Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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12

Ein Begegnis, das Wally kurze Zeit darauf erlebte, machte den ersten Abschnitt in ihrem Leben. Es schien, als könnte sie in ihrem jetzigen Aufenthalte die Heiterkeit nicht wiedergewinnen, welche ihrem Charakter entsprach. Ein Umstand aber veranlaßte bald die Abreise von Schwalbach.

Wally war eines Abends spät und unmutig zu Bett gegangen. Die Lampe brannte noch auf ihrem Tische; aber sie konnte nicht schlafen. Ihr Blut war in fieberhafter Aufregung. Sie warf sich unruhig hin und her, aber ihre Sinne wollten sich nicht lösen.

Da sprang sie auf, setzte sich an den Tisch und fing all die Mittel zu prüfen an, welche die Leute anraten, um in gleichmäßige Bewegung des Bluts zu kommen. Sie zählte die zwölf Glockenschläge an der Kirchturmuhr, sie zählte das Einmaleins her, von vorn und hinten, deklamierte das einzige Gedicht, welches sie bei ihrem schlechten Gedächtnis auswendig wußte: »Eine kleine Biene flog emsig hin und her und sog.« Nichts half. Da erblickte sie auf dem Tisch die Anordnungen, welche sie neulich gemacht hatte, um an ihre Freundin zu schreiben. Sie ergriff die Feder und schrieb:

»Meine teure Antonie, Deine geschmackvollen Muster, das sehr hübsche Diadem, was aber wohl zu meinem Haare nicht stehen wird, auch die englischen Nadeln und die neuen Touren zum Cotillon hab' ich erhalten. Ich danke Dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur –«

»Abscheulich!« rief sie aus und trat an das Fenster. Der Mond beleuchtete hier und dort einen Teil des engen Tales und seiner Umgebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die aber nicht eilten, sondern schwer auf ihm hafteten. Es wehte kein Wind. In sanfter, nächtlicher Stille ruhte die malerische Natur. Ein tannenschwarzer Bergrücken begrenzte auf der einen Seite die ovale Rundung des schlummernden Tales. Nirgends die Ahnung eines menschlichen Wesens.

Wally hüllte sich in einen leichten Nachtüberwurf. Ihr Zimmer lag zur ebnen Erde. Mit einem Tritte war sie draußen im Freien. Ohne mehr zu wollen, als die Hitze ihres Blutes abkühlen, stieg sie zur linken Hand die Straße hinauf, dann wieder hinunter zum Alleesaal hin. Sie wird nur einige Schritte unter den Bäumen auf und ab gehen.

Als sie ein weniges weitergekommen war, vernahm sie ein sonderbares Geräusch, welches man für das Seufzen einer schwankenden Pappel hätte halten können, wäre ein starker Wind gegangen. Sie erschrak, wie diese Laute sich immer deutlicher als Gestöhn und schmerzliche Klage zu erkennen gaben. Es war wie das Jammern eines Verwundeten, der sich fürchtet, durch übergroßen Schmerzausdruck des Mundes vielleicht die brennenden Leiden seines Schadens desto stärker zu machen.

Wally blieb betroffen stehen. Ihr siedendes Blut gerann, und die Fieberhitze wich einer kalten Erstarrung, in die der Schreck ihre Glieder versetzte.

Sie sahe, daß sich im Hintergrunde der Allee etwas bewegte, das auf sie heranzukommen schien. Die Angst hatte sich ihrer Seele so sehr bemächtigt, daß sie nicht einmal wagte zu entfliehen. Wie angewurzelt blieb sie stehen und wankte nur, als eine menschliche Figur immer näher trat, mechanisch hinter einen Baum, von dem sie glaubte, daß er ihr Schutz gewähren könne.

Ein Weib kam mit händeringenden Gebärden. Sie wandte sich oft gespenstisch um und suchte etwas, was man nicht sehen konnte, von sich abzuwehren. Dann fuhr sie mit einer grauenerregenden Vehemenz und sie begleitendem Geheul in die Gegend ihres Kopfes, als wolle sie etwas bedecken oder irgendeinen übergroßen Schmerz stillen. Wally zitterte.

Jetzt stand die Unglückliche, welche nicht im Fieber zu sein, sondern das volle Bewußtsein zu haben schien, dicht vor ihr. Wally sahe, wie sie schwankte und zu Boden stürzte. Mit einem fürchterlichen Geschrei wühlte das entsetzliche Weib ihren Kopf in den losen Sand und rang, ihre Hände gleichsam zu vervielfältigen, um den Kopf von allen Seiten bedecken zu können. Dabei stöhnte sie wieder und sahe sich, wie tief sie auch den Kopf in den Sand hineingewühlt hatte, um und fuhr mit einem gräßlichen Schrei auf, als hätte sie einen Geist erblickt, bis sie ohnmächtig und besinnungslos in dieser gräßlichen Lage verstummte.

Wally wagte nicht, einen Laut von sich zu geben. Als das Wesen sich beruhigte, versuchte sie aufzutreten, ob man sie auch nicht hören könne, wagte dreistre Schritte und floh, als sie eine Strecke weit von der Szene entfernt war, der sie hatte beiwohnen müssen. Sie fror an allen Gliedern, als sie auf ihrem Lager sich gebettet hatte, und schlief ein aus Furcht.

Am folgenden Morgen betrieb sie die Abreise. Die Tante zögerte. »Unter keiner Bedingung!« rief Wally; »ich bin eines Ortes müde, der mich umbringen muß.« Das war ein fürchterlicher Ausdruck; die Tante war diese Wendungen nicht gewohnt. Sie entsetzte sich und reiste ab.

Als Cäsar sie beide an den Wagen begleitete, erzählte er ihnen noch, daß die Frau des Trompeters an der gespenstischen Trommelmusik ihres Ohres diese Nacht gestorben sei. Sie sei vor Unruhe aus dem Hause gerannt, habe nachts die ganze Stadt durchirrt, um den grauenhaften Tönen zu entfliehen, und sei in der Allee gefunden worden, wie sie mit dem Kopf in den Sand gewühlt dagelegen.

Wally winkte mit der Hand, daß er schweigen solle.

Cäsar aber glaubte, daß sie ihn zum Abschied grüße; die Pferde zogen an, und, den Spruch des großen Römers parodierend, sagte er zu dem Fahrzeuge: »Du trägst Cäsar und sein Glück!«


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