20070807
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152 6.

Als noch derselbe Tag, dem die eben geschilderte Nacht folgte, goldensonnig mit unbewölktem Himmel geleuchtet hatte, fuhr ein kleiner, mit Staub bedeckter Halbwagen langsam auf der Straße zwischen den Flüssen Stura und Gesso dahin, zweien Bergströmen, die hinter Robillante in ihrem Lauf miteinander wetteifern. Um die Dämmerung gelangte das kleine Gefährt an die Thore einer Stadt, die in frühern Jahrhunderten stark befestigt gewesen sein mußte. Noch erhoben sich in dem alten Cuneum Römerthürme; noch erstreckten sich rings um die Stadt zackige Mauern und tiefe Gräben.

Die Straßen Conis, einer 15000 Einwohner zählenden Stadt, waren am südlichen Thor eng und düster, aber belebt von einer schwatzenden, muntern Bevölkerung. wie sie in Italien der Abend auf die Gasse lockt. Kinder, Frauen, Greise, nichts bleibt dann daheim im geschlossenen Raume; selbst die unterste Volksklasse sitzt in Hemdärmeln, Manchesterjacken, Blousen vor den Kaffeehäusern, raucht, trinkt, schwatzt, streitet über die Tagesneuigkeiten, für deren Kunde ein einziges Zeitungsblatt ausreicht, da unter zwanzig meist nur einer lesen kann.

Gesang ertönte. Drehorgeln durchkreuzten sich in ihren Melodieen. Der Kutscher erfuhr in dem Lärm erst von andern, daß hinter ihm sein Passagier nach ihm verlangte. Er wandte sich theilnehmend.

153 Coni ist eine ansehnliche Stadt. Aber die schlechtgepflasterte Straße mußte dem Passagier, der ausgestreckt im Innern der Halbchaise lag, empfindlich werden. Der Kutscher erfuhr, er sollte langsamer fahren. Zugleich wurde nach dem Palast des Erzbischofs gefragt und von einem Dutzend Stimmen die Antwort ertheilt. Man begleitete den Wagen, der einen Kranken führte. Es war ein todtbleiches, männlich gefurchtes Antlitz mit vollem wilden, hier und da ergrauten Bart. Benno war damals ein Mann von nahezu vierzig Jahren.

Die Straßenjugend folgte dem Wagen, der auf einen großen Platz einbog, wie es schien, einen Exercirplatz; rings war das mächtige Quarrée mit duftenden Lindenbäumen besetzt. Nicht zu entfernt von einer stattlichen Kirche lag hinter einem gegitterten Vorhof ein großartiges Gebäude, vor welchem der Kutscher in seinem weißen Hute, seiner braunen Jacke, seiner rothen Halsbinde ebenso sicher anfuhr, wie der Führer einer sechsspännigen Carrosse. Er wußte ja, daß er dem Erzbischof einen theuren Verwandten brachte.

Ein Carabinier mit gezogenem Säbel hielt vor der hohen Eingangspforte des Palastes Wache. Er deutete auf die Klingel, die der Kutscher, der schon abgesprungen war, anziehen sollte. Ein Diener erschien. In einer Art Livree von schwarzem Frack, schwarzen Beinkleidern, schwarzen Strümpfen und Schnallenschuhen.

Der Kutscher hatte schon eine Karte in Bereitschaft, die dem Diener zur Anmeldung des Besuches übergeben werden sollte. Zugleich bat er um Hülfe, den Kranken aus dem Wagen zu schaffen. So wie er da läge, il povero, brächte er ihn dritto aus Genua. Miracolo! setzte er mit beredsamem Blick hinzu – er brächte einen Mann, der nur durch ein Wunder noch lebte.

Benno, bleich, mit blassen Lippen, starren Gliedern, auf einer halb zum Sitzen, halb zum Liegen eingerichteten Matratze, hörte 154 und sah alles, was sein Führer trieb, schwieg jedoch. In der That schien er an dem äußersten Grad der Erschöpfung angelangt zu sein. Noch manches Jugendliche hatte sich in seinen Zügen erhalten. Schmächtig und mager schien er geblieben, aber sein Haupthaar war beinahe ganz ergraut, wie der mächtige Bart. Geronimo, der Kutscher, erzählte den sich schon mehrenden Dienern, zu denen sich Priester gesellten, der Kranke hätte in Rom einen Schuß in die Brust bekommen und die Kugel säße noch fest; die Aerzte hätten behauptet, der Verwundete würde, nachdem ihn schon die Anstrengungen der Flucht von Rom nach Genua dem Tode nahe gebracht, eine weitere Reise schwerlich überstehen, nichts aber hätte ihn abbringen können, seinen Transport bis nach den Thälern von Piemont zu verlangen. Ihn selbst zwar hätte das Hospital gemiethet und ihm als Ziel seiner Reise nur Nizza genannt. Daß es Coni und dort das erzbischöfliche Palais werden sollte, erfuhr Geronimo erst vom Verwundeten selbst in Vintimiglia. Dieser konnte die Arme nicht bewegen, keine Briefe schreiben – und sie von andern schreiben zu lassen, hätte er abgelehnt. Niemand sollte erfahren, wohin seine Reise ging. Selbst im Spital hätte man sein wahres Ziel nicht wissen sollen. Wenn der Verwundete jedem die Fährte der Nachfrage nach ihm abschneiden wollte, so war dies wol die natürliche Lage eines politischen Flüchtlings.

Schon wurde Benno emporgehoben, und auch die Schildwache griff mit an. Der Leidende überwand die Schmerzen, die ihm diese Bewegungen zu verursachen schienen. War doch die Sehnsucht seines Herzens erfüllt, die letzte Freude seines Lebens gewährt. Geronimo hatte recht berichtet – Benno wollte allen denen, die noch an seinem Leben Interesse haben konnten, selbst seiner Mutter, verborgen bleiben. Deshalb vertraute er selbst dem Spital in Genua nichts über seine Absichten, am wenigsten 155 der Post – Selbst die Feder zu führen. verbot ihm sein Zustand. Still in Bonaventura's Armen zu sterben, das war alles, was er vom Leben noch begehrte. Diesen hoffte er zu finden, auch ohne sich ihm angekündigt zu haben. So kam es, daß ihn hier niemand erwartete.

Die Diener jedoch, auch wenn sie den Namen »Cäsar Montalto«, der auf der Karte stand, nicht zu deuten gewußt hätten, thaten darum nicht befremdet. Was sollte nicht bei ihrem Herrn ein Sterbender seine letzte Zuflucht suchen können –!

Noch war der Fremde nicht bis an die große Marmortreppe getragen worden, als auch schon von oben her, gefolgt von Priestern und Dienern, der Erzbischof in seinem wallenden Hauskleid, einem priesterlichen Rock mit violettem Ueberwurf und goldener Kette, in athemloser Hast erschien, sich über den unglücklichen Freund niederwarf, ihn in beide Arme schloß und unter Thränen an sein Herz drückte. Mein Bruder –! rief er unausgesetzt.

Mehr konnte nicht von seinen Lippen kommen – und Mein Bruder! Mein Bruder! hatte er auf der Stiege schon, abwechselnd in deutscher und in italienischer Sprache, gerufen. Italienisch, um seine Umgebungen über den Anlaß eines so außergewöhnlich großen Schmerzes und sein Verlassen aller Formen der Etikette, die in diesem Hause waltete, gebührend aufzuklären und sie aufzufordern, in seine Trauer einzustimmen.

Das Bedürfniß, zu helfen, drängte nun sofort jede andere Empfindung zurück. Schon wurden die ersten Aerzte der Stadt gerufen. Schon hörte man oben Thüren zuschlagen, ein emsiges Rennen, Klopfen und Hämmern, um Zurüstungen für ein Lager zu treffen. Das ganze, nur von Priestern bewohnte Haus war in Bewegung.

Die Worte: Wie konntest du in diesem Zustand eine solche 156 Reise unternehmen! kamen nur halb von Bonaventura's Lippen. Laßt! bat der Majorduomo, ein stattlicher Herr mit einer silbernen Kette auf der Brust, und wehrte der Ueberzahl der helfenden Hände. Nach Benno's Wunsch leitete dieser dann allein den Transport.

Auch für den Erzbischof war Sorge zu tragen. Am eisernen Geländer der mächtigen Treppe hielt er sich mühsam aufrecht; anfangs vermochte er den Männern, die Benno hinauftrugen, vor physischer Schwäche nicht zu folgen. In meine Schlafkammer! das war alles, was er zu sagen vermochte, und wieder doch zum Kutscher mußte er sich wenden, der auf die Anrede des Majorduomo, woher sie kämen, vor dem Erzbischof sein Knie beugte und Segen – und Trinkgeld begehrte. Ohne den Auseinandersetzungen Geronimo's, so wichtig sie ihm waren, länger zuzuhören, riß der Erzbischof unter seinem Ueberwurf sein Almosenbeutelchen hervor und reichte dem Knieenden den ganzen Inhalt.

Jetzt raffte sich der Erzbischof auf und schwankte am Geländer der Stiege entlang. In den hohen weiten Sälen des ersten Stockwerks standen die Thüren geöffnet. Die letzten Abendsonnenstrahlen beleuchteten die kostbaren Tapeten von Seide, die sich sein Vorgänger Fefelotti für die kurze Zeit seines Verweilens in diesen Räumen hatte anfertigen lassen. Die Fußböden waren parquettirt. Die Wände starrten von Bronze und Krystall. Die Wohnung eines Fürsten schien es zu sein, und erst in dem mit grünen Vorhängen von einem Bibliothekzimmer getrennten Schlafgemach des Erzbischofs sah es einfacher aus. War hier auch nicht die rauhe Kasteiung sichtbar, die einst Bonaventura beim Kirchenfürsten am großen vaterländischen Strome beobachtet hatte und die in dem dem Schönen abgeneigten Sinn desselben eher ihren Grund gehabt haben mochte, als im ascetischen Bedürfniß, so hatte doch Bonaventura hier sowol wie in seinen nächsten 157 Zimmern die Spuren der Ueppigkeit seines Vorgängers so weit getilgt, als das dem Palast erblich angehörende Mobiliar von ihm verändert oder entfernt werden durfte. Da lag nun Benno schon auf seinem einfachen Lager, verlangte von allem, was ihm zur Erfrischung angeboten wurde, nur ein kühlendes Citronenwasser, vor allem Ruhe und – allein zu sein mit dem geliebten Freunde, der an sein Bett niederkniete, um Benno's glühheiße Hand zu küssen. Alle Umgebungen waren in Bestürzung über den Schmerz des Erzbischofs. Noch dazu dies Erlebniß am Vorabend seines Namenstages!

Der Majorduomo sorgte dafür, daß die Verwandte allein blieben und nur noch die Aerzte zugelassen wurden. Auch zu einem Kloster der Barmherzigen Brüder wurde geschickt, um einen erfahrenen Krankenwärter zu holen. Mit den von Fefelotti eingeführten Töchtern des heiligen Vincenz von Paula hätte man dem Erzbischof in diesem Fall nicht kommen dürfen.

Die Freunde waren allein – allein mit dem letzten Strahl der Sonne, der sich durch die herabgelassenen Vorhänge stahl – allein mit dem Todesengel, dessen dunkler Fittich seit einiger Zeit von Bonaventura's Lieben nicht mehr weichen zu wollen schien – allein mit den Rückblicken auf ein so tief verfehltes Leben, wie es Benno geführt, auf ein so tief vereinsamtes, wie es Bonaventura mitten im rauschenden Gewühl der Zeit und der Welt führte. Wie brachen die schönen freundlichen Sterne der Jugend wieder aus den Wolken, die sie so lange verschleiert gehalten hatten –! Wie klang ein Ton so wehmüthig und klagend durch die bangen Seelen der Freunde und sprach: Das, das wollten wir – und das haben wir gefunden –!

Bonaventura's Lippen bebten, ob sie fragen sollten: Weißt du denn auch, wie dein irrend Leben gerade jetzt hier angekommen ist bei seinen ersten Anfängen – und daß in unserer Nähe 158 die liebliche Armgart weilt? Weißt du denn auch, daß ich aus Deutschland den Besuch meiner erkrankten Mutter, den Besuch Friedrich's von Wittekind, deines Bruders, soeben gemeldet erhielt? Wird dich denn auch, ohne ihre letzten Küsse, deine, wie man sagt, in der Schweiz befindliche Mutter sterben lassen? Wird jene Verirrung, die für immer die Flügel deines Lebens knickte, Olympia, deinen Tod ertragen können, jene Circe, die deine Sinne verwirrte mit Zaubertränken – wer kennt den Inhalt der Mischungskünste, die eine Frauenhand bieten kann! Oder – nun kehrten ihm Klänge des längst abgebrochenen Briefwechsels zurück – war es deine eigene Seele, die dich berauschte, deine eigene Natur, die sich des Höchsten vermaß und sich doch besiegen ließ von dem, was die Menschen dir immer und du dir selbst als dein ärmstes gedeutet – deinem Gemüth! Dankbar wolltest du sein –! Deutscher nicht mehr bleiben – seit du eine von Deutschen gemishandelte Mutter gefunden – und, fast möcht' ich nach deinen Briefen sagen, mehr noch – seit die Bandiera deine Freunde geworden, die Bandiera, die der Henkertod getroffen – Benno, Benno, welche Dämonen haben dich fortgeschmeichelt von Deutschlands Herzen und hinüber in so viel Irrgänge deines Lebens und in dies ersichtliche Ende.

Zehn Jahre –! sprach Benno jetzt mit einer dumpfen, heisern Stimme, die sich mühsam von seiner keuchenden Brust losrang.

Rege dich nicht auf, entgegnete Bonaventura und setzte sich auf den Rand des Betts. Schlummre! Du bedarfst nur der Ruhe!

Benno winkte, daß Bonaventura die Vorhänge am Fenster lüften sollte. Er wollte den Erzbischof sehen, wollte vergleichen, wie auch ihn das Leben nach so langer Trennung gezeichnet hätte.

Bonaventura erfüllte sein Verlangen und sah Benno's noch volles, ergrautes Haar – Sein eigenes war längst ebenso 159 gefärbt. Die Magerkeit des Erzbischofs hatte zugenommen. Die glanzvollen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Furchen umgaben den Mund. Aber die edle Bildung des Kopfes, die Gestalt konnte durch die Spuren der Jahre nicht geändert werden und bei alledem blieb er nächst Vincente Ambrosi in Rom vielleicht der jüngste und noch immer jugendlichste Kirchenfürst in Roms Hierarchie.

Bonaventura sprach von der Kunst der hiesigen Aerzte. Von dem Doctor Savelli, der das Leben der Gräfin Erdmuthe so lange erhalten hätte. Von dem Arzt der Garnison, der sich auf den letzten Schlachtfeldern bewährt hätte.

Benno schüttelte das Haupt und erwiderte: Die Kerze ist – herunter –!

Bonaventura konnte solcher Schwäche gegenüber nichts entgegnen. Man brachte den Erquickungstrank.

Der Freund reichte ihn dem Verschmachteten, und als er getrunken, winkte nach einer Weile Benno selbst, daß das Fenster wieder verhangen würde. Fieber durchschüttelte ihn plötzlich. Sogar auf die grünen Vorhänge des Bibliothekzimmers, durch welche sich zu viel Licht hindurchstahl, deutete er. Sie wurden zurückgeschlagen und dafür die Thürflügel ganz geschlossen. Die Erschöpfung schien durch den Lichtreiz gemehrt zu werden.

Bonaventura bat ihn vor allem, nur zu schweigen. Reden und Denken griffe ihn ersichtlich an. Nur fühlen, träumen sollte er – glücklich sein – Du bist – bei mir! sprach er mit der ganzen ihm eigenen Innigkeit liebevollster Sorge, und fast schon hätte er, an Armgart denkend, gesprochen: »Bei uns –!«

In Benno's Auge, das wol von Armgart weit-, weitab irrte, traten Thränen. Er schwieg und lehnte das Haupt zur Seite, jetzt in der That, wie um zu schlummern. Nun fast störte es, daß die Aerzte kamen. Sie nahten sich dem Lager, streiften die 160 Decke auf und riethen, trotzdem daß der Kranke sich nicht bewegen konnte und mochte, ihn ganz von seinen Kleidern zu entblößen. Die entzündete, den Lungen nahe Stelle, wo die Kugel sitzen mußte, war bald gefunden. Der Kranke zuckte mit einem kurzen Schrei auf, als sie berührt wurde. Die Kugel herauszunehmen hätte den sofortigen Tod veranlaßt.

Im Blick der Aerzte lag die Andeutung, daß auch so die Auflösung schwerlich ausbleiben würde. Die Ruhe, ja die starre, krampfartige Erschöpfung, in welcher sie den Kranken fanden, verordneten sie durch nichts zu stören. Zwei Barmherzige Brüder, die inzwischen gekommen waren, wußten, was sie die Nacht über zu beobachten hatten. Jetzt galt es, den von der Untersuchung seiner Wunde Ohnmächtigen sich allein zu überlassen.

Bonaventura kehrte, die Hände gen Himmel erhebend, in seine hohen, so prachtvollen, durch die eigenthümlichen Anordnungen, die er ihnen gegeben, wohnlich umgestalteten Zimmer zurück. Sein einfacher Abendimbiß, der inzwischen aufgetragen wurde, konnte ihn nicht zum Niedersitzen bewegen. Nur wie schwebend schritt er dahin, faltete die Hände und sah nieder wie ein Verzweifelnder. Ein einziger Augenblick – wie hatte dieser so den Frieden um ihn her verwandeln können! Den Frieden! Hatte seine Seele Frieden? Erlosch um ihn her nicht ein Auge nach dem andern? Das tragische Geschick, das über sein Haus und über sämmtliche Angehörige desselben hereingebrochen schien, hatte er erst heute wieder gesehen, als vom Präsidenten die Nachricht gekommen, daß die Aerzte seiner Mutter den Aufenthalt im Süden vorschrieben. Sie würden nach Neapel gehen, hatte der Präsident geschrieben. So nahe dem Silaswalde! seufzte Bonaventura – und die Mutter bat ihn inständigst, vorher noch in Rom mit ihr zusammenzutreffen –!

Eben noch hatte Bonaventura an seinen Freund, den Cardinal 161 Vincente Ambrosi, geschrieben – er hatte sich ihm auf Besuch angemeldet. Eben noch hatte er ihm die Nachricht mitgetheilt, daß Pater Speziano gewagt, heimlich eine Nacht in Robillante sich aufzuhalten, in Begleitung des Doppel-Apostaten Terschka. Wie mußte bei solchen Bildern die Erinnerung an die alten Tage des Glücks und der Hoffnung über ihn hereingebrochen sein! Im Lehnsessel, am Schreibtisch, an seinem hohen Fenster hatte er gesessen und beim Abendläuten in die rosige Glut des Himmels geschaut. Morgen war sein Namenstag –! An den schönen Strom der Heimat hatte er denken müssen, an sein kleines erstes Pfarrdorf St.-Wolfgang, an eine Gemeinde, wenn sie zum ersten mal den Namenstag ihres Seelsorgers feiert –! Das stille Leben eines Landpfarrers hatte ihm wieder als ein so beneidenswerthes Glück vorm Auge gestanden. Er hörte die Frühglocke seiner Kirche; von seinem Gärtchen aus zählte er die Reihe der Kirchgänger; fühlte seine erste Pfarrersangst, ob ihrer auch genug kämen, um ihm die Beruhigung zu geben, daß sie ihn liebten. Wieder sah er sich auf dem engen, kaum zum Umwenden ausreichenden Platz vor seinem Hochaltar, hörte seinen eigenen Gesang und seine Predigt in der markigen edeln Sprache der Heimat, die er nun schon so lange auf immer abgeschworen. Wie sah er denn auch nur gerade heute den alten Mevissen so ernst und feierlich in seinem Stuhl sitzen, den treuen Hüter der Geheimnisse, die so ganz, ganz anders, als vielleicht sein Vater gewollt, in sein Leben eingriffen –! Auch seines Kainsmaals gedachte er, jener noch immer unenthüllten Beichte Leo Perl's, eines Spuks, der ihn nicht mehr wie sonst schreckte.

Die Jahre und die innern Revolutionen seiner Ueberzeugung hatten ihn allmählich bewahrt, über die Thorheit eines wahnwitzigen Priesters so in Verzweiflung dauernd zu verleben, wie anfangs. Das erzbischöfliche Pallium trug er nicht wie eine 162 gleisnerische Hülle innerer Unwahrheit; mit sicherm Vertrauen auf seine Lebenskraft hatte er sich ein Ziel gesteckt, dem er nachlebte, ein Ziel, das nur durch den Hirtenstab eines mächtigen Bischofs erreicht werden konnte, ein Ziel, dem die Enthüllung seiner unvollendeten Taufe eine Glorie mehr werden sollte. Als Lucinde von ihm mit dem Grafen Sarzana getraut worden war, hatte er mit ihr Frieden geschlossen (sie schickte ihm an jedem Namenstage, anfangs aus dem Kloster der Lebendigbegrabenen, später aus Genua, dann aus Rom, das letzte mal aus Venedig, zu diesem Tage ein Angedenken und ihr diesjähriges war bereits wieder von Venedig eingetroffen) – von ihrer alten Drohung, »ihn vernichten zu wollen«, war nichts mehr zurückgeblieben, als eine Art Superiorität, die ihr wenigstens in des Erzbischofs Nähe, z. B. bei ihrem Besuch in Coni eine Stellung sicherte, auch wenn andere sie eine Jesuitin oder gar eine Brandstifterin nannten. Ihr diesjähriges Geschenk war ein Kelch von Krystall, umsponnen mit silberner Filigranarbeit, eine Arbeit aus den Werkstätten Venedigs, von wo sie noch ihre Begleitzeilen datirt hatte. Sie wäre auf dem Wege nach Rom, hatte sie geschrieben, »um den Raben auf den Leichenfeldern ihren Gatten zu entziehen und ihn anständig begraben zu lassen«. Wie hatte sich das alles mit den Jahren umgewandt! So weilten Bonaventura's Gedanken in fernen glücklichern Zeiten – da kam die neue trübe Mahnung an die Gegenwart!

Bonaventura hatte nun den steten Anblick und den Umgang Paula's, hatte die seltenste Freundschaft des Grafen, die unermüdliche Sorgfalt aller für sein Wohl, hatte die edelsten Freuden der Geselligkeit, jede nur erdenkliche Fürsorge und Ueberraschung, die sonst nur einem Gatten von seinem Weibe, einem Vater von seinen Kindern kommen kann – und doch fehlte das Glück. Der Kampf mit Roms Hierarchie war ihm an sich eine Freude – er 163 hatte hier und da offene und geheime Bundesgenossen – aber Inneres und Aeußeres in ihm war nicht ausgeglichen. Nur das Nächste brauchte er zu betrachten – im Grafen sah er Krisen entstehen, die zu neuen Kämpfen der Seele führen mußten – und, blickte er in die Ferne, war denn jenes in die Ferne gerückte Räthsel des Eremiten, seines Vaters, gelöst? Friedrich von Asselyn, sein Vater, war allerdings nur damals vor seinem Sohn aus Castellungo entflohen. Er hatte doch todt sein wollen und das Schicksal sendete ihm in seine Verborgenheit gerade den eigenen Sohn! Er erblickte darin die Entdeckung seines Geheimnisses. Seit den lebensgefährlichen Abenteuern, die er bestehen mußte, lebte er jetzt im Silaswalde – Cardinal Ambrosi hatte erst vor kurzem wieder geschrieben, daß sein Jugendlehrer dem muthigen Kirchenfürsten ewig Dank wissen werde für die Mühe und Sorge, die er ihm damals, mit Gefahr seiner hohen Würde, gewidmet; daß er ihn aber fort und fort beschwöre, bis zu einer bestimmten Stunde seiner Lebensspur nicht zu folgen, ja daß er ihm das heilige Versprechen abnähme, ihn bis dahin nie mehr unter den Lebenden zu suchen. Fiat lux in perpetuis! hatte diese erneute Bitte des Eremiten geschlossen. Es war das Losungswort der Briefe, die ihm und dem Onkel Dechanten einst aus Italien gekommen waren – der Augenblick der Versammlung unter den Eichen von »Castellungo« sollte an einem St.-Bernhardstage stattfinden. Noch lag dieser Tag um Jahre hinaus, und doch mußte er schon mannichfach bestimmend und bindend wirken. Mußte nicht Bonaventura des Vaters Bitte schon um seiner noch lebenden Mutter willen erfüllen? Zu seiner Beruhigung diente, daß dem Vater ein treuer Wächter im Silaswalde geblieben war, sein Retter aus Räuber- und Mörderhand, jener kühne Laienbruder Hubertus. Wie die Reise der Mutter nach Neapel in diese Räthsel eingreifen konnte, hatte sich der Sohn mit banger 164 Spannung eben vergegenwärtigt. Cardinal Ambrosi war inzwischen der innigste Vertraute seines Lebens geworden – nur wußte derselbe nicht, daß Federigo des deutschen Freundes Vater war; Vincente Ambrosi und Bonaventura hatten sich so gefunden, daß in den Zeilen, die er ihm eben geschrieben, die geheimsten Saiten seines Innern, jene Beziehung ausgenommen, widertönen durften.

Ein Erzbischof kann, wie ein Fürst, nicht frei gehen und wandeln; er ist der Gefangene seiner Würde. Im Speisezimmer wurde Licht angezündet und der Haushofmeister kam mit bittender Miene, Eccellenza möchte sich nicht dem Mahl entziehen und die nothwendige Stärkung zu sich nehmen. Der Erzbischof aß nicht allein. Eine Anzahl Hausbewohner, Hülfspriester, Secretäre, Schüler, waren seine regelmäßigen Tischgenossen.

Gelassen gab Bonaventura den Bitten nach, setzte sich zur Tafel auf seinen Ehrensessel und sah voll Wehmuth auf ein neben ihm liegendes Buch, das er befohlen hatte, heute Abend neben ihm hinzulegen. Es war ein Theil der Werke des heiligen Bonaventura, denen er sich seines Namenstages wegen hatte widmen wollen. Es ist mein Namenstag morgen – sprach er mit leiser Stimme und im reinsten Italienisch; ich beschäftigte mich gerade mit unserm Doctor seraphicus. Die Stelle, die ich vorlesen wollte – (er blätterte mit seinen magern weißen Fingern) – ich kann sie nicht wiederfinden. Lesen Sie, wandte er sich erschöpft zu einem jungen Vicar, der bei ihm den Freitisch genoß – eine jede Stelle wird auf unser Leben passen!

Der junge Mann las, was er beim nächsten Blicke fand: »O wär' ich doch jener Baum des Kreuzes und wären die Hände und Füße des Gekreuzigten an mich geheftet gewesen, so hätt' ich zu jenen Menschen gesprochen, die ihn vom Kreuze abnahmen: Nimmermehr laß' ich mich trennen von meinem Herrn; begrabt 165 mich mit ihm! Doch da ich das dem Leibe nach nicht thun kann, so thu' ich es der Seele nach. Drei Stätten will ich mir im Gekreuzigten erwählen; die eine in den Füßen, die andere in den Händen, die dritte in seiner Brust! Dort will ich athmen und ruhen! Dort wohnen, trinken aus dem Quell ihrer unaussprechlichen Liebe! Oft wandelt mich Furcht an, ich möchte herausfallen aus diesem Aufenthalt! Glückselige Lanze, glückselige Nägel, die ihr diesen Weg des Lebens uns öffnet! O wäre es mir vergönnt gewesen, jene Lanze zu sein, nimmermehr wär' ich dann aus dieser göttlichen Brust zurückgekehrt –!« . . .

Lästerung! unterbrach der Erzbischof plötzlich aufwallend und nahm das Buch an sich.

Alle erschraken. Doch bei näherer Besinnung war ihnen diese Kritik nicht befremdlich an ihrem Oberhirten, der die Wärme der Religion nur beim Lichte suchte.

Er winkte mit der Hand und deutete an, daß man unbehindert den Speisen zusprechen sollte. Da er selbst nur wenig aß, konnte er seinen Tischgenossen sagen: Wohin verirrt sich nicht der spielende Witz einer Andacht, die mit der Feder in der Hand betet! Wahrheit! Wahrheit! Und vor wem denn mehr, als vor dem Herrn der Welten, vor dem Gedanken: Was ist Ewigkeit!

Dann erzählte er von Benno's Leben – bis seine Thränen ihn am Weitersprechen hinderten.

Der Haushofmeister, der am untern Ende der Tafel vorlegte, kannte Benno noch von seinem Aufenthalt in Robillante her. Es war ein schlichter Mann, der dem Erzbischof von dort gefolgt war und in Fefelotti's Hinterlassenschaft Ordnung und Sparsamkeit gebracht hatte. Daß der sich jetzt Cäsar von Montalto nennende, verwundete Vetter des Erzbischofs vom Kriegsschauplatz in Rom kam, war kein Geheimniß und mehrte das Interesse; 166 in diesem Lande war das Urtheil über Italiens Angelegenheiten freigegeben. Allgemein nahm man die Möglichkeit, in so krankem Zustand von Rom bis hierher reisen zu können, für ein Hoffnungszeichen möglicher Genesung.

Bonaventura dachte anders. Es hat ihn nur gezogen, hier sein letztes Lager zu suchen. Noch einmal wollte er in seinen Anfang zurück. So nur war ihm dies Suchen eines letzten Wiedersehens erklärlich.

Das bescheidene Mahl war zu Ende, als das lebhafte Gehen der Thüren nach dem Schlafzimmer zu auf ein Vorkommniß im Zustand des Kranken schließen ließ. Der Erzbischof erhob sich eilends und ging in die anstoßenden Zimmer. Alle folgten. Einer der Brüder kam ihnen mit einem Gefäß voll Schnee entgegen, den man anwenden wollte, um den Blutandrang zum Kopf des Kranken zu mildern. Bonaventura hörte ihn laut phantasiren. Als er näher gekommen war, fand er Benno hochaufgerichtet im Arm des andern Bruders und seiner nicht bewußt und auch Bonaventura nicht erkennend. Es schien, als befehligte er noch auf den Breschen der Mauern Roms – als riefe er die Wankenden zusammen. Mit erhöhter Stimme sprach er bald italienisch, bald deutsch, bald englisch. Er redete Personen an, die er leibhaft vor sich sah. Sarzana! rief er und lachte sogar. Da haben Sie's denn nun! Sie Leichenbruder! Auch Hamlet hatte erst Muth, als eine Ratte hinter der Wand raschelte! War's nicht so auch mit Ihnen und Ihrer neuen Loge damals –? Stehen Sie jetzt auf, Sarzana! Ich bitte Ihnen ab, daß ich Sie für einen Verräther hielt. Ein tollerer Hamlet waren Sie freilich noch als ich. Achtung aber der Dame, die da kommt und die eine Krone zu tragen würdig ist – Nein – es ist – ja nur die Kammerjungfer –

Bonaventura las aus Benno's wilden und lachenden Mienen 167 die Erinnerungen, die ihn quälten. Die letztern schienen Lucinden zu gelten. Er redete dem Freunde zu, sich zu fassen. Seine Hand strich ihm das Haar aus der Stirn.

Endlich schien der wie von Gespenstern verfolgte und wie um Hülfe bittende Blick des Phantasirenden den Freund zu erkennen. Seine wilde Rede stockte. Das Auge starrte um sich; der Kopf neigte sich zum Kissen zurück, und nur die abwehrenden Hände verriethen, daß die Gedanken des Leidenden keine heitern waren. Fort! Fort! rief er und suchte sich der Annäherung von Menschen zu erwehren, dann murmelte er vor sich hin in jetzt nicht mehr zu verstehenden Lauten. Allmählich trat eine Entkräftung ein, so bedenklich, daß die hinzugekommenen Aerzte dem Bewußtlosen Stärkungen einflößen mußten. Darüber verfiel er in einen Halbschlummer.

Inzwischen war im Nebenzimmer ein Bett aufgerichtet worden. Bonaventura hatte angeordnet, daß hier, in seiner Bibliothek, sein Nachtlager sein sollte. Man beschwor ihn, seiner selbst zu schonen – Morgen in erster Frühe wollte er bei alledem die Messe lesen. Er erwiderte: Nachtwachen bin ich gewohnt. Dann trat er ans Fenster und deutete an, daß ein Unwetter heraufzöge; man möchte die Fenster schließen und sich zur Ruhe begeben. In der That brauste ein plötzlicher Wind und warf offenstehende Thüren und Fenster zu. Man entfernte sich und ging scheinbar zur Ruhe. In Wahrheit schmückte man heimlich den Palast zum morgenden Feste.

Der Kranke lag, als Bonaventura an sein Lager zurückkehrte, in Schlummer versunken. Sein Athemzug ging schwer und ungleichmäßig. Die Brüder schlossen nebenan die Fenster und Thüren – das Brausen des Windes vermehrte sich. Auch die Thür, die das Schlafcabinet vom Bibliothekzimmer trennte, wurde wieder geschlossen. Bonaventura trat in das letztere zurück und war nun 168 allein – unter seinen Büchern, von denen ihm die meisten über die Alpen (ohne Renate, die, in einem Stifte gutversorgt daheimgeblieben, bald nach der Trennung von ihrem Pflegling starb) nachgekommen. Seine Studirlampe brannte auf dem grünbehangenen Tische. Die Glocken schlugen zehn.

»Nachtwachen bin ich gewohnt.« Bonaventura war es schon in seinen glücklichern Tagen. Wie viel mehr in denen, die seiner Reise nach Wien folgten –! Seinen Brief an Ambrosi holte er hervor. Ambrosi hatte dem Heiligen Vater auf seiner Flucht folgen müssen. Nun zog er wol wieder mit ihm in Rom ein. In Rom, wohin auch ihn, den Sohn – die Mutter rief – Bonaventura hatte vor zehn Jahren Rom nur flüchtig kennen lernen. Damals war er als ein Angeklagter erschienen, anfangs in seinen Schritten gehemmt, dann, als sich alles zum Guten wandte, von Huldigungen maßloser Art, durch die Herzogin von Amarillas, Olympien, Lucinden, am wenigsten frei gegeben.

Damals war Benno bereits durch die Hülfe der Frauen gerettet gewesen. Die Herzogin von Amarillas hatte sich mit Olympien durch die Sorge um ihren Sohn ausgesöhnt. Daß Benno ihr Sohn, verkündete sie nun selbst; ihr verzweifelndes Muttergefühl hatte ohne jedes Besinnen den Schleier des Geheimnisses zerrissen – und die vorher so gefürchtete Mitwisserin des Geheimnisses, Lucinde, wurde nun ohne Scheu die Dritte im Bunde; die Herzogin hatte jede Demüthigung vergessen. Zwei Menschen gab es nur, die helfen konnten, Olympia und Lucinde – ihr erschienen sie jetzt wie Engel und gottgesandte Heilige.

Als damals Benno in Sicherheit war, errichteten die Frauen Pforten des Triumphes für Bonaventura. Fefelotti mußte ihn von ganz Rom wie auf Händen getragen und sogar vom Heiligen Vater begnadet sehen. Ermüdet und beschämt von soviel 169 Glück und Erfolg, hatte Bonaventura den Trost, zu sehen, daß seine Sache wenigstens von einigen unabhängigen Männern und Richtern aus Ueberzeugung gefördert wurde. Er hatte gehört, daß seine Angelegenheit besonders freundlich Ambrosi vertrat. Diesen seltsamen Menschen, für den er ja selbst in Robillante Bischof geworden und von dem er mit doppelt begründeter Rührung vernommen, daß sein Vater Professor in Robillante und auf einer Alpenwanderung, wo Vermessungen von ihm vorgenommen werden sollten, umgekommen war – diesen besuchte er jetzt. Wie drängte es ihn, zu hören, ob sein eigener Vater, der einen solchen Tod nur fingirt hatte, wirklich als Lehrer oder Verführer zu ketzerischen Gesinnungen mit ihm in näherer Verbindung stand –!

Im frühern germanischen Collegium liegt die »Custodia der Reliquien und Katakomben«. In dem untern Geschoß des düstern Palastes befinden sich lange, an den Fenstern vergitterte Säle, in denen die alten Steinsärge ihres Inhalts entleert, die vermoderten Knochen gesäubert und in grünangestrichenen Kisten gesammelt werden. Nach den Inschriften der Särge werden die Namen der Bekenner festgestellt. Findet man kleine Phiolen mit einer eingetrockneten Flüssigkeit, die vielleicht Blut war, so hegt man die Ueberzeugung, die Knochen eines Märtyrers gewonnen zu haben. Ueberall liegen Glassplitter, zerbrochene thönerne Lampen, selbst Kleiderreste einer uralten Vergangenheit.

Soeben war Cardinal Ambrosi beschäftigt, ein Skelet, das von einem Professor des Collegiums, einem Jesuiten, als heiliger »Xystus« getauft war, nach Amerika zu versenden, wo man in Mexico das dringendste Bedürfniß ausgesprochen und darum viel Geld nach Rom gesandt hatte, für eine neugebaute Kathedrale den kostbarsten Schmuck in einem heiligen Reliquienleib zu besitzen. Bonaventura wartete in einem Nebenzimmer und gedachte 170 an das Wort: »Ich ziehe in die Katakomben!« ein Wort, das Frâ Federigo zu Klingsohr und Hubertus gesprochen hatte. Ueber Hubertus hatte sich Bonaventura schon bei Klingsohr beruhigt, den er mehrmals in Santa-Maria besuchen wollte, endlich nur im Archiv des Vatican fand, wo Pater Sebastus die deutschen Schriften excerpirte, die Rom auf den Index setzt – eine Thätigkeit, die Bonaventura an Benno's Wort vom Vatermorde erinnern konnte, dessen dieser den Sohn des Deichgrafen mehr bezichtigte, als seinen eigenen Vater, den Kronsyndikus. Klingsohr's demüthiger Brief aus San-Pietro in Montorio nach Robillante, den Lucinde damals besorgen sollte und besorgt hatte, stand im auffallendsten Widerspruch – mit einer Cigarre, die Pater Sebastus jetzt am offenen Fenster in der Nähe der Loggien des Rafael zu rauchen wagte! Soviel stand fest – die Situation hier oben, dieser Blick auf die Größe Roms, dieser herausströmende Duft aus den lieblichen Gärten des Vatican – es verlohnte sich vielleicht, wenn man kein Gewissen hat, mit dem deutschen Vaterland, mit Schiller, Goethe und Kant gebrochen zu haben.

Klingsohr analysirte sein Glück mit der ganzen Kraft der ihm zu Gebote stehenden poetischen Reproduction. Die »dummen, albernen Wahngebilde« in den Büchern vor ihm, die ewige Schönheit Rafael's um ihn her – auch Lucindens beseligende Nähe – alledem wußte der kahlköpfige, hektisch hustende Mönch goldene Worte zu leihen. Von Hubertus berichtete er, daß er den Pilger von Loretto aus der Gefangenschaft der Räuber mit Lebensgefahr befreit hatte, dann aber leider, den Verfolgern ausweichend, mit dem Geretteten nach dem Süden verschlagen wäre. Hubertus unterhandelte damals mit dem General der Franciscaner um die Erlaubniß, in dem Kloster San-Firmiano, am Eingang in den Silaswald, für immer bleiben zu dürfen, und schon hatte seine Bitte die Unterstützung Lucindens und Ceccone's 171 gefunden – Beide waren froh, den Unheimlichen in der Ferne zu wissen. In ruhiger Ergebenheit ließ Bonaventura Klingsohr die Gelegenheit, alle Erfahrungen seines Gemüths gegen einen Mann durchzusprechen, der ihm so mannichfach nahe stand. Und wie orakelte dann Klingsohr! Am längsten verweilten seine Einfälle und Paradoxen diesmal beim Leben – der »Thierseele«. Hubertus sollte den Pilger mit Hülfe eines Hundes, ohne Zweifel des seinem Herrn bis nach Loretto und dann bis an die Bai von Ascoli nachgelaufenen »Sultan« entdeckt haben. Den Pilger selbst charakterisirte Klingsohr als einen Deutschen, welcher der alten Zeit des Turnerthums und der Romantik entlaufen wäre und »sozusagen Eichendorff ins Protestantische übersetzt hätte –«, wahrscheinlich hätte er in Loretto »die Andacht statistisch studiren« und das hochheilige Wunder von der durch die Lüfte nach Loretto getragenen Heilandskrippe in der Darmstädter Kirchenzeitung lächerlich machen wollen. Grizzifalcone hätte einen scharfen Blick verrathen, als er diesen Mann zu seinem Schreiber gemacht, und in ähnlicher witzelnder Weise fort.

Bonaventura hielt seinen heftigsten Zorn und Unwillen zurück und rühmte nur die Bildung des Verschollenen.

Klingsohr räumte diese ein und erzählte: Als wir in einer Nacht im Walde campirten und ich nicht schlafen konnte, sang er, neben mir im Moose liegend, ein provenzalisches Lied. Von einer edeln Dame, glaub' ich, der ein in den Kreuzzug ziehender Ritter seinen Hund und seinen Falken zurückläßt. Ich übersetzte es – glaub' ich:

Weil ich Dich, Liebste, lassen muß,
Wie darf ich je noch fröhlich werden!
Nimm hin noch mit dem letzten Kuß
Das Liebste mir nach Dir auf Erden! – –

Es war der Hund und der Falke –

172 Bonaventura war erschüttert gegangen. Er sah den Abschied des Vaters von Gräfin Erdmuthe. Als er erfahren, daß sie vielleicht in Santa-Maria eine Möglichkeit fand, mit dem Silaswald in Verbindung zu treten, als Klingsohr mit elegischem Aufschlag seiner schwimmenden hellblauen Augen von Lucindens Macht und Einfluß und, Bonaventura's fast spottend, von ihrer baldigen Grafenkrone gesprochen hatte, verließ er ihn, um ihn nicht wiederzusehen. Klingsohr behandelte ihn, im Hinblick auf Lucinden, mit Vertraulichkeit und fast mit Protection.

Es währte eine halbe Stunde, bis damals Ambrosi, den Bonaventura für fernere Nachforschungen im Silaswalde zu interessiren hoffte, sich ihm widmen konnte. Er sah sich die auch in seinem Wartezimmer befindlichen alten Marmorsärge an. Auf allen Verzierungen derselben fanden sich die nämlichen Embleme des Glaubens an Auferstehung. In roher Darstellung, ohne Zweifel von Fabrikhänden gefertigt, waren die Verstorbenen als Jonas im Bauch des Walfisches dargestellt, ein Mythus, der den Formen der Schönheit wenig entgegenkommt – ebenso wenig wie der auf allen Särgen wiederkehrende Fisch, der in seinem griechischen Namen die Anfangsbuchstaben für Jesus und seine Erlöserwürde ausdrückt.

Endlich erschien der Cardinal. Bonaventura fand eine kleine Gestalt, von weiblichweichen Formen, von einer noch ebenmäßigeren Schönheit, als sie ihm oft war geschildert worden. Ambrosi's Lächeln war fein, sarkastisch, seine Sprache sanft und melodisch. Was er Bonaventura zur ersten Begrüßung sagte, schien ein Herzensbedürfniß auszudrücken, das schon lange von ihm genährt war und in dem Wunsch nach inniger Bekanntschaft mit einem Manne bestand, der einen Bischofssitz einnahm, der vor einem Jahre ihm bestimmt gewesen.

Nach Entschuldigungen dann für die Eile, welche die 173 Verpackung des heiligen Xystus hätte, da ein Segelschiff in Civita-Vecchia nach Mexico bald die Anker lichte, nach den ersten schärferen Forschungen in der Natur der beiden sich in ihrem innern Grund bereits bekannten Männer, sagte Bonaventura beziehungsvoll: Es weht mich aus diesen Symbolen, so unschön die Formen sind und so – man kann wol sagen, roh, einem Bauer gleich, die Gestalt Jesu abgebildet wird, doch eine seltsame Weihe an. Man sieht einen nächtlichen Gottesdienst geheimnißvoller Verbrüderung in einer unterirdischen Krypte.

Die nahe Erwartung des Heils liegt in diesen mystischen Zeichen! sprach Ambrosi und führte seinen Besuch an den Steinsärgen entlang, auch an noch uneröffneten. Der Geruch in diesen Sälen war peinlich genug, die Stimmung aller Anwesenden seltsam beklommen; nicht gerade des Moders wegen, sondern ebensowie im verschütteten Pompeji nicht Ein Glasscherben von den Arbeitern mitgenommen werden darf, so hier keiner dieser einträglichen Knochen, die im Preise von Juwelen standen. Ein Priester mußte den andern überwachen und die Wächter hatten über sich wieder andre Wächter.

In der That – als wenn man eine Orphische Nachtreligion mit geheimnißvollen Wunderzeichen dargestellt sähe! sprach Bonaventura, staunend über die an den Särgen angebrachten Basreliefs.

Der Cardinal unterrichtete seinen Besuch über die neuesten Forschungen in den Katakomben. Dann sagte er: Die Gleichheit aller Särge und die gemeinsame Begräbnißstätte erweckt die Vorstellung von einer fast familienartig zusammenhängenden Gemeinde.

Inzwischen wurden dem Cardinal eine Kerze und Siegelwachs entgegengehalten. Ein großes Petschaft zog er aus seinen Kleidern und versah mit dem Wappen der gekreuzten Schlüssel und der dreifachen Krone die Stricke und die Nähte der Emballage.

174 Nachdem wollte der Cardinal seinen Besuch in die obern Zimmer führen; wieder fand sich eine Störung. Gleichsam als käme alles zusammen, was den Gedanken wecken mußte: Sind denn das nicht Heuchler, die einen gottseligen Sinn haben wollen und solchem Aberglauben huldigen? – traten ihm die Superiorin, die Vicarin und Sakristanin der »Lebendigbegrabenen« in ihren braunen Röcken und weißen Schleiern als Abgeordnete ihres Klosters entgegen, um das Fürwort des jüngsten der Cardinäle für die Heiligsprechung ihrer Mumie zu gewinnen. Sie verneigten sich. Ambrosi nahm ruhig ein Verzeichniß der Wunder entgegen, welche die weiland Eusebia Recanati schon vollbracht haben sollte.

Bonaventura sah, daß Ambrosi nicht lächelte, sondern die Blätter erst überflog, sie zu sich steckte und die Angelegenheit der Nonnen zu prüfen versprach. Beide begegneten sich als katholische Priester. Beide waren erzogen und emporgekommen in ihrem Beruf. Jedenfalls kannten sie keine Reform, als die auf Grundlage des katholischen Lebens selbst. An einen Uebertritt zum Lutherthum denkt nicht der alleraufgeklärteste, nicht der allerunabhängigste unter den Katholiken.

Als die Nonnen sich entfernt hatten, saßen sich zwei Menschen, Heilige, wie sie oft genannt wurden, gegenüber und forschend ruhten ihre Blicke aufeinander. Der eine war ein Märtyrer des Duldens und stand deshalb jetzt erhöht. Der andere wurde von je verfolgt und entfloh doch nur von Würde zu Würde. Jener ein contemplativer Charakter, dieser zum Handeln und zur praktischen Bewährung geneigt. Die Ruhe beider die gleiche; beim einen war sie ein Wachen wie über einem Schatz von schönen Hoffnungen, die alles Leiden endlich belohnen würden, beim andern wie über einem Schatz der Ergebung, dem ein neues Leiden keine Ueberraschung mehr bieten konnte.

175 Ambrosi lobte Bonaventura's Eifer für die Waldenser, nicht weil er ihre Lehre billigte, sondern weil die Waldenser ihre Rechte hätten. Voll Theilnahme und beruhigend sprach er über den Eremiten, den er einen Landsmann des neuen Erzbischofs nannte und im Silaswalde wußte. Die Berichte, die er gab, bestätigten, was inzwischen schon Bonaventura zu seiner Beruhigung erfahren hatte.

Als Bonaventura von Frâ Federigo nähere Kunden zu hören wünschte, wich allerdings sein Gönner aus und rühmte nur – die Gegend um Robillante. Auf einsamen Wegwanderungen, sagte er, hab' ich da die großen Begebenheiten kennen lernen, die dem Einsamen Stoff zur Betrachtung geben. Mein erstes Evangelium war tagelang ein Vogel oder eine Wolke. Als ich später in die Schule, ins Seminar, ins Kloster kam, fand ich freilich, daß ich infolge dieses Träumens alles, was eine Unternehmung werden sollte, linkisch anfaßte; der Erfolg war immer kleiner, als meine Absicht. Da begann ich nichts mehr und nun hatt' ich alles.

Gefahrvoll für die Welt, griffe solcher Quietismus um sich! sagte Bonaventura mit aufrichtigem Tadel.

Darauf machte mich Frâ Federigo aufmerksam, dem ich mein Leiden klagte, fuhr der Cardinal mit voller Zustimmung, doch offenbar über seine Worte wachend, fort.

Warum suchten Sie ihn auf? fragte Bonaventura.

Ich wollte deutsch von ihm lernen, um in die Schweiz zu reisen. Ich brachte es darin nicht weit. Ihre Heimatsprache ist schwer und wir plauderten wenig über die Grammatik, mehr über Gott und die Welt.

Bonaventura sah den Einfluß seines Vaters auf den jungen Theologen und fragte: Sie wußten, daß Sie mit einem Ketzer sprachen?

176 Das wußt' ich! Ich ging auch mit großer Angst zu ihm. War ich aber bei ihm und es wurde Nacht und ich ging wieder heim, so erschien ich mir wie Jakob, der auf dem Felde einem Engel begegnete und im Nebel mit ihm rang. Ich kämpfte oft einen Riesenkampf gegen diese mächtige Erscheinung und doch suchte ich meinen Gegner immer wieder auf, gerade weil ich bei ihm die Kraft fand, um mit dem Engel im Nebel, mit Gott zu ringen. Jeder Schlag, den ich von Gottes allmächtigem Geist empfing, verbreitete Kraft durch meine Glieder. Sie hatten Recht, mein theurer Bruder, sich für diesen edlen Landsmann zu verwenden. Ich denke, Sie sind jetzt über ihn beruhigt?

Bonaventura's Brust hob sich mit dem Gefühl der Beseligung und zugleich der Spannung auf die Möglichkeit, daß Ambrosi seine nähere Beziehung zum Eremiten kannte. Ist es wahr, begann er nach einigem Schweigen, während dessen seine Augen umirrten, daß Sie doch zuletzt vor seinen Lehren geflohen sind?

Der Cardinal erröthete, wie öfters, so auch jetzt, gleich einem Mädchen. Dann wiegte er den schönen Kopf wie über die Seltsamkeit aller solcher Gerüchte und über sein Antlitz verbreitete sich ein mildes Lächeln. Er hatte geschwiegen, aber seine Geberden sagten ein Ja! und auch ein: Nein! Nur ein Italiener oder ein Orientale besitzt die Fähigkeit eines so ausdrucksvollen Mienenspiels.

Ein Mönch zu sein! fuhr Bonaventura beobachtend fort. Konnte – Sie das so reizen – so zu den staunenswerthesten Entbehrungen –?

Ein Mönch in alten Tagen, unterbrach der Cardinal die ihm dargebrachte Huldigung mit lächelnder Miene, war ein lebensmüder Einsiedler. In den unsern bedeutet er entweder weniger oder – mehr. Ich stellte mir mit meinem Verlangen nach Gott eine Aufgabe. Ist es nicht mit unserm ganzen Glauben so, daß 177 wir unsere Schultern nur zum Tragen göttlicher und unsichtbarer Dinge stärker machen wollen? Diese Reliquien, diese Seligsprechung, von der Sie soeben hörten – diese rechne ich auch zu dem, was mit dem Baldachin des Himmels, der Offenbarung, der Verehrung für überirdische Dinge überhaupt mitzutragen ist. Warum tragen wir es noch und handeln danach?

Noch? wiederholte Bonaventura.

Ein flüchtiges Zittern bewegte die Augen und Mundwinkel des Cardinals. Wieder folgte ein vielsagendes Mienenspiel, ein beredsames Schweigen. Wie mit plötzlicher Erleuchtung glaubte Bonaventura eine Vision zu sehen. Dieser Priester, sagte er sich, ist ein Schüler deines Vaters! Alle Grundsätze desselben hat er eingesogen! Um sie in die katholische Kirche einzuführen trachtete er darnach, eine hohe Würde zu erklimmen, die ihm möglich machte, Reformator mit Erfolg zu sein! Unter allen Mitteln, die sich ihm darbieten konnten, um zu steigen, wählte er das – eines Lebens der Ascese! Bonaventura gedachte der Mahnung an die Eichen von Castellungo, an den Tag des heiligen Bernhard, den Tag, wo Scheiterhaufen oder göttliche Läuterungsflammen der Kirche sich erheben würden. Fiat lux in perpetuis! schwebte auf seinen Lippen. Schon wollte er die geheimnißvolle Losung aussprechen.

Da fuhr der Wagen mit dem heiligen Xystus vom Hause ab. Nicht zu weit entfernt vom Sopha, auf dem sie saßen, stand ein Tisch, auf dem eine Anzahl jener gelben, wie Ockererde zerbröckelnden Reliquienknochen lag. So mußte er seine Vision wol als eine Vorstellung des Wahns wieder von seinen Augen verbannen.

Sie sind gewiß befremdet, sprach der Cardinal, der ihn so in Gedanken verloren fand, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich diesem Ihnen vielleicht verdrießlich erscheinenden Amte sogar mit Liebe 178 obliege? Es erinnert doch gewiß an Eines – an den Tod, der unser aller sicherstes Loos ist.

Aber diese Reste der Vergangenheit verehren? entgegnete Bonaventura mit wiederkehrendem Muthe. Sogar Wunder verlangen von diesen – todten Knochen? Ich habe in meinem Wirken als Pfarrer und Bischof die Reliquienanbetung – nie unterstützt.

Es war ein gewagtes Wort, das Bonaventura gesprochen – Der Cardinal nahm es ruhig hin. Der Aufgeklärte und Denkende, sprach er, wird immer trauern, wenn er sieht, daß diesen todten Resten der Vergangenheit eine göttliche Ehre erwiesen wird. Aber trägt man nicht auch den Ring einer Geliebten, das Haar einer theuern Mutter und treten Sie nicht mit feierlichem Gefühl in die Gruft der Scipionen, die Sie auf der Via Appia finden? Ist nicht der Besuch der Gräber die heiligste Gelegenheit, unsere irdischen Gedanken zu läutern und von uns so vieles abzustreifen, dem wir allzu thöricht nachjagen? So möcht' ich auch diese Gebeine, die man tausend Jahre lang heilig hielt, nicht sofort, wie die Sansculotten mit den Gräbern der französischen Könige in St.-Denis thaten, auf die Straße werfen. Aber den wahren Sinn des Sicherinnerns im Kirchenleben wünsch' ich allerdings gedeutet und die Verehrung vor den Reliquien nur zu einer Sache der Dankbarkeit gemacht. Bewundert doch, möcht' ich rufen, den Zusammenklang der Zeiten! Diese von uns fortgeführte Melodie alter Hoffnungen und schon einmal dagewesener Tröstungen! Wer kann die Heiligen mit einem Federstrich tilgen! Sie leben so gut wie Christus. Aber auch hier: Sie können immer mehr dem rein äußerlichen Bann ihrer Bilder entschweben, können immer mehr in ihren irdischen Farben erbleichen und vergeistigt in die Herzen der Menschen einziehen – das soll und muß und wird kommen –! Wie soll aber unsere Kirche diese Formen so schnell zertrümmern 179 ohne Gefahr, auch das Gute zu verlieren, das sich an sie knüpft? Zumal in südlichen Ländern, wo Jahrtausende hindurch die Religion nur auf dem Weg der Phantasie in die Herzen zog!

Bonaventura sah die Richtung seiner eigenen Stimmungen. Auch ihn band Pietät. Doch hatte sein Glaube angefangen, alles auf die Bibel zu geben. Und er sagte dies.

Sorgen Sie nur, daß sie alle lesen können! erwiderte der Cardinal mit einem Seufzer.

Das Bild des Aberglaubens im Volke, der Unbildung der Massen lag aufgedeckt vor den beiden freigesinnten Priestern. Ambrosi hörte die beredte Schilderung des Bischofs wie Deutschland doch so weit voraus wäre. Wie dagegen Italien zurückstand, zeigte die Erinnerung an die Gefangenschaft Federigo's unter den Räubern – alle ihre Qualen verdankte der Unglückliche allein seiner Schreibekunst!

So sprachen beide noch lange fort und Bonaventura ahnte die Erfüllung seiner kühnsten Träume in den Gedanken einer gleichgestimmten Seele. Die Formen der katholischen Kirche aufzugeben und so zu denken, wie Luther dachte, war ihnen nicht gegeben – sie wollten diese Formen zurückgelenkt sehen in die Bedürfnisse des Gemüths, diese geläutert durch einen Geist, dessen allgemeiner Ausdruck die Anerkennung der bisher im katholischen Kirchenleben verpönten Bibel war. Im Haß gegen die Gesellschaft Jesu waren sich beide gleich; beide gelobten, sie mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen. Das läßt mich meinen Krummstab lieben, daß er in diesem Feldzuge ein Commandostab ist, keine schwache Waffe eines einzelnes Kriegers –! sagte Bonaventura. Bald verrieth Ambrosi's leuchtendes Auge, daß auch ihm der Protest eines einzelnen Pfarrers oder Mönches nur ein Tropfe auf einen glühenden Stein war; das zischt auf und hinterläßt nichts, als ein wenig Rauch. In der Frage, die er dann 180 an den Bischof richtete, ob er diesen oder jenen Namen der Hierarchie schon kannte, lag die Andeutung, wie schon die Zahl der Gegner Ceccone's und Fefelotti's im Wachsen war.

Bonaventura versprach, sich den genannten zu nähern. Die hohe Wonne, welche dem Menschen das Gefühl, Uebereinstimmung zu finden, gewährt, verklärte sein Angesicht. Noch mehr, selten ist das Glück gewährt, noch in späteren Lebensjahren, in Stellungen, welche den Anschluß der Herzen nicht mehr erleichtern, eine Freundesbrust zu gewinnen. Das hob ihm jetzt die seinige. Das Gespräch wurde lebhafter und zutraulicher. Diesem Priester, den Bonaventura einen »heiligen Scheinheiligen« hätte nennen mögen und mit mancher ähnlichen Erscheinung der Kirchengeschichte, mit Filippo Neri verglich, hätte er sich ganz entdecken mögen. Kämpfend mit dem, was noch in ihm hindernd lag und doch schon auf sein Bedürfniß der vollen Hingebung zielend, sagte er: So vieles in unserm Glauben ist wie die Beichte. Auch ihr liegt eine Erfahrung des Gemüths zum Grunde, die ohne höhere Einbuße niemanden entzogen werden kann. Aber wie sie jetzt besteht, ist sie der unwürdigste Zwang –! Eine Zeit wird kommen, wo man erkennt, daß sie dem Priester das Unmögliche zumuthet. Was drückt unsere innere Würde mehr als Beichtbürden, die wir tragen, ohne das Gute befördern, das Schlechte, das wir erfahren, verhindern zu können! Wenn die Unmöglichkeit und der nothwendige Heuchelschein des katholischen Priesterthums erst erkannt sein wird, dann – Bonaventura brach ab und erhob sich, weil ein Geräusch vernehmbar wurde.

Auch der Cardinal erhob sich und betrachtete Bonaventura mit heißen, glänzenden Augen. Ich möchte nur von dem die Beichte hören, dem ich sie selber spräche, sagte er. Ein Austausch des Vertrauens unter Freunden –

Ihnen – – könnt' ich wahr sein – wallte Bonaventura 181 in seiner deutschen, vom Herzen kommenden Regung auf und hielt dem Cardinal die Rechte dar.

Der Cardinal nahm sie zitterndbewegt –

Da trat einer der Candatarien ein und erinnerte an die vorgerückte Stunde. Eine Sitzung des Consistoriums rief ihn ab. Der Candatar ließ die Thür offen, durch welche er gekommen und wieder gegangen war, und harrte im Nebenzimmer.

Es handelt – sich heute – um Ihre Ernennung zum Erzbischof von Coni – sprach Ambrosi tief bewegt. Sie sollen an die Stelle Fefelotti's kommen.

Bonaventura's Mienen drückten einen Schmerz aus, als trüg' er zu schwer und wie an einem Kleide des Nessus an seiner gegenwärtigen Würde schon.

Der Cardinal winkte ihm – zu schweigen – Die Zahl der Diener, die draußen harrten, mehrte sich. Denken Sie an Ihren Commandostab! sprach er. Es muß ein Feldherrnstab sein – den wir in unsern Händen haben! Was ist ein – einzelnes Kriegerschwert –!

Der Ton dieser Worte war so muthig, so offen – daß Bonaventura wieder seine Vision bestätigt zu sehen glaubte. Ambrosi hatte jahrelang sich selbst getödtet, um eine Auferstehung zur That zu feiern. Kein Zweifel, daß diese Annahme die richtige war. Und nun hätte er weiter forschen, von seinem Vater beginnen mögen, fragen, ob über dessen Herkunft, über dessen frühere Verhältnisse nie von ihm gesprochen wurde – nur seiner Mutter wegen hemmte er den Drang der Mittheilung, der immer höher stieg – Endlich begann Ambrosi, der Umgebung lauschend, von gleichgültigen Dingen. Sogar ein Schimmer von List blitzte aus seinem Antlitz. Einige Worte wagte er in deutscher Sprache; seine Gedanken wurden nicht klar; er sprach wieder italienisch. Anerkennend urtheilte er von Klingsohr's 182 Gelehrsamkeit. Vom Bruder Hubertus sagte er: Dem kommt es zu statten, daß der geistliche Stand im Süden Europas etwas anderes ist als im Norden. Unsere Mönche sind schwer an ihre Regel zu bannen. Sie ergreifen jede Gelegenheit, ihrem Temperament zu folgen und viele gibt es, die immer unterweges sind. Aufträge gibt es genug und wenn sonst kein Entschuldigungsgrund vorliegt, wird dem Drang zum Betteln als einer heiligen Vocation Gehör gegeben. Ich war zugegen, wie der Todtenkopf den Auftrag erhielt, den Bischof von Macerata zu befreien, und noch dringender, den Gefangenen des Grizzifalcone, den Pilger von Loretto. Eines gelang ihm durch List, das andere, hör' ich, durch wunderbare Abenteuer, an denen – sogar die Treue eines Hundes betheiligt ist! Der Cardinal erzählte, was Bonaventura durch Klingsohr schon wußte.

Die Vertraulichkeit kehrte wieder ganz zurück. Diese Männer, Gefangene ihrer Würde, gaben sich mit leiser Stimme der Geständnisse immer mehr. Ambrosi gab die Bestätigung der Schilderungen, die Bonaventura von Benno nach seiner Befreiung von Frankreich aus über die Loge bei Bertinazzi und den Brief Attilio Bandiera's erhalten hatte. Bonaventura hörte die Vermuthung, daß sein unglücklicher Vater in seiner Gefangenschaft die Doppelrolle Grizzifalcone's hatte unterstützen müssen, die Dienste, die er dem Fürsten Rucca im Interesse der römischen Finanzen und die er dem Cardinal Ceccone im Interesse der Politik leisten sollte. Nur angedeutet zu werden brauchte diese Vermuthung, um auch die Gefahr auszusprechen, in welche sich Federigo gestürzt haben würde, wenn er, durch die Kunst der Federführung zum Vertrauten des verschmitzten, beutegierigen Räubers geworden, nach Rom gekommen wäre und seine Geständnisse wirklich dem alten Rucca hätte aus dem Gedächtniß wiederholen wollen. Ich würde sagen, schloß der Cardinal, vom erglühten 183 Aufhorchen seines Besuches nicht zu auffallend befremdet, ich würde sagen, beide, der Gefangene und sein muthiger Befreier, verabscheuten die Rückkehr in eine so verderbte Welt, wenn nicht auch der stille Waldesfriede, den sie dann gefunden haben, wiederum von menschlicher Verworfenheit wäre heimgesucht worden; man sagt, daß im Silaswald der von Grizzifalcone angelegte Verrath zum Ausbruch kam und auch dort der muthige Mönch seine Mission der strafenden Gerechtigkeit an einem der gedungenen Verräther vollziehen konnte.

Bonaventura hörte zum ersten mal von den näheren Umständen, unter welchen die Invasion der Bandiera gescheitert war. Bisher hatte er nur gewußt, daß die kleine Schar durch einige aus ihrer Mitte verrathen wurde.

Die Candatarien hatten sich zurückgezogen, blieben jedoch hörbar. Der Cardinal sah auf die Uhr. Er hatte nur noch einige Minuten Zeit. Wir sehen uns leider so bald nicht wieder! sprach er mit Trauer. Ich muß einige Tage von Rom verreisen und auch Sie werden Eile haben, in Turin die Wünsche des Consistoriums früher geltend zu machen, als dort die Intriguen Fefelotti's ankommen. Lassen Sie sich's nicht verdrießen, daß es Ceccone ist, der Ihre Erhöhung fördern muß! »Die Gottlosen richten ihre Schemel auf und erheben die Gerechten« –

Nicht wiedersehen – Nach Turin eilen – dachte Bonaventura mit Schmerz und stand im Kampf mit sich selbst. Sollte er dem Cardinal sagen, daß es auch ihn aufs mächtigste nach dem Silaswald zog? Aber – wie konnte er es – da sein Vater offenbar nur vor ihm, nur vor seines Sohnes wunderbarer Verpflanzung nach Robillante geflohen war!

Cardinal Ambrosi sagte, daß er nichts unterlassen würde, sich durch die Klöster über Federigo's Befinden zu unterrichten und dann seinem muthigen Vertheidiger über ihn Kunde zu geben. 184 Ohne das mindeste Anzeichen, als wäre ihm Federigo's näheres Verhältniß zu seinem Besuche bekannt, kam er wieder auf seine Heimat und seinen eignen Vater zurück. Dieser war ein Lehrer der Mathematik auf dem Lyceum zu Robillante, hatte eine Alpenreise gemacht, war nicht wiedergekehrt und wurde nie wieder aufgefunden. Um im Berner Oberland, wo er Höhenmessungen hatte vornehmen wollen, Spuren seines Verbleibens aufzufinden, hatte der junge Student des Seminars von Robillante bei Federigo Deutsch lernen wollen. Die Reise, die er dann wirklich gemacht, war ohne Erfolg geblieben.

Bonaventura, der dies Verhältniß nie so vollständig übersehen hatte, wie nach dieser Erzählung, stand wie an einem Abgrund. Warum nur trat ihm die furchtbare Morgue auf dem St.-Bernhard vors Auge! Er gedachte: Wie muß diese Eröffnung des jungen Mannes damals auf den Vater gewirkt haben, der eine mit dem Vater des Cardinals so ganz gleiche Lage – nur fingirt hatte –! Federigo konnte damals – wol noch nicht lange – bei Castellungo sein –? fragte er.

Als ich ihn zuerst sah?

Als Ihr Vater vermißt wurde –

Einige Wochen erst –

Sprach Ihnen – Federigo – nie – von den Gefahren des Schnees – denen auch – Er –?

Ambrosi blieb dem plötzlich stockenden Wort ein unbefangener Hörer und verweilte nur bei seinem eigenen Leid. Ohne Mutter, ohne Verwandte, wär' er nur der Zögling der Liebe seines Vaters gewesen. Als er ihn verloren, hätte er ein Gefühl der Theilnahme bei allen gefunden; doch nur bei Federigo ein solches, das seinem Schmerze ganz gleichgekommen. Dieser Edle hätte seine Thränen aufrichtig zu denen gemischt, die er selbst vergossen. Er hätte ihn seinen Sohn genannt –

185 Bonaventura stand über eine dunkle Ahnung zitternd.

Er versicherte mich, fuhr Ambrosi, des Sichabwendens seines Besuchs nicht achtend, fort, für bestimmt, daß mein Vater todt wäre, er säh' es im Geist – doch sollte ich ihn nur aufsuchen. Verlorenes, wenn auch Unwiederbringliches suchen wäre so gut wie es finden – wenigstens fände man anderes, neue Schätze. Seine Thränen deutete mein Gönner nicht allein auf die Theilnahme für den Vater, sondern auch auf die Erkenntniß, daß auch ihm aus tiefster Reue über seine begangenen Fehler, aus dem Suchen nach ewig Verlorenem die Kraft der Erhebung geworden wäre.

Bonaventura verbarg die Thränen, die in sein Auge traten – er verrieth nichts von einer Ahnung, daß des Vaters fingirter Tod – mit dem wirklichen Tode des Professors Ambrosi zusammenhängen mochte. Wenn hier eine Schuld des Vaters vorläge? dachte er schaudernd. Seine Hände zitterten. Das erbrochene Grab des alten Mevissen, die aufgefundenen Angedenken, die Urkunde Leo Perl's, alles trat ihm gespenstisch entgegen. Sein Vater – konnte doch – nimmermehr ein – Verbrecher sein –?

Ist Ihnen nicht wohl? fragte Ambrosi, ihm näher tretend.

Bonaventura hätte sich ihm an die Brust werfen, alles offenbaren, alles von sich und von seinem Vater eingestehen mögen. Aber diese neue Verwickelung wieder – sie war zu beängstigend – sie zwang ihn, seine Worte zu hüten. Nachdem er sein Befinden als wohl bezeichnet, wagte er noch ein Entscheidendes, indem er leise, gleichsam nur in Hindeutung auf den verschollenen Vater Ambrosi's, die Worte sprach: Räthsel – Räthsel –! Fiat lux – in perpetuis!

Eine Bewegung in den Mienen des Cardinals blieb aus. Sein Antlitz blieb ruhig. Von einem besondern Sinn dieser Worte schien er nicht betroffen worden zu sein.

186 Nun aber mahnten die Candatarien wiederholt. Ambrosi mußte Abschied nehmen und sofort für längere Zeit, da ihn unmittelbar nach dem Consistorium Ausgrabungen am untern Lauf der Tiber zu einer Reise veranlaßten. Noch sprach er sein sichres Vertrauen aus, daß der an die Krone von Piemont gehende Vorschlag, das Erzbisthum Coni an den Bischof von Robillante zu geben, Erfolg haben würde – rieth aber, nach dem Entschluß des Papstes sofort nach Turin zu reisen. Er wünschte Bonaventura Glück und trennte sich von ihm, nur noch mit einer bedeutungsvollen Erinnerung an die einst zwischen ihnen auszutauschende Freundesbeichte und mit einer vollkommen unbefangenen Versicherung, daß es aufgeklärte, brave und wohlwollende Priester auch in Rom gäbe. Ueber den Eremiten im Silaswalde würde er ihm unfehlbar binnen kurzem nach Coni schreiben.

Bonaventura wurde vom apostolischen Stuhl zum Erzbischof von Coni vorgeschlagen. Auch Ceccone verlangte, daß er sofort, um Intriguen vorzubeugen, nach Turin eilte. Den Cardinal Ambrosi hatte Bonaventura seitdem nicht wiedergesehen. Aber ihr Briefwechsel blieb der lebhafteste, blieb die Fortsetzung ihrer ersten Begegnung. Bonaventura sah das Wachsen des Lichts und der Aufklärung auch in Italien. Ambrosi gestand in aller Offenheit, daß schon lange und noch immer eine fortgesetzte Beziehung zwischen ihm und Frâ Federigo bestand. Aber das Wort desselben: Er beschwöre den Erzbischof von Coni, bis zu einer bestimmten Zeit seiner Spur nicht zu folgen! wurde von ihm ohne die mindeste Ahnung der Verwandtschaft wiederholt; es wurde nur auf die Lage des Erzbischofs, seine Theilnahme für einen Deutschen bezogen. Unterwarf sich Bonaventura diesem Befehl? Eine That des Mannes, sagte er sich zuletzt über diese schmerzliche Lücke seines Lebens, darf nicht halb sein. Darf ich den Vater hindern, seinen Ausgang aus dem Leben so weit zu 187 vollenden, als er ihm ohne den Selbstmord möglich erschien? Noch lebt die Mutter –! »Es ist eine der grausamsten Handlungen, die es geben kann, jemand an einem schon begonnenen Selbstmord hindern«, hatte ihm der Dechant geschrieben und noch in dem letzten, theilweise Armgart dictirten Briefe an Bonaventura stand: »Ich nehme dein Ehrenwort, Bona – nicht vom Priester nehme ich es, sondern von einem Asselyn, daß du vor dem Tod deiner Mutter den Eremiten vom Silaswalde nie suchst – nie kennst –« Bonaventura gelobte es. Sein Brief kam zwar nach Kocher am Fall zu spät, das Gelöbniß blieb gegeben.

Mit Freuden riß sich damals der so mannichfach gebundene und durch seinen Beruf, durch das ihm auch in Rom geschenkte Vertrauen so mannichfach willensunfrei gewordene Priester von der ewigen Stadt los. Er sah die Leidenschaft Olympiens für Benno – er sah die Aussöhnung der ihm schon in Wien nur wenig sympathischen Mutter mit ihren ärgsten Feindinnen. Er sah die Zurüstungen der Reise, durch welche Ercolano Rucca »an die Brust seines besten Freundes zu gelangen« wünschte. Er ahnte alles, was kommen mußte, las es aus den Mienen Lucindens, die denn wol auch ganz offen sagte: »Benno liebt ja Olympien! Man liebt mit Leidenschaft nur das, was man versucht sein könnte unter andern Umständen zu hassen! Er sieht alle ihre Fehler, aber er wird sich überreden, sie verbessern zu können. Und ist es unmöglich? Wir Frauen sind die Erzeugnisse unseres Glücks oder unseres Unglücks!«

Bonaventura traute Lucinden mit dem Grafen Sarzana, nachdem er die Bedingung gemacht, daß ihm Beichte und Examen (beide müssen jeder Trauung vorangehen) vom Pfarrer der Apostelkirche, der die Cession gegeben, abgenommen wurde. Wie traten ihm die Stimmungen jener Tage aus dem Briefe wieder entgegen, mit dem Lucinde ihr heutiges Geschenk begleitet hatte! 188 Grade heute hatte sie ihm geschrieben: »Dieser Sarzana! So hat er denn die Glorie seines Lebens gefunden, der tückische Schurke, den sie in die Grube geworfen haben ordentlich mit Ehren! An den Galgen gehörte er von Rechts wegen – wenn ich auch die Posse mitmachen und ihm durch eine Beisetzung eine anständige Entsühnung geben will. Ich beschwöre Sie, mein hochverehrter Freund! Lassen Sie doch von nun an Ihre kleinen Fehden gegen den Geist der Zeit! Mit unversöhnlicher Macht ergreift Rom jetzt die Zügel und ich weiß, es wird niemand mehr geschont werden! Der Schrecken wird die Welt regieren – und es ist gut so, denn die Tyrannen hab' ich immer menschlicher gefunden, als die Philosophen, die Humanitätsschwärmer, die Tugendhelden, die Volksfreunde, die Aufklärer, die Pietisten, die Gensdarmen, die Vertreter der so unendlich süffisanten Ordnung und Richtigkeit des Lebens – die fand ich immer grausam, herzlos und da, wo sie recht tüchtig Widerstand finden, auch recht kläglich feige und erzdumm. Denken Sie nur allein an die Intrigue, die mich damals zur Gräfin Sarzana machte – muß man nicht das italienische Volk gehen lassen, wie es ist? Eine Bestie ist's und zum Gehorchen bestimmt. Und, mein Freund – die Kirche! Ich begreife in der That Ihr Reformiren nicht! Die katholische Kirche ist gerade darum so schön und so rührend, weil sie ganz und gar blos eine Antiquität ist. Mir ist sie nun auf die Art geradezu eine wurmstichige alte Kommode geworden, in der ich meine liebsten Siebensachen, meine alten verblaßten Bänder, meine alten zerknitterten Ballblumen liegen habe. Aus meinem im Herzen noch manchmal wiederkehrenden Frühling leg' ich dann und wann noch eine Rose in die alten Schubläden hinzu und deren Duft durchzieht dann die alte beweinenswerthe Herrlichkeit. Nun ja, ein bischen moderig bleibt's immer! Aber der Duft der Rosen dringt doch auch in das alte, wurmstichige Holz mit den messingenen 189 Ringen und schnörkligen Schildern dran ein – ach! auch schon manche Thräne ist mir in den alten Rumpelkasten gefallen. Lassen Sie doch Ihre Principien, hochverehrter Freund! Der alte Gott sorgt ja schon selbst für seine Anerkennung! Der Vernünftigste, den ich seit lange beobachtet habe, war Ihr Vetter Benno, von dem ich gar nicht einen solchen Cäsar Montalto erwartet hätte – den dummen Rückfall ausgenommen, der ihn nach Rom unter die Narren von 47 trieb! Glauben Sie mir, er hat in Paris und London glückliche Stunden erlebt; er nahm, was sich ihm bot, und reflectirte nicht. Kommen Sie nun auch endlich einmal ordentlich nach Rom? – Sie müssen Cardinal werden, und mehr! Nur beschwör' ich Sie, machen Sie es einst, wenn Sie die dreifache Krone tragen, wie es alle machten, nicht etwa wie unser jetziger Phantast, der sich auf den Vatican, die Hochwarte des wenigstens mir sicher bekannten Universums, wie ein Kind hinstellen und aus einem thönernen Pfeifenstummel Seifenblasen puhsten konnte! Wie leben Sie denn, mein hochverehrter Freund? Ist die alte Gräfin auf Castellungo entschlafen in ihrem ›HErrn‹, bei dem sie nur allein courfähig war? O, des Hochmuths dieser Frommen! Finden Sie nicht, mein hochverehrter Freund, daß Jesus in den Evangelien eigentlich nur recht bei denjenigen steht, die sich gegen Gesetz und Regel auflehnen, tief in der Irre gehen und mit den respectabeln andern Leuten auf gespanntem Fuße leben? Rauft einer am Sonntag Aehren aus, gleich entschuldigt er ihn; wäscht ihm eine Frau die Füße mit kostbaren Narden, gleich sagt er: Laßt doch die gute Närrin! Alles, was Jesus that, war, wie's die andern Leute nicht thun. Und was wäre denn der Herr für diese wohlanständigen, vornehmen Seelen, deren Sünden höchstens Neid und Hochmuth sind? Nimmermehr! Auch das hat mich katholisch gemacht, daß mein allersüßester Jesus ganz Mein aparter Freund ist. Im Dunkel einer 190 kleinen Kapelle, da gehört er, er selbst ein Gekennzeichneter, ein polizeilich Verfolgter, vom vornehmen Pharisäervolk Gesteinigter wie ich, ausschließlich Mir an. Vor dem dunkelsten Altar, da, wo von einem Crucifix, von einem schlechten Tüncher geklext, die Tropfen Blutes am Haupt und in der Seite, zum Greifen dick, herunterfließen, da hab' ich den Liebling meiner Seele und hör' es, als sagte er: Alte Lucinde – wie geht es dir? Bist du immer noch in der Irre, immer noch unverstanden und ohne Herzen, die dich lieben? Das ist wahr, vor der allerseligsten Jungfrau, zu der Sie mir vor langen Jahren riethen, mich besonders vertrauensvoll zu beugen, vor Maria entzündet sich noch immer nicht ganz mein Herz, wie ich möchte. Ach, die Königin des Himmels hat einen Sohn verloren, hat den gelästert gesehen – das sind gewiß, gewiß große Leiden – aber sie selbst litt nicht viel unter Lästerungen. Maria ist noch immer meine Feindin, wie alle Frauen. Grüßen Sie Paula, die ich mehr liebe, als sie glaubt. Hindern Sie den Grafen nicht, katholisch zu werden –! Es wird sich dann alles zwischen Ihnen leichter machen. Die katholische Religion ist die der menschlichen Schwäche – und eben in seiner Schwäche liegt die Größe des Menschengeschlechts –!«

Jahrein, jahraus kamen einmal diese Ausbrüche einer erbitterten Welt- und Lebensanschauung. Näherer persönlicher, so innigst von ihr gesuchter Umgang war ihm mit Lucinden vor einigen Jahren in Coni unmöglich gewesen – eben durch die Art, wie sich ihre Denk- und Gefühlsweise mit einer scheinbar tiefüberzeugten Art, allen, selbst den bigottesten Vorschriften der Kirche nachzukommen, vertrug und wie sie ihm dadurch den katholischen Glauben, dem er immer noch sein Tieferes und Besseres abzuringen suchte, ganz verhaßt machen konnte.

Unrichtig getauft zu sein hatte Bonaventura nur damals 191 schrecken können, als er es zuerst erfuhr und das Bekenntniß eines verbitterten Hypochonders in den Händen einer rachsüchtigen Feindin wußte. Diese Feindschaft hatte sich durch Paula's Heirath, durch Lucindens nothwendig gewordene Beichte zu Maria-Schnee in Wien gemildert, ja sie hatte wieder der alten Hoffnung und dem alten Werben um Bonaventura's Liebe das Feld geräumt. In Bonaventura's Innern gingen soviel Veränderungen vor, daß ihm an ein Verhältniß, das er nur zum größten Triumph derjenigen Richtungen hätte aufklären können, die er bekämpfte, eine Gewöhnung kam. Einen Augenblick, der in den immer höher gesteigerten Wirren der Zeit einst ihm noch kommen müsse, einen Augenblick großer Entscheidungen sah er als ihm ganz gewiß beschieden voraus. Dann wollte er zur Widerlegung des tridentinischen Concils sich erheben und sagen: »Priester oder Gott – das ist die Frage! Hat Christus seine Vertretung in der Gemeinde oder nur im geweihten Vorstand derselben? Kann der Wille eines schwachen Menschen deshalb, weil er gesalbt wurde, die Menschenseele zu seinem Spielball machen? Seht, ich bin getauft nach allen Regeln der apostolischen Einsetzung der Taufe! Und doch, doch bin ich ein Heide, wenn unsere Seele von Priestern abhängt! Unsere Kirche steht und fällt mit der Entscheidung über mein Lebensschicksal –!« Dann sich denkend, daß alle seine Würden von ihm niedergelegt werden müßten, alle kirchlichen Acte, die er vollzogen, für ungültig erklärt, sich vorstellend, daß er in ein Kloster gehen, sich neu taufen, neu weihen lassen müßte, fühlte er das mächtigste Verlangen, bei irgendeiner großen Krisis der Zeit seine Lage selbst zu offenbaren. Einstweilen hatte er Leo Perl's Beispiel befolgt und eine Urkunde aufgesetzt, die nach seinem Tode erbrochen werden sollte. In ihr hatte er seinen Fall ausgeführt. Noch wußte er nicht und kämpfte mit sich, ob er dies Bekenntniß in die Hände des römischen Stuhls 192 selbst oder nur in die seiner näherverbundenen Freunde legen sollte. Innerlich war er mit sich im Reinen – er verachtete den Spuk des Zufalls.

Nur der höhnende Schatten desselben konnte ihn zuweilen schrecken – Lucinde. Aber selbst als sie damals von Castellungo im äußersten Zorn geschieden war, selbst da hatte sie zu Bonaventura, der sie, um Abschied von ihr zu nehmen, im Kloster der Herz-Jesu-Damen besuchte, auf ein Kästchen gedeutet und versöhnt gesagt: »Dort liegt mein Testament! Sie überleben mich und ich vermache Ihnen alles, was ich hinterlasse – cum beneficio inventarii – auch meine Schulden! Sie finden Serlo's Denkwürdigkeiten, die, wie ich Ihnen schon vor Jahren sagte, die Schule meiner Kunst wurden, Leiden zu ertragen. Glauben Sie mir, Thomas a Kempis war nichts als der geistliche Serlo und Thomas a Kempis hat ganz die nämliche Philosophie, nur daß der Mönch seine Verachtung der Welt und Menschen in religiöse Vorschriften kleidete. Wenn Thomas a Kempis anräth, Gott zu lieben, so wollte er nur wie der Schauspieler Serlo sagen: Verachtet die Welt und die Menschen! Dann finden Sie – noch –« setzte sie stockend und leise hinzu: »die Hülfsmittel jener – Rache, die ich Ihnen einst in einem kindischen Wahnsinnanfall geschworen hatte –« Und die Sie noch immer nicht Ceccone oder Fefelotti auslieferten? warf Bonaventura ein. Lucinde erhob sich, nahm einen Schlüssel, der an dem immer auf ihrer Brust blinkenden goldenen Kreuze hing, ging an ihr Kästchen und schloß es auf. Nehmen Sie, sagte sie und deutete auf ein gelbes, vielfach gebrochenes großes Schreiben mit zerbröckeltem Siegel.

Es war ein Moment, an den Bonaventura oft zurückdenken mußte. Damals drängte sich alles zusammen, was oft so centnerschwer auf seiner Brust lag und nun – ein Augenblick der 193 seligsten Erleichterung –? Aber wie ein Blitzstrahl fuhr es auch zu gleicher Zeit durch sein Inneres: War und ist dein Leben und Ringen wirklich nicht mehr, als die Furcht vor diesem zufälligen Verhängniß? Bist du nicht Herr deines Willens, Schöpfer deiner Freuden und deiner Leiden? Wie kannst du erbangen vor einer Anklage, die du verachtest, weil sie eine teuflische Verhöhnung der christlichen Idee ist? Bonaventura wandte sich und sagte: Behalten Sie! Lucinde verstand diese Weigerung im Sinn eines ihr geschenkten Vertrauens und wurde so davon überwältigt, daß sie eine Weile hocherglühend und in zitternder Unentschlossenheit stand, dann ihr Knie beugte und sich vor Bonaventura zur Erde niederließ. Gräfin, lassen Sie! bat er erbebend und der alten Scenen gedenkend. Lucinde neigte den Kopf bis auf seine Füße. Ein in der Nähe entstandenes Geräusch mußte sie bestimmen, sich zu erheben. Man hörte Schritte. Noch ehe sie den Schrein geschlossen, den Schlüssel wieder zu sich gesteckt hatte, trat die Aebtissin der Herz-Jesu-Damen ein, die nicht verfehlen wollte, dem Erzbischof bei seinem Klosterbesuch die schuldige Ehrfurcht zu bezeugen.

Einige Zeit nach einem ihm unvergeßlichen Blick, den damals Lucinde auf ihn geworfen, war es Bonaventura, als hätte sich in den Drohungen Sturla's, der von Genua kam, ein Anklang an die Urkunde Leo Perl's gefunden. Er konnte sich aber auch irren. Der kecke Jesuit hielt ihm ein Bild der deutschen Geistlichkeit vor, dessen Züge auf den fremden Eindringling passen sollten, und unter anderm lief die Bemerkung unter: »Unglaublich, was die Archive Roms von Deutschland mittheilen könnten, hätte nicht die Kirche vor allem an ihren eigenen Organen Aergerniß zu vermeiden!«

Wie bitter und sogar triumphirend waren im Briefe Lucindens die Andeutungen über Paula! Auch er fühlte es ja nach, 194 was die lutherischen und abgefallenen Freunde der Familie oft genug unter sich sagten: Solch ein unnatürliches, jede Empfindung verletzendes Verhältniß ist nur auf katholischem Gebiete möglich! An sich, vor den Augen der Welt war jede Rücksicht auf Misdeutung gewahrt – Paula war die Nichte des Kronsyndikus, Bonaventura der Sohn des Präsidenten, ihres Vetters – die Verwandtschaft war die allernächste und Graf Hugo durfte, ohne Anstoß zu erregen, in Coni einen schönen Palast bewohnen, wo im Kreise einer Geselligkeit, die Paula mit Mitteln zu unterhalten wußte, die sich ihr in dem fremden Lande mit sonst nicht gewohnter sicherer Beherrschung zu Gebote stellten, allabendlich der Erzbischof verweilte. Meist war Musik das Organ der Verschmelzung oft schroffer Gegensätze, ja Paula wurde erfinderisch und ergab sich jenem schönen Triebe, nach- und vorauszudenken allem, was über rauhe Stunden des Lebens zerstreuend hinweghelfen kann. Aber ein Vorwurf des Gewissens fehlte bei alledem nicht – es war ein Verhältniß, woran, wie sich Bonaventura sagte, »Gott keine Freude haben konnte«.

Ein zärtliches Ueberwallen der Liebe hatte sich in Bonaventura und Paula längst gemildert. Auf Entsagung war ihr Gefühl ja auch gleich anfangs begründet. Und lenkt nicht jede Liebe, selbst die leidenschaftlichste, zuletzt die Flut in eine ruhiger wallende Strömung? Kuß und Umarmung! Was sind sie denn mehr, als nur das letzte Ziel, ein Zerreißenwollen jedes Rückhaltgedankens, ein Zerstören der Brücke, die den geliebten Gegenstand auch nur einmal noch zur alten persönlichen Freiheit zurückführen könnte; Kuß und Umarmung werden begehrt und gewährt, weil sie den Begehrenden und Gewährenden als Ich vernichten, künstlich gleichsam eine gemeinschaftliche Schuld erzeugen, die beide Theile zwingt, auf ewig Eins zu sein. Bald aber tritt die volle Beseligung der Liebe nur im Austausch des seelischen Lebens ein. Ineinander 195 zu leben ist dann nur noch ein Bedürfniß des Herzens. Das Kommen des Geliebten erweckt ein Jauchzen der Brust und sein Gehen ist die Hoffnung nur auf den Gruß, auf das Lächeln des Wiedersehens. Dann zerlegt sich in seine Stunden der Tag, in ihre Minuten die Stunde, jedes Atom der Zeit ist erfüllt vom Glück der Gewöhnung an so viel Freuden und noch willkommenere Sorgen. Dies ist dasjenige Glück, das auch in der Ehe, lange schon vorm Ersterben der Leidenschaft, der Ausdruck des wahren Besitzes bleibt.

In diesem letzten Stadium des Verbundenseins der Liebe befand sich der Erzbischof, nachdem er in jedem früheren längst überwunden hatte. Jeden Abend war er auf dem Schloß des Grafen, das mitten in der Stadt lag und einer der vielen weiland großen Familien des Landes gehört hatte, die im Lauf der Zeiten zu Grunde gingen und nichts behielten, als die glänzende Hülle ihrer Vergangenheit. An diesen Palast schloß sich ein Garten, altmodischen Geschmacks, wie die Gärten auf den Borromäischen Inseln. Der Graf hatte eine Aufgabe, diesen Garten der freien Natur zurückzugeben. Ein geselliger Kreis wurde vor dem Kriege durch nichts gestört. Später freilich blieben nur Einige, die sich durch die Empfindungen des Grafen nicht stören ließen. Gewiß wäre er, als die Revolutionen ausbrachen, nach Deutschland zurückgekehrt, wenn nicht auch dort die Verwirrung für seine Denkweise das Maß überschritten hätte. Seit lange hatte Oesterreich gesiegt – er mäßigte den Ausdruck seiner Freude und konnte hier infolge dessen bleiben. Bonaventura kannte die Sehnsucht nach Thätigkeit, die den Grafen bestimmen mußte, entscheidende Entschlüsse zu fassen, ja er kannte des Grafen Sehnsucht – nach einem Erben. Noch mehr, Graf Hugo liebte Paula. Es mußte kommen, daß dies zehnjährige Zusammenleben in Coni aufhörte. Und doch, doch kannte er den Grafen dafür, daß dieser im Stande war, die Nachricht von seiner Berufung zur Mutter nach Rom 196 mit den Worten aufzunehmen: Die Frau Präsidentin ist krank und Herr von Wittekind in Rom? Das wird Ihre Kraft übersteigen, mein theurer Freund, wir müssen Sie begleiten; wir gehen mit nach Rom!

In solchen, sein Inneres zerreißenden Stimmungen, zu denen sich an jedem der ihm besonders wichtigen Gedenktage seines Lebens noch der Hinblick auf den mit jedem Tag sich dem Abscheiden vom Leben nähernden Vater gesellte, verweilte Bonaventura heute unter seinen Büchern. Hier, wo ihn so oft die nächtliche Stille geheimnißvoll umfing – hier, wo sein Gemüth der Muttersprache noch zuweilen opferte, wie in den Versen –:

Du wunderbare Stille,
Wer deutete dich schon,
Im Erd- und Himmelschweigen
Den Weltposaunenton!
Die namenlose Sehnsucht
In flücht'ger Welle Gang,
In stiller Brunnen Plätschern
Den mächt'gen Rededrang!

Wenn Mondenglanz die Rose
Sanft zu entschlummern ruft
Und Nachtviole trinket
Den Thau der Abendluft,
Wenn frei die Sterne treten
Aus ihrem blauen Zelt,
Worin das Licht der Sonne
Sie Tags gefangen hält –

Wie predigt da die Rose!
Viole singt im Chor;
Das kleinste Blatt hält Tafeln
Der Offenbarung vor!
Es rauschet und es klinget
Ein jeder todte Stein;
Der Stäubchen allgeringstes
Will nur verstanden sein!

197 Nur in die dunkeln Schatten
Hat Gott das Licht gestellt,
Nur in die öde Wüste
Die Herrlichkeit der Welt;
Nur brechend nimmt ein Auge
Den rechten Lebenslauf!
O, schließt euch, ihr Zauber
Der ew'gen Stille, auf!

Der buntfarbigen Blume sich zu vergleichen, die, wenn auch hochragend und stolz, doch erst aus welken Blättern emporsteigt – so erhebt sich die Lilie über den am Fuß des Schaftes schon beginnenden Tod – dafür besaß seine Selbstschau zu viel Demuth und doch – nun schon wieder um ihn die »heilige Stille« und ein »brechend erst den rechten Lebenslauf nehmendes« Auge – –!

Ein wilder Sturm, wie er oft in Berggegenden ohne die mindeste Vorbereitung entsteht, hatte sich erhoben und störte die Stille der Nacht. Während die Fensterläden des Palastes gerüttelt wurden, der Wind in den rauschenden Wipfeln der Bäume des großen Platzes tobte, konnte kein Schlaf über Bonaventura's Auge kommen. Und doch nahm der morgende Tag seine ganze Kraft in Anspruch. Er wußte, daß sich Stadt und Umgegend nicht nehmen ließen, den Namenstag ihres Oberhirten zu feiern. Schon nach fünf Uhr wollte er die Messe lesen. Nie ergriffen ihn die Anfangsworte der Messe: »Der du meine Jugend erfreust, o Herr!« mächtiger, als an diesem Tage der Jugenderinnerung.

Wo das Gehör einen Dienst der Liebe verrichtet, versagt die Natur den Schlaf. Bonaventura mochte sich zuletzt auf seinem Lager noch so ermüdet strecken, sein Ohr lauschte jeder Bewegung im Nebenzimmer. Sturm und Regen hatten aufgehört, der Morgen graute schon und noch hatte Bonaventura kein Auge geschlossen.

Eben mochte sich vielleicht für einige Minuten die ermüdete Wimper gesenkt haben, als sie sich sofort wieder erhob. 198 Bonaventura hatte das schnelle Auftreten der dienenden Brüder gehört. Erschreckend über eine mögliche Verschlimmerung im Befinden des Kranken, sprang er, wie er war, halbangekleidet, vom Lager.

Als er die Thür geöffnet hatte, fand er, von einem Licht beschienen, den Leidenden aufgerichtet. Die dienenden Brüder reichten ihm eben von der Arznei. Benno lehnte das Glas ab. Als er Bonaventura erkannte, sagte er, er hätte lange und fest geschlafen. In der That blickte sein Auge weniger fieberhaft. Seine Hand, die er in der Hand Bonaventura's ruhen ließ, hatte die feuchte Wärme, die fast auf eine Krisis schließen ließ.

Welche Zeit ist's? fragte er.

Man sah auf die Uhr und nannte die vierte Stunde.

So geh zur Ruhe! bedeutete er den Freund.

Doch dieser nahm an seinem Lager Platz und sagte, daß er keiner Ruhe mehr bedürfe.

Auf dies beharrlich wiederholte Wort der Liebe wandte der Kranke sein Haupt nach den beiden Mönchen und gab seinen Wunsch zu erkennen, mit dem Erzbischof allein zu sein.

Ein Wink desselben und die Mönche traten in ein Nebencabinet, das nach Osten lag. Beim Oeffnen der Thür sah man den ersten Frührothschimmer der aufgehenden Sonne.


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