Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

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10

Die Übereinkunft der Liebe zwischen Wally und Cäsar mußte ihren Verhältnissen ein neues Kolorit geben. Wir fürchten, daß die Farben allmählich erbleichen werden. Aber noch sind sie hell und frisch; noch liegt auf Wallys Antlitz der melancholische Schatten jener entzückenden Verirrung, in Cäsars Mienen die Resignation und Selbstzufriedenheit, welche selbst blasierte Charaktere und verwitternde Natürlichkeiten ergreifen kann, wenn der immer durstige Becher ihrer Wünsche einmal voll ist bis an den Rand der Erfüllung. Das Wiederfinden eines Jugendfreundes unterstützte Cäsars reflektierende Persönlichkeit, sich in einer Welt zu halten, in welcher er sich seit einiger Zeit gefiel.

Waldemar hieß der neue Ankömmling, ein Mann, der einst blühend und schön war, in der Residenz zu Wallys Anbetern gehörte, dann heiratete und trotz der glänzendsten Verhältnisse zu keiner Freude kam, da seine Gattin an unheilbaren Übeln siechte. Die Stimmung dieses Mannes teilte sich seinen Umgebungen mit, erst auch Cäsar, verlor sich aber an diesem in dem Augenblick, als sie für ihn durch folgende gemischte Anekdote einen Grund bekam.

Seit Waldemars Ankunft im Bade hatte sich nämlich das stille Bärbel von den beiden Indien zurückgezogen. Ihr Betragen gegen ihn ließ keinen Zweifel, daß dieser Mann die Ursache ihrer Geistesverwirrung gewesen war. Sie verfolgte Waldemar, wo er sich nur blicken ließ, und weinte oft auf dem Wege, wenn er in zahlreicher Gesellschaft vorüberging. Jedermann kannte den Zusammenhang dieser tragischen Komödie, doch wollten nicht alle glauben, was Waldemar versicherte, daß er sich dieses Mädchens durchaus nicht entsinne, nie mit ihr ein Wort gewechselt und auch im vorigen Jahre zum ersten Male Schwalbach besucht habe. Cäsar aber glaubte diesen Versicherungen; denn Waldemar war eine treue Seele, die niemanden betrüben konnte, noch weniger aber wäre eine Unwahrheit über seine Zunge gekommen. Er nahm den Wahnsinn Bärbels von der lächerlichen Seite und suchte Waldemar zu trösten. Ja, diesem melancholischen Manne fehlte nur noch eine neue Ursache seiner Schwermut!

Wally befand sich in einer Stimmung, die ihr den Verkehr mit beiden Männern, der immer gewisse Grenzen und Nuancen hatte, recht zum Genuß machte. Einst wollte sie in einem Garten zu ihnen unbemerkt herantreten, während beide Freunde unter einem Boskett von verwelkenden Rosen sich unterhielten; da sie aber hörte, daß ihr Gespräch religiöse Saiten aufgezogen hatte, so fürchtete sie, etwas zu verstimmen, und blieb unwillkürlich in einer Weite stehen, daß ihr von dem Gesprochenen nichts entging und sie dabei doch ungesehen blieb. Sie fühlte das Mißliche dieser Situation in einem Augenblicke nicht, wo alle ihre Seelenfäden Gespinste zu schießen begannen, in die sie sich immer tiefer verstrickte, wo es einer Untersuchung über die Religion galt.

»Hätt' ich einen größeren Wirkungskreis«, sagte Waldemar, »vielleicht gelänge es mir dann, den Unmut meiner Seele zu zerstreuen, wie auf jenen Bergen, auf welchen viel Waldleben herrscht, Tannen rauschen und die Natur in einer steten Bewegung ist, die Nebel sich leichter zerstreuen. Ich bin ein kahler Hügel, jedem Windzuge offen und von jeder Wolke gleich bis tief unter die Augen bedeckt. Nach ideellen Schutzwehren such' ich ebenso vergebens. Die Politik ist nur imstande, meine Schwermut zu vermehren, und die Religion hat man mir durch meine Erziehung verleidet.«

»Wer wird auch«, entgegnete Cäsar, »bei üblen Stimmungen Hülfe von der Religion erwarten! Religion ist das Produkt der Verzweiflung: wie kann sie die Verzweiflung heilen?«

»Sie sollte es wohl; jede Religion soll es, welche die Miene der Offenbarung annimmt«, sagte Waldemar. »Echte Religion ist positive Heilkraft; aber gleicht das Christentum nicht einer Latwerge, die aus hundert Ingredienzien zusammengekocht ist? Meine Vernunft sagt mir, auch ohne Hahnemanns ›Organon‹, daß die Krankheiten immer einfache und nur die Symptome zusammengesetzt sind, daß die Natur für jede ihrer Abnormitäten eine medizinische Rektifikation im simpeln Zustande hat und daß in einer Mixtur von Heilkräften eine Kraft die andere aufhebt. Die unerhörte Überladenheit des Christentums aus traditionellen, historischen und biblischen Ursachen macht aber, daß es für den Schmerz der Seele ganz ohne Wirkung ist. Eines seiner Dogmen stört das andre.«

Ein Krampf schnürte Wallys Brust zusammen. Sie wankte ohnmächtig fort, bis jener Referendar, der über das Unzeitgemäße der politischen Garantien geschrieben hatte, ihren Arm ergriff und sie zu Waldemar und Cäsar führte, von denen er den ersten gesucht hatte.

»Waldemar!« rief er: »was Sie glücklich sind! Ein Ehegatte, und noch bringen sich Ihretwegen die Frauen um.«

»Was wollen Sie damit?« fragte Waldemar.

»Sie müssen nicht erschrecken«, sagte jener; »aber Ihr verlassenes Bärbel ist tot. Sie ging gestern den ganzen Tag um Schwalbach herum, sich ein Grab zu suchen, blieb dann noch lange bei den beiden Indien, wankte darauf mechanisch fort bis an das Schloß Nassau, wo sie sich von der eisernen Hängebrücke hinabgestürzt hat. An der linken Seite von hier, da, wo der Brunnen auf der Brücke steht, soll sie noch mehre Stunden gesessen haben, wie die Leute versichern, die sie dort sahen. Die Gerichte von dort schicken diesen Ring mit, der an dem Finger des Mädchens sich befand. Ich hab' ihn hier.«

Waldemar erblaßte. »Mein Gott!« schrie er. »Dieser Ring –«

Cäsar sprühte auf: »Wie?« rief er; »Waldemar, du hättest dennoch –«

»Ja«, bemerkte der dritte: »ich kenn' ihn. Sie trugen diesen Ring vor mehren Jahren, Waldemar.«

Wally trat hinzu und nahm den Ring. Sie betrachtete ihn und gab mit unpassender Heiterkeit die Erklärung: »Waldemar, Sie gaben mir vor drei Sommern diesen Ring. Ist eine Verheiratung dem Gedächtnisse so schädlich?«

»Aber wie kam die Unglückliche zu dem Ringe, den alle Welt als ein Pfand meiner treulosen Versicherungen auslegen wird?« fragte Waldemar mit bleichen Lippen, die doch wieder sprechen konnten, nachdem er sich auf die Huldigungen besann, die er einst Wally gebracht hatte.

»Ich hatte die Gewohnheit«, sagte Wally, »die Ringe meiner Verehrer jährlich im Bade zurückzulassen, indem ich sie in die Becher, die am Sprudel stehen, warf und diese dann armen Leuten oder Kindern zu trinken gab. So ist die Närrin wohl zu dem Geschenke gekommen.«

»Gut erfunden!« flüsterte der Referendär, dem im Augenblick auch sein Ehrenhandel mit Cäsar einfiel. Wally blickte etwas stolz: man kann durchaus nicht sagen, warum, und reichte dem Menschen ihren Arm.

Waldemar saß in tiefes Nachsinnen versunken. Wie wunderbar war der Zusammenhang dieses unglücklichen Ereignisses! Man konnte versucht werden, an eine magnetische Einwirkung zu glauben. Wer erklärte ihm, wie ein Ring eine Neigung veranlassen konnte zu einem Manne, den man nie gesehen! Wie kam es, daß die Arme, gleich als sie ihn zum ersten Male sahe, ihn als den Eigentümer des Ringes erkannte, den sie liebte und mit einer wirklichen Person verwechselte! Er ging tief bekümmert in seine Wohnung und überredete seine kranke Gattin, mit ihm sogleich den Schauplatz so unheimlicher Begebenheiten zu verlassen.

Was aber empfand Cäsar bei dem Ereignisse? Nicht das Ereignis selbst, nicht den Schmerz seines Freundes, sondern nur eines, was ihn schon oft bei Vergleichung des Todes mit dem Leben interessiert hatte. Das arme Bärbel war vor ihrem Ende unruhig in dem Flecken herumgewankt und hatte den Tod gesucht, der ihr notwendig schien. Sie war bis nach der eisernen Brücke gelaufen, um den Tröster ihrer Leiden zu finden. Ist es beim Selbstmorde eine unsichtbare Hand, die die Kehle zuschnürt? Geht man wahnsinnig, ohne Bewußtsein in den Tod, wie die Mücke in das brennende Licht stürzt? Oder ist man bei etwa vorhandener Kraft, sich noch als nachdenkend zu fühlen, schon so mit dem Tode verschwistert, daß jener weitere Akt des Selbstmordes nur die Publikation eines Befehles wird, der schon abgemacht und im stillen ausgeführt ist? Darüber sann Cäsar nach und konnte sich vor Schmerz nicht fassen, als er bei dem Verfolgen von Bärbels Benehmen nur darauf zurückkam, daß die Furcht vor dem Tode doch immer das Ursprüngliche und bis zum schwindenden Bewußtsein das Letzte sei. Die Unzulänglichkeiten der Erhabenheit, sagte er, die Furcht vor dem Tode, der Schmerz, nicht wie Brutus, der alte und der junge, töten, nicht wie Cato sterben zu können, die Bitte des Prinzen von Homburg, ihn leben zu lassen: das ist das Tragische unsrer Zeit und ein Gefühl, welches die Anschauungen unsrer Welt von dem Zeitalter der Schicksalsidee so schmerzlich verschieden macht. Sie wollte sterben und lief einen ganzen Tag, einen Weg von sechs Stunden, um den Tod zu finden, den sie herzlich suchte und den sie fürchtete!

So war Cäsar.


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