Karl Gutzkow
Wally, die Zweiflerin
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Cäsar sagte mir oft, als Kind hab' er sich fortwährend damit geängstigt, daß er keines natürlichen Todes sterben würde. Die Katastrophe des jungen Sand hätte zu seiner Zeit alle jungen Köpfe auf den Gedanken gebracht, daß sie ihnen auch einst abgeschlagen würden. Keiner, sagte er, glaubte so würdig zu sein wie Sand, und keiner glaubte deshalb auch, auf einen milderen Tod rechnen zu dürfen als Sand. Er gestand mir mit eisigem Grauen, daß er oft stundenlang heimlich mit entblößtem Halse gesessen und sich in die Illusion des Schafotts hineingedacht habe, daß ihm die Tränen geflossen seien aus Verzweiflung, so sterben zu müssen. Es war immer ein wehmütiges, liebes Lächeln, das bei solchen Geständnissen auf seinen Lippen lag. O Gott! ich vergess' ihn nicht. Für alles brauch' ich ihn. Er soll mir zu allem Beweise geben!

 

Ich lese das Buch »Rahel«, aber nur in Bruchstücken. Viel davon auf einmal verwirrt den Kopf; nicht deshalb, weil das Buch absolut schwer wäre, sondern relativ schwer ist es in Beziehung auf Rahel, die sich das Denken so schwer machte. Ich glaube, daß diese Frau unter Denken verstanden hat, die Dinge immer von der verkehrten Seite anfassen oder doch von der entgegengesetzten gegenüber dem gewöhnlichen Wege. Sie gräbt sich wie ein Maulwurf in die Ideen ein und bezeichnet dann und wann ihre Resultate durch kleine aufgeworfene Hügel, die nichts sagen, nämlich nichts Positives, die nur Wahrzeichen sind, daß hier etwas war, was wie ein Gedanke war und was so leicht wieder vergessen ist! Wie reich ist diese Frau an Philosophie und objektiver Vergeßlichkeit! Man hat so wenig in ihrem Buche, und doch glaubt man, wenn man es zuschlägt, alles zu haben. Darin seh' ich recht, wie nur die Männer imstande sind, zu produzieren, auch Gedanken.

 

Bettina! – Spielerei – alte Gedanken; nur klassische, neue Formen. So sprechen, gehen, laufen, essen, trinken, schlafen, handeln – wie es einem gerad' einfällt? Ich konnt' es einmal; jetzt nicht mehr. Bettina hatte so lange freien Willen, sich ein Gesetz zu schaffen; und nun so alt und noch immer kein Gesetz! Ihr Buch ist ungereimte Poesie. Ein freies Weib ist nur erträglich mit Spekulation.

 

Wieder wie Jakob einen Zug aus dem Rahelbrunnen getan. Aber es ist immer nur Lea, die man erhält, niemals Rahel. Rahel sitzt hinter den zweimal sieben Jahren und flicht ihren Freiern Körbe. Man glaubt eine Priesterin mit Weissagung in ihr zu finden und wird doch von ihr nur angeregt oder vielmehr nur herausgerissen aus dem alten Kreise seiner Vorstellungen. Es ist furchterregend, eine Frau die Gegenstände so dämonisch-linkisch anfassen zu sehen. Will sie es nur anders machen als die andern? Oder wurde ihr diese Originalität angeboren? Sie gibt nirgends nach, sie ist rastlos in ihren Bestrebungen, die verschiedenen Seiten der Wahrheit zu entdecken, und konnte nicht anders enden als entweder in einem Wahnsinn, der sich mit der Bewegung im Tretrade vergleichen läßt, oder als Anhängerin des Pietismus. Man ist in keiner Situation übertäubter als beim Untertauchen. Pietismus aber ist die Fähigkeit, leben zu können, selbst wenn man Wasser im Ohre hat.

 

Dieser ruhige, verständige Ton, in welchem ich mich oft tagelang erhalten kann, wird mir oft so unheimlich, daß ich vor mir selbst erschrecke. Sollte es Menschen geben können, die wie Vernünftige sprechen und doch wahnsinnig sind? Cäsar erzählte mir einst eine Geschichte, die er wahrscheinlich wie vieles dergleichen nur seiner Einbildungskraft verdankt. Sie paßt auf meinen Zustand. Kann ich sie noch?

Es war um die zwölfte Stunde, als Alfred von seinem Lager auffuhr und über das matte Flackern der Lampe erschrak, die er zu löschen vergessen hatte. Eine Zeitlang saß er mit halbaufgerichtetem Körper – -

Wörtlich seine Worte wiederzugeben ist schwer. Ich suche in meinen Papieren, vielleicht find' ich die Geschichte, die er mir einst, von seiner eigenen Hand geschrieben, schenkte.

 

Hier ist sie:

Es war um die zwölfte Stunde, als Alfred von seinem Lager auffuhr. Noch flackerte die Lampe, welche er zu löschen vergessen hatte, und zog, wie sie größer oder schwächer wurde, wolkige Kreise an den Wänden seines Zimmers. Eine Zeitlang saß er mit halbaufgerichtetem Körper im Bette und verfolgte dies gespenstische Spiel an den stummen Wänden. Er suchte nach einem Gegenstand für dies Bild: er mußte an die Welt denken, welche draußen schlummerte, und dachte zuerst an Julien.

»Meine Julie!« sprach er still vor sich hin und erhob sich dann etwas feierlich und mechanisch von seinem Bette. Er hörte die Uhr picken, die auf dem Tische vor dem Spiegel stand. Er sahe sich selbst im Spiegel mit bleichen, geisterhaften Zügen und mit Augen, welche wie geschlossen schienen. Dann saß er auf dem Sessel vorm Bett und hatte sich, ohne es zu wollen, angekleidet.

»Ich werde vor Juliens Fenster gehen und den Vorhang wegheben!« flüsterte er vor sich hin, aber nur wie zum Scherz, denn Julie wohnte im dritten Stock. Doch ging er.

Die Straßen waren still und öde. Man sieht auf ihnen niemand, auch Alfreden nicht. Wo geht er nur? Aber es ist dunkel, der Mond liegt hinter Wolken, man kann Alfred nicht sehen.

Alfred stand vor dem Hause Juliens, ja, er hätte schwören mögen, daß er vor ihrem Fenster stand, das im dritten Stocke lag.

»Es ist nicht möglich«, flüsterten seine Gedanken; »sie wohnt im dritten Stock; obschon ein kleines Vordach vor dem Fenster liegt, das Moos und Hauslauf anzusetzen pflegt. Die arme Julie! Ich werde fleißiger sein, sie muß künftig im zweiten Stock wohnen!«

Jetzt war es Alfred, als drückte er an dem Fenster; aber es widerstand. Es war ihm, als klopfte er; aber hinter dem weißen Rouleau brach sich der Schall. Er mußte lächeln über seine lebhafte Einbildungskraft.

»Wie!« dachte er, »wenn du ins Haus trittst, die zwei Stiegen hinaufschleichst und an ihre Kammertür pochtest.«

Aber dann mußte er durch des Nachbars Haus, das ihm offenzustehen schien, mußte über den Garten- und Hofzaun klettern und von dort einzudringen suchen.

Und das alles gelang vortrefflich. Er stand jetzt gleichsam höher als Juliens Wohnung war, was er sich nicht erklären konnte. Da blendete ihn ein Lichtstrahl; ein schnurrender Laut ließ sich hören. Julie hatte das Rouleau aufgezogen, sie stand im Nachthäubchen und mit bloßen Schultern am Fenster, das sie öffnete.

Alfred war nun dicht vor ihr. »Was ist ihr nur?« dachte er; »sie erschrickt, sie öffnet den Mund, als wollte sie um Hülfe rufen; was zitterst du, mich zu erkennen, Julie?«

»Alfred!« schrie es durch die stille Nachtluft. Alfred aber lag unten mit zerschmettertem Körper auf dem Pflaster der Straße. Alfred war ein Nachtwandler. Julie glaubte nichts gesehen zu haben, als Alfred tot war. Sie legte sich wieder in ihr weißes, weiches Bett und träumte von ihm. Am Morgen erfuhr sie alles. Sie lebt noch, aber kümmerlich; die Tränen zehren sie auf.

 

Cäsar hat noch immer nicht geschrieben; doch wird sein Brief desto ausführlicher sein. Einstweilen hab' ich etwas Beruhigung erhalten durch eine Maxime, die empfehlenswert ist. Das luftige Traumbild des Somnambulismus hat mich gestern darauf gebracht. Nämlich, man nehme einen recht hohen Standpunkt, einen kosmischen oder planetarischen, wie ich ihn nennen möchte. Man tue und lasse nichts, ohne sich im Zusammenhang der Weltordnung zu fühlen. Ich denke, wo ich gehe und stehe, an die Beziehungen der übrigen Himmelskörper zur Erde und abstrahiere von allem, was über diesem kleinen Erdball geschieht, auf das Universum, das niemand leugnen kann. Und nicht bloß im allgemeinen, sondern ganz im Detail, wie man ißt und schläft. Bei jedem Spaziergange richt' ich den Blick gen Himmel und forsche in dem blauen Meere nach den versunkenen Sternen, die die Nacht erst sichtbar macht. Ich fühle, wie die Erde unter meinen Füßen kreist und ich gleichsam nur auf ihr stationiert bin, sonst aber dem Allgemeinen angehöre. Wie vielen Stolz das gibt! Ich habe jetzt einen Begriff von der Ruhe des Weisen. Ihn kann nichts erschüttern, denn er hört die Planeten rauschen und fühlt sich als Glied einer großen Wesenkette. Oh, vielleicht ist noch Hülfe für mich! Ich fange an, mir die Möglichkeit einer zufriedenen Stimmung zu denken.

 

Jetzt weiß ich, wie in Indien die Bonzen ihre Büßungen möglich machen. Die Abstraktion hebt ihren Stolz; aber sie würden es nicht aushalten können, wenn nicht die Erde für sie gleichsam verschwände und sie nichts übrigbehielten als den gestirnten Himmel und das Gefühl der großen Wesenkette. Ich müßte in die Einsamkeit ziehen. Wenn mich nur eines nicht verfolgte! Nämlich die Natur und das Grün. Das Siderische und Tellurische im Menschen bekämpfen sich, und wer poetische Stimmungen hat, wird immer der Erde unterliegen. Das Meer, Gebirge und Ströme wirken noch immer siderisch auf uns; denn sie sind das Rückgrat und die großen Zellgewebe der Erde und veranschaulichen die Kugel. Aber das Peinigende ist die stille Nachbarschaft der Blume, die Bescheidenheit der Idylle, die kleine Existenz mit ihren Kornährenkränzen und Abendglocken und alles, was so nahe zu unserm Herzen spricht, die Offenbarung Gottes, die wir flüstern zu hören glauben, diese große Tatsache, die entweder Täuschung oder Wahrheit und in beiden Fällen unenthüllbar ist. Das Irdische faßt uns wie im Strudel und reißt uns hinunter in den bodenlosen Abgrund, von wo keine Wiederkunft.

 

Ich las nun alles, was ich schrieb, und zittre, daß ich kaum geschrieben habe, was ich wollte. Eines ist auch ganz unmöglich, geschrieben zu werden: die Verzweiflung und das Gräßliche. Nämlich jene grausamen, blutsaugenden Träume, die mich wachendes Auges überfallen und mich hinausstoßen in eine hohnlachende, von gräßlichen, unnennbaren Dingen drapierte Welt. Wie combinier' ich! Was für Dinge kommen mir vor die Augen! Ich zittre, während mein Puls ganz richtig und medizinisch schlägt. Muß ich sterben, was verbrach ich, daß mir Raben erscheinen müssen? Ich sehe eine schwarze Halle und einen weiten Sarg. Ein Rumpf fällt von der Decke, wo eine Öffnung, hinunter in den Sarg, und den nachstürzenden Kopf greift unser Arzt auf. Oben muß das Schafott sein. Der Mann drückt das blutige Haupt stürmisch auf den rauchenden Körper, paßt Fuge auf Fuge, Ader auf Ader und legt einen Silberreifen um die gierig zusammenklaffenden Fleischränder beider Teile. Er dreht sich um, und Leben, galvanisches Leben regt sich in dem Körper, und der Leichnam erhebt sich, ein blasser, schöner Jüngling, und schleicht zur Pforte hinaus. Dort, dort – eine grüne Flur – ein Mädchen, das Rosen bricht und im Schatten der Allee ausruht. Ein bleiches, gespenstisches Bild schleicht zu ihr heran, spricht nicht, sondern lächelt. Sie umarmt ihn, sie scherzt, sie lacht; er hat auf sich warten lassen, er sei untreu, er gehe zu Doris, er gehe zu Galathee, du Lieber! Und sie küßt seinen blassen Mund. – »Oh«, röchelt er, »drücke nicht!« Doch sie hört nicht, sie drückt, der Reifen springt – Herr Jesus, was geht mit mir vor! –

 

Hier brach Wallys Tagebuch auf längre Zeit ab. Sie bekam inzwischen das ihr von Cäsar versprochene Glaubensbekenntnis. Es war in das Tagebuch eingeheftet und lautete folgendermaßen.


 << zurück weiter >>