20070807
Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Bändchen.

1 Achtes Buch.

3 1.

Ein mit fünf Rossen bespannter Reisewagen windet sich mühsam die Höhen eines kahlen Gebirges hinan. Es ist die Straße, die von Nizza über den Col de Tende nach Piemont führt.

Kreidige Felsen, Reste vulkanischer Zerstörungen, heben sich schimmerndhell vom tiefblauen Himmel ab. Immer lebloser wird die Vegetation, je näher man dem höchsten Kamm der Seealpen kommt, die sich vom mächtigen Rückgrat der Schweizer und Savoyer Alpen abzweigen. Noch jetzt, am Ende des Juni, liegt in einzelnen versteckten Spalten, die ein schneidend scharfer Wind bestreicht, Schnee.

Von Sospello waren die Passagiere zeitig aufgebrochen. Sie hatten Vorspann nehmen müssen. Bald verließen sie den Wagen, um den Pferden die Last zu erleichtern. Drei rüstig zuschreitende Frauen schienen an Anstrengungen gewöhnt. Ein Kind, das bald ermüdete, ließ man wieder einsitzen. Die beiden Männer schritten anfangs mit wetteifernder Ausdauer.

Bald aber ermüdete auch von ihnen der eine. Ein heftiger Husten zwang ihn, öfters still zu stehen. Die übrigen machten ihm Vorwürfe über die Anstrengungen, die er sich zumuthete. Er lächelte eine Weile, schüttelte den Kopf, deutete an, es würde gehen, aber zuletzt zwang man ihn, in den Wagen zu steigen. In einen grauen Leibrock mit Metallknöpfen gekleidet, schien er 4 ein Diener zu sein – ein darüber gezogenes weißes Staubhemd flatterte im Winde.

Im Wagen nahm er das etwa dreijährige Kind, ein heiteres, schwarzäugiges Mädchen, auf den Schoos. Eine der Frauen – man hätte sie für die Zofe der beiden andern Damen halten sollen – ging im ärgsten Staube neben dem Schlage des Wagens einher und reichte zuweilen die Hand hinauf, welche der Kranke dann mit Liebe drückte, während gleichzeitig ein sanfter Blick seines Auges auf die Frauen deutete, damit seine Begleiterin diese nicht aus dem Auge verlöre.

Jene aber nahmen die kürzeren Wege und kletterten wie die Ziegen, die in Scharen auf den kahlen Höhlen die wenigen Stellen suchten, wo die Vegetation von ihren üppigsten Entfaltungen, von denen die Reisenden noch gestern begleitet waren, in letzten Kräutern und Grashalmen erstarb. Gestern noch Oliven, Gärten voll Orangen, Gebüsche von Myrten, hier und da die einsam träumende Dattelpalme, noch in Sospello die nächsten Anhöhen von Kastanien bewaldet – jetzt aber schon seit einer Wanderung von zwei Stunden nichts als niedriges Buschwerk und selbst die Alpenflora durch die große Trockenheit des Bodens gehindert. Nur hier und da leuchtete das schöne Himmelblau der Genzianen.

Die beiden Frauen, in breitrandigen, am Kinn befestigten sogenannten »Nizzahüten«, deren Strohgeflecht fest genug ist, um von den jeweiligen Windstößen nicht bald diese, bald jene Gestalt zu erhalten, sammeln dem Kinde, der kleinen Erdmuthe, was sie allenfalls an blauen, hier und da auch noch weißen und rosenrothen Blumen entdecken können.

Die Alpenrose findet sich hier nicht, sagte die ältere und kleinere Dame; sie muß mehr Schnee und Eis haben, um fortzukommen.

5 Vielleicht jenseits – auf dem niedergehenden Abhang – entgegnete die jüngere und nickte vertröstend der Kleinen zu, die verlangend von der Straße her aus dem Wagen ihr Händchen streckte, an ihrem hastigen Begehren durch den Fahrenden gehindert, der sie auf seinem Schoose schaukelte.

Der Arme! Wie er hustet! seufzte die ältere der Frauen mit Hindeutung auf den Mann im weißen Staubhemd. Sie fügte hinzu: Er hätte gar nicht aussteigen sollen.

Auch die Nähe eines Kranken kann bald zur Gewöhnung werden. Sogar ein hoffnungsloser Zustand wird zuletzt mit Ergebung in die einmal nicht zu ändernde Lebensordnung seiner Umgebungen hingenommen.

Auf den schottischen Hochgebirgen fand ich, wie hier am Mittelmeer, nahm die jüngere mit Beziehung auf die fehlende Alpenrose wieder die frühere Aeußerung auf, ganz die gleichen Blumen. Dieselben Formen haben sie, dieselben Farben. Auch die langen Wurzeln, mit denen sie sich festklammern müssen, um den Stürmen zu trotzen. Die Stiele sind immer kurz. Keine wagt sich zu sehr über den schützenden Boden hinaus. Und siehe da! Die kleinen Sternblümchen sind hier auch schon verwelkt! Alles wie in Schottland. Ein kurzer schöner Frühling – kein Sommer – gleich der Winter –!

Die Mutter, die wir an ihren grauen Locken als Monika von Hülleshoven erkennen, war an sich schon vor Erwartung des Ziels dieser Wanderung tiefbewegt. Noch heute konnte sie hoffen, endlich nach langer, langer Trennung die greise, dem Tode nahe Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen auf Castellungo zu sehen, die Pathe da der kleinen Erdmuthe Hedemann. Mehr als zehn Jahre, nach den Tagen damals in der Residenz des nun auch schon zu seinen Vätern versammelten Kirchenfürsten, als die Gräfin so fest darauf gerechnet hatte, ihre geliebte Monika 6 würde schon den nächsten Frühling in Castellungo zubringen –! Was war nicht alles dazwischengekommen, bis sie die edle Greisin endlich auf ihrem schönen italienischen Schlosse wiedersah – Nun ergriff sie noch Armgart's Wort: »Ein kurzer Frühling – ohne Sommer – gleich der Winter!« Auf wen paßte die Vergleichung mit diesem Leben der Alpenblumen mehr, als auf sie, die jetzt – achtundzwanzigjährige – unvermählte Armgart! Sie hatte sich mit den Jahren dem Vater da, der, um sich etwas zu verschnaufen, mit einem Ziegenhirten plaudert, nachgebildet, war in Wuchs gekommen und ein hochaufgeschossenes, schlankes Fräulein geworden, wofür sie nie Aussicht gegeben. Um so zarter und behender waren ihre Glieder geblieben. Der Kopf unter dem Strohhut war wol jetzt vom Steigen rosig erglüht; sonst sah ihr Antlitz bei weitem blasser aus, als in ihrer Jugend und als noch jetzt die Mutter aussieht, die an ihrer apfelgleichen Frische und Rüstigkeit wenig eingebüßt hat. Jenes ihr eigene halbe Lächeln mit den beiden schimmernd weißen Vorderzähnen hatte Armgart behalten, aber es gab ihr jetzt eher etwas Strenges; ihre schönen Augen waren ernst und fast ein wenig starr geworden. Eine Jungfrau, die mit ihren Hoffnungen abschließt, macht schmerzhafte Krisen der Seele durch.

Im übrigen würde Monika, die immer die Gegenwart und die nächste Pflicht im Auge behielt, kaum so in Rührung gekommen sein über diese Vergleichung. Noch in Sospello, wo sie den Berg taxirte und dem Posthalter, der drei Pferde Vorspann begehrte, eines als einen Misbrauch abgehandelt hatte, war sie wie immer laut und entschlossen gesprächsam gewesen.

Jetzt lag das Jenseits des hohen Kulms geheimnißvoll vorm Auge. Nun konnte sie nur mit Wehmuth auf Armgart sehen, die sich da und dort sorglos bückte – konnte sich nur sagen: Arme Alpenblume auch du! Auch du hattest einen schönen Mai- 7 und Wonnemond. dann sogleich den Herbst und vielleicht – den ewigen Winter –!

Armgart aber rief jetzt lachend: Fühlt ihr nun, daß der Col de Tende sich sehen lassen kann? Ich sagt' es ja gleich nach allem, was ich in Nizza davon erzählen hörte. Den Gipfel erreichen wir noch vor drei Stunden nicht. Seht ihr auch da oben noch das Haus? Da füttert der Postillon noch eine Stunde und auch wir werden ohne Collation nicht fortkommen.

Armgart schien die Ruhe und Ergebung selbst geworden zu sein. Sie war selbst um Paula und ihre liebe alte Gräfin, ihr ketzerisches »Großmütterchen«, nicht aufgeregt, die auch sie seit zehn Jahren nicht gesehen hatte und dort – jenseits der kahlen Höhe morgen, eine Sterbende, finden sollte –! Und Paula –! Sogar von ihrer geliebtesten Freundin hatte das Leben und die bewegte Zeit sie verdrängen können und selbst im Geiste! Zu den bittern Kämpfen, die sie alle und zumal ihre Familie seit zehn Jahren durchgemacht, gehörte ein wehmüthiger, wenn auch unausgesprochener Zwiespalt Armgart's mit Paula, hervorgerufen durch die so mannichfache Verschiedenheit der Meinungen und Ueberzeugungen. Nächster Anlaß dieser Reise war keinesweges allein das dringende Bedürfniß, sich endlich wiederzusehen, sondern mehr noch der zufällige Umstand, daß Hedemann, der sich in einer bewegten Zeit dem Wohl des Obersten von Hülleshoven geopfert hatte, heftig an der Brust erkrankt war, Genf, wo der Oberst mit den Seinigen seit den letzten Jahren gewohnt hatte, erst mit Nizza vertauschte und dann in der Heimat seiner Porzia für immer zurückbleiben – und nun dort sterben wollte. Die Aerzte hatten ihn aufgegeben. Die Auflösung eines so kraftvoll gebauten Körpers ließ einen langen Kampf erwarten.

Ulrich von Hülleshoven, dessen Locken nun auch schon ergraut sind, schreitet wacker voraus. Seit Jahren begleitete ihn auf 8 solchen und ähnlichen Wanderungen immer derselbe mächtige Alpenstock. Er kehrte diesen jetzt um, hielt das Ende mit der eisernen Spitze oben und streckte den Griff seiner Frau und Tochter dar mit der scherzenden Aufforderung, sich festzuklammern, er wolle sie hinaufziehen. Armgart stemmte aber beide Hände an seinen Rücken, um im Gegentheil ihm hinaufzuhelfen. Vorwärts! Vorwärts! rief sie und ihre Kraft gab ihr noch das Zeugniß der Jugend.

Porzia unterhielt sich indessen mit dem Postillon über ihre endlich wieder begrüßte Heimat, wo sie die Aeltern nicht, die in Deutschland waren, nicht die alten Seidenwürmerkammern ihrer mütterlichen Hütte fand, die Pathin aber ihres Kindes, die edle Gräfin, die sie einst mit nach England genommen hatte, die kleine Erdmuthe plauderte bald deutsch, bald italienisch. Da sie so viel vom Sterben hörte, fragte sie, ob es von hier in den Himmel ginge.

Da war nun alles so, wie es war und nicht anders sein konnte. Darum brannte die Sonne doch so drückend wie nur in jedem Juni, pfiff ein scharfer, der Hitze widersprechender Wind aus Nordost herüber – hüpften die Ziegen, zankten die Hirten, grüßten die über den Berg gekommenen Fuhrleute, die in zweiräderigen, maulthierbespannten Karren den guten Wein von Coni und Robillante nach diesseits führten, und – zankte auch wol Monika, die, als der Postillon am Wirthshaus wirklich hielt und die Locandiera auf die Bestellung einer Colazione lauerte, sagte: Das muß man den Leuten ganz abgewöhnen, den Reisenden immer ihren freien Willen rauben zu wollen! In Italien sollte man nur den Muth haben, in jeder Lage Ja! oder Nein! zu sagen.

Sie ließ der kleinen Erdmuthe nur Milch geben.

Mutter, entgegnete Armgart, milde lächelnd, dies Haus ist 9 in der Voraussetzung gebaut worden, daß man hier nach Eiern und Schinken, nach Wein und vielleicht selbst nach einem kalten Huhn frägt. Es zu bauen hat viel Mühe gekostet. Die Galerie da, die Thüren, die Verschläge sind von Holz und Holz wächst hier nicht. Unser Leben ist ja eine einzige große Verschwörung der verbündeten Menschheit gegen den Schöpfer, der uns so vieles doch gar, gar schwer gemacht hat, besonders die Existenz. Muß denn nun immer alles so regelrecht gehen? Wenn es nach mir ginge, ich kehrte in jedem Wirthshause ein – ich bestelle auch hier Schinken, Eier und Wein!

Das waren nun so die kleinen Intermezzis des gemeinschaftlichen Reisens, wo sich die gegenseitigen Stellungen ergaben. Der Oberst ging gern auf den Ton seiner Tochter ein, der ihm sympathisch war, wenn er sich auch hütete, die Mutter in solchen Fällen ganz Unrecht behalten zu lassen.

Der kleine Imbiß wurde bestellt. Am öde und einsam gelegenen Wirthshaus wurde es mit der Zeit lebhaft. Die Weinfuhrleute richteten an den abgestiegenen und sich ganz, als wäre er gesund und nur ein Diener, benehmenden Hedemann die Frage, ob sie denn auch Neuigkeiten aus der Welt mitbrächten und vor allem Entscheidendes von Rom über die Belagerung der ewigen Stadt durch die Franzosen.

Armgart trat über diese Fragen zur Seite und Monika wußte, warum sie es that. Nun bestellte die Mutter selbst noch mehr, als Armgart gewollt hatte.

Auch der Oberst verstand Armgart's Beiseitetreten, seufzte und bedeutete Hedemann, der den Fuhrleuten in gebrochenem Italienisch kurz erzählte, was er wußte, daß er sich dem scharfen Winde nicht aussetzen und ins Zimmer treten sollte.

Hedemann erwiderte mit einer Stimme, die seine alte Kraft und Männlichkeit nicht wiedererkennen ließ, daß ihm wohl wäre. 10 Auf dieser luftreinen Höhe, unter dem blauen Dach des Himmels hatten aus dem Munde eines rettungslos Dahinsiechenden die Worte der Ergebung einen doppelt wehmüthigen Nachdruck.

Nach einer Rast von mehr als einer Stunde erklommen die Gefährten neugestärkt die Spitze des nun immer noch kahler werdenden Passes. Wie glich ihr mühsames Aufwärtsschreiten den Kämpfen ihres eigenen Lebens selbst, denen erst jetzt eine etwas glücklichere Ruhe gefolgt war! Muth! leuchtete es aber aus dem Auge Monika's, Hoffnung! aus dem Auge Armgart's. Des Vaters kräftige Hand half jetzt den Klimmenden nach und mancher Scherz über die Possierlichkeiten der Kleinen erheiterte die Stimmung, trotz Porzia's Trauer, trotz Hedemann's wiederholtem: Die Gräfin ruht wol schon in Gottes Schoos! trotz aller Mischungen von Freude und Schmerz, die ihnen wohl die Nennung der Namen Paula's, des Grafen Hugo und des jetzigen Erzbischofs von Coni, Bonaventura von Asselyn, bereiten durften.


   weiter >>