sie sind Raucher?«

»Zu Haus ein Anhänger der langen Pfeife.«

»Nehmen aber auch ausnahmsweise eine Cigarre?«

»Mit Vergnügen.«

»Und was glauben Sie, bester Doktor,« fuhr der Hausherr lächelnd fort, »zu einem Tropfen sehr guten Punsch? Das könnte nach der Fahrt in der kalten Nacht wohl nichts schaden?«

»Ich glaube nicht, daß wir damit ein Unrecht begingen,« meinte lachend Doktor Flecker.

Der Kammerdiener entfernte sich, ohne einen weiteren Befehl abzuwarten.

»Und erlauben Sie mir auch ein Glas?« fragte der Hausherr.

»Immerhin, das wird Eurer Erlaucht nicht den geringsten Schaden thun.«

»Schaden mehr thun, wollten Sie sagen,« erwiderte der Andere und betonte das »mehr« sehr scharf. »So seid ihr Aerzte. Zuerst quält ihr uns mit Arzneien und Enthaltsamkeit, um am Ende der Sache ihren Lauf zu lassen, wie Gott will.«

»So war es in der That nicht gemeint,« versetzte der Armenarzt. »Ich halte einen guten Punsch für ein sehr unschuldiges Getränk.«

»Sei es darum,« sprach Graf Helfenberg, indem er sich in seinem Fauteuil ausstreckte. »Wir wollen einmal einen kleinen Exceß begehen auf Ihre Verantwortung. Die Cigarre habe ich mir schon zugelegt, und da Sie es erlauben, also auch ein paar Tropfen Punsch.«

Dieser wurde auch im nächsten Augenblicke von dem Kammerdiener in einer kleinen Krystallbowle gebracht. Derselbe füllte auf den Wink des Grafen zwei Gläser und verließ eben so schweigend wie vorhin das Zimmer.

»Wo kommen Sie denn so spät her, bester Doktor,« fragte der Hausherr nach einer Pause, »bei diesem entsetzlich schlechten Wetter?«

»Natürlich von einem Kranken, Erlaucht.«

»Aber da draußen wohnt ja Niemand mehr.«

»O ja, in den kleinen Häusern an der Chaussee viele arme Leute.«

»Richtig, arme Leute.«

»Meine Patienten.«

Der Graf sah mit einem Blick der Theilnahme auf den kleinen Doktor, der behaglich aus seinem Punschglase schlürfte. Sein Rock war überaus einfach, auch nicht nach neuem Schnitt, und das wirklich abscheuliche Wetter hatte seine Stiefel und den unteren Theil seiner Beinkleider ziemlich stark mitgenommen.

»Ich hatte da einen sehr schönen, interessanten Fall,« sagte der Doktor, wobei er in die glühenden Kohlen des Kamins blicke. »Ein schwerer Fall, der mich recht freut.«

»So! ein schwerer Fall kann den Arzt recht freuen?«

»Das will ich meinen, je nachdem der Ausgang ist. – Daß wir Aerzte,« fuhr der Doktor fort, »sehr häufig im Dunkeln umher tappen, ist eine alte Geschichte, und sehr wahr das Gleichniß mit dem Stock und dem Topf; auch wird gar zu häufig der Topf getroffen. Um so freudiger ist es dann aber für Jemand, der seine Wissenschaft wirklich von Herzen liebt, wenn ihm auf einmal im Finstern selbst der unbedeutendste Lichtstrahl erscheint, wenn man einsieht, man war auf falschem Wege, und biegt nun plötzlich mit aller Sicherheit endlich in die richtige Straße ein.«

Der Graf hatte den Kopf auf die Hand gestützt und lauschte aufmerksam. »So geben Sie zu,« sagte er nach einem kleinen Stillschweigen, »daß ihr Aerzte euch öfters irrt?«

»Davon ist Niemand besser überzeugt, als ein denkender Arzt selbst,« erwiderte eifrig der Andere.

»Und doch habe ich noch nie gehört,« sprach der Graf, »daß ein Arzt selbst beim schwierigsten Falle in Verlegenheit gekommen wäre, augenblicklich zu sagen: Dies oder Das ist die Krankheit des Patienten.«

»Es gibt allerdings Bevorzugte unserer Kunst, die, ich möchte sagen, von der Natur mit einem glücklichen Scharfblick begabt sind, um sogleich die Diagnose einer Krankheit stellen zu können.«

»Die sich aber auch irren können und dann wieder um so weniger geneigt sind, den falschen Schritt, den sie vielleicht gethan, anzuerkennen. O, ich kenne das!« bemerkte der Graf.

Hierauf versank er wieder in tiefes Nachdenken, doch schien dasselbe unangenehmer Art zu sein; sein Kopf glitt von der Handfläche herab, und die Finger gruben sich in sein Haar.

Doktor Flecker blickte mitleidig zu ihm hinüber und hatte offenbar eigenthümliche Gedanken, als er in dem prächtigen Kabinet umherschaute, all diesen Reichthum, all diesen Luxus sah und dazu die zusammengebrochene Gestalt des jungen Mannes vor sich.

Dieser richtete sich nach einiger Zeit hastig in die Höhe, warf einen festen, durchdringenden Blick auf den Arzt und fragte ihn mit scharfem und bestimmtem Tone: »Und was mir fehlt, darüber scheint bei allen Aerzten kein Zweifel zu herrschen, und Ihre Ansicht vereinigt sich mit denen der Uebrigen. – – Bitte, lieber Doktor, geben Sie mir eine Antwort,« fuhr er nach einer Pause fort, als der Arzt achselzuckend schwieg.

»Ich hatte, wie Eure Erlaucht am besten wissen, noch nie Gelegenheit, Ihren Zustand genauer zu untersuchen. Wenn ich mir ein Urtheil nach dem bloßen Augenschein erlauben dürfte, so stimmt es allerdings mit dem überein, was ich von Ihrem Zustande gehört.«

»Daß ich –? Bitte, ohne Umschweife!«

»Daß sich bei Eurer Erlaucht Symptome eines Rückenmarkleidens zeigen.«

»Symptome!« lachte bitter der Kranke. »Davon kann nicht mehr die Rede sein, sondern von einer ausgebildeten Krankheit unter den gefährlichsten Anzeichen. – Oder den besten,« setzte er finster hinzu, »wenn ich endliche Erlösung für ein Glück halte.«

Er drückte seine rechte Hand fest auf die Stirn, dann fuhr er fort: »Ja, so ist es; so haben mir eine Menge Ihrer Collegen gesagt, und darauf hin habe ich Kuren durchmachen müssen, die oft schlimmer waren, als meine Leiden selbst. Nehmen wir also an: es ist, wie auch Sie sagen. Und ich bin jetzt selbst so davon überzeugt, daß ich seit langer Zeit mit Niemandem mehr darüber sprach. Doch ich weiß nicht, wie es kommt, bester Doktor – bin ich heute Abend durch einige Zufälligkeiten erregter, empfänglicher, als sonst? – Genug, ich habe ein solches Vertrauen zu Ihnen gefaßt, daß ich – nicht an eine Rettung glaubend,« sprach er, bitter lächelnd – »aber einen Trost darin finde, gerade mit Ihnen ein paar Worte über meinen Zustand zu reden.«

»Was mir vom höchsten Interesse ist!« entgegnete Doktor Flecker, wobei er sich vornüberbeugte und seine Brillengläser scharf auf den Kranken richtete.

»Es ist vielleicht kindisch von mir,« meinte Graf Helfenberg mit einer leicht vibrirenden Stimme; »aber bitte, wiederholen Sie mir nochmals, daß auch Aerzte sich irren können!«

»Recht gern und mit bestem Gewissen!« versetzte lachend der Doktor. »Es irren sich nicht nur Armenärzte und Armendoktoren, die das Recept für sechs Kreuzer schreiben, sondern auch Geheime Obermedicinal- und Sanitätsräthe, Generalstabs-, Hof- und Leibärzte, und wie alle die vornehmen Chargen heißen mögen, die der liebe Gott zur Beglückung des leidenden Menschengeschlechts in diese liebe Welt gesetzt.«

»Gut denn. Wenn ich eine Indigestion habe,« fuhr der Graf fort, »so habe ich vielleicht zu stark dinirt; einen Katarrh, ein schlimmes Fieber oder dergleichen, so habe ich mir das durch eine Erkältung zugezogen. Welche Ursache liegt nun meinem Leiden zu Grunde? Ich weiß, was Sie mir als Arzt entgegnen werden und was mir schon unzählige Mal entgegnet worden ist. Nachdem ich lange in die betreffenden Aerzte gedrungen, sprach man achselzuckend und bedauernd von einer wild verlebten Jugend, von meinen Reisen in Italien, meinem Aufenthalte in Paris, und was alles sonst noch. Nun kann ich Ihnen aber mein heiliges Ehrenwort geben – was ich bis jetzt nicht der Mühe werth gehalten,« setzte der Kranke stolz hinzu, »und woraus Sie sehen können, lieber Doktor, wie sehr ich Sie schätze und achte – daß ich weniger wild gelebt, als Tausende meiner Bekannten; daß meine Reisen in Frankreich und Italien von keinen Extravaganzen begleitet waren. Ja, ich will Ihnen gestehen, was ich nie einem Menschen gestand, daß ich eben diese letzten Reisen, von welchen man meine Leiden herschreiben will, mit dem geliebten Bilde eines Mädchens in meinem Herzen machte, das mir als Schutzgeist diente und mich von Vielem, Vielem zurückhielt. Was ich Ihnen eben sagte,« fuhr der Graf mit feierlicher Stimme fort, indem er die Hand erhob, »ist die strengste Wahrheit, und wenn Sie mich in einer schweren Stunde wieder darum befragen würden, so könnte ich mit dem besten Gewissen nicht anders sprechen. Glauben Sie also meinen Worten?«

»Ich glaube fest daran!« entgegnete der Armenarzt mit weichem Tone.

»Das vorhin Angegebene kann also nicht die Ursache meiner Leiden sein; noch weniger aber sind sie ererbt; denn auch Sie werden vielleicht wissen, daß sich mein Vater und mein Großvater derselben vortrefflichen Gesundheit erfreuten, wie ich selber bis zu jenem Augenblicke, wo ich die Anfänge meines Leidens fühlte.«

»Und dieses Augenblickes erinnern Sie sich deutlich?«

»Als wenn es heute wäre! Es traf da Einiges zusammen, was mich auch sonst ihn nicht leicht vergessen ließe.«

Der Doktor hatte mit der größten Aufmerksamkeit zugehört.

»Darf ich Eure Erlaucht,« sagte er alsdann, »um eine Mittheilung aus jener Zeit bitten? Wenn Ihnen das nämlich thunlich erscheint,« setzte er, wie seine Forderung entschuldigend hinzu.

»Warum nicht! Es ist mir sogar eine Erleichterung,« erwiderte Graf Helfenberg. »Es war zu Rom während des Carnevals; wir hatten alles mitgemacht, was ein Fremder in dieser tollen Zeit mitzumachen pflegt: wir befuhren den Corso, wir besuchten Theater und Bälle, wir amusirten uns bis gegen Morgen, während wir die Hälfte des Tages verschliefen.«

»Der Herr Graf sagten: wir; dürfte ich fragen, wen Sie unter dem Wir verstehen?«

»Ja so, das habe ich vergessen. Ich traf in Florenz einen Russen meines Alters, der mir ausnahmsweise sympathisch war, ja, zu dem ich mich so hingezogen fühlte und er zu mir, daß wir in kurzer Zeit unzertrennlich waren, in eine Wohnung zogen und alle Excursionen zusammen machten. Es war ein nobler Charakter und wissenschaftlich weit gebildeter, als ich, was am Ende nicht viel sagen will; aber er hatte in der That enorme Kenntnisse, hatte schon mehrere Jahre in Italien zugebracht, und sprach die Landessprache mit einer wunderbaren Fertigkeit, fast ohne fremden Accent. Wir sahen einander ähnlich, ja, man hatte uns schon für Brüder gehalten. Seine Kenntniß des Landes und der Sprache halfen ihm bei manchen seiner tollen Abenteuer. – Ja, er führte zuweilen ein tolles Leben,« sprach der Kranke nach einer Pause seufzend; »bei ihm würde mich Alles nicht wundern, und er ist frisch und gesund. – Aber weiter.

»Eines Tages während des Carnevals war ich unwohl und blieb zu Hause; er fuhr allein auf den Corso, speiste mit mir und ging allein auf den Ball, von wo er endlich spät in der Nacht nach Hause kam und es nicht unterlassen konnte, mich zu wecken, um mir eine der köstlichsten Geschichten zu erzählen, so sagte er, die ihm jemals passirt. Ehe ich auf den Corso ging, erzählte er, schlenderte ich zu meinem Schneider, um mir einen Maskenanzug für den Abend zu besorgen; ich sah da einen einfachen, aber sehr eigentümlichen Domino, und ich weiß nicht, wie mir die Idee kam, einen solchen für den Abend haben zu wollen. Der Schneider machte wegen der Kürze der Zeit und auch sonst noch wegen etwas, das ich damals nicht begriff, Schwierigkeiten, aber mit Gold kann man Vieles durchsetzen. So versprach er mir denn den gleichen Domino, hielt auch sein Wort, und ehe ich auf den Ball fuhr, warf ich bei ihm den bestellten Anzug über meine Kleider. Der Ball war voll Masken und des bekannten tollen Gewühls. Ich fand wenig Bekannte und amusirte mich Anfangs. Endlich aber werde ich von einem schwarzen weiblichen Domino auffallend intriguirt; derselbe hatte eine stahlblaue Atlaßmaske vor dem Gesichte, aus dem ein Paar glänzender Augen hervorstrahlte. Eine gute Weile glitten wir bei einander vorüber, uns bald hier, bald da im Saale treffend und einige Worte wechselnd. Das dauerte vielleicht eine halbe Stunde, worauf die Unbekannte verschwunden war. Kurz darauf aber vernahm ich ihre Stimme wieder, doch hatte sie jetzt einen rosa Domino und eine weiße Maske. Man hat nun meine Spur verloren, sagte sie. Hast du deinen Wagen drunten? – Was sollte ich antworten? Ohne mich aber viel zu besinnen, entgegnete ich, allerdings sei der Wagen drunten. – So laß ihn dicht an der Treppe vorfahren, antwortete sie, ich folge im Augenblicke. Da hatte ich den Anfang des schönsten Abenteuers, und ich beschloß, Gebrauch davon zu machen, berichtete mein leichtsinniger Russe weiter. Ich ließ meinen Wagen vorfahren, der rosa Domino folgte, wie er gesagt, wir stiegen ein. Wohin? fragte ich. Das wird doch dein Kutscher wissen, entgegnete sie, nur fort, fort! wir dürfen hier nicht halten. Ich gab François ein Zeichen, und der Wagen rollte davon. Wohin? war mir vorderhand gleichgültig, daß aber mein Kutscher stille, dunkle Straßen aufsuchen würde, dafür kannte ich ihn. So fuhren wir also in der Finsterniß fort, ich sehr gespannt auf die Entwicklung dieser Geschichte. Der Anfang dieser Entwicklung ließ auch nicht lange auf sich warten; sie drängte sich an meine Brust, indem sie sagte: Den ganzen Tag habe ich vergebens nach dir gesehen, du böser Mensch; warum kamst du nicht? – Da man in Rom zur Zeit des Carnevals bei ähnlichen Veranlassungen nirgendwo anders hinkommen kann, als auf den Corso, so antwortete ich kecklich, ich sei mehrere Stunden dort gewesen, was auch keine Lüge war. – Aber unter unserem Balcone habe ich dich nicht gesehen, forschte sie weiter. – Mußte ich mich denn nicht in Acht nehmen? erwiderte ich, das römische Leben kennend; er ging ja gar nicht von deiner Seite. – Ach, das ist wahr! seufzte sie; leider ging er nicht von meiner Seite, auch heute Abend nicht, und wenn mir nicht Cecce geholfen hätte – sie spaziert mit meinem schwarzen Domino und meiner blauen Maske statt meiner oben im Saale – so wäre es mir auch jetzt nicht einmal möglich gewesen, dich einen kleinen süßen Augenblick zu sehen.

»So erzählte mein Russe,« fuhr der Graf fort, und als er so erzählt, lächelte er vergnügt in sich hinein, ehe er weiter sprach: Ja, sie hatte Recht, wir sahen uns einen kleinen, süßen Augenblick, bei welchem ich vor Entzücken und auch wieder vor Angst zitterte wie nie in meinem Leben. Anfänglich hatte ich geglaubt, es sei auf eine Prellerei abgesehen und ich habe es mit einer listigen Person zu thun. Aber das war sie nicht, und wenn auch eine Rose ohne Dornen, so war sie doch eine frische Rose. – Wir kamen glücklich auf den Ball zurück, und somit wäre das Abenteuer in allen Theilen glänzend ausgefallen, wenn ich so klug gewesen wäre, mich darauf nach Hause zu begeben. Ich blieb aber noch da, und als ich nach ein paar Stunden verschwinden wollte, traf ich bei einer Ausgangsthür Nase an Nase mit jenem Domino zusammen, dessen Copie ich war. Da ich mich im Unrecht wußte, so blieb ich erwartend stehen, doch ließ mich der Andere unangeredet vorüber, nur sah ich aus seiner schwarzen Maske ein paar blitzende Augen auf mich gerichtet. So langsam wie möglich stieg ich die Treppen hinab, um ihm Zeit zu lassen, mir zu folgen, was er übrigens nicht that, und erreichte unangefochten meinen Wagen, setzte mich hinein und fuhr nach Hause.

»Das erzählte er mir,« fuhr der Graf nach einer Pause fort, »und auch ich war leichtsinnig genug, über das köstliche Abenteuer, wie er es nannte, mit ihm zu lachen. – Es sollte aber seine ernsten Folgen haben.«

»Das kann ich mir denken,« sagte kopfnickend der Armenarzt, der mit gespannter Aufmerksamkeit zugehorcht.

»Schon den anderen Abend,« sprach der Graf weiter, »als wir vom Monte Pincio über die spanische Treppe hinab stiegen – es dunkelte bereits – drängte sich ein Kerl an uns und stieß plötzlich mit dem Messer nach mir. Mein Freund aber hatte die verdächtige Bewegung bemerkt, und von einem tüchtigen Faustschlage getroffen, rollte der Bandit die Stufen hinab. Aehnliches wiederholte sich indessen in den nächsten Tagen, und dabei war es merkwürdig und nicht gerade angenehm für mich, daß meistens mir die Attentate galten. Ich muß gestehen, daß mein Russe darüber in Verzweiflung war und, als diese Anfälle gar nicht mehr aufhören wollten, zur Abreise rieth. Wir trafen denn auch alsbald dazu unsere Anstalten; doch ehe wir uns in den Reisewagen setzten, erkrankte mein Freund plötzlich, anscheinend mit gefährlichen Symptomen, so daß er zurückbleiben mußte. Natürlich wollte ich ihn nicht verlassen, doch beschwor er mich, nach Neapel vorauszugehen, wobei er die Hoffnung aussprach, mir bald nachfolgen zu können. Dagegen stellte ich ihm vor, wie es mir für seine Pflege besser erscheine, wenn ich in der Nähe bleibe. – Umsonst! er versicherte mir, die Angst wegen neuer Anfälle würde ihn nicht zur Ruhe kommen lassen und immer kränker machen. Einmal aus dem Kirchenstaate hinaus würden diese Geschichten schon aufhören. Was ihn selbst anbelange, so müsse er jedenfalls einige Zeit zu Hause bleiben, könne sich also vollkommen schützen, und dann scheinen auch unsere unsichtbaren Feinde der festen Meinung zu sein, ich sei der Uebelthäter. – Interessirt es Sie auch, Doktor, was ich Ihnen erzähle?« unterbrach sich der Hausherr und nahm ein paar Tropfen von seinem Punsche.

»Ob es mich interessirt!« erwiderte der Armenarzt. »Ich bin sehr begierig auf den Verlauf und Schluß.«

Und wirklich hatte er auch die Stellung Jemandes angenommen, der mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhorcht. Schon eine lange Zeit saß er vornübergebeugt und hielt sein Punschglas in der Hand, und die vortreffliche Cigarre war ihm längst ausgegangen, ohne daß er es zu bemerken schien.

»Bitte, Erlaucht,« sagte er, »lassen Sie mich nicht zu lange auf das Ende warten.«

»Wir sind bald am Ende,« entgegnete der Graf. »Ich verließ Rom und meinen Freund mit schwerem Herzen, nachdem ich noch für ihn gethan, was ich gekonnt. So ließ ich unter Anderem meinen deutschen Kammerdiener bei ihm zurück, und behalf mich mit einem Italiener, der sich mir herrenlos bei meiner Abreise vorstellte und der ein vortrefflicher Bedienter war.«

»Ah!« machte der Doktor, und dieses »Ah!« klang halb wie ein Seufzer, halb wie ein Ausruf der Ueberraschung.

»In Albano,« fuhr der Kranke fort, »blieb ich fast acht Tage, immer hoffend, der Zustand meines Reise-Gesellschafters würde sich vielleicht bessern und ihm erlauben, mir zu folgen. – Vergebens. – – Aber hier in Albano war es, bester Doktor,« sagte der Graf mit einem düsteren Blicke auf sein Gegenüber, »wo sich die ersten Anfänge meines Leidens zeigten.«

»Da schon? Ja, es ist möglich,« entgegnete der Arzt mit ganz leiser Stimme.

»Ich spürte eines Morgens eine leichte, aber vorübergehende Schwäche in meinen Gliedern; es flimmerte mir wie ein Nebel vor den Augen, auch hatte ich Brustbeklemmungen. Das ging aber vorüber und ich dachte nicht weiter daran. Erst als ich einige Zeit in Neapel war – mein Freund war vierzehn Tage nach meiner Abreise wieder hergestellt und eingetroffen – stellten sich abermals dieselben Erscheinungen ein und blieben mir von da an,« setzte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »beständige und treue Begleiter. Ich zog die berühmtesten Aerzte zu Rathe, man zuckte die Achseln, man rieth mir, Italien zu verlassen, deutsche Bäder zu gebrauchen. Doch sah ich wohl an den Mienen Ihrer italienischen und französischen Collegen, von welcher Art sie mein Leiden hielten und welche Ursachen man demselben unterlegte.«

»Und jener italienische Bediente,« forschte der Doktor mit einer wahren Aengstlichkeit, »den Sie in Rom annahmen? Blieb er lange bei Ihnen? Wann und wo verließ er Sie?«

»Er verließ mich in Neapel, wenige Zeit nachher, nachdem der Russe mit meinem Kammerdiener dort eingetroffen war. Er ging nach Rom zurück, wohin ihn Familien-Angelegenheiten riefen.«

»Er ging nach Rom zurück,« wiederholte der Doktor mit dem gewöhnlichen Tone seiner Stimme, dann setzte er hinzu, aber so leise, daß der Kranke seine Worte nicht verstehen konnte: »Nachdem sein Werk vollendet; – ein Lichtstrahl! ein Lichtstrahl!«

Doch blickte er in die Höhe, und man hätte sehen müssen, wie seltsam seine Augen glänzten, wenn die blaue Brille nicht gewesen wäre.

»Daß es mir bei deutschen Aerzten und in deutschen Bädern nicht besser ging,« sagte der Graf nach einer Pause, »haben Sie gehört und sehen es mir wohl auch an. Ich las es auch in den Mienen berühmter Leute Ihres Faches, daß ich ein verlorner Mann sei.«

»Und sprachen Sie bei diesen Consultationen,« fragte Doktor Flecker, »nie von dem Vorfalle in Rom, wie Sie mir ihn erzählten? Thaten Sie das nie?«

»Wohl that ich es, und erinnere mich dabei wohl einer sarkastischen Aeußerung, die mir in die Seele schnitt. Es fragte mich einer Ihrer Collegen, ob ich selbst recht viele solcher Abenteuer bestanden, wie ich da von meinem russischen Reisegesellschafter erzählt. Was sollte ich darauf erwidern? Ich zuckte die Achseln und schwieg.«

Das Benehmen des Armenarztes hatte sich gegen das Ende der Erzählung auf eine merkwürdige Art verändert; so unbeweglich er vorhin da gesessen, Punschglas und Cigarre in der Hand, so beweglich war er jetzt mit einem Male geworden; dabei schien er sehr zerstreut; denn er setzte das Punschglas in die Asche des Kaminfeuers, während er die Cigarre auf das Kamingesimse legte. Dann rückte er hin und her, wie Jemand, dem es unbehaglich ist, still sitzen bleiben zu müssen, und der gern auf und ab laufen möchte, um irgend etwas, das ihn auf der Seele drückt, Luft zu machen. Auch gesticulirte er sonderbar mit Armen und Händen, fuhr jetzt mit der einen Hand durch sein Haar und nahm mit der anderen die Brille ab, um deren Gläser zu wiederholten Malen mit seinem Rockzipfel zu putzen. Wenn er aber für Momente so ohne Augengläser da saß, so hätte der Graf bemerken können, wie der Blick des Doktors jetzt außerordentlich heiter, dann wieder tief betrübt schien, und dazu paßte auch vollkommen die Stellung seiner Mundwinkel, nach welcher man hätte glauben sollen, er wolle jetzt laut auflachen und gleich darauf in ein betrübtes Weinen ausbrechen.

»Für das, was Sie mir mitgetheilt, Herr Graf,« sprach er nach einem längeren Stillschweigen, »sage ich Ihnen meinen besten Dank. Wenn ich Ihnen bemerke, daß ich viel daraus gelernt, so werden Sie mir hoffentlich glauben. Dabei kann ich Ihnen allerdings nicht verschweigen, daß ich mich gewiß nicht für gescheidter halte, als unzählige meiner Collegen; aber Sie werden mir zugeben, daß es im Menschenleben Augenblicke gibt, wo man – wie soll ich in der Geschwindigkeit sagen? – empfänglicher ist, aufgeweckter, erleuchteter – erleuchteter, das ist das Wort! wo einem plötzlich auf Momente die Nebel schwinden, die der liebe Gott so weise über Vieles in seiner Schöpfung gebreitet, wo man einen Blick thut in der Wesen Inneres, vor dem man zurückschrickt aus Freude und Entzücken.– – Aber nein, nein!« unterbrach er sich selber, indem er aufsprang und sich, mit den Händen heftig gesticulirend, dicht vor den Grafen stellte; »ich muß das ruhiger sagen. Sie werden am Ende glauben, Herr Graf, der allerdings vortreffliche Punsch habe mich exaltirt; und doch, wenn Sie sich in meiner Lage befänden, müßten Sie mir zugeben, daß ich nicht anders sprechen kann, als ich spreche; ja, Sie müßten mir verzeihen, wenn ich hier vor ihren Augen einen Luftsprung machte. A-a-a-h!«

Damit schnappte er nach Luft und faßte sich dann mit seinen beiden Händen an dem eigenen Rockkragen, wie um sich selbst ein wenig zurecht zu schütteln.

Der Kranke hatte mit nicht geringem Erstaunen diesen seltsamen Worten des Doktors zugehört. Daß etwas Besonderes dahinter stecken müsse, und vielleicht für ihn etwas sehr Gutes, ja, unendlich Glückliches, begriff er wohl und richtete sich deßhalb hastig aus seiner gebückten Stellung auf, den Doktor erwartungsvoll und fragend ansehend.

»Ich muß mir selbst eingestehen,« fuhr dieser fort, wobei er sich vor die Stirn schlug, »daß ich ein alter, unzurechnungsfähiger Narr bin und mich betrage wie ein Kind. Aber,« setzte er mit vor Rührung zitternder Stimme hinzu, indem er seine Rechte auf die Schulter des Grafen legte, »Sie werden mir zugeben müssen, daß es wohl verzeihlich ist, wenn jemand, der in tiefer Finsterniß gewandelt, auf einmal aufschreit, da er einen Lichtstrahl sieht!«

»Einen Lichtstrahl? O, einen Lichtstrahl?«

»Ich sollte nicht so sprechen,« sagte der Doktor mit etwas weniger Lebhaftigkeit, aber einem Tone der Stimme, der ihm vor Rührung fast umschlug. »Und ich will auch mein Maul halten, um Ihnen keine Hoffnungen zu machen, die sich vielleicht doch nicht erfüllen könnten.«

»Aber ich bitte, sprechen Sie!« erwiderte hastig der Kranke. »Was liegt am Ende an einer Hoffnung mehr oder weniger? Mir sind schon so viele verschwunden, daß ich mich bald daran gewöhnt habe. – Ist es doch immer eine Hoffnung, die vielleicht für Tage, ja, Wochen aushält und die wenigstens das Gute hat, mir momentan eine kleine Freude zu machen. – – Sie glauben,« forschte er nach einer Pause, während welcher ihn der Armenarzt kopfnickend betrachtet, weiter, »mein Leiden sei anderer Art, als man mir bis jetzt gesagt?«

»Ich glaube so,« sprach der Andere feierlich.

»Sie glauben an eine Ursache, die – wie soll ich mich ausdrücken? – in ihren Wirkungen minder gefährlich wäre?«

»Minder gefährlich? – Das kann nur Gott wissen. Aber ich glaube an eine Ursache, der wir vielleicht im Stande sind, mit unseren Heilmitteln erfolgreich entgegen zu wirken.«

»Erfolgreich, Doktor!« rief der Kranke, während sein Körper zusammenzuckte. »O, seien Sie nicht grausam! zeigen Sie einem Verdurstenden nicht einen Strahl klaren, frischen Wassers, den er aber zu erreichen nicht mehr die Kraft hat!«

»Ich habe gesagt: vielleicht erfolgreich,« entgegnete der Arzt ruhig, beinahe kalt. »Aber wenn ich weiter sprechen soll, so müssen Sie mich mit Ruhe anhören.«

»Ich werde mich dazu zwingen,« erwiderte der Graf mit leiser, bebender Stimme. »Welche Ursache, glauben Sie, liegt meinem Leiden zu Grunde?«

»Ehe ich das sage,« fuhr der Doktor mit einer fast quälenden Ruhe fort, »erlauben Sie mir eine Frage. Sie hatten auf Ihrer italienischen Reise Unglück beim Reiten? Sie stürzten, Ihr Pferd fiel auf Sie? War das vor oder nach jener römischen Geschichte?«

»Es war einige Monate später. Jener Unfall war nicht so bedeutend, wie man ihn gemacht. Aber weiter! weiter! Was ist die Ursache meiner Leiden?«

– »Gift!« sprach der Doktor, das schreckliche Wort nur schwach betonend. »Ja, Gift, wahrscheinlich Arsenik, Ihnen während längerer Zeit in ganz unbedeutenden Dosen beigebracht.«


»Gift!« wiederholte der Kranke, aber er sagte das mit keinem Tone des Schreckens, er sagte es mit einem Ausdrucke wie Jemand, dem eine schwere Last von der Seele fällt. – »Gift! Ist mir doch dieser Gedanke selbst schon zuweilen wie ein Blitz erschienen. – Und wenn dem so wäre, Doktor? Ist alsdann – doch wozu« – fuhr er leidenschaftlich fort – »nach einem Lichtstrahl, den wir schimmern sehen, zu vermuthen, nun werde in die finstere, ewige Nacht, die mich umgibt, plötzlich eine hell glänzende Sonne hereinbrechen? Warum sind wir so leichtgläubig in unseren Hoffnungen und Wünschen? Nicht wahr, Doktor, das ist kindisch? Und ich will auch ganz, ganz ruhig sein.«

Damit faltete er die Hände und senkte seinen Kopf tief auf die Brust herab.

»Einen Lichtstrahl haben wir,« versetzte gerührt der Armenarzt, »und die Hoffnung ist uns nicht unverwehrt. Wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken, so soll es sich in nächster Zeit zeigen, ob wir eine Morgenröthe zu erwarten haben, und wenn uns diese erscheint, ist ja auch die Sonne nicht mehr fern.«

»O, mein Gott! mein Gott!« rief der Kranke erregt.

»Sie haben selbst gesagt, sie wollten ganz ruhig sein, und darum muß ich Sie bitten. Sie haben sich so männlich gezeigt in Ihrer Hoffnungslosigkeit; bezwingen Sie sich auch jetzt, geben Sie nicht zu vielen Hoffnungen Raum, sprechen wir von Ihnen wie von einem Dritten. – – Ja, ich will darauf schwören, daß meine Ansicht die richtige ist; jener Italiener, den Sie von Rom mitnahmen, hat Ihnen täglich etwas von dem tückischen Gifte beigebracht, zu wenig, um Sie zu tödten, genug, um Ihren inneren Organismus, wenn auch nicht zu zerstören, doch zu lähmen.«

»Und?« fragte Graf Helfenberg mit einem bezeichnenden, flehenden Blicke.

Der Armenarzt richtete statt aller Antwort seine Augen nach oben. Gleich darauf drückte er aber fester die Brille an das Gesicht und sagte: »Wie lange war jener Italiener bei Ihnen?«

»Vielleicht vier Wochen. Und je mehr ich nachdenke, um so mehr glaube ich, daß Sie Recht haben. Er überreichte mir mein Frühstück; auch servirte er häufig mein Diner, welches ich zu Hause nahm.«

»Das ist für heute genug,« versetzte Doktor Flecker nach einer Pause. »Suchen Sie jetzt Ruhe zu finden, so gut als es Ihnen möglich ist. Nehmen Sie ein Brausepulver; regen Sie sich nicht weiter auf – aber ich begreife wohl, das Letztere ist ein Rath, den zu befolgen Ihnen nicht wohl möglich ist. – Nun gut, bringen Sie die Nacht hin, wie Sie können, morgen sprechen wir weiter.«

»Und Sie wollen mich verlassen?« fragte ängstlich der Kranke. »O, bleiben Sie, Doktor! Ich werde Ihnen sogleich ein Zimmer hier in meiner Wohnung einrichten lassen. Nein, nein, Sie dürfen nicht fort.«

»Ich muß,« entgegnete achselzuckend der Arzt. »Was sollten meine armen Kranken denken, wenn man mich heute Nacht rufen ließe und ich käme nicht? Denken Sie, – Jemand ohne Trost und Hülfe lassen!«

»Ja, Jemand ohne Trost und Hälft zu lassen, ist schrecklich. – Aber morgen, nicht wahr, Doktor, morgen in aller Frühe? Doch warten Sie, bis man einen Wagen für Sie anspannt.«

Der Armenarzt schüttelte lachend den Kopf.

»Morgen in aller Frühe komme ich zu Fuß wieder,« sagte er, »wie ich jetzt zu Fuß nach Hause gehe. Meine Patienten würden sich fürchten, wenn sie mich im Wagen sähen. – Aber jetzt Ruhe, so viel Ihnen möglich ist. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.«

Damit ging er zur Thür hinaus, dem Grafen eifrig winkend, zurückzubleiben, der sich erhoben und ihn begleiten wollte, und der nun aufrecht mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl sitzen blieb. In seinem Kopfe jagten sich Gedanken, Wünsche, Hoffnungen; doch kämpfte er die letzteren gewaltsam nieder, und was er seinen Phantasieen erlaubte, war, daß er dachte, wie einem Schiffbrüchigen zu Muthe sein müsse, der allein, allein an das Wrack seines Fahrzeugs geklammert, umtost von der grollenden See, plötzlich an dem finster umzogenen Horizonte ein weißes Segel sähe. Das dachte er schaudernd und wünschte sich ein solcher Schiffbrüchiger zu sein.

Unterdessen hüpfte der Doktor mehr, als er ging, durch die einsam liegenden Straßen seiner Wohnung zu, wobei er zuweilen ziemlich laut allerlei verdächtige Worte vor sich hin sprach, als: »Gift! ja wohl, Gift! vergiftet muß er sein. O, wenn das wäre und Doktor Flecker es entdeckt hätte! – Brrr! das wäre eine wundervolle Geschichte. Ich hätte alsdann das Recht, dem gesammten Collegium zu sagen: »Sie werden mir zugeben, Verehrteste Herren, es ist eigentlich sonderbar, daß von den Aerzten Seiner Erlaucht bis jetzt keiner darauf gekommen ist, Niemand als ich, Doktor Flecker, der Armenarzt.«

Dann rieb er sich die Hände und versank so in Gedanken, daß er auf dem ihm sonst so wohl bekannten öden Hofe seiner Wohnung stolperte, ehe er die Hausthür erreichte. Statt aber, als er diese geöffnet und wieder geschlossen, über die weiten hallenden Treppen sogleich seinem Zimmer zuzugehen, schlich er an die Wohnung seines Freundes Larioz und drückte dort leise die Thür auf.

Im Zimmer brannte ein trübes Nachtlicht, es stand auf dem Boden neben dem großen Stuhle, in welchem Gottschalk saß, der eingenickt war, aber jetzt beim Aufgehen der Thür empor fuhr.

Auf den Fußspitzen schleichend, trat der Doktor näher und sagte flüsternd: »Gelt, ich habe dich warten lassen, Kleiner? Aber ich hatte draußen so viel zu thun, item, konnte nicht früher kommen. – Was macht unser Freund?«

»Jetzt schläft er ruhig,« antwortete der kleine Schreiber. »Vor einer Stunde klagte er über Kopfschmerzen, über Frost und Hitze.«

»Sprach er etwas?«

»Ja, über Sachen, die ich nicht verstand, von einem maurischen Zauberer, Cabanzeros, glaube ich; auch suchte er immer einen Vers zu finden, dessen Anfang er häufig sagte: »Traue, treue Trina –«

»Da hat er phantasirt.«

»Ja, er hat phantasirt, auch vom Dolche Rubens, namentlich aber von einer schönen Spanierin; das kam am häufigsten vor, und dann sah er mich mit seinen großen Augen an und fragte mich wiederholt: Ist sie nicht schön? worauf ich natürlicher Weise keine Antwort geben konnte.«

»Begreiflich, begreiflich!« erwiderte rasch der Andere. Dann näherte er sich behutsam dem Bette und sagte alsdann zurückkommend: »Es hat nichts zu bedeuten, er schläft ganz ruhig, krieche du nur auch in dein Nest.«

»Aber wenn er aufwacht und aufs Neue anfängt, zu phantasiren, und mich so dringend fragt, wie vorhin, ob sie nicht schön sei?«

»Dann gib ihm zur Antwort,« sprach der Doktor, »ich sei da gewesen und hätte gesagt, Dulcinea sei das schönste Weib auf Erden.«

Damit zog er sich kopfnickend zur Thür hinaus.


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