Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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Das Christentum ist eine Religion der Persönlichkeit. Moses war doch nur der Sendling Gottes, Muhamed Allahs Prophet, sie ließen sich keine göttliche Ehre erweisen! Sehet hier eine Religion, deren unwillkürlicher Stifter von einigen verworrenen Köpfen mit Gott selbst verwechselt wurde, eine Religion, die nichts für ihren Gegenstand und alles für ihren ersten Priester tut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgendeinem Namen sein, und im Christentum ist man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jesu gebührt. Welch ein Glaube! Wir sind nicht ohne Poesie, wir schwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich sein, wenn wir nicht zuweilen auf unsern herben Lebenswein ein Rosenblatt der Illusion legen dürften, ein Rosenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert und das wir doch nicht missen möchten. Aber hier überschreitet eine Zumutung die Linie des Erträglichen. Das Christentum wurzele nicht in Jesu Lehre, sondern in seinem Leben: nicht die Liebe sei es, sagen sie, die er im Abendmahle eingesetzt habe, sondern sein Fleisch und Blut, seine eigne Persönlichkeit, die nun immerdar solle gegessen und getrunken werden. Auf die individuellen Begegnisse eines unglücklichen Menschen wird eine Religion gebaut, eine Dogmatik, die sich nicht um die Worte seines Mundes kümmert, sondern seine Fußtapfen als Paragraphenzeichen nimmt, seine Nägelmale als Kapiteleinschnitte: kurz, das Christentum ist eine Religion, die auf eines Menschen körperlichen Verrichtungen und Leiden gegründet ist, eine Religion, die das objektive Evangelium eines Menschen predigt. Armer Rabbi von Nazareth! Statt daß sie weinen sollten über dein wehmütiges Schicksal, freuen sie sich deines Todes und haben ihn lachendes Mutes im Munde! Die Kreuzigung Jesu wird gar nicht mehr historisch nachempfunden; sondern da alles in des unglücklichen Mannes Leben typisch und als Notwendigkeit gedeutet wird, so geht die Teilnahme und das Mitleiden gleichgültig an dem Schmerze vorüber und sieht am Karfreitage immer nur Ostern, bei einem Sterbenden eine grausame Hand, die ihm das Kissen unterm Kopfe wegzieht, damit er schneller sterbe, damit er schneller auferstünde! Das Kruzifix ist eine Zierat geworden, die man im Ohre hängen hat.

Die große, imponierende Gewalt des Christentums liegt in seiner welthistorischen Ausdehnung. Nicht, daß ich dieser Lehre die Umgestaltung Europas zuschriebe, nicht, daß ich so ungerecht gegen Gott wäre und behauptete, er habe ohne die verworrenen Ideen einiger palästinensischer Fischer und Teppichfabrikanten die Welt nicht auf diesen Gipfel der Kultur bringen können: nein, schon dadurch wird die christliche Idee geschwächt, daß sich die germanischen Völker für sie interessierten und ihre eigne welthistorische Prädestination in jene Lehre legten und das Christuskind als Christoffel durch das Weltmeer trugen. Das einzige, was mich an das Christentum kettet, ist ein magischer, mit Blut beschriebener Kreis; jene schreckhaften Verfolgungen, denen der neue Glaube ausgesetzt war, jene Hekatomben, die das Christentum dem Heidentum opfern mußte, die Männer, Weiber, Kinder, die zu Tausenden hingemordet wurden – ah, das preßt an die Kammern des Gehirns: die Fibern des Nachdenkens ziehen sich zitternd in ihren Versteck: das brennt und schmerzt, wenn man Sinn für Historie, Sinn für die Leiden der Menschheit hat. Nur jener Blutströme wegen bin ich gewissermaßen Christ, weil meine Religion die des Schmerzes und mein Kultus der Mut ist. Ich würde nicht raten, eher ein neues Bekenntnis abzulegen, ehe man nicht im Begriffe und in der Lage ist, dafür dasselbe auszustehen, was das alte Bekenntnis gekostet hat.

Bis hieher konnte noch von einem Christentum die Rede sein. Als der Begriff Kirche erfunden war, als Konzilien und Würdenträger eingesetzt wurden, da hatte sich die Lehre Jesu in eine neue Art von Heidentum verwandelt, in Mythologie auf der einen, Aristotelismus auf der andern Seite. Zwischen beiden wucherte die Mystik, keine ursprünglich christliche Pflanze, sondern arabisch-jüdisch-kabbalistisches Gewächs, das in der Philosophie als Platonismus wieder zum Vorschein kam. Das Christentum, insofern es von Priestern und Mönchen repräsentiert wurde, war auch nicht einmal eine Religion mehr, sondern nur noch Vorwand einer politischen Tendenz des Zeitalters. Die Hierarchie umgürtete sich mit dem Schwerte und fluchte wie ein Landsknecht. Das Christentum war nun doch ein Reich von dieser Welt geworden. Der tote Rabbi Jesus drehte sich im Grab um: er hatte sich gerächt. Wann gab es eine Religion, die in tausend Jahren mit so disparaten Anomalien sich äußern konnte? Der Islam ist zwölfhundert Jahre alt, und noch weht die grünseidne Fahne des Propheten wie damals, als er aus der Wüste zog. Man hatte Jesus zum Stifter einer Religion machen wollen. Jesus hatte sich gerächt. Die falsche Auslegung seiner Mission war gescheitert.

Luther versuchte noch einmal, das lecke Schiff einer imaginären Möglichkeit zusammenzufügen. Ein Bergmannssohn aus Thüringen stieg in das Bergwerk des Christentums hinab, durchhämmerte die oberen Flözschichten der Tradition und holte aus den tieferen Erzgängen hervor, was er für reines, silbernes und goldenes Christentum hielt. Es war eine kühne Neuerung, die sich aus dem Wittenberger Flachlande, aus der Gegend von Kroppstädt und Treuenbrietzen, die ganz so aussieht wie der gesunde Menschenverstand, entwickelte. Tausende sagten sich von dem römischen Heidentume los, das mit der Seelen Seligkeit einen Aktienhandel durch ganz Europa etabliert hatte. Die Wittenberger Reformation war ein großer Fortschritt der Menschheit, wenn es groß ist, wie Herr Tholuck getan haben soll, in Rom von den antiken Götterstatuen zu sagen: Es sind schöne Götzen! Darum handelte es sich: die Menschheit von einem religiösen Mechanismus zu befreien, zu gleicher Zeit aber auch auf dreihundert Jahre die Kunst, die Literatur, die Schönheit aller vergangenen Zeiten und die Schönheit der Ewigkeit zu derogieren. Das ist kein Unglück, wenn es von einem großen Glücke ersetzt worden wäre. Für das Christentum geschah in der Reformation alles, für die Wahrheit und den gesunden Menschenverstand und die Naturreligion aber nichts.

An zwei Begriffen siechte gleich anfangs die Reformation: an einem, den sie nicht abschaffte, an der Kirche; und an einem, den sie neu erfand, am Evangelium.

Biblisches Christentum! Was heißt das? Ein Christentum erfinden, das sich gründete auf falscher Exegese, schlechten kritischen Hülfsmitteln, auf Interpolationen und frommen Betrügereien, auf einer ungestörten und sorglosen Verbindung des Alten und Neuen Testamentes, endlich aber auf jener heillosen Verwechselung zwischen dem Kanon als einer Richtschnur des Christentums, statt daß der Kanon, wie wir zeigten, nur erste Erscheinung, die ganz prekäre und subjektiv überall beanstandete Erscheinung des Christentums war. Der Protestantismus bekam seine symbolischen Bücher, welche die Lehrer beschwören mußten, seine Katechismen, den großen und den kleinen, nach welchen die Unmündigen an einen Glauben geschmiedet wurden, dem sie schon als Säuglinge durch die Taufe willenlos sich hingeben mußten. Was muß ich glauben? Ich muß glauben, daß Gott die Welt erschaffen hat – als wenn ein Gott, der sich in so endlichen Werken, wie die Erde ist, ausspricht, ein Gott, der zugibt, daß etwas außer ihm ist, ohne er selbst zu sein, als wenn ein Gott, der Raum und Zeit erschaffen hat, um aus Laune irgendeinen kleinlichen Weltzweck zu erfüllen, um durch die Dauer zu tun, was ihm ja im Nu gelingen könnte, um unglückliche, von Zweifeln zerfleischte, halb tierische, halb menschliche Menschen auf einem gewissen Erdballe, in einem gewissen Deutschland, hier in dieser ganzen Misere herumkriechen zu lassen, als wenn ein solcher Gott jemals meinem philosophischen Bewußtsein entsprechen könnte! Aber was Philosophie? Wir reden nicht von Philosophie: ich vergaß, daß wir über einige Ammenmärchen und poetische Grillen sprechen. Ich muß glauben, daß Christus sei ein eingeborner Sohn Gottes, von einer Jungfrau geboren, niedergefahren zur Hölle und wieder auferstanden – Nein, auch dies ist nicht der Kern des Christentums. Was soll ich glauben? Daß Christus ist unser Mittler, daß er im Abendmahl persönlich assistiert als Fleisch und Blut im Brot und Weine, daß er uns rechtfertigt durch die Gnade, daß die Erbsünde, an die ich als Psycholog und Menschenkenner faktisch glaube, theologisch zu erklären sei, zum großen Teile aber eine Dogmatik, welche auf jedes einzelne Glied im Körper des Rabbi Jesus gegründet ist. Der Katholizismus war sinnlicher Götzendienst mit polytheistischer Färbung. Der Protestantismus wurde mystischer Götzendienst mit einer Beschränkung auf einen Gott, der aber drei Hypostasen hatte. Wittenberg und der Sand waren Schuld, daß diese Lehre immer flacher, äußerlicher und zänkischer sich ausbildete. Aus dem Evangelium, der Bibelmanie und den symbolischen Büchern setzte sich zuletzt das knöcherne Skelett der Orthodoxie zusammen, eine Gestalt, die statt des Herzens einen ledernen Beutel, statt des Gehirns eine Anhäufung schwammartiger Stoffe zu tragen hat.

Das zweite Unglück des Protestantismus war die Beibehaltung des Begriffes der Kirche und die unterlassene Ausgleichung desselben mit dem Begriffe: Gemeine. Hier trat früh ein Schwanken ein, das auf der einen Seite das Extrem der englischen Hochkirche und auf der andern das quäkerische Extrem der allgemeinen Priesterschaft erzeugte. Das Luthertum an und für sich selbst nahm früh eine servile Richtung. Es stritt für das göttliche Recht der Fürsten ebensosehr, wie es seine eignen Satzungen in ein legitimes, unantastbares Gewand zu kleiden suchte. Thomas Müntzer schalt mit Recht auf Luther, den Papst von Wittenberg. Das Territorialsystem war die Folge der Schmeichelei. Die Kirche blieb etwas Ganzes, der Glaube wurde nicht an die stille Kammer des Herzens als seinen Tempel verwiesen, sondern die Kirche repräsentierte wie ehemals. Die Geistlichen regieren untereinander. Sie scheinen eine Monarchie für sich zu bilden und ducken sich außerdem unter der politischen Souveränität, so daß es noch heutiges Tages nicht entschieden ist, wie weit sich die kirchliche Autorität als Landeshoheit erstreckt, wie weit man wagen darf, Agenden zu verfassen und sie mit militärischer Gewalt, wie in den Schlesischen Dragonaden geschehen ist, in Wirksamkeit zu setzen. Hier ist alles vag, hoffärtig, augendienerisch, despotisch und erfüllt das Herz des Biedermannes mit den schmerzlichsten Gefühlen.

Die deistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts konnte deshalb dem Christentum keinen merklichen Abbruch tun, weil sie bald zu frivol, bald zu witzig war. Der unsittliche Reformator macht nirgends Glück. Der Witz ist einer so großartigen Institution wie das Christentum gänzlich unangemessen. Die naive Einfachheit kindlicher und glaubensfreudiger Seelen pariert alle Nadelstiche Voltaires, eines Mannes, den man für einen Schneider halten möchte, so furchtsam und eitel war er. Das Christentum fordert andere Waffen heraus, überhaupt keine Waffen, die nur für den Krieg taugen, sondern solche, welche sich an einen Stiel stecken lassen, positiv und schaffend werden und die Erde zur neuen Saat auflockern. Das achtzehnte Jahrhundert, der mephistophelische Geist der abstrakten Verneinung hauchte mit dem ersten Seufzer aus, der auf der Revolutionsguillotine ausgestoßen wurde. Die Negation der Revolution war schon eine schöpferische.

Die Flügel meiner Seele schlagen freudiger, weil ich die Morgenröte (ach! die blutige Morgenröte) der neuen Schöpfung sich am Himmel malen sehe. Aber noch halte mich zurück, du stürmischer Genius des Jahrhunderts; noch einmal wurde in Deutschland der Versuch gemacht, zu einem trostreichen Resultate über die wunderbaren Begebenheiten in Palästina zu gelangen. Die Welt seufzt in ihrer Achse ob der stürmischen Bewegung. Wie glücklich wären wir alle, wenn wir in den Träumen unsrer Jugend uns ewig wiegen dürften und uns keine Unruhe der Seele von den Spielen der Unschuld verscheuchte!

Die Kantische Philosophie schien unsern Vätern nach langem Schlafe ein wunderbares Erwachen. Noch nie ist eine Entdeckung mit so reinem Enthusiasmus empfunden worden. Die Kantische Philosophie war Kritizismus: sie war ohne Geheimnisse; aber sie schien den Schlüssel der Geheimnisse zu besitzen. Früher wurde sie auf die Offenbarung und das Christentum angewandt: aber die Konsequenzen, welche sich hier durch sie ergaben, waren von der entgegengesetztesten Art. Der Rationalismus hielt sich an die Unmöglichkeit, das Ding an sich zu erkennen; der Supernaturalismus an die Vermutungen, welche hinter dem Dinge an sich liegen konnten. Das Ding an sich war ebensosehr negativ wie mystisch positiv: das weite Chaos der Zweifel lag in ihm ebensogut wie das Chaos der Gefühle. Diese beiden Prinzipien über Christentum machten fünfzehn Jahre in Deutschland die Tagesordnung aus. Es war ein Streit um den Anfang eines Zirkels. Der Rationalismus, der von Gott behauptete, daß man vieles von seinem Wesen wisse, manches aber noch unerörtert zu lassen habe, begann mit dem Bestimmten und hörte mit dem Unbestimmten auf. Der Supernaturalismus, der aus seinen Ahnungen ein System, aus seinen Ungewißheiten eine Dogmatik schuf, fing mit dem Unbestimmten an und hörte mit dem Gegenteile auf. So war der Streit ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat aus dem Zirkel heraus. Sie walzten ihre Debatten herum und erschöpften sich in Konzessionen praktischer und theoretischer Art. Mischgattungen drängten sich zwischen die Extreme: Damenprediger, welche das Christentum mit Gemälden verglichen, wo die Konturen dem Rationalismus, die Farben dem Supernaturalismus angehören müßten: Professoren der Theologie, die das Urchristentum wollten; Generalsuperintendenten, welche die Perfektibilität des Christentums lehrten. Andre, wie Schleiermacher, adoptierten die Dogmatik, wenn ihre Lehrsätze sich gemütlich als Seelenzustände betätigten. Mit einem Worte, sie mochten so freidenkerisch verfahren wie immer; so riß doch niemand den Vorhang der Lüge weg. Auf der Kanzel gaben sie niemals jenen Glauben preis, den sie auf dem Katheder anatomisch zergliederten. Überall trifft man auf Diakone und Konsistorialräte dieser Art, welche sich wie jesuitische Aale theoretisch winden und hin- und hersträuben, praktisch aber sich immer wieder in ihren homiletischen Schleim verstecken.


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