20070807
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47 10.

Der »Torre del Mauro«, eine Locanda, die einer Scheune ähnlich sah, war erreicht. Man fand sie von Soldaten in Beschlag genommen. Ein Leutnant in einer jener überladenen südeuropäischen Uniformen, mit soviel Troddeln und Stickereien, als bei uns keinem Obersten zukommen würden, stand mit der Cigarre im niedrigen rauchgeschwärzten Thor eines von brennenden Spänen erleuchteten Hofraums. Die Bivouakfeuer brannten auf dem Platz vor der Kirche. Dünste von gebratenem Speck, von Zwiebeln, Käse ließen auf einen eben abgehaltenen reichlichen Abendimbiß schließen. Viele der Soldaten, in Mäntel gehüllt, schnarchten schon auf ausgebreitetem Stroh unter freiem Himmel.

Diese fliegenden Corps waren in den letzten Zeiten so oft im Silaswalde gesehen worden, daß sie eigentlich niemanden besonders auffallen durften. Nur Hubertus, schon aufs bedenklichste aufgeregt, sah neues Unheil und Scagnarello, der sich mit San-Gios Einwohnerschaft in lebhafteste Conversation versetzt hatte, schürte jetzt seine Besorgniß – denn Dom Sebastiano von Spezzano hatte allerdings kürzlich gepredigt, San-Gio müßte noch einmal untergehen wie Sodom und Gomorrha.

Den Mönchen wurde von Del Caretto's und Celestino Cocle's Regierung wenig getraut. Ein Schweizeroffizier, welchen Hubertus 48 in deutscher Sprache um die Ursache dieser Expedition anging, schien zwar vom Laut der Muttersprache freundlich berührt, aber Ordre hatte auch er, nichts verlauten zu lassen. Auf den im verlassenen Pfarrhaus einquartierten Oberoffizier verweisend, mischte er sich unter die andern Offiziere, die sich mit derben Späßen auf Kosten einer Frau unterhielten, die »der schöne Mönch doch wol nicht in sein Kloster entführen, sondern ihnen überlassen würde –«

Hubertus wandte sich einem Hause zu, das hier ein Ziegenhirt ersten Ranges, ein »Rico«, ein Reicher bewohnte. Messer Negrino hieß er; er war ihm besonders befreundet. Leider aber war dieser im Ruf der Ketzerei stehende erste Bürger von San-Gio nicht zu Hause. Mit seiner Heerde war er unterwegs und auch vielleicht auf die Messe von Rossano.

Bald wußte ganz San-Gio, wer mit Scagnarello gekommen war. Schon hatten sich Gruppen von alten Bekannten gebildet, welche die Schwester ihres in San-Firmiano wohnenden ehemaligen Pfarrers sehr wohl erkannten und sich zu Theilnehmern einer Verhandlung über die Frage machten, ob es gerathener wäre, daß Rosalia Mateucci noch mit ihrem Kinde dem Bruder Hubertus folgen und am Eingangsthor des Klosters unter einem Dach, das die Madonna schützte, übernachten oder hübsch in einem Bette zurückbleiben sollte, das ihr der alte, hocherfreut sie begrüßende Meßner ihres Bruders in seinem niedrigen Häuschen anbot. Scagnarello hatte schon den Pepe ausgespannt und mußte ihm die Streu im Freien machen, da den Stall die Soldaten eingenommen hatten. Als weltkundiger Mann hatte er zum Bleiben gerathen. Es schien ihm bereits so, als würde sich ihm morgen Paolo Vigo schwerlich als Rückpassagier anschließen.

Hubertus, vom Hause Negrino's zurückkehrend, verhielt sich bei allen diesen Verhandlungen mit Jung und Alt scheinbar heiter, nahm die jetzt verdrießlich aus der Ruhe gekommene Marietta 49 auf den Arm, gab Auskunft über seine Reise sowol dem »Sacristano« wie dem »Sindico«, dem er einige auf seine Reise übernommene Aufträge ausgerichtet hatte – die Soldaten aber, deren Absichten auch die erste Magistratsperson des Ortes nicht zu deuten wußte, beunruhigten ihn in solchem Grade, daß er von Rosalia Mateucci für heute Abschied nahm und sofort nach San-Firmiano aufbrach, um, wie er versprach, schon beim Mitternachtgebet dem Bruder die frohe Kunde zu bringen und diesem somit Zeit zur Ueberlegung zu lassen, wie er am passendsten seine Schwester empfangen wollte.

Unter den Scherzen der Soldaten, die Hubertus seines Todtenkopfes wegen schon gewohnt war, verließ er den Platz und begab sich in großer Spannung nach seinem Kloster. Der Sindico, der zugleich in San-Giovanni die Post hielt, hatte versichert, daß allerdings seit einigen Tagen amtliche Briefe für den Guardian des Klosters genug angekommen wären. Er fand darin einige Hoffnung. Der Sindico wußte, Hubertus hatte die in San-Firmiano seit Jahren Eingekerkerten in Neapel erlösen wollen. Zöglinge waren sie alle der seltnen Strenge dieses einfachen Mönches, Zöglinge des ihm von Frâ Federigo eingepflanzten leidlich evangelischen und aufgeklärten Geistes geworden. Mit seiner Fürbitte war Hubertus von Cosenza nach Neapel verwiesen worden. Hier hatte er nur die Dominicaner verdrießlich und unfreundlich, alle andern Behörden gütig und wieder ganz erfüllt von der ihm persönlich immer gewährten Nachsicht gefunden. Hubertus wurde von Rom protegirt. Seit Jahren hatte man ihm gestattet, in Firmiano zu leben; sogar die Untersuchung über den Tod eines Genossen des Boccheciampo war ihm erlassen worden; man gestattete ihm all die Freiheiten, ohne welche sein unruhiges Temperament nicht leben zu können schien. Der Sindico konnte nicht genug schildern, wie ihm die 50 angekommenen Briefe schon von Außen betrachtet so inhaltreich und bedeutsam erschienen wären.

Hubertus verließ San-Gio. Einsam ging er den dunkeln Weg. Seine aufgeregte Phantasie brachte diese Soldaten mit seiner Reise in Verbindung. Der Erzbischof von Neapel hatte an ihn eine Menge Fragen gerichtet – vorzugsweise über Frâ Federigo. Dem hohen Herrn war alles bekannt, was diesen Einsiedler betraf, der deutsche Ursprung desselben, seine Flucht aus einem piemontesischen Thal, seine dortige Förderung ketzerischer Bestrebungen, seine Gefangenschaft unter den Genossen Grizzifalcone's, dann Hubertus' muthige Befreiung desselben. Daß Frâ Federigo noch lebte, wußte der Erzbischof nicht minder, ja er beschrieb mit genauester Ortskenntniß ein von Bergen umschlossenes enges Thal im Silaswalde, wo jener Flüchtling, unter den sogenannten Bluteichen, seit vielen Jahren einsiedlerisch lebte. »Bluteichen« hießen jene uralten Stämme aus den Tagen, wo auch in Calabrien für die evangelische Lehre Blutströme genug geflossen waren und Scheiterhaufen loderten. Paolo Vigo war infolge einer Bekanntschaft mit Frâ Federigo in seinen Kanzelreden verdächtig und dem Kloster Firmiano zur Correction übergeben worden. Allen diesen Verhältnissen hatte der Erzbischof seine volle Aufmerksamkeit geschenkt. Er wußte, daß Cosenzas Kirchenfürst vom Guardian zu San-Firmiano Bericht über Bericht über die Umwandlung erhielt, die mit den unter seine Obhut gegebenen Spielern, Fluchern, Gotteslästerern vor sich gegangen war und dennoch gab er auf die Frage, ob nicht endlich die jetzt so anerkennenswerthen Bewohner des Klosters in ihre Aemter zurückkehren durften, keine entscheidende Antwort.

Bruder Hubertus hatte in San-Giovanni einige Stärkung zu sich genommen. Der alte Franz Bosbeck, der sich noch in hohem Alter einer ungebrochenen Kraft rühmen zu können gehofft 51 hatte, war er nicht mehr. Die lange Kette seiner Lebenserfahrungen war zu drückend und schwer geworden.

Schon war es über zehn Uhr – nach italienischem Zifferblatt die dritte Stunde – schon mußten seine Klostergenossen schlafen – wecken wollte er niemand, da ohnehin alle die Matutin in den nächsten zwei Stunden wach rief. So unterbrach er sein Steigen auf dem schmalen Felsenpfade und setzte sich auf einen verwitterten, mit Moosflechten überzogenen Stein, traurig hinausblickend in die grüne Wildniß, in die stille Mondnacht, in die rauschenden Wasserstürze am Abhang des Felsens – hinaus in jene noch entlegenere Einsamkeit, wo ein deutscher Schwärmer seit länger als zehn Jahren unter Büchern, Schriften und ländlichen Beschäftigungen sich vergraben hatte.

Alles Nächste rundum und in der Ferne war grabesstill – auch San-Giovanni, das zum Handausstrecken nahe vor ihm liegen geblieben, ob er gleich von ihm schon um eine Stunde Weges entfernt war. Die Schwester Paolo Vigo's wiedergesehen zu haben, die Erwähnung des »feurigen Hundes«, der Anblick des Kreuzes über dem Neto – alles das hatte die alten Erinnerungen seines Lebens mächtig geweckt. Welche Reihe von Schicksalen konnte er nach der Reihe der Jahre überblicken –! Seine Jugend verlebt unter Räubern – Die einsame Mühle eines Diebshehlers – Die Gefangennahme der Picard'schen Bande – Das Hochgericht – Die Meeresfahrt des holländischen Rekruten – Java mit seinen farbigen Menschen, Palmen, Löwen, Schlangenbeschwörern – Wieder dann Europa – Deutschland, zur Zeit Napoleon's – Schloß Neuhof mit seinen grünen Wäldern – der grimme Wittekind – Hedwig, seine geopferte Liebe – Brigitte von Gülpen's Betrug – Die Flucht in ein schützendes Kloster – die Verwilderung der dortigen geistlichen Zucht – sein treuer Beistand in Abt Henricus – seine Reisen – seine That am melancholischen Bruder 52 Fulgentius, den seine Hand vom Riegel nicht losschnitt, wo er sich erhängt hatte – die Begegnung mit Hammaker, einem hochgebildeten Mann, der dennoch ein Mörder werden konnte – mit Klingsohr – mit Lucinden – die Flucht in den blitzgespaltenen Eichbaum – die Flucht nach Italien – die Gefangenschaft auf San-Pietro in Montorio – die Nacht auf Villa Rucca – Pasqualetto's Tod – dann seine Reise, um den Bischof von Macerata und den Pilger von Loretto zu entdecken – Wie führte ihn schon allein die Erwähnung des treuen »Sultan«, der durch Paolo Vigo, den Pfarrer von San-Giovanni, ein so trauriges Ende nehmen sollte, so lebhaft in die Tage zurück, wo Italiens Reiz dem »christlichen Schamanen«, wie Klingsohr ihn genannt, die alte Abenteuerlust geweckt hatte –!

Als damals Hubertus, entlassen und abgesandt vom Fürsten Rucca, vom Cardinal Ceccone, von Lucinden und vom frommen Mönch Ambrosi, dem bischöflichen Kapitel von Macerata gerathen hatte, seine wunderthätige Madonna zu verbergen, hatte er sich die Bevölkerung der nördlichen Felsenküste des Kirchenstaats zu Bundesgenossen für die Ausführung der Befreiung des Bischofs gemacht. Durch die Volkswuth über die fehlende Madonna geängstigt, lieferten die Anhänger Grizzifalcone's den Bischof ohne Lösegeld aus. Ueber den Pilger von Loretto jedoch hatte Hubertus vergebens gesucht, irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Schon konnte sich Verdacht regen, daß wol gar der gespenstische fremde Mönch, der, ohne sich deutlich ausdrücken zu können, bettelnd bald hier bald dort auftauchte, selbst der Mörder des Grizzifalcone sein mochte. Hubertus mied die ausgestellten Wachen der Schmuggler, mied die Gensdarmen, denen er schwerlich, infolge der Rucca'schen Drohungen, eine willkommene Erscheinung sein konnte, und quartierte sich auf einer Strecke von zehn Miglien bald bei Fischern und Zöllnern an der Küste ein, bald, 53 indem er sich landeinwärts wagte, in Klöstern oder bei einsamen Häuslern.

Vorausgeeilt war er der Kunde, daß Grizzifalcone in Rom von der Hand eines Mönchs gefallen war. Er vernahm diese so nahe ihn selbst betreffende Erzählung zuerst im Kreise von zechenden und ihre Beute theilenden Schmugglern. An der Art, wie sie ihre Dolche schwangen und ihm Rache schwuren, erkannte er seine Gefahr. Von den vielen Wohnungen, welche der Räuberhauptmann innezuhaben pflegte, hatte er eine nach der andern durchspäht und nichts konnte er in ihnen von einem Gefangenen entdecken.

Da schloß sich ihm eines Morgens ein Hund an, der, von langer Wegwanderung so hinfällig wie er selbst, ihm zur Seite schlich, anfangs ihm einen unheimlichen Eindruck machte, dem er ausweichen mußte, der aber dann immer mehr sein Mitleid erregte. Mit dem Wenigen, das er selbst noch an Eßwaaren bei sich trug, erquickte er das verhungerte Thier. Der Hund umschnupperte ihn, wie einen alten Bekannten. Auffallend war ihm der stete Trieb des Thiers, zum Meeresstrand zu gelangen. Schon war vorgekommen, daß gegenüber kleinen Eilanden, die vom Felsenufer abgerissen aus dem Meeresspiegel aufragten, sein Begleiter ins Wasser sprang, hinüber zu schwimmen versuchte und vom mächtigen Wogendrang zurückgeworfen, winselnd wieder hin zu seinen Füßen kroch. Hubertus war ein zu guter Jäger, um sich nicht zu sagen: Dem Thier muß irgendeine große Sehnsucht inne wohnen, wofür ihm nur die Sprache fehlt –!

Jener Felseneilande gab es hie und da noch größere. Sie schienen bewohnt; wenigstens wurden sie dann und wann, besonders im Abenddunkel, von Nachen umfahren. An einem der schroffsten, zu welchem ohne Zweifel eine schützende Bucht gehörte, die sich, da sie dem Meere zulag, dem Auge entzog, entdeckte Hubertus 54 die Segel eines schon leidlich großen Schiffes. Das Benehmen des Hundes, das Spitzen seines Ohrs, sein heiseres unterdrücktes Bellen erschien ihm immer auffallender. Schon nahm Hubertus an, das treue Thier hätte vielleicht dem Pasqualetto gehört und suchte zu den nächsten Verbündeten des Räubers zurückzukommen. Der Hund konnte dann vollends sein Verderben sein.

Seine Erkundigungen machten ihm inzwischen immer mehr und mehr wahrscheinlich, daß jene wie ein riesiger Felsenzahn aus dem Meer aufragende Klippe bei alledem die Stelle war, die er suchte. Eine unruhige, über Entschlüsse brütende Nacht verbrachte er auf dem Steingeröll am felsigen Ufer. Hubertus setzte sich der Gefahr aus, vom Anwachsen der Flut verschlungen zu werden. Ueber ihm ragten die starren Häupter der Küste, umflattert von aufgeschreckten Seegeiern. Zuweilen ließen sich von oben die Stimmen dort hantierender Menschen vernehmen. Um Mitternacht tauchten auf dem Wasserspiegel Segel auf. Deutlich sah Hubertus, wie nur immer und immer drüben die eine Klippe gesucht wurde. Schon richtete sein bei Nacht doppelt wachsamer Hund Auge und Ohr mit starrem Verlangen hinüber.

Plötzlich hörte Hubertus in der Nähe des Ufers ein Rauschen. Er erhob sich von seinem Versteck am Fuß des feuchten Felsens, den nur zu bald wieder die herantretende Flut bespülen konnte, hielt dem Hund, um durch sein Bellen nicht verrathen zu werden, die Lefzen fest zusammen und lauschte, ob es eine Barke war, die so am Kieselsande die Felsenküste entlang anschlug und demnach vom Wellenschlag mehr hin- und hergeworfen, als sicher getragen wurde.

Von einem Seetanglager aus, auf welchem Hubertus ruhte, kroch er vorwärts und entdeckte einen Kahn, den ein einziger Ruderer mit größter Anstrengung führte. Ein Moment und Hubertus rief sogleich in seiner humoristischen Zutraulichkeit: Heda, seid Ihr's denn –? Endlich! Endlich!

55 Ja, Tonello! lautete die Antwort. Sind die Kisten herunter?

Die Kisten herunter –? dachte Hubertus – Sie lassen also oben an Stricken die Schmuggelwaaren herunter, die dann zu Wasser am Ufer entlang weiter geführt werden sollen –? Rasch hatte er seine Kutte ausgezogen, sie wie einen Mantelsack zusammengerollt, auch die Sandalen von den Füßen geschnallt, alles, um nicht auf den ersten Blick als Mönch erkannt zu werden. Ebenso schnell nahm er die volle Sprache eines Holländers an. Da er der Tonello nicht sein konnte, wollte er sich wenigstens für einen mit Tonello im Einvernehmen stehenden fremden Matrosen geben.

Inzwischen war die Barke ganz um den Felsenvorsprung herumgekommen. Ihr Führer war ein junger Bursche. Nicht wenig erstaunte er, hier statt des Tonello einen halbnackten Menschen zu finden, der sich ihm durch unverständliche Reden, jedoch durch desto deutlichere Geberden, vorzugsweise durch ein Zeigen bald aufs Meer, bald auf seinen Hals, dem gewiß die Schlinge drohe, als einen Ausreißer von seinem Schiffe zu erkennen gab, der mit den oben vorausgesetzten Helfershelfern im Einvernehmen stand. Ohne weiteres deutete Hubertus an, der Schiffer möchte ihn ja in seine Barke aufnehmen und auf den Felsen hinüberfahren, wohin schon lange die andern, so sprach mit unwiderstehlicher Beredsamkeit sein Mienenspiel, voraus wären.

Durch sein Fragen bestimmte der Bursche schon immer selbst die Antworten, welche Hubertus geben konnte und bald war die Barke dem Ufer so nahe, daß sein Hund nur einen Satz brauchte, um hinüberzuspringen. Hubertus folgte, ergriff noch ein zweites Ruder, das am Boden lag, und deutete auf den Felsen, dem zusteuern zu sollen der Bursche unausgesetzt in einer kauderwelschen Sprache von ihm bedeutet wurde. Die Genossen hier am Meer gehörten allen Nationen an; vorzugsweise fehlten flüchtige 56 Matrosen von Dalmatiens Küste nicht, deren Sprache vielleicht nach des Knaben Meinung es war, die der halbnackte Mensch mit dem grinsenden Todtengesicht sprach. Hubertus hatte seine Kutte mit seiner weißen Schnur umwickelt.

Je mehr er durcheinander sprach, desto sichrer wurde der Knabe und noch sichrer mußte ihn das Benehmen des Hundes machen, der mit vorgestreckter Schnauze und aufgereckten Ohren wie auf dem Sprunge stand – keinen Muskel rührte, das Auge unverwandt nur dem Felsen zugerichtet. Die glückliche Erwartung des Thiers verrieth sich dann und wann durch ein leises kurzes Bellen.

Die Fahrt dauerte länger, als sich Hubertus vorgestellt hatte. Das Meer lag durchaus ruhig und doch ging bis zum Landen mehr als eine Stunde hin.

Die wunderlichsten Bewegungen, die Sprünge und das kurze Bellen des Hundes mehrten sich. Kaum war der Nachen an einem zum Landen geeigneten Vorsprung des Ufers angekommen, so war auch Hubertus nicht mehr im Stande, dem Knaben Auskunft zu geben; denn sein Hund sprang wie der Blitz aus dem Nachen und im Zanken darüber, im Begehren, den Flüchtling festzuhalten, konnte ihm Hubertus nacheilen ohne damit aufzufallen. Satz über Satz ging es vorwärts, als wäre der Hund auf der Insel zu Hause. Kaum noch konnte Hubertus folgen.

Nun mußt' er wol in allem Ernst besorgen, der Hund möchte den Räubern gehören, deren Anwesenheit ihm jetzt aus Tonnen, Waarenballen, großen runden Flaschen, wie sie auf Schiffen gebraucht werden, unzweifelhaft wurde. Erkannte man ihn, so hatte seine letzte Stunde geschlagen.

Alles blieb still. Die Waaren lagen aufgespeichert unter den Wölbungen hoher Felsgesteine, verborgen von wildwucherndem Strauchwerk. Manche dieser Wölbungen waren tiefgehende Höhlen. 57 Der hellste Mondschein ließ alles deutlich erkennen. Im Schneckengang wand sich der oft schlüpfrige und unterm Fuß zerbröckelnde Felsenpfad hinauf, bis endlich ein lautes Bellen des Thieres anzeigte, daß seine Anstrengungen belohnt waren. Hubertus folgte und sah, wie der Hund an einem Holzgatter kratzte, das einen mannshohen Felsenspalt verschloß. Offenbar war dieser hinterwärts sich erweiternde Raum eine menschliche Wohnung. Hell schien an einer andern Seite, der See zu, durch einen kleinern Spalt das Licht des Mondes.

Kaum hatte Hubertus, den Hund beschwichtigend, die Pforte des Gitters ergriffen und sie geschlossen gefunden, kaum einige Geräthschaften wie Tische, Sessel unterscheiden können, so beschien auch vom jenseitigen, zum Meer hinausgehenden Spalt aus der Mond eine auf einem Lager am Boden ausgestreckte menschliche Gestalt.

Die Freude, die Aufregung des Hundes war nicht mehr zu bändigen. Hubertus schwebte zwischen Leben und Tod. Gleichviel ob dort der Pilger, der Gefangene Pasqualetto's, lag oder ein Angehöriger der Räuber, sein Leben hing an einem Haar. Er packte den Hund und erstickte ihn fast durch ein Zusammenwürgen seiner Kehle.

Der Schläfer auf dem Lager erhob sich indessen. Hubertus sah einen Kopf, den ein langer weißer Bart umflutete. Es war nicht möglich, die Gesichtszüge zu erkennen. Die Gestalt erhob sich allmählich. Der Mondstrahl der jenseitigen Felsöffnung beleuchtete sie. Der Mann kam langsam näher und mit einer Hubertus nicht unbekannten Stimme hörte er auf italienisch: Was ist dein Begehr? – Weißt du nicht, daß der Eingang am andern Gitter ist –?

Jetzt unterbrach sich aber der Gefangene schon selbst. Er erkannte den Hund und sank zu diesem nieder. Machtlos streckte er durch das Gitter die Hände nach ihm aus.

58 Hubertus ließ jetzt die Kehle des Thieres frei und sagte in deutscher Sprache: Mann! Mann! Du bist es! Gott gelobt! Ich komme, dich zu befreien! Erhebe dich! Auf! Auf! Verweilen bringt Gefahr –!

Noch hatte Frâ Federigo, der Pilger, den Hubertus sofort von ihrer gemeinschaftlichen Wanderung durch Italien erkannte, nicht die Sprache gewonnen; er sah nur auf seinen Hund. Aus Piemont bis hieher war ihm das treue Thier gefolgt! Hubertus konnte nun dem Thier nicht mehr wehren; durch lautes Bellen gab es seine Freude kund. Aber ohne Zweifel gab es auf dem einsamen Felsen Schläfer, die geweckt werden konnten. Auch Federigo erhob sich jetzt von seinem Niederknieen, hielt seine Hände durchs Gitter, zog den sich aufbäumenden Sultan zärtlich an sich und suchte ihn zu beruhigen.

Inzwischen entdeckte Hubertus die Stelle, wo ein Eingang hinter dem Felsen an der Meeresseite lag. Er entdeckte zugleich ein Bret, das von den Räubern aufgelegt und wieder weggenommen werden konnte und das den Zugang zur Höhle bildete. Das Bret stand an die Felsenwand gelehnt und mußte über eine Spalte gelegt werden, unter welcher der tiefste Abgrund gähnte. Hubertus hatte Mühe, den Hund zurückzuhalten; dieser machte Miene, über die Kluft hinwegzuspringen.

Glücklicherweise schwieg jetzt Sultan und winselte nur vor Begier, über die furchtbare Lücke hinüber zu kommen. Hubertus legte sorgfältig das Bret auf und konnte nunmehr auf eine andere Kante des Felsens gelangen, wo sich's bequem bis zu jener dem Meer zu gelegenen Oeffnung gehen ließ, die in halber Manneshöhe den Eingang bildete.

Da fand denn Hubertus seinen Reisegefährten, den Pilger von Loretto. Er fand den greisen, einem Schatten ähnlichen Bewohner dieses grausamen Behälters, eines Nestes für 59 Raubvögel – fand ihn in den Umarmungen seines Thieres, die Augen voll Thränen und sprachlos vor Bewunderung und Freude.

Zu Verständigungen war keine Zeit gegeben. Hubertus, gleichfalls vom Pilger sofort als der Gefährte jenes deutschen Mönches Klingsohr erkannt, drängte zu sofortiger Flucht. Laßt mich hier sterben! sprach Federigo. Doch Hubertus zog ihn an die Oeffnung und deutete auf Stimmen, die ihm am Fuß des Felsens vernehmbar schienen. Es ist die Welle, die brandet! sagte Federigo und tastete schon unwillkürlich nach seinem Pilgerkleide, raffte einige Wäsche zusammen und suchte seinen Stab.

Ich bringe Euch nach Rom! sprach Hubertus. Mich schicken Eure Befreier! Wer weiß, ob diese Bösewichter, wenn ich auch den Kahn gewinne und allein entfliehen wollte, Euch nicht inzwischen an einen andern Ort führen, falls ich auch morgen mit der Küstenwache hier einträfe und Euch abholen wollte. Kommt lieber sogleich! Ihr habt Recht, nur die Brandung ist's! Wohlan – Zu gutem Heil –!

Hubertus half dem Greise zusammenraffen, was um ihn her ausgebreitet lag und nur irgend rasch zu erfassen war. Selbst die Decken, auf denen er schlief, bürdete er sich auf; die Papiere, auf welche ihn Fürst Rucca so ausdrücklich verwiesen hatte, ballte er zusammen. Der Hund hüpfte und tänzelte nur um beide herum und schon waren sie zur Oeffnung hinaus, schon schwankte Federigo auf dem schmalen Stege über die grausige Tiefe – schon rafften sie die andern Sachen zusammen, die sie ans Gitter der größeren Oeffnung geworfen hatten, schon schickten sie sich an, in eilendem Schritt den Felsenpfad hinunter zu entfliehen und das Ufer und den Nachen zu gewinnen.

Das kluge Thier, gleichsam als merkte es die Vorsicht, die hier zu üben war, begleitete sein Laufen und Wiederlaufen, sein Springen und Schmeicheln nur mit einem leisen freudigen Winseln. 60 Aber dennoch war es auf dem Eilande lebendig geworden. Federigo hielt inne. Lichter schwankten unterwärts am Gestade auf und nieder, Fackeln leuchteten auf, Laternen. Durch einen Spalt des immer noch schroffen Gesteins sah Hubertus, daß der Knabe den Nachen verlassen hatte und wahrscheinlich zum Lager der Räuber gegangen war und diese geweckt hatte. Vorwärts! Vorwärts! trieb er den Befreiten an. Dieser folgte und sprach dabei besorgt den Namen Grizzifalcone's aus.

Wißt Ihr denn nicht, daß Euer Peiniger todt ist? flüsterte Hubertus. Er ist todt – seit acht Tagen – wiederholte er dem Staunenden und setzte hinzu: Und ich bin es selbst gewesen, der ihn erlegt hat!

Unglücklicher! rief Federigo voll Entsetzen über diese Tollkühnheit und die mögliche Rache seiner Genossen. Er hielt aufs neue seine Schritte inne. Nun aber war der Weg schon zu schroff, als daß sich noch sein Fuß selbst regieren konnte; er mußte vorwärts wider Willen.

Indessen wuchs der Lärm an den Stellen, wo man Licht bemerkt hatte. Nur noch hundert Schritte waren die Fliehenden entfernt vom Nachen; dennoch konnte der kurze Weg den Tod bringen. Die Gefahr wuchs, als Sultan die Herbeieilenden bemerkte, wüthend zu bellen anfing und sich zum Angriff rüstete. Schon sprang er einigen Männern entgegen, die sich mit Pistolen und Flinten, halbnackt und schlaftrunken, von einem Felsenvorsprung her näherten.

Indessen hatte Hubertus den Nachen gewonnen und den ermatteten Federigo mit Gewalt vom Ufer zu sich herübergezogen. Sultan! Sultan! riefen beide im schaukelnden Kahne, den Hubertus schon losband. Da blitzte Pulver von den Feuerröhren der Ankommenden auf, Schüsse fielen, Kugeln sausten. Darüber flog der Nachen vom Ufer. Sultan, der nachsprang und von 61 Federigo's ausgestreckten Armen nachgezogen werden sollte, sank unter, getroffen von einer Kugel, die seinem Herrn gegolten hatte. Von der unruhigen Brandung geschleudert flog der Nachen machtlos in die Weite. Das treue Thier blieb auf dem Meeresgrund oder in der Gewalt der Verfolger zurück. Mit einem Schmerz, der sich in lauten Jammertönen kund gab, brach Federigo auf dem Boden des Fahrzeugs zusammen.

Ja – dieser wunderbaren Nacht mit ihrem Gefolge von Freude und herzzerreißendem Leid mußte jetzt Hubertus gedenken auf dem stillsten Orte der Welt, zu diesem einsamen Gebirgsthal Calabriens, ruhend auf einem Stein, um den selbst die Eidechsen und Käfer jetzt Nachtruhe hielten. Bilder des Kampfes, Bilder neuer Gefahren traten vor sein erregtes Gemüth. Eine Ahnung, die mit dem von Neapel hinweggenommenen Eindruck der Falschheit zusammenhing, sagte dem schlichten Mann, der alles, nur kein Menschenkenner war: Wenn sich Federigo's ruheloses Leben erneuerte! Wenn der hochbetagte Greis in seinem düstern Waldesdunkel nicht länger sicher bliebe!

Seit jener Flucht vom Felseneiland bei Ascoli waren fast zwölf Jahre vergangen. Doch traten gerade heute alle Einzelheiten derselben vor die Seele des einsamen, hier wie am Grabe der Natur wachenden Wanderers. Er gedachte, wie damals der erste Schmerz um den Verlust des wie man glauben mußte todten Thieres alles andere überwog – wie die Flüchtlinge sich hatten vorstellen müssen, wie oft der brave Sultan gefangen gewesen sein mußte, um ein Jahr zu brauchen, die Spur seines Herrn von Piemont bis zur Mark Ancona wiederzufinden –! Und am Ziel seines edlen Naturtriebes mußte das treue Thier dennoch zusammenbrechen –!

Aber Hubertus gedachte nun auch, wie damals mit dem anbrechenden Tage die Sorge wuchs und ihre Kräfte nicht mehr 62 ausreichten, den Nachen zu regieren – wie der Nachen ans Ufer getrieben wurde und die Landung neue Gefahren brachte, da Federigo dem Vorschlag, sich den Grenzbeamten zu überliefern und nach Rom zu fliehen, aufs allerentschiedenste widersprach, immer und immer als das Ziel seiner vor dreiviertel Jahren unterbrochenen Pilgerschaft nach Loretto, das er sich nur der Merkwürdigkeit und des allgemeinen Pilgerstromes wegen hatte ansehen wollen, nur den Silaswald in Calabrien bezeichnend. Wie erbebte noch jetzt des guten Bruders Theilnahme unter der Erinnerung an die seltsamen Gründe, die Federigo damals für diese Reise angab und die Hubertus schwerlich sämmtlich erfahren hatte.

Die von Ceccone geleiteten Fäden der Verlockung der Bandiera in einen Aufstand der Räuber hatten ebenso in Federigo's Händen gelegen, wie die jener Mittel, durch welche sich Grizzifalcone die Erkenntlichkeit des Fürsten Rucca erwerben wollte. Jene Listen, die er dem Räuber hatte schreiben müssen, besaß er – er warf sie zu Hubertus' Erstaunen zerrissen ins Meer. Lebhafter war Federigo's Drang, die Insurgenten in Korfu zu warnen. Federigo hoffte irgendwo eine Post anzutreffen, um einen Brief nach Korfu an die ihm wohlbekannten Adressen der Emigration schicken zu können. Dies that er dann. Um die Landung in Porto d'Ascoli zu hintertreiben, um vor den Namen zu warnen, die bisher nach Korfu gleichsam als Einverstandene und zur Invasion Ermunternde geschrieben hatten, ergriff er die erste Gelegenheit, einige Zeilen aufzusetzen. Hubertus erfuhr, daß der Gefangene in jener Höhle Briefe, deren Zusammenhang und Bestimmung er nicht kannte, anfangs harmlos geschrieben. Als er die Absichten ahnte, die ihm die unheimlichsten schienen, zwangen ihm nur noch die furchtbarsten Qualen und Drohungen der von Cardinal Ceccone gedungenen Räuber die Feder in die Hand.

63 Eine Folge der, des unsichern Postganges wegen, mehrfach aufgesetzten, aber in Korfu richtig angekommenen Briefe war dann in der That die Landung der Bandiera in Calabrien. In jenem Briefe Attilio's, von welchem sich damals in Bertinazzi's Loge Benno so mächtig hatte aufregen lassen, waren diese Mittheilungen Federigo's sämmtlich wiedergegeben worden.

Langsam kamen der Gerettete und Hubertus, der sich von seinem neuen Freunde nicht zu trennen vermochte, durch die Abhänge des Monte Sasso und durch die Abruzzen. Endlich erreichten sie jenen alten Wald, in welchem Federigo seine Tage zu beschließen willens war. Die religiösen Gespräche des Pilgers, seine genaue Bekanntschaft mit jenem deutschen Landstrich, wo Hubertus soviel Freude und Leid erfahren, des Pilgers Bekanntschaft mit soviel Personen, die in die schmerzlichsten Schicksale seines Lebens verwickelt waren, fesselten ihn in dem Grade an den deutschen greisen Sonderling, daß er sich nicht mehr von ihm zu trennen vermochte. Durch ihn ließ er dann an Lucinde nach Rom schreiben, bat sie, seinen Aufenthalt vorläufig noch dem Cardinal und dem Fürsten Rucca zu verschweigen, fügte aber hinzu, sie möchte ihm insgeheim von seinem General die Erlaubniß erwirken, in San-Firmiano bleiben zu dürfen, einem Franciscanerkloster, das glücklicherweise in der Nähe des Ortes lag, wo sich Federigo seine Hütte gebaut. Sein früherer Pflegling, Pater Sebastus, war genesen und hatte eine seinen Wünschen entsprechende Stellung gefunden. Alles, was er wünschte, vermittelte Lucinde und seine Bitte wurde gewährt.

Durch eine wunderbare Fügung des Zufalls traf es sich auch, daß gerade dies plötzliche Verschlagenwerden nach dem Süden Italiens zugleich die Anknüpfungen an eine so lange von Hubertus verfolgte Absicht bot, sein von Brigitte von Gülpen ererbtes Vermögen dem verhaßten Kloster Himmelpfort zu entziehen 64 und zweien Personen zuzuwenden, die ihm seine von Gott ihm auf die Seele gebundenen Kinder schienen, da sie einst in seinen Armen gerettet blieben bei jenem verzweifelten Sprung aus der Höhe eines brennenden Hauses in Holland.

Einer derselben hatte seine Güte nicht verdient. Und dennoch hatte wiederum Jean Picard, damals Dionysius Schneid genannt, aus dem Brand von Westerhof von ihm gerettet werden müssen –! Anderthalb Jahre war es damals her, daß Löb Seligmann am Eingang zur Kirche des Klosters Himmelpfort jenes furchtbare Krachen gehört und im Todtengewölbe Licht gesehen hatte. Damals benutzte Hubertus die gerade noch im Bau begriffene Begräbnißstätte des Kronsyndikus, um den muthmaßlichen Brandstifter im Todtengewölbe der Kirche zu verbergen. Die mächtige Marmorplatte, auf welche eben noch Namen und Würden des Geschiedenen gemeißelt werden sollten, ließ er oberhalb der Grube, zu die sein damals noch unwiderstehlicher Arm den Verwundeten über die hinunterführende Leiter trug, plötzlich niedersinken. Für einige Augenblicke machte er dann Licht und bereitete unter den Särgen dem Kranken ein Lager. Seine Drohungen mußte Jean Picard aus einem so entschlossenen Munde für Ernst nehmen. Drei Tage und drei Nächte verpflegte ihn Hubertus, ohne in den Verstockten zu dringen, daß er seine auf Westerhof vollführte That eingestehen sollte. Als er dann aber doch dringlicher forschte und nichts als hartnäckige Ableugnung fand, bestimmte ihn sein Interesse für Terschka, seine Sorge für den auf seiner Zelle und unter des Pater Maurus' Zucht verzweifelnden Klingsohr, diese Last sich je eher je lieber abzuschütteln. Lucinden hatte er nicht minder das Wort gegeben, ihn nicht zu verrathen. Auch vertraute er zuletzt dem Ton der Verstellung, die von einer dumpfen Bigotterie, die in Picard lebte, unterstützt wurde, nahm von ihm das Gelöbniß der Besserung entgegen, ließ den gegen religiöse 65 Eindrücke nicht durchaus Verschlossenen bei einem der aus den Gräbern angebrachten Kreuze schwören und das Versprechen geben, daß der Zögling der Galeeren nach Amerika auswandern und dort mit Hülfe der großen Summe, die er ihm für diesen Fall bestimmt hatte, ein neues Leben beginnen sollte. Diese Summe, vor kurzem erst erhoben, trug Hubertus in Papieren bei sich. Die Ueberraschung und Geldgier des Räubers nahm die Form einer Dankbarkeit an, die vollkommen aufrichtig schien. Picard vermaß sich hoch und theuer, an den Ufern irgendeines der Ströme Amerikas Grundbesitz kaufen und sein Leben hinfort nur noch der Reue und Arbeit widmen zu wollen. Nach noch einigen Tagen, während ihn Hubertus unter den Särgen verborgen hielt und verpflegte, brachte er ihn mit größter Behutsamkeit auf den Weg nach Bremen.

Picard ging, wie wir wissen, über London und gerieth wieder in seine gewohnte Gesellschaft. Er verthat die für England nicht zu große Summe in kurzer Zeit. Ohne Mittel, fiel er in seine frühern Gewohnheiten zurück. Die französische Sprache, deren er mächtig war und die ihm anfänglich so reich zu Gebote stehenden Summen hatten ihn in Verbindungen gebracht, die über die Sphäre weit hinausgingen, auf welche seine rohe Bildung angewiesen war. So war es möglich geworden, daß er Terschka begegnete, den er von Westerhof her kannte. Ohne sich ihm als Dionysius Schneid zu erkennen zu geben – seine kunstreichen Perrüken sind uns vom Finkenhof her bekannt – knüpfte er an die ihm von Hubertus ausgesprochenen Vermuthungen über Terschka's Person an, erinnerte an ihre gemeinschaftlich bei einem Müller, später bei einem Scharfrichter verlebte Jugend und hatte, da sich Terschka, trotz der lockenden Aufforderung, die sein Jugendgespiele an ihn richtete, er sollte sich auch getrost seinerseits die auch ihm bestimmte Summe vom alten Kameraden, 66 Franz Bosbeck, dem jetzigen närrischen Mönche Hubertus kommen lassen, befremdet und höchst entrüstet zeigte und diese Reden zurückwies, die Frechheit, Terschka's Rock und Hemdärmel aufzureißen und ihm das holländische Brandmal der Verbrecher auf seinem Arm zu zeigen. Terschka, nun zum Schweigen verurtheilt, kämpfte mit sich, was er thun sollte. Hubertus war nach Italien gegangen; eine Correspondenz mit dem in Rom auf San-Pietro in Montorio Gefangenen war nicht möglich, ohne sein Geheimniß noch mehr zu compromittiren; die große Summe reizte indeß – für ihn bestimmt war sie in Witoborn niedergelegt. Terschka mußte sie zu bekommen suchen.

Einstweilen suchte sich Terschka Picard's selbst zu entledigen. Die Reihen der Emigrationen waren von je gemischt. Mit dem Schein des politischen Flüchtlings umgibt sich der betrügerische und flüchtige Bankrottirer, der falsche Spieler, der Spion. Unter den verbannten Karlisten und Sicilianern gab es Charaktere, für deren erste Lebensanfänge niemand gutsagen konnte. Nicht nur Ceccone's Intrigue, die Intrigue der meisten Regierungen ging in England dahin, irgendwie in das innere Getriebe der Conspirationen einzutreten. Zu Horchern und Provocatoren geben sich reine Charaktere nicht her – so mußten sich denn den oft phantastischen und der Welt unkundigen Edelgesinnten Betrüger zugesellen. Das große Weltgewühl erschwert die gegenseitigen Prüfungen. Picard, der seit Jahren schon verschiedene Namen geführt und in den abwechselndsten Lagen gelebt hatte, schloß sich den für Malta und Korfu geworbenen entschlossenen Revolutionären an. Boccheciampo, ein ehemaliger sicilianischer Bravo, ging wie jeder andere Flüchtling unter einer Mehrzahl unbescholtener und den reinsten Ueberzeugungen lebender Männer mit. Diesem schloß sich Picard an. Mit goldenen Ringen, mit Uhrketten überladen, nannte er sich einen Belgier van der Meulen. 67 Boccheciampo leitete jene Intrigue des Cardinals Ceccone, der zufolge mit den römischen Invasionen der Flüchtlinge, um sie zu compromittiren, die Räuberelemente der Mark Ancona und der Abruzzen verbunden werden sollten. Van der Meulen reiste mit Boccheciampo über Gibraltar und Malta nach Korfu. Hier musterten die Bandiera ihr Fähnlein und beurtheilten es im besten Vertrauen auf die Bürgschaft der londoner Absender. Schon sollte ein von ihnen gemiethetes und commandirtes Schiff nach Porto d'Ascoli in See stechen, als die Briefe des von Hubertus befreiten Federigo ankamen und die Insurgenten vor einer ihnen gelegten Falle warnten. So spielte sich der Schauplatz der demnach schon im Keim hoffnungslosen Unternehmung auf eine andere Stelle Italiens, wo eine gleichzeitige Erhebung Siciliens in Aussicht gestellt wurde.

Hier offenbarten sich die schlechten Elemente, die sich unter den Insurgenten befanden.Mazzini hat den Vorwürfen, die ihm wegen seiner mangelhaften Ausrüstung der Bandiera'schen Expedition gemacht wurden, eine eigene Rechtfertigungsschrift gewidmet. Mit der dreifarbigen Fahne marschirten die Verschworenen, die in Punta d'Allice gelandet waren, über Rossano auf Salerno zu, wo gleichfalls eine Erhebung angesagt war. Aber im Gegentheil; vorbereitet fand man überall nur den Widerstand; sämmtliche Bürgergarden waren einberufen. Wuchs auch der Haufen der Insurgenten von Ort zu Ort, so konnte er doch die erste Begegnung mit regulären Truppen nicht aushalten. Die Trümmer des zersprengten Corps suchten Schutz auf dem hohen Kamm der Apenninen.

Hier irrten sie bis auf die höchsten Gipfel und hinauf, bis wo im schmelzenden Schnee die Ströme des Neto, Leso, Arvo ihren Ursprung nehmen. Hubertus erfuhr im Kloster, daß die 68 Bandiera mit zwanzig ihrer Angehörigen in jene Schlucht gedrungen waren, wo unter den Bluteichen Frâ Federigo seine Hütte erbaut hatte. Unruhig, ob sich die Nachricht bestätigte, daß von Spezzano aus eine Militärcolonne in den Wald rücken sollte, verließ Hubertus sein Kloster, ging die Windungen des Neto entlang und begegnete zweien zerlumpten und Banditen ähnlichen Männern, die in Eile daherlaufend und sich scheu umblickend ihn anriefen: Sind in San-Giovanni Soldaten? Kaum waren sie so nahe, um unter seine Kapuze blicken zu können, so wandte sich der eine. Die Stimme, die Hubertus gehört, schien ihm bekannt; der flüchtige Blick hatte ihm eine selbst in solcher Verwilderung für ihn erkennbare Physiognomie ins Gedächtniß zurückgerufen. Das ist ja Picard! sagte er sich mit dem höchsten Erstaunen und beflügelte seine Schritte, die Flüchtigen einzuholen. Je lebhafter sie von ihm verfolgt wurden, desto schneller eilten sie voraus. Bei San-Giovanni machten sie einen Umweg und schlichen unterwärts durch die Kornfelder. Hubertus folgte rastlos; zumal da er sah, wie sie sich furchtsam die Mauern entlang drückten und den Schutz der Gärten suchten. Es ist Picard! wiederholte er sich. Picard, den ich in Amerika glaubte! Picard, der die Kraft meines Armes fürchtet!

Der Ideenkreis des guten Hubertus war klein – klar aber trat ihm Picard's Theilnahme an jener von Porto d'Ascoli aus irregeleiteten Unternehmung vors Auge. Eine Gefahr, sowol für die ihm durch Federigo's Mittheilung wahrhaft bemitleidenswerth gewordenen Brüder Bandiera, wie für Federigo, der wol gar die der deutschen Sprache Kundigen gastlich aufgenommen – stand aufs lebhafteste vor seinen Augen. Ahnend, daß die Flüchtlinge Spezzano nur deshalb suchten, weil sich daselbst Soldaten befanden, schnitt er ihnen, was ihm bei seiner schon gewonnenen Terrainkenntniß leicht war, den Weg ab.

69 Inzwischen kletterten die Flüchtlinge aus der Tiefe, die keinen Weg mehr bot, zur obersten Saumthierstraße empor. Hier erwartete sie nun bereits der schreckhafte Mönch, ein Knochenskelet. Hubertus trat ihnen muthig entgegen. Picard! rief er, anfangs immer noch zweifelnd; aber es war Picard, er erkannte den Räuber. Zurückbebend sagte dieser, und erschrocken bis zum Tode, in deutscher Sprache: Jesus Maria! Seid Ihr es, Bosbeck? Ich glaubte Euch in Rom! Dort wollt' ich Euch aufsuchen! Steht uns bei! Wir müssen nach Spezzano –! Sind Soldaten in Spezzano? unterbrach der andere auf italienisch. Picard fuhr fort: Ist alles vorüber, Alter, so erzähl' ich Euch, wie schlecht es mir am Ohio gegangen ist! Und wieder rief mit wildem Ungestüm der andere: Sagt rasch, rasch, rasch; sind Soldaten in Spezzano?

Was wollt ihr mit Soldaten? antwortete Hubertus, dem bereits einleuchtete, daß des Italieners Worte ein Verlangen nach Soldaten, keine Besorgniß vor ihnen ausdrückte. Sie werden euch fangen –! setzte er forschend hinzu. Gewiß seid ihr von der Bandiera-Bande aus Korfu?

Das mag recht sein! erwiderte der andere – es war Boccheciampo. Aber nur schnell! Schnell! Führt uns auf dem kürzesten Wege nach Spezzano!

Aus dem, was sonst noch die athemlosen und erschöpften Männer vorbrachten, ersah Hubertus, daß sich beide von den übrigen Flüchtlingen getrennt hatten, sich mit den ausgestellten Posten der bewaffneten Macht in Verbindung zu setzen hofften und ohne Zweifel einen Zug anzeigen wollten, den, wie er erfuhr, der Rest der Insurrection von den Bluteichen aus diese Nacht über den Kamm der Montagne delle Porcine hinweg unternehmen wollte, um den Meerbusen von Squillace und von da die See zu gewinnen. In San-Giovanni di Fiore, hörte er, würde dieser Zug um Mitternacht ankommen und leicht von den 70 Truppen ausgehoben werden können, wenn diese ihm nicht sofort bis zu den Bluteichen entgegengehen wollten. Hubertus sah die verrätherische Absicht.

Diesen Zug wollt ihr angeben? fragte er und hielt schon Picard's Arm fest.

Picard kannte die Stärke des Mönchs und erblaßte nicht wenig über die funkelnden Augen, deren unheimliche, einer Kraftentfaltung vorausblitzende Macht er aus seinen Jugenderinnerungen heute zum zweiten mal wieder erproben sollte.

Mit dem Narren in die Hölle! rief Boccheciampo, Hubertus' Gesinnung ahnend, zog ein Pistol und ergriff zu gleicher Zeit Picard's Arm, um seinen Gefährten zu befreien und sich ihn nachzuziehen.

Einen Augenblick fuhr Hubertus vor dem Pistol zurück, sah auch, mit einem zuckenden Blitz des Auges, daß Picard mit der Linken ein blankes Messer aus seinen Lumpen zog. Nun hatte aber den wilden Mönch der Anblick zweier Bösewichter, die, um den Preis ihrer eigenen Freiheit, andere ins sichere Verderben ziehen wollten, bereits zur Wuth entflammt. Seine Hand drückte Picard's Arm so mächtig, daß dieser aufschrie und seinen Arm bereits für gebrochen erklärte. Hubertus suchte am Felsen seinen Rücken zu decken, ohne dabei Picard's rechten Arm loszulassen.

Laßt mich! schrie dieser, drängte vorwärts und drohte in der Linken mit seinem blitzenden Messer. Wie ein dem Ertrinken Naher, mit der ganzen fieberhaften Kraft, deren selbst die Feigheit fähig ist, wenn sie sich vor äußerster Gefahr zu retten sucht, strebte Picard sich loszuwinden und dem Italiener zu folgen, dessen Pistol sich jetzt zur Mehrung seiner Wuth als nicht geladen erwies.

Nun mußte Hubertus auch Boccheciampo abwehren. Alle drei rangen miteinander. Hubertus gegen zwei. Immer näher kam 71 der wilde Knäuel dem jähen Abgrund des Felsenweges. Mit verzweifelnder Anstrengung wollten sich die Ringenden der andern Seite zuwenden, wo die Felswand wieder höher emporstieg. Da riß sich mit einer höhnischen Lache Boccheciampo plötzlich aus dem Knäuel los, stürzte die andern vom Rand des Weges in die Tiefe und entfloh.

Mit einem gellenden Schrei suchte Picard sich im Fall zu halten – Vergebens; die beiden Sinkenden glitten tiefer und tiefer. Unten rauschte die wilde Flut des Neto. Hubertus hielt sich an einer hervorragenden Strauchwurzel – ein Moment – und er hörte, daß Picard, der die Besinnung verloren hatte, unaufhaltsam in die zuletzt nur noch schroff sich absenkende Tiefe stürzte.

Eine Besinnung, eine Entschlußnahme war anfangs auch für Hubertus nicht möglich. Eine Viertelstunde verging, bis er selbst so viel Kraft gesammelt hatte, sich wieder auf die Straße hinaufarbeiten zu können. Da hörte er in der Ferne Schüsse. Als er auf die Straße kam, war diese von einem Piket Soldaten besetzt und Boccheciampo gefangen. Auch den Mönch nahm man mit und ließ ihn streng bewachen.

In der Nacht krönte sich Boccheciampo's Verrath. Auf dem Thurm zu San-Giovanni, wohin Hubertus, ohne die Flüchtlinge warnen zu können, gefangen gesetzt wurde, vernahm er, wie oberhalb Firmianos, wo ein einsamer, unbekannter Waldweg über den höchsten Gebirgskamm führt, ein kurzer verzweifelter Kampf der kleinen Schar stattfand, die auf ihrem Wege gekreuzt und zuletzt gefangen genommen wurde. Boccheciampo hatte den Soldaten die richtige Anzeige ihres nächtlichen Zugs gemacht. Man führte die Verlorenen nach Cosenza.

Auch Frâ Hubertus wurde später dorthin abgeführt. Der Erzbischof nahm sich des Klerikers an, berichtete an den General 72 der Franciscaner nach Rom und wiederum kam die Weisung, den Worten des Bruders Hubertus vollen Glauben zu schenken und ihm jede Nachsicht zu gewähren. Die Nachforschung nach dem verunglückten Gefährten des gleichfalls mit einer Pension nach Stromboli geschickten Boccheciampo gerieth ins Stocken. Einige Wochen nach Hinrichtung der Bandiera kam Hubertus auf freien Fuß.

Wie Hubertus erst heute wieder jene Stelle des Ringkampfs gesehen, wie er jetzt zu jenem Felsenpfade über sich emporblickte, der damals ein Todespfad für zwanzig Menschen geworden war, da brachte ihm die bange Stimmung seines Gemüths auch in voller Gegenwärtigkeit den Augenblick zurück, wo er damals, nach Entlassung aus seiner Haft in Cosenza, von jenem Kreuze aus, das er am verhängnißvollen Ort vom Sindico zu San-Giovanni auf Befehl der Regierung errichtet fand, ein Wagstück vollführte, das allen, die davon erfuhren, unglaublich erschien.

Mit Stricken, Hacke und Beil stieg der Tollkühne den schroffen Felsabhang hinunter und suchte dem Opfer beizukommen, das im feuchten Schose des an jener Stelle von Menschenfuß wol noch nie berührten Neto ruhen mußte.

Im Ringen hatte Hubertus bemerkt, daß Picard unter seinen zerlumpten Kleidern ein Portefeuille trug, auch daß er Geld und Geldeswerth bei sich hatte. An letzterm lag ihm nichts; im erstern aber fand er vielleicht Aufklärungen über die ihn wahrhaft empörende und mit höchstem Zorn erfüllende Täuschung, der er sich vor noch nicht zwei Jahren preisgegeben sah, als er geglaubt hatte, Picard wäre nach Amerika gegangen. Nur eine so von frühster Jugend gehärtete, an jede Lebensgefahr gewöhnte Natur, wie die seinige, konnte die Schwierigkeit dieser Unternehmung überwinden. Hundertmal glitt sein halbnackter Fuß am zuletzt völlig senkrechten, glücklicherweise strauchbewachsenen Abhang aus. 73 Nichts hielt dann die Wucht des Körpers, als ein Zweig, eine Wurzel, die für die schon blutig zerrissene Hand zur Unterstützung dienen mußte. Wo ein hervorragender Stein oder ein Ast kräftig genug schien, befestigte der Muthige mitgenommene Stricke, die den Rückweg erleichtern sollten, falls sich aus der Tiefe der Schlucht selbst kein anderer Ausweg bot. Ganz allein und sich ohne irgendeinen Zeugen an diese muthige Unternehmung wagend kam Hubertus, blutend an Armen und Füßen, endlich bei dem an dieser Stelle gehemmten, wild in einem Kessel tobenden Fall des Neto an.

Hoch spritzte der Schaum des von zerrissenen Felsblöcken zurückgeworfenen Gewässers auf – weitab nur vom Rande des Strombetts ließ sich an den Büschen mühsam weiterklettern. Die Kohlenaugen des alten Jägers spähten rundum. Hubertus fand, daß der Wildbach irgendwo auf ein Hemmniß stoßen mußte. Von Weißdornbüschen wildüberwuchert zeigte sich ein Vorsprung, um den das schäumende Gewässer sich herumzwängte. Endlich fand sich – unter den Büschen das Schreckbild einer zerschmetterten und verwesten Leiche. Der Kopf war bereits unkenntlich, die andern Glieder hatten sich noch unzerstört erhalten – die kühle Wasserluft verzögerte die Auflösung.

Eine Weile währte es, bis Hubertus es wagte näher zu treten und den vollen Anblick des Schreckens dauernd zu ertragen. Ein Dolch, den er nach Landessitte in seiner Kutte trug, schnitt die Kleider der Leiche auseinander. In den Taschen lag noch Geld, eine Uhr; die Brieftasche war nicht zu finden. Hubertus durchsuchte den ganzen Körper. Das Portefeuille war verschwunden. Ohne Zweifel war es beim Sturze aus der Tasche geglitten. Aber auf dem steinigen Grund der krystallenen Woge blinkte Gold auf.

Hubertus blickte weiter um sich. Da lagen denn auch Blätter 74 Papier, eingeklemmt in die spitzen Steine. Die nassen Blätter gingen beim Aufnehmen auseinander. Hubertus sah, daß es Bruchstücke waren, die einem Paß oder einem ähnlichen Document angehörten.

Wieder suchte er mit spähendem Auge. Es fanden sich, jetzt auch am Ufer, einzelne zerstreute Blätter. Vom Regen und vom Schaum des Neto waren sie so aufgeweicht, daß sie schon beim Aufnehmen unter der Hand auseinandergingen. Dennoch nahm er alles vorsichtig an sich und wickelte es zum Trocknen in sein Taschentuch.

Nach langem Suchen dann nichts mehr findend, nahm er einige wild durcheinanderliegende Steine, bildete in Manneslänge in der Erde eine Höhlung, warf die Reste des verwesten Körpers hinein und bedeckte alles mit den Steinen und buschigen Weisdornzweigen, die er mit dem Dolch abschnitt. Uhr und Geld nahm er in sein Bündel noch hinzu, sprach einen kurzen Segen und machte sich auf den Heimweg, dessen noch gesteigerte Schwierigkeiten die Gewandtheit seines Körpers überwand.

Von jener Brieftasche fand sich nichts mehr – Leder konnte von Raubthieren gefressen sein; es gab Luchse und sogar Wölfe im obern Gebirg. Er durfte sich sagen, daß die Papierreste, die er gefunden, hinreichten, um einem so kleinen Behälter schon einen ansehnlichen Umfang zu geben. Das Geld floß dem nächsten Opferstock an der Kirche von San-Giovanni zu; die Uhr und die Papiere wurden bei passender Gelegenheit für einen Besuch bei Federigo aufgespart.

Nicht zu oft durfte es Hubertus wagen, die Bluteichen zu besuchen. Nur dann ging er, wenn ihn zu mächtig die Sorge für den immer mehr verwitternden Greis ergriff – nach einem stürmischen Wetter, nach einem Briefe, deren zuweilen für Federigo – dann waren sie eingelegt an Hubertus – beim Guardian 75 einliefen; diese kamen von Rom und waren, wie Hubertus gelegentlich bemerkte, in seltsamen Chiffern geschrieben.

Als den Mönch eines Tages wieder die Hütte seines Freundes mit seinem, dem Leichnam abgenommenen Funde beherbergte, betrachtete dieser die Uhr mit äußerstem Erstaunen. Der Eremit erkannte sie für die seinige. Nicht daß sie ihm jetzt geraubt war, sie hatte ihm vor vielen Jahren gehört. Daß sie Picard aus dem Grabe des alten Mevissen gestohlen, konnte durch die Mittheilungen des Mönches theilweise errathen werden – Hubertus wußte, daß Picard auf dem Friedhof eines deutschen Dorfes ein Grab erbrochen hatte. War es das des alten Mevissen –? dachte Federigo. Welche Verwickelungen konnten dann entstanden sein, falls sein Vertrauter an solchen Erinnerungen noch mehr in die Grube mit sich genommen hatte! Mit einer Aufregung, die Hubertus an seinem Freunde sonst nicht gewohnt war, durchflog dieser die Papierreste, die sich in Picard's Nähe gefunden hatten. Ihr Inhalt schien ihn allmählich zu beruhigen.

Aus einigen Brieffragmenten ergab sich eine Beziehung Picard's zu Terschka. Sie hatten sich, das ersah man deutlich, in London gekannt. Die Briefe waren vorsichtig abgefaßt und enthielten sogar besonnene Mahnungen, manche Ablehnung der Picard'schen Zudringlichkeit – Terschka's Ton war hier in hohem Grade vertrauenerweckend.

Die nunmehrige Entdeckung der Thatsache, daß sich damals Hubertus auf Schloß Westerhof in Terschka's Person nicht geirrt hatte, nahm ihn trotz Terschka's damals so schroffer Ablehnung für letzteren ein. Die Klage Terschka's über seine hülflose Lage, auch die zufälligerweise in diesen Briefen von ihm ausgesprochene Reue über seine schnöde Behandlung des »guten Franz Bosbeck«, der ihm so wohlgesinnt gewesen, alles das konnte Hubertus nicht hören, ohne an den Rest seines noch in Witoborn bei einem 76 Advocaten stehenden Geldes zu denken. Auch Federigo kannte von Castellungo her den Lebenslauf Terschka's, kannte seinen Uebertritt zu einer Confession, die an Federigo und den Waldensern der nur in jüngeren Jahren fanatisch katholische Mönch zu achten gelernt hatte, und rieth dazu, getrost diesen Wink des Schicksals zu beachten. Wenn Hubertus denn doch einmal sein Vermögen dem Kloster Himmelpfort entziehen wollte – und nach seinem Tode würde, das wußte er, Pater Maurus in Himmelpfort sich schon zu Gunsten seiner Ansprüche regen und geltend machen, daß Hubertus nur als ein auf Urlaub befindlicher Mönch seiner Provinz betrachtet werden konnte – so sollte er sich, rieth Federigo, eilen, dem Erben, den er sich nun einmal gewählt hätte und der hoffentlich damit besser verfahren würde, als Jean Picard, seine, wie man sähe, dringend ersehnte Hoffnung nicht zu entziehen – Die Parteilichkeit, die Gräfin Erdmuthe für Terschka von jeher gezeigt, hatte sich auch dem Einsiedler mitgetheilt.

Durch ihn, als Schreibkundigen, zugleich durch den wohlgesinnten Guardian des Klosters Firmiano, leitete Hubertus eine Verhandlung mit den Gerichten im fernen Witoborn ein, welcher zufolge Terschka die Summe, die er diesem gleich anfangs bestimmt hatte, richtig in London ausgezahlt erhielt. Es währte ein Jahr, bis diese Procedur zu Stande kam. Terschka's Dankesbriefe hoben nicht wenig das Gefühl des alten Mannes, der sich einer guten That bewußt war und oft mit Schmerz von dem ihm verhängten Schicksal sprach, das ihn gerade über die, denen er Gutes erweisen wollte, zum willenlosen und wie von Gott bestimmten Richter machte.

Die Geheimnisse, welche den deutschen Pilger umgaben, hatten sich für Hubertus nur theilweise gelüftet. Bald nach dem Vorfall mit jener Uhr, einem Zusammentreffen, das Federigo am wenigsten aufklären mochte, kam das Ende des treuen Sultan, 77 der, von seiner Wunde geheilt und einen Augenblick die Freiheit nutzend, seinem Herrn wieder bis auf mehr als funfzig Meilen gefolgt war und am Ziel seiner Sehnsucht durch den Pfarrer von San-Giovanni so misverständlich sein Ende finden mußte.

Lebhafter denn je gedachte Hubertus heute der Folgen, welche eine an sich so entschuldbare That des edlen Paolo Vigo damals nach sich zog. Er gedachte der Klagen, die er damals ausstieß, als ihn sein zufälliger Ausgang aus dem Kloster, um zu terminiren, nach San-Gio führte, ein Volkshaufe um den verendenden Hund stand, er ihn erkannte, ins Kloster trug und ganz so, wie zuweilen San-Filippo Neri, mit dem ihn Klingsohr so oft verglichen, abgebildet wird. Paolo Vigo erfuhr die Geschichte des Hundes, war davon aufs tiefste ergriffen und besuchte den Eremiten unter den Bluteichen, gleichsam um seine rasche That zu entschuldigen. So knüpfte sich zuletzt eine Freundschaft, die auch ihn ins Strafkloster Firmiano brachte.

Hier aber zeigte sich die gute Wirkung solcher Nachbarschaft. Jähzorn, Völlerei, alle Leidenschaften, von denen das Amt des Priesters geschändet wird, fingen allmählich dort zu verschwinden an. Nicht genug konnte der Guardian, ein milder gutgesinnter Mann, nach Cosenza hin rühmend berichten, wie sich seine Pfleglinge gebessert hätten. Schickte man aber eben deshalb schon seit lange niemanden mehr? Nahm man eben deshalb niemanden mehr fort? Es war, als wenn dies stille Waldkloster in der Welt vergessen war. Hatte Hubertus Recht gethan, so ausdrücklich die Jesuiten an die Existenz desselben zu erinnern?

Gerade dieser Frage vorzugsweise nachdenkend, hörte Hubertus jetzt die Uhr des Klosters die vierte, d. h. die elfte Stunde schlagen und machte sich, von Unruhe getrieben, noch früher auf den Weg, als er anfangs beabsichtigt hatte. Ueber die Höhen 78 wehte ein frischer Nachtwind. Noch eine halbe Stunde brauchte er, bis er am Klosterthor die Glocke zog.

Hier sollte ihn aber sogleich ein glücklicher Zufall begrüßen. Es war Paolo Vigo selbst, der heute den Pförtnerdienst verrichtete. Eine edle Gestalt voll ernster Würde, mager und abgezehrt, begrüßte ihn. Der Pförtner trat Hubertus mit dem frohesten Willkommen entgegen.

Hubertus sah ihn voll Erstaunen, band sich seine beim Steigen losgegangene Kuttenschnur fester und sprach: Das muß ja dem Guardian ein Traum eingegeben haben, Euch gerade heute an die Thür zu stellen! Ihr seid noch wach? Ich bitte Euch, bleibt es ja! Weckt unsere Schlafsäcke die Matutin, so laßt Euch nur vom Guardian auf der Stelle Urlaub geben –

Nicht wahr? Um unsern Vater aufzusuchen –? fiel Paolo Vigo mit lebhaftester Erregung ein. Ich konnte mir doch denken, daß Ihr gerade zum zwanzigsten August wieder zurück sein würdet.

Zum zwanzigsten August –? Verderbt mir den Willkomm nicht! entgegnete erschreckend Bruder Hubertus. Bei St. Hubert! Wo hatt' ich meinen Kalender! Haben wir heute den heiligen Rupert und bei Witoborn die ersten Schnepfen –! Und ich – ich – – Esel!

Morgen ist doch St.-Bernhard! bestätigte Paolo Vigo. Wißt ihr das nicht –? Ich stehe wie ein Soldat auf Schildwacht und bitte Gott, mir eine gute Ablösung zu geben. Ihr seid voll guter Anschläge, Bruder; sagt, wie fang' ich es an, sofort zu den Bluteichen zu kommen! Drei Nächte hatt' ich denselben Traum und keinen guten mein' ich. Ich hörte an meiner Zelle kratzen, wie von einem Hunde, der herein wollte. Ich sah im Geist wieder den guten Sultan vor mir. Oeffnete ich dann, so sah ich nichts – Dreimal das hintereinander! Ich glaube an 79 solche Dinge nicht – aber ich meine doch – Federigo ist krank oder es geschieht ihm sonst nichts Gutes –!

Der heilige Bernhard ist morgen –! sprach Hubertus dumpf und vor sich hinsinnend, immer besorgter und im Ton des härtesten Vorwurfs gegen sich selbst. Leb' ich so in den Tag hinein! Ihr träumtet vom Sultan? Und ich träume schon seit Neapel von nichts, als von Wölfen, die an den Bluteichen eine Lämmerheerde fressen. Wißt Ihr denn hier auch noch nicht, warum unser San-Giovanni drüben so voll Soldaten steckt?

San-Giovanni? entgegnete Paolo Vigo bestürzt.

Euer Pfarrhaus und alle Scheunen – sind voll. Auch in Spezzano sieht's wie im Lager aus. Ist also morgen St.-Bernhard –!

Glaubtet Ihr, daß ich um irgendetwas anderes Urlaub wünschte, als um an diesem Tage – Nun Ihr wißt doch, daß ich jedesmal, wo ich an diesem Tage nicht bei den Bluteichen war, erklärte, ein Jahr aus meinem Leben verloren zu haben –!

Hubertus hatte sich inzwischen durch die niedrig und rundbogig gewölbten Gänge zum Refectorium begeben, wo noch auf dem Speisetische die Lampe brannte. Paolo Vigo folgte ihm in den anmuthig kühlen, von kleinen gewundenen Säulen arabischen Geschmacks getragenen Raum. Ein Schrank enthielt die Vorrichtung, sich zu einem hier immer bereitstehenden Kruge voll Wein durch Drehen eines Hahns frisches Quellwasser zur Mischung zu verschaffen. Das Wasser tröpfelte hörbar von den oberen Bergen zu. Hubertus war erschöpft; Paolo füllte einen der im Schrank stehenden hölzernen Becher mit Wein und Wasser und erwartete von dem so schweigsam gewordenen Sendboten nähere Aufklärungen über Verhältnisse, die beiden gleich theuer und werth waren.

Alles ringsum blieb still. Nur die Wasserleitung tröpfelte 80 geheimnißvoll und lauschig in dem wieder geschlossenen Schrank. Düstere Schatten warf die matte Lampe durch die alterthümliche Halle.

Briefe sind ja von Cosenza gekommen? fragte Hubertus, der die Meldung der Ankunft Rosalia Mateucci's über die andern, ihm viel wichtigeren Dinge ganz vergessen hatte.

Briefe von Cosenza? Nein! Aber vom Sacro Officio aus Neapel! entgegnete Paolo Vigo und setzte hinzu: Leider! Sie geben dem Guardian keine Hoffnung. Spracht Ihr denn nicht den Monsignore?

Die bange Vorstellung, welche den Alten schon lange beschäftigte, alles, was ihm so unklar und dunkel war, könnte einen Schlag auf Federigo und seine geheimverbundenen Anhänger bedeuten, trat mit quälender Gewißheit vor seine vom mühevollen Wandern ohnehin erhitzten Vorstellungen; aus fieberhaftem Blut steigen nach körperlichen Anstrengungen besonders gern Wahnbilder und krankhafte Vorstellungen auf. Der zwanzigste August war seit zehn Jahren in den fast unzugänglichen Schluchten des Silaswaldes ein Tag, wo sich anfangs nur drei oder vier Männer, jetzt schon oft zwanzig bis dreißig mit ihren Familien versammelten. Hubertus äußerte seine entschiedensten Besorgnisse und Paolo Vigo redete sie ihm keineswegs aus. Schon berechnete Paolo, ob nicht vielleicht die Einquartierung in seinem Pfarrhause Anlaß geben könnte, den Guardian um Urlaub zu bitten – Sinnend fuhr er fort, man müßte doch morgen in erster Frühe in San-Giovanni hören können, was die Soldaten wollten?

Was sie wollten – hm! hm! fiel Hubertus ein – Wenn ich an die lachende Miene des Monsignore denke und denke an den Golf von Neapel, der wie ein Paradies im Sonnenschein funkelt und doch im Leibe den Vesuv hat, so wird mir bange wie einer Mutter um ihr Kind. Der zwanzigste August! Mein Sohn, 81 ich bitte Euch, mich dem Guardian nicht zu melden. Nein, nein! Noch bin ich nicht angekommen. Hört Ihr! Lebt jetzt wohl! In drei Stunden bin ich an Federigo's Hütte und schicke jeden nach Hause, der etwa heute oder morgen Lust haben sollte, dort für die Seelen der armen Märtyrer Pascal und Negrino zu beten.

Guter Bruder! entgegnete Paolo Vigo ablehnend und erklärte auch seinerseits zur persönlichen Ausrichtung dieser Warnung bereit zu sein. Ihr muthet Euch ein Uebermaß zu. O, daß ich statt Eurer hinausfliegen könnte! Soldaten! sagtet Ihr? Ich sagte ja gleich, daß der aus Neapel vom Sacro Officio angekommene Brief ebenso hinterhältig ist, wie schon lange das Benehmen des Erzbischofs von Cosenza. Und der Monsignore gab Euch in Nichts einen tröstlichen Bescheid?

So artig war er, sprach Hubertus, wie Papa Kattrepel in meiner alten Stadt Gröningen, wenn er erst jeden Armensünder, dem er den Kopf abschlug, um Verzeihung bat. Laßt mich doch jetzt nur sogleich gehen. Schon hör' ich oben den Rumor! Mitternacht muß vorüber sein. Geht! Geht! Ja, all ihr Heiligen, daß ich es nicht vergesse! Bei St.-Hubertus' Bart, wo hab' ich meine Gedanken! Gütiger Gott, mach' auf mein Alter keinen Schwabenkopf aus mir! Mein Sohn, laßt Euch getrost Urlaub geben nach San-Gio! Da werdet ihr ja eine Person finden, die viel lieber hat, Euch schon morgen wie sonst in Eurem Hause oder beim alten Meister Pallantio die Polenta auf den Tisch zu stellen – lieber, als den steilen Weg hieher zum Kloster erst heraufzuklettern –!

Eine Person? Die Polenta? Wer? fragte Paolo Vigo und ließ sich von Hubertus die überraschende Begegnung mit dem keuchenden Pepe, mit Scagnarello, mit Rosalia und Marietta Mateucci erzählen.

82 Gütiger Himmel! rief Paolo Vigo in doppelter Freude – Erst aus Liebe zu seiner seit Jahren nicht gesehenen Schwester – dann um die Gelegenheit, nun auf alle Fälle Urlaub zu bekommen.

Hubertus mußte sich jetzt verstecken, wollte er unangemeldet bleiben. Schon ertönte die Glocke, welche sämmtliche Bewohner des Klosters weckte und in die Kirche rief, wo sie zu singen hatten.

Während Paolo Vigo in größter Ueberraschung, in Spannung und Rührung stand und jedenfalls entschlossen blieb, den Guardian um die sofortige Erlaubniß zu bitten, seiner geliebten Schwester und ihrem holden, von ihm noch nicht gesehenen Kinde entgegenzugehen und außerhalb des Klosters übernachten zu dürfen, schlüpfte Hubertus eine vom Refectorium in die Zellen führende enge Wendeltreppe hinauf, um wo möglich, ehe die Frate kamen, seine Zelle zu erreichen und sich dort zu verbergen. Schon hörte man einen Mönch, der heute das Amt des Weckers hatte, in einem entfernten Gange an die Zellenthüren pochen. Der Regel des heiligen Franciscus gemäß rief er alle Schläfer aus ihren süßesten Träumen.

Hubertus erreichte glücklich und unbemerkt seine dunkle Zelle. Sie war nicht breiter und nicht tiefer, als zwölf Fuß, und enthielt als Bett einen Sack von Maisstroh – die Decke darüber war so grob wie seine Kutte. Von Glasfenstern war keine Rede; nur eine rohgezimmerte Holzjalousie schützte gegen die im Winter oft schneidend kalte Luft.

Hubertus warf sich auf sein Lager. Er hatte vor Uebermüdung jene Empfindung, die ihn an die Zeiten erinnerte, wo auch er sich in Java an Opium gewöhnt hatte. Traumartige Bilder traten vor die wachen Sinne. Alles schwebte um ihn in Licht und Farbe und Licht und Farbe war auch wieder wie Musik. So soll einem an Erstickung Sterbenden der Tod sein. Gestalten, die ihm wie Hexen hätten erscheinen dürfen, waren ihm jetzt 83 freundlich und nickten ihm mit süßem Lächeln. Mit seiner noch nicht besonders geläuterten Religion nannte Hubertus das die Triumphe des Teufels, den er namentlich auch beim nächtlichen Chorsingen um zwölf Uhr Mitternacht gern in Thätigkeit wußte und oft schon hinter dem großen Missale mit seinem Hörnerkopf als einen höhnischen Mitsänger oder am Weihwasserkessel, diesen verunreinigend, erblickt hatte. Er rüttelte sich wach und horchte nur, ob der Lobgesang in der Kirche bald vorüber sein würde.

Die Lampen in den Händen, schlichen die Mönche und geistlichen Züchtlinge erdfahl und schlaftaumelnd durch die Gänge. Hubertus, der auch hier schon manchen Verschlafenen – wie oft sonst Klingsohr! – um solche Stunde auf den Armen in den Chor getragen hatte, lauschte dem öden Widerhall. Endlich sangen einige zwanzig Stimmen. In einfacher Cantilene wurde ein Psalm vom Guardian verlesen und seinen Worten an bestimmten Stellen von den andern respondirt.

Als wieder alles nachtstill geworden war und jeder auf seiner Zelle sein Lager erreicht hatte, erhob sich Hubertus von dem seinigen. Hatte Paolo Vigo Urlaub erhalten, so mußte ein anderer Pförtner für ihn eingetreten sein und jedenfalls erwartete ihn dann der Beurlaubte nirgend anderswo, als in seiner eignen Zelle.

Letztere erreichte Hubertus ungesehen, trat bei Paolo ein und fand ihn in der That bereit, das Kloster zu verlassen. Auf die freudige Botschaft, seine theure Schwester wäre in San-Giovanni angekommen, war ihm die Erlaubniß ertheilt worden, sie, wenn ihn dazu sein Herz triebe, überraschen zu dürfen. Bleibt aber Ihr zurück! setzte Paolo Vigo bittend hinzu. Alter, Ihr seid zu erschöpft. Und nur darin steht mir bei; geht morgen früh meiner Schwester entgegen und haltet sie vom Kloster eine Weile entfernt, bis ich um die achte Stunde von den Bluteichen in 84 San-Gio wieder zurück sein werde und Euch Alle bei meinem alten Meßner Pallantio begrüßen kann –

Wie zwei Jünger, die für ihren Meister ihr Leben zu lassen bereit sind und um den Vorrang bei diesem Beweise ihrer Liebe streiten, so standen sie am offenen Fenster und stritten, ob es nicht gerathener wäre, Paolo Vigo überließe den Gang nach den Bluteichen, um die am Morgen dort Versammelten zu warnen, an Hubertus und ginge nach San-Gio zur Früh-Ueberraschung für seine Schwester.

Mein Sohn! bat Hubertus. An mir ist wenig gelegen. Wenn aber Euch zum zweiten mal eine Strafe träfe, wie sie Euch schon einmal so lange Eure Freiheit gekostet hat! Jetzt brächet ihr ja geradezu auch das Herz Eurer Schwester! Sie versprach, am Morgen zum Kloster zu kommen. Ihr liebliches Kind wird Euch die Wange küssen. Wagt nichts Neues wieder, nachdem Ihr schon so lange für das Alte gebüßt habt!

Paolo Vigo hatte jedoch den Geist empfangen, der in edlen Dingen den Menschen unwiderstehlich zum Selbstopfer treibt. Eine heilige Glut durchloderte ihn, seine Augen funkelten so hell, wie die Sterne, die über den beiden leise Flüsternden standen. Er ergriff die Hand des Greises und sprach: Weiß ich doch nicht – ich ahne die letzte Stunde unseres Freundes. Krank ist er zum Tod schon seit lange und es geht das Gerücht, daß sein stilles Wirken entdeckt sei. Seit jenem letzten Brief aus Rom, den Ihr brachtet, muß eine große Veränderung mit ihm vorgegangen sein. Ich sah ihn seitdem nur einmal – und da schon wollte er Abschied nehmen für immer, wogegen meine Worte kaum aufkommen konnten. Es schien, als wenn er eine wichtige Kunde aus der Welt empfangen hatte, die ihn zur Auferstehung, zur Beendigung seiner Einsiedlerschaft und zur Rückkehr ins Leben rief. Schon aus freien Stücken schien er gehen zu wollen und 85 nun ahn' ich, er hätte besser gethan, dieser Regung zu folgen. Wenn man ihn heute holte, am Tage der Versammlung, ihn in die Kerker der Inquisition würfe –! Lebt wohl, Alter –!

Nicht ohne mich –! sprach Hubertus und blieb dem Unheilverkündenden unabweislich zur Seite.

Mein Fuß ist jünger, als der Euere! bat Paolo und wollte nicht dulden, daß Hubertus weiter, als bis an die Zelle des Pförtners folgte.

Während noch beide, und mehr mit Geberden als mit Reden, die ohnehin geflüstert werden mußten, stritten, erscholl in einiger Entfernung außerhalb des Klosters ein klagender musikalischer Ton. Er kam von einer Pansflöte, wie sie hier die Hirten blasen. Aus kleinen Rohrstäben ist eine einfache Scala zusammengesetzt, welche unter geübten Lippen eine in nächtlicher Einsamkeit wohllautende Wirkung hervorbringt.

Horch! rief Paolo Vigo und bedeutete Hubertus, Acht zu haben.

Die Flöte blies eine Melodie. Es waren die einfachen Töne eines Kirchenliedes.

Tanto – Christo – amiamo! sprach Paolo Vigo mit Ueberraschung der Melodie nach. Es ist die Erkennungslosung der Freunde. Man ruft uns. Seht Ihr, eine Gefahr ist da! O mein Gott –!

Auch Hubertus lauschte voll Betroffenheit und räumte ein, so könnte sich nur ein Verbündeter zu erkennen geben. Herüber von der Mauer des Klostergartens tönte die sanfte Flöte fort und fort. Sie blies das alte Waldenserlied »Tanto Christo amiamo –« zu Ende.

Pater Cölestino! rief nun schon Paolo Vigo mit starker Stimme in eine Oeffnung, die aus dem Corridor in die Zelle des Pförtners führte. Ich gehe. Bemüht Euch aber nicht! Ich öffne schon selbst. Gelobt sei Jesu Christ!

86 Amen! rief Pater Cölestino von drinnen und ließ getrost den Beurlaubten den Riegel selbst zurückschieben. Nur langsam erhob er sich, um ihn wieder anzuziehen.

Doch auch Hubertus war inzwischen schon ungesehen entschlüpft und kaum konnte Paolo Vigo ihm folgen. Mit raschen Schritten gingen beide dem Orte zu, wo aufs neue die Melodie der Hirtenflöte ertönte.

Endlich, an einem breitastigen, der Klostermauer sich anschmiegenden Haselnußstrauch entdeckten sie einen alten Hirten und einen Knaben. Letzterer war es, der die Flöte blies.

Der Hirt war ein wohlbekannter alter Freund. Er gehörte zu den Nachkommen des von den Waldensern hochgefeierten Negrino.Starb den Hungertod in Cosenza. Ein äußerlich schlichter, doch kluger und allgemein geachteter, auch wohlhabender Ziegenhirt, der alte Ambrogio Negrino aus San-Gio. Oft reiste der schlichte Mann mit seinen Heerden bis Salerno und trieb einen einträglichen Handel selbst mit den Gerbern von Palermo und Messina. Heute, als Hubertus in seinem Hause vorsprechen wollte, hatte man ihn auf der Messe zu Rossano geglaubt. Inzwischen war er heimgekommen und hatte Veranlassung gefunden, sofort wieder die Flinte überzuwerfen, mit seinem jüngsten Sohn Matteo aufzubrechen und, wie er ankündigte, nach den Bluteichen zu eilen. Ihr Herren! rief er den Ankommenden entgegen. Gott segn' es, daß ihr kommt! Ich sage euch! Es gibt eine große Gefahr für unsern Vater Federigo. Die Soldaten in San-Gio wissen von nichts, als von Morden, Brennen und Gefangennehmen. Und wen? Das haben die Offiziere im Weinrausch ausgeplaudert. Um vier Uhr brechen sie auf und umzingeln die Bluteichen – Ueber den Aspropotamo her kommen die andern – Wer mag ihnen 87 verrathen haben, daß heute der zwanzigste des Monats ist! Bleibt daheim – Herr Pfarrer, und auch ihr, guter Hubertus! Nur deshalb raubte ich euch die Nachtruhe, weil ich euch warnen wollte, falls euch der Geist getrieben hätte, heute gleichfalls an den Eichen zu erscheinen.

Nimmermehr, wir gehen mit Euch! fielen Hubertus und Paolo Vigo in banger Besorgniß ein. Beide achteten der Bitten Ambrogio Negrino's nicht. Sie verharrten dabei, sich ihm anschließen zu wollen – unwiderstehlich zöge sie ihr Verlangen, dem greisen Freunde in einer Stunde so großer Gefahr nahe zu sein. Ohne Clausur, wie sie eben waren, wollten sie die glücklicherweise ihnen zu Gebote stehende Freiheit nach dem Bedürfniß ihres Herzens benutzen.

Matteo! rief Paolo Vigo dem hierauf nach San-Gio zurückgeschickten Knaben nach; geh sogleich zu Meister Pallantio, meinem Küster, wecke die Signora, welche diesen Abend bei ihm angekommen ist und sprich zu ihr: Sie sollte unter keinerlei Antrieb morgen hinauf nach San-Firmiano gehen! Morgen in der Frühe, so Gott will, um acht oder neun Uhr würd' ich schon selbst bei ihr vorsprechen –

Ambrogio Negrino unterbrach: Heiliger Priester, wenn man Euch an den Bluteichen träfe –

Wirst du ausrichten, Matteo, wiederholte Paolo Vigo, was du gehört hast? Willst du einen herzlichen Gruß an meine liebe Schwester und die kleine Marietta bestellen?

Matteo gab jede Beruhigung und wandte sich mit diesen Aufträgen nach San-Gio zurück.

Die drei Verbundenen gestatteten sich keinen längern Aufenthalt, sondern machten sich sofort auf den Weg, der zu den Bluteichen führte.


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