August Wilhelm Grube
Geographische Charakterbilder. Erster Teil. Arktis – Europa
August Wilhelm Grube

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III. Bilder aus Osteuropa.

A. Nördliches Osteuropa.

1. Die Zarenstadt Petersburg. – 2. Petersburg im Winter. – 3. Die Newa. – 4. Im Petersburger Kaufhofe. – 5. Im Schlitten durch die Tundren nach Archangel.

 

1. Die Zarenstadt Petersburg.

Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung 1898, Nr. 4, und J. K. Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen. Von dem ostpreußischen Städtchen Eydtkuhnen aus fährt der Zug über die Grenze in ein anderes Lebensgebiet ein: nach Halbasien. Wirballen ist die Zollstation jenseit der schwarzweißen Pfähle.

Dies Stück Litauens, das wir durchfahren, hat über ein Jahrzehnt zu Preußen gehört nach der dritten polnischen Teilung. Nun hat es eine gewisse, aber noch ungefestigte Selbständigkeit erhalten.

Die Landschaft zeigt altlitauisches Gepräge: kleine weitentlegene Dörfer mit weitläufigen Gehöften, Stangenzäune und Brettergitter; Strohdächer, Obstgärten; die Haustüren sehen nach dem wärmeren Süden, von einer Laube umschirmt; wenig Kirchen. Ein jedes Gehöft hat zwei Teile, den Haushof und den Scheunenhof. Sie sind durch eine Hecke geschieden. Die Mitte des Haushofes bildet der Obstgarten, den Rand besetzen die Häuser: das dreiteilige Wohnhaus mit Stube, Flur und Kammer, die Klete, der Wirtschafts- und Schlafraum, der Stall. Den Scheunenhof rahmen die Scheunen mit der Dörrstube oder Pirtis, Wagen- und Futterschuppen, das Räucherhaus mit dem Kleinviehstall, das Flachstrockengestell und das Badehaus ein. Vor dem Gehöfte liegen Fichten-, Kiefern-, Ahorn- oder Birkenhaine. Der Njemen ist der Rhein der Litauer; hier liegen ihre altheiligen Berge und zerbrochenen Burgen.

In Kowno herrscht auf dem Bahnhofe buntes Leben; Wagen und Troiken, Diener und Träger, nicht zum wenigsten feilschende Juden drängen sich durcheinander. Die Gasthöfe sind sämtlich in jüdischen Händen; denn der Jude versteht alle Sprachen – über die Hälfte der Einwohnerschaft sind jüdischen Stammes. Im Gegensatze zum platten Lande sind hier die Kirchtürme zahlreich. Schulen und Fabriken, auch große Kaufhallen sind vorhanden. Der Markt wird vom Popen, vom Bauer mit der Pelzmütze, der Bäuerin im buntgetupften Kopftuch, der feinen Städterin besucht; er bietet vielerlei: harten Quark in Säcken, Hühner mit zusammengebundenen Beinen, Butter, Brot, Eier, Zierweihwedel, hefigen Honigmet. Das Leben und Treiben der Menschen macht nicht den vernunftbeherrschten Eindruck einer westeuropäischen Stadt. Weiterhin geht's nach Wilna, wo ebenfalls über die Hälfte der Einwohner Juden, die übrigen vorwiegend katholische Polen, der Rest orthodoxe Russen, lutherische oder reformierte Balten und Deutsche sind. Juden und Polen geben der altlitauischen Königsstadt das heutige Gepräge. Neben schönen großstädtischen Läden- und Palaststraßen, neben den Villen an den Ufern der schiffbaren Wilja gibt es echt morgenländisch enge und schmutzige Viertel, und die Bettler fallen überall auf. An der Stelle eines altlitauischen Perkunheiligtums erhebt sich über die Häuser der hügeligen Stadt die stattliche Stanislaus-Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert; die besuchteste Kirche ist aber die Ostra-Bramakirche mit ihrem wundertätigen Marienbilde, vor dem auf offener Straße stets eine Menge von Gläubigen betet, vor dem jeder Vorübergehende die Kopfbedeckung lüftet.

Nun geht die Fahrt nordwärts nach Dünaburg; die regelmäßig gebaute Stadt wird breit von dem schiffbaren Dünastrome durchflossen. Unter der Bevölkerung tritt der deutsche Anteil hervor. Handel mit Flachs und Getreide belebt die Stadt. Durch ungeheure Wälder und Moore, unwirtlich und öde, von Baumleichen durchschlagen, mit vereinzelten Holzmacherhütten auf Lichtungen, keucht die Lokomotive St. Petersburg zu, hie und da an einem Heutrockengestänge oder ein paar Bienenstöcken vorübereilend.

Wenn unsere im frühen Mittelalter entstandenen Städte mit ihren engen Straßen und winkeligen Häusern von den seltsamsten Formen, mit ihrem von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeerbten Bauplane oft verwachsenen Steinmassen und ausgehöhlten Felsennestern gleichen, in denen planloser Zufall die Wohnungen aufeinander setzte oder Furcht und Not die Mauern ballte, die Gebäude zu Türmen auftrieb und die Menschen wie in Bienenzellen häufte, so wurde in Petersburg, dem Kinde einer jüngeren Zeit, alles bequem und verständig angelegt, die Straßen weit, die Plätze regelmäßig, die Gehöfte groß, die Häuser geräumig. Bei uns berechnet und mißt man die Bauplätze mit dem Zollstabe; die 80 ⎕Werst,1 ⎕Werst = 1,138 qkm., welche Peter der Große 1703 für die Stadt bestimmte, erlaubten freigebiger zu verfahren, und wenn in Wien und Dresden selbst die Königspaläste so sehr mit den übrigen Gebäudemassen verschmelzen, daß sie kaum als selbständige Ganze zu erkennen sind, so nimmt in Petersburg jedes Haus mit seinen Höfen ein Stück Boden ein, das hinreichend groß ist, um sich bequem ausbreiten zu können, und jeder Baum im großen Häuserwalde tritt selbständig hervor.

Aber eben deshalb, weil das Einzelne sich breit macht, verliert das Ganze an Einheit, ist Petersburg nichts weniger als eine malerische Stadt. Alles ist so luftig und licht, es fehlt in den Straßen so sehr an kräftigem Schatten, an hell durchbrechenden Strahlen, an der Mannigfaltigkeit des Lichts, es ist alles so bequem, so verständig, so neu, ja so schön, daß es schwer hält, auch nur ein Stimmungsbild zu gewinnen, wie man sie in unseren an Gegensätzen, Erinnerungen und buntem Leben so reichen Städten unschwer findet. Dazu kommt, daß der Boden der Stadt so eben ist, daß sich kein Teil über den anderen erhebt. Nichts hebt sich, nichts gestaltet sich; alles zerfällt und verschwindet, und die Augen finden keine Anhaltspunkte in diesem breiten Meere von Häuservierteln und Palästen.

Namentlich macht sich diese Eigentümlichkeit Petersburg im Winter bemerklich, wo alles: der Boden, die Dächer, die Newaarme mit einer und derselben Farbe, dem einförmigen Weiß des Schnees überzogen sind. Die weißen Wände der Häuser heben sich nicht vom Boden ab und scheinen kaum auf festem Grunde zu wurzeln; die beschneiten Dächer fließen zusammen mit den graulichen Tinten des Himmels, wir wandeln in einer Nebel-, einer Schattenstadt, in der alle Linien verschwinden, alle Ecken fehlen, als hätten die Häuser keine Festigkeit, und als wäre alles Gemäuer nur locker und luftig.

Um so reizvoller ist die Verwandlung im Frühling, wenn der Himmel sich klärt und die Sonne das bleiche Leichentuch des Winters von den Dächern und Flüssen hebt. Es ist, als wenn dann die Stadt erst wahres Sein bekäme und sich in wenigen Tagen von neuem aufbaute. Die Häuser fassen nun auf dem dunklen Grunde festen Fuß; die lebhaften, derb barbarischen Farben der grün angestrichenen Dächer und der blauen, mit goldenen Sternen beschneiten Kirchenkuppeln, die vergoldeten Spitzen der Türme, die sich aus der Eiskruste hervorschälen, erfreuen nun das farbenhungrige Auge, und die klaren Flußnymphen, die ihren Eispelz abgeworfen haben, werfen aus tausend Spiegeln das Bild der schmucken Paläste zurück.

Kaum eine unserer Städte dürfte so aus Palästen und Riesengebäuden zusammengesetzt sein wie Petersburg. Die schönen Bauten längs des englischen Kais, der Petersplatz mit dem Gebäude der Synode und der prächtigen Isaakskirche, die sich zur Riesenkuppel aufwölbt, mit dem Standbilde Peters des Großen im Vordergrunde – daneben die alte Admiralität mit ihrem weit sichtbaren, vergoldeten Turme, dann der Winterpalast, die Eremitage (welcher Palast jetzt die Gemäldegalerie enthält), das kaiserliche Hoftheater, mehrere großfürstliche Paläste, das Marmorpalais, das ungeheure Marsfeld mit der Bildsäule Suwarows am Kai, der kaiserliche Sommergarten mit seiner reichvergoldeten Marmorkapelle, weiter aufwärts der taurische Palast: das ist ein Verein der großartigsten Bauwerke und riesigsten Maßverhältnisse. Es gibt viele Häuser in Petersburg, in denen mehrere tausend Menschen wohnten, z. B. im Winterpalais 6000, im Hospital der Landtruppen 4000 (d. h. Betten für eine gleiche Anzahl von Kranken), im Findelhause 7000 (Kinder), im großen Kadettenhaus mehrere tausend junge Leute. Selbst unter den Bürgerhäusern sind viele, welche an Zahl und Weitläufigkeit der Gebäude, an Größe der einzelnen Flügel usw. der Burg in Wien wenig nachgeben.

Die meisten Häuser in Petersburg sind nur zweistöckig; nur in den innersten Stadtteilen findet man drei- und vierstöckige. Eine große Anzahl ist hölzern; denn alle Russen haben eine Vorliebe für niedrige und hölzerne Häuser, die auch in der Tat viele Vorteile gewähren, namentlich sehr warm sind. Die Regierung sucht aber die hölzernen Häuser mehr und mehr zu verbannen, und in einigen Stadtteilen sind sie ganz und gar verboten.

Das Bauen ist in Petersburg kostspieliger als in jeder anderen Stadt des Reichs, weil die Nahrungsmittel und daher der Tagelohn teurer sind als irgendwo; dann auch des Baugrundes wegen. Der schwammige und morastige Boden der Stadt macht es durchaus nötig, daß man zuvor ein ganzes Gerüst unter die Erde versenken muß, ehe es möglich ist, daß eins darüber erscheint. Alle größeren Gebäude der Stadt ruhen auf Rosten von außerordentlich langen Bäumen. Wie schlammig der Boden ist, das sieht man recht deutlich auf den Friedhöfen, wo sich in den frisch ausgeschaufelten Gräbern rasch das Grundwasser sammelt.

Baustoff zu den hölzernen Häusern liefern die Fichtenstämme, die nach der gewöhnlichen nordischen Weise übereinander gelegt werden, zu den steinernen gebrannte Ziegel und finnländischer Granit. Die Mauern, die man aus Ziegeln baut, sind gewöhnlich sehr dick, und während man bei uns darüber erstaunen muß, wie man hohe Gebäude mit äußerst dünnen Mauern aufzuführen wagt, hat man hier Gelegenheit, sich über die beinahe 2 m dicken Mauern der niedrigen Gebäude zu wundern. Alles wird mit unglaublicher Schnelligkeit gebaut. Teils treibt die Kürze der für den Bau günstigen Jahreszeit dazu, teils die Ungeduld der Russen, Angefangenes fertig zu sehen. Dafür gibt es denn freilich auch eine Menge von Häusern, die frühzeitig an Altersschwäche leiden. Der Winterpalast ist das schlagendste Beispiel davon. Es wurden binnen Jahresfrist nicht weniger als 20 Millionen Rubel darin verbaut! Man setzte den Bau im Winter fort, indem man das Gebäude beständig heizte, um die Baustoffe flüssig zu erhalten und die Wände schnell trocknen zu lassen. Bei den meisten Wohngebäuden der Großen liegt der Fall ähnlich. Alles wird so schnell zusammengenagelt wie Bühnenaufbauten.

Bei der Leichtigkeit, mit der die Russen sich zu Veränderungen entschließen, wird man es natürlich finden, daß in Petersburg viel gebaut und umgebaut wird. Es ist fast nie ein Haus völlig fertig, und beständig wird bald hier, bald da etwas geändert. Ein einziges Fest, ein Ball, ein Gastmahl bringt oft nicht unbedeutende Veränderungen im Innern eines Hauses zuwege. Findet man die Zimmer zu klein, so bricht man eine Mauer durch, zieht das folgende Zimmer hinzu und läßt Türen für den Abend einsetzen. Säulen und Brüstungen werden zur Ausschmückung und für die Musik errichtet, Lauben, Stubengärten, Anrichten angebracht, Zimmer für den Augenblick mit Tapeten behangen und mit Teppichen belegt; ja oft, um noch Zimmerraum zu gewinnen, wird ein vorläufiges, hölzernes Zimmer über den Balkon hingebaut, der als hübsch ausgeschmücktes Gemach oder als Sitz der Musiker mit zum Tanzsaal gezogen wird. Auch die Polizei flickt mit großer Veränderlichkeit an den Häusern. Bald verbietet sie diese oder jene Fensterform; bald gebietet sie, alle Türen sollen von Eichenholz sein; bald erlaubt sie es, daß hie und da Erker und Vorbauten aus den Kellergeschossen hervortauchen, bald werden sie mit einem Male beseitigt.

Auch das Straßenpflaster ist in Petersburg wegen des sumpfigen Bodens sehr teuer; denn es bedarf beständiger Ausbesserungen, und doch dringt die Feuchtigkeit überall durch. Auch verstehen sich die Russen auf das Pflastern schlecht, und man hat für die besseren Straßen deutsche Pflasterer aus den Hansestädten berufen. Neben dem schlechtesten hat man aber auch das schönste Straßenpflaster, die herrlichsten Holzblockwege, auf denen die Wagen so glatt und geräuschlos rollen wie die Elfenbeinkugeln auf dem Billard. Diese Wege, die jedoch bloß als schmale Streifen durch die große Newskij-Perspektive und einige andere Straßen führen, bestehen aus sechseckigen Holzblöcken, die wie Bienenzellen zusammengefügt sind. Da das Holz bei dem unaufhörlichen Fahren und bei dem feuchten Boden sich schnell verbraucht, so sind sie ungemein kostspielig. Übrigens wendet man in Petersburg schon deshalb weniger Sorgfalt auf ein gutes Pflaster, weil es sechs Monate hindurch völlig gleichgültig ist, was für ein künstliches Pflaster vorhanden, da die Natur mit Schnee und Eis dann selber pflastert.

Die Zugänge der Häuser sind bequem und weit. Die meisten Häuser der Großen haben Vorhöfe zum An- und Abfahren der Fuhrwerke wie bei uns die Theater oder Königspaläste. Auch das Innere ist durchweg geräumiger als in irgend einer unserer Städte, und wer bei uns mit ein paar Zimmern sich begnügt, hält in Petersburg gewiß auf ein halbes Dutzend. Die Vorhäuser sind groß, die Treppen winden sich in doppeltem Zuge zu beiden Seiten des Hauptstockwerks hinauf. Die Tanz-, Speise- und Gesellschaftszimmer sind hoch und weit. In vielen Palästen findet man einige Zimmerräume, die zu Wintergärten bestimmt sind. Die größten Wintergärten, die in Petersburg mehr als in jeder anderen Stadt in Aufnahme gekommen sind, haben natürlich die kaiserlichen Schlösser; doch werden oft bei großen Tanzfesten auch nur vorübergehend Wintergärten mit Lauben, Blumenbeeten, Springbrunnen usw. eingerichtet.

Eine Eigentümlichkeit der Petersburger Häuser entsteht durch den Aufwand, der mit großen Fensterscheiben getrieben wird. Man hat gefunden, daß die Fensterstäbe, welche die Scheiben zusammenhalten, die Aussicht stören, und füllt daher die Öffnung mit einer einzigen großen Spiegelscheibe aus. In den Gesellschaftszimmern befindet sich meist nur ein so kostbares Fenster. Das vertritt dann die Stelle der bei uns gewöhnlichen Guckfenster und Erker, und die Damen stellen ihre Arbeitstische und Diwans diesem Fenster gegenüber, vor dem sich alle Bilder des Straßenlebens vorüber bewegen. Die Häuser der Reichen sind von oben bis unten mit solchen kostbaren Scheiben ausgestattet.

Die Bevölkerung von Petersburg ist sehr bunt und mannigfaltig. Namentlich gehen die Verbindungen Petersburgs zu Lande so weit, wie bei keiner Stadt der Welt, und bringen die Residenz in Berührung mit so vielen Völkerschaften des Erdballs, daß es ebenso schwer sein möchte, die aufzufinden, die hier nicht vertreten wären, als alle vorhandenen aufzuzählen. Wie vielfach waren nicht schon die Volksstämme, die sich hier auf heimischem Boden fühlten, welche Petersburg als ihre Hauptstadt ansahen! Man brauchte nur das Militär zu betrachten. Da gab es eine eigene Garde für die kaukasischen Völker, eigene Abteilungen für die Tataren, für die Finnen, für die Kosaken usw., weil immer Auserwählte als Geiseln der Treue ihrer Brüder in der Residenz zu weilen gezwungen waren. Man sah den Kosaken, der sein Roß tummelte, mit eingelegter Lanze, als wären Feinde zu verfolgen, über den Platz traben; den Tscherkessen in seiner reichen Tracht, auf jedem Zoll seines Leibes bewaffnet und bepanzert, auf öffentlichen Plätzen kriegerische Übungen anstellen; den TaurierAus der Krim oder Taurien. seiner Steppen und seines Allah eingedenk selbstbewußt durch das Getümmel schreiten; die russischen Soldaten in langen Heersäulen durch die Straßen der Stadt ziehen, – die verschiedenen Ausrüstungen und Dienstkleider des russischen Heeres, von denen allen eine Probe in der Residenz sein mußte, die Garderegimenter, die Husaren, Jäger, Ulanen, Dragoner, Kürassiere und Grenadiere, die Sappeure, Ingenieure zu Pferde und zu Fuß ihre Wachen wechseln, Kasernen beziehen, zur Heerschau eilen.

Lenkte man den Blick auf die Kaufmannschaft und den bürgerlichen Verkehr, da fehlte kein Volk von Europa und fast keins von Asien, nicht der Spanier und Italiener, nicht die Einwohner der grünen britischen Eilande, nicht der Normanne aus dem entfernten Thule,Island. nicht der von Seidengespinst umrauschte Buchare und Perser, sogar der Inder nicht aus Taprobane,Der alte Name von Ceylon. weder der Zopf des Chinesen noch die weißen Zähne des Arabers. Oder das arbeitende Volk! Da schlenderten die deutschen Bauern zwischen dem Getümmel der lärmenden Bartrussen, die schlanken Polen neben den untersetzten Finnen und Esthen, die Letten mit den Juden, amerikanische Matrosen, Kamtschadalen und Tscheremissen; Mohammedaner, Heiden und Christen; weiße Kaukasier, schwarze Mohren, gelbe Mongolen.

Entschieden am merkwürdigsten und schönsten entwickelte sich das Petersburger Straßenleben auf der herrlichen Newskij-Perspektive. Diese prachtvolle, 35 m breite Straße geht vom Alexander-Newskij-Kloster, das die Reliquien dieses Heiligen birgt, seit die rechtgläubigen Russen unter Peter dem Großen nicht in eine Stadt ohne Heiligen ziehen wollten, 5 km weit bis zum Admiralitätsgebäude. Sie durchschneidet alle verschiedenen Ringe der Stadt, das Viertel der armen Vorstädter wie die Gegenden des Reichtums und des Prunkes in der Mitte. Sie ist daher von sehr verschiedenem Aussehen, und eine Fahrt auf ihrer ganzen Ausdehnung ist bei weitem die fesselndste, die man auf dem Boden von Petersburg machen kann. An ihrem äußersten Ende sind das Kloster und ein Kirchhof: Tod und Einsamkeit. Alsdann kommen kleine niedrige Häuser von Holz, Viehmärkte und Branntweinschenken, von singenden russischen Bauern, umschwärmt: Dorfleben und Vorstadttreiben; weiterhin hie und da zweistöckige, steinerne Gebäude, bessere Wirtschaften, Lager und Läden, wie man sie in russischen Provinzen vergeblich sucht; Märkte und Speicher mit einer Menge alter Möbel, Kleider und Sachen, welche der Kern der Stadt abnutzte und hier den Vorstädten feilbietet. Die Häuser sind nach alter russischer Weise gelb und rot angestrichen, und Menschen sah man mit langen Bärten und noch längeren Kaftanen. Etwas weiterhin erschienen schon Iswoschtschiks (Droschkenkutscher), die sich aus den inneren Kreisen hierher verirrten, Omnibusse und Straßenbahnwagen, rasierte Kinne, französische Fracks und einzelne prächtige Häuser. Wenn man um die Ecke des Winkels bog, den die Straße macht, so zeigte sich in der Ferne, wie über dem niedrigen Straßennebel schwebend, die goldene Riesennadel des schlanken Admiralitätsturmes, den alle Hauptstraßen der Stadt zum Augenpunkt haben. Man setzte über ein paar Kanalbrücken, und es offenbarte sich allmählich der Kern der Residenz. Die Paläste schwollen drei- bis vierstöckig empor, die Inschriften an den Häusern mehrten und vergrößerten sich. Die Vierspänner wurden häufiger, und es schlüpfte hie und da ein schmucker Federbusch vorüber. Endlich gelangte man zur FontankaEin Arm der Newa mit besonders schönen Palästen an den Ufern. und der Anitschkow-Brücke, und hiermit begann die eigentliche Residenz, was gleich das große Bjeloselskische Palais ankündigte. Von dieser Brücke bis zum Ende war das eigentlich stilvolle und großstädtische Stück der Perspektive: Vierspänner auf jedem Tritte, Generale und Fürsten unter dem Getümmel, die ausländischen Kaufhäuser, die Silberläden, die kaiserlichen Paläste, die Hauptkirchen aller Petersburger Bekenntnisse.

Von der Anitschkow-Brücke bis zur Admiralität hin und her zu spazieren, war der anmutigste Zeitvertreib, den das Stadtleben zu bieten vermochte. Jeder Petersburger Stutzer nahm einmal des Tages seinen Freund an den Arm und lustwandelte hier ein paarmal auf und ab. Die beliebteste Seite der Straße ist die nördliche, weil sie die Sonnenseite ist. In Genua würde es die südliche sein, weil dort alles nach Schatten schmachtet. Die nördliche Seite war daher auch mit weit glänzenderen Läden und Kaufhäusern besetzt und gab einen höheren Mietzins als die südliche.

Da Petersburg als Zarenstadt eine starke Besatzung hatte, so war der zehnte Mann, der einem in den Straßen begegnete, ein Soldat; und da weder Gemeine noch Offiziere sich je von ihren Achselstücken und Waffen trennten und auf jedem Spaziergange ebenso bis an die Zähne aufgezäumt wie zur Heerschau erscheinen mußten, so sah man auf den Spaziergängen nichts häufiger als Federbüsche und blinkende Rüstungen.

Es war nicht zu viel gesagt, wenn man behauptete, halb Petersburg stecke im Dienstrocke. Denn außer den zahlreichen Soldaten trugen auch ungefähr ebenso viele Beamte, Schutzleute, Diener usw. solche Tracht, weshalb denn fast alle Leute auf der Straße belitzt, besternt, verbrämt und eingekantet erschienen. Die zahlreiche Kaufmannschaft, die englische Faktorei, die deutschen Freiherren aus den Ostseeprovinzen, viele reiche russische Gutsbesitzer, Fürsten und Herren, die meisten Ausländer, insbesondere die zahlreichen Privatlehrer usw. steckten im Frack, der freilich der Uniform weichen mußte bei allen Militär- und Zivilbeamten, auch bei den Lehrern aller öffentlichen Schulen, bei den Professoren wie bei den Gymnasiasten und den Zöglingen öffentlicher Anstalten, die ebenfalls als angehende Staatsbeamte uniformiert erschienen und wie die Schmetterlinge in allerlei bunten Farben glänzten.

Wie in der Natur anderes Wetter immer andere Tiere zum Vorschein bringt, wie im Regen die Enten, im Sonnenschein die Schmetterlinge sich freuen, wie im Abendnebel die Nachtschwärmer, am Mittage die Sonnenfalter streichen und das Wild im Winter einen anderen Rock anzieht als im Sommer, so war es hier auch bei den Menschen; anderes Wetter brachte andere Menschen auf die Straße. Da nun das Wetter des Petersburger Himmels erstaunlich wankelmütig ist, so veränderte sich der Anblick des Petersburger Straßenverkehrs ungemein häufig. Im Winter die dicken Pelze, im Sommer die leichten Flore und Seidenstoffe. Am Abend alles in Mänteln und Kapuzen, am Tage alles luftig und bloß. Im Sonnenschein die flatternden Stutzer und Modedamen, im Regen alles Modische, aller Uniformenglanz verschwunden und nichts als schwarzes Volk in Radmänteln. Heute auf dem Schnee alles Schlitten und Schleife, morgen auf den Steinen alles Wagen und klapperndes Rad.

Noch mehr als die Verschiedenheit des Wetters änderten die religiösen Festtage den Anblick der Leute. Freitags, am heiligen Tage der Mohammedaner, herrschten die Turbane, die schwarzen Bärte der Perser und die geschorenen Köpfe der Tataren auf den Straßen. Am Sabbat erschienen die schwarzseidenen Kaftane der Juden, und am Sonntage jubelten die Scharen der Christen hinaus. Dazu kam die Verschiedenheit der christlichen Bekenntnisse. Heute läuteten die Lutheraner zum Bußtag, und man sah die deutschen Bürger, Vater, Mutter und Tochter, schwarze Gesangbücher unter dem Arme, nach der Kirche pilgern; andern Tages riefen die Katholiken zu einem Feste der unbefleckten Jungfrau, und Polen, Litauer, französische und österreichische Untertanen wandelten zu den Tempeln. Übermorgen aber läuteten die tausend Glocken der griechischen Kolokolniks, und nun summte und flatterte es auf allen Straßen von den grasgrünen, blutroten, schwefelgelben, veilchenblauen Kleidern der Töchter und Frauen der russischen Kaufleute. An den großen Staatsfesten aber, den sogenannten »Kaiserlichen Tagen«, erschienen dann alle Trachten, alle Farben und alle Moden, die von Paris bis Peking gang und gäbe waren. Es war, als wenn Noahs Arche an der Newa gestrandet wäre und sich ihres sämtlichen bunten Gefieders hier entledigt hätte.

Petersburg war eine Stadt der Männer, weil zufolge der großen Sterblichkeit in der ungesunden Stadt die Bevölkerung sich durch Einwanderung ergänzte und Männer erfahrungsgemäß eher die Heimat verlassen als Frauen. Der Frauen waren hier weniger als der Männer, weshalb diese keine große Auswahl hatten. Dabei schien den zarten Blumen das Petersburger Klima nicht günstig zu sein, denn sie verblühten dort bald. Überhaupt gilt es ganz allgemein von den Russen, daß die Frauen durchweg weniger schön sind als die Männer. Endlich wurden sie auch, je weniger zahlreich sie waren, um so mehr in Gesellschaften und Vergnügungen abgemattet. Selten sah man ein hübsches, frisches Mädchenangesicht; bleich war ihre allgemeine Farbe, und man merkte es ihnen an, wie viel Frische und Anmut die Residenz aufbrauchte. Die deutschen Damen aus den Ostseeprovinzen machten davon eine Ausnahme, da sie auf dem Lande, in der gesunden Luft der Gärten und Wälder aufwuchsen. Aus Finn-, Est-, Liv- und Kurland kam der Stadt viel Schönes zu, und alles, was hier in der Gesellschaft glänzte, war fast immer von dort.

Kaiser Alexander II. hatte den englischen Kai in Aufnahme gebracht. Dieser herrliche Kai aus Granitblöcken geht am Ufer der Newa zwischen der neuen und alten Admiralität hin. Der Bau ist ein Riesenwerk aus der Zeit Katharinas, die ungefähr fünf deutsche Meilen Flußufer mit Granit einfassen ließ. Wie bei allen Wasserbauten, ist das Riesenmäßige an der Arbeit äußerlich wenig sichtbar. Die gewaltigen Roste, auf denen die Kais ruhen, stecken tief im Sumpfe und ebenso die ganzen Unterbauten, von denen nur die obere schmale Kante mit der Einfassung eines zierlichen Eisengeländers sichtbar ist. Für die Fußgänger führen überall zierliche Treppen und für die Wagen breite, schöne Abfahrten, deren Seiten im Winter gewöhnlich noch mit allerlei aus Eis gemeißelten und gedrechselten Säulen und Geländern verziert werden, zum Wasser hinab. Auf der einen Seite des englischen Kais zieht sich eine lange Reihe schöner Paläste hin, die meistenteils von Engländern erbaut wurden, später größtenteils im Besitz russischer Großer waren; auf der anderen Seite hatte man die Aussicht auf den breiten Newaspiegel mit allen den Schiffen, Booten, Gondeln, die darauf schaukelten, und gegenüber die prächtigen Gebäude von Wassili-Ostrow, der Inselstadt, die Akademie, die Marineschule usw. Der englische Kai stellte in Petersburg ungefähr dasselbe vor, was in Frankfurt die »Mainstraße«, in Hamburg der »Jungfernstieg« ist. Nur hätte man hier »Fürstenstieg« sagen müssen.

Bismarck schrieb 1859 an seine Frau: in Petersburg sei alles steinern. Es fehlte an einem größeren öffentlichen Garten im Mittelpunkt der Stadt. Als man die Anlage eines Stadtparkes in Betracht zog, dachte man zuerst an den Admiralitätsplatz, der die lange Front des mächtigen Admiralitätspalastes umschließt und auf der einen Seite bis zum Senat und dem Ufer der Newa, auf der anderen bis zum Winterpalais reicht. Aber man scheute sich, ihn zu wählen, da er zur Abhaltung von Paraden für die Garderegimenter und für jene Volksbelustigungen während der Butter- und Osterwoche, auf die der Russe so viel hält, fast unentbehrlich geworden war. Doch der Wille des Kaisers Alexander II. machte allen Bedenken ein Ende; er befahl den Admiralitätsplatz in einen Stadtpark zu verwandeln.

In erstaunlich kurzer Zeit ward ein Garten hervorgezaubert. Breite Parkwege umrahmen schlängelnd trefflich gehaltene Rasenplätze mit Baumgruppen und Blumenbeeten. In der Richtung des Senats reichte der »Alexandergarten«, wie er dem Zaren zu Ehren genannt wurde, bis an die Newa, deren majestätischer Lauf sich von einem künstlich angelegten Hügel, einer kleinen mit Blumen bepflanzten Felsgruppe, bequem überblicken ließ. An den langen Sommerabenden ließen die Bewohner St. Petersburgs sich gern da nieder, um dem regen Verkehr von Dampf- und Segelschiffen auf der Newa zuzuschauen.

Ein sehr besuchter Platz war auch der Sommergarten. Er war mit seinen schönen, hohen Lindenbäumen insbesondere der Tummelplatz der Petersburger Jugend. Hierher kamen die jungen Damen mit ihren Gesellschafterinnen, die Lehrer mit ihren Zöglingen, die Ammen mit ihren Säuglingen; hier bot sich die beste Gelegenheit, die Kinderwelt der Stadt zu beobachten. Man konnte aber auch nichts Reizenderes sehen als eine tändelnde Versammlung dieser kleinen hübschen Kosaken, Tscherkessen und Muschiks; denn es war bei den Russen aller Stände Mode, ihre Kinder bis in das siebente, achte Jahr »à la Moujik« zu kleiden. Die Haare rund herum abgeschnitten wie bei den Bauern, kleine zierliche Kaftane mit einem hübschen Gürtel und hohe tatarische Mützen wie bei den Kutschern. Die tscherkessische Kleidung war bei der Petersburger Jugend sehr beliebt geworden, weil sie ihr wegen der vielen Silberbortierung und Pelzverbrämung noch hübscher steht und noch mehr gefällt.

Da die Kinder russische Bediente hatten, englische und französische Bonnen und deutsche Lehrer, so lernten sie die Sprachen aller dieser Nationen auf einmal und nahmen in ihrer Kindersprache aus allen Fremdsprachen solche Worte auf, die ihnen bequem sind.

Die Erwachsenen sprechen oft in noch mehr Sprachen durcheinander, natürlich viel vollkommener als die Kleinen. Dabei ist es aber merkwürdig, daß die Schmeichel- und Liebesworte alle in der Muttersprache bleiben. Es ist kaum eine Sprache so reich an zärtlichen Ausdrücken, Kose- und Schmeichelnamen wie die russische. »Lubesnoi«, »mein Lieber«; – »Milinkoi«, »mein Liebchen«; – »Dätuschka«, »Großväterchen«; – »Matuschka«, »Mütterchen«; – »Druschka«, »Freundchen«; – »Golubtschik«, »Täubchen«; – »Duschinka«, »mein Seelchen« – sind Ausdrücke, die selbst von Fremden angenommen wurden.

Auf der einen Seite stößt an den Sommergarten die sogenannte »Zarenwiese«, von den Deutschen auch das »Marsfeld« genannt. Dies war der am meisten benutzte Paradeplatz für die Rekruten. Auch die große Wachtparade gehörte bei vielen Einwohnern Petersburgs zu den täglichen Genüssen.

Die Admiralität ist von einem Boulevard und einer doppelten Reihe von Bäumen umgeben. Unter diesen Bäumen pflegten die Leute während der Wachtparade zu spazieren. Da immer ein paar tausend Mann und so und so viele Generäle und Offiziere dabei zugegen waren, so war diese Parade jedesmal ein glänzendes Schauspiel. Den Höhepunkt und zugleich das Ende der großen Petersburger Paraden bildeten die Übungen der irregulären Reiterei, die sich vorzugsweise aus Kosaken zusammensetzte, ihre Leistungen glichen in gewissem Grade den Reiterschauspielen, welchen die Araber den Namen Fantasia geben. Lassen wir uns von einem Augenzeugen darüber berichten!Fr. Meyer v. Waldeck, Rußland. II. Abteilg. Leipzig 1886, G. Freytag.

»Die eigentliche Parade, die im wesentlichen den westeuropäischen großen soldatischen Vorführungen dieser Art gleicht, ist vorüber. Der hohe Kreis, vor dem sie stattgefunden, hat sich noch nicht aufgelöst, er erwartet ein neues militärisches Schauspiel. Ihm gegenüber halten unbeweglich zwei Ssótnien (Schwadronen) Kosaken vom Kaukasus mit ihren blauen Halbkaftanen, auf dem Kopfe den hohen Kalpák (Mütze) von Pelzwerk. Sie reiten ihre kleinen, langen, flinken, fabelhaft ausdauernden, an Mühsal aller Art gewöhnten Pferde.

Ein Wink des Führers! und in demselben Augenblick lösen sich die Schwadronen in einzelne Reiter auf und sausen mit der Schnelligkeit des Blitzes, in gestrecktem Galopp, an dem Zuschauerkreise vorüber. Die einen lassen den Zügel fahren und wenden sich, um den Karabiner auf den Hintermann abzuschießen, die anderen lassen sich vom Pferde herabfallen, um in jähem Sprunge sofort wieder oben zu sitzen; wieder andere stehen auf dem Sattel, den blanken Säbel zwischen den Zähnen und feuern ihre Pistolen auf den Feind ab; alle vollführen sie die gewagtesten, kühnsten Reiterstücke.

Und das geschieht nicht etwa im Zirkus auf weicher, geebneter Sandbahn, von Reitern, welche die Sohlen mit Kreide und die Schenkel mit Kolophonium eingerieben haben, das alles sehen wir vor uns auf freiem Felde von Reitern in voller Kriegsausrüstung. Da raffen sie in vollem Jagen Gegenstände vom Boden auf, stürzen mit einem Fuß im Steigbügel von dem wild dahinjagenden Pferde, halten mit dem rasenden Renner gleichen Schritt in Sprung und Lauf, schwingen sich wieder in den Sattel, stellen sich auf das Pferd, laden den Karabiner, schießen nach vorn, nach hinten, lassen sich rückwärts in den Sattel fallen und brausen dahin, bald dem Pferde im Nacken, bald auf dem Widerrist sitzend; das sind keine Reiter, wie man sie in den wohlgedrillten Heeren des Westens gewohnt ist, das sind berittene Teufel, die mit Jubelgeheul und donnerndem Hurra wie blitzsprühende Gewitterwolken an uns vorübertosen.

Jetzt rasen beide Geschwader in wildem Gählauf an uns heran. Voran drei Reiter nebeneinander; ein vierter, der anscheinend sein Pferd verloren hat, steht hinten auf, die weit ausgespreizten Beine auf den beiden Seitenpferden. Dann folgt ein Sohn der Berge, die lebendige Beute, einen Gefangenen, vor sich auf dem Sattelknopf. Ein dritter entführt in wilder Flucht ein Weib und hat sich seiner Haut zu wehren gegen seinen schönen Raub, der sich mit Händen und Füßen sträubt, und gegen die Reiter, die ihn verfolgen und den krummen Säbel über seinem Haupte schwingen. So folgt ein wildes Kriegsbild nach dem anderen. Da erschallt ein Befehl. Die eine Ssótnie sammelt sich, die andere verschwindet. Jetzt ein Wink, ein Pfiff – und alle Pferde der ersten Schwadron liegen platt auf dem Erdboden – und die Kosaken, den Karabiner schußbereit in der Hand, erwarten den Angriff des heranstürmenden Feindes. Dieser – die zweite Ssótnie – rast jetzt in wildem Kriegsjubel herbei. Die Reiter werfen in vollem Lauf Säbel und Karabiner in die Luft und fangen sie wieder auf, sie feuern auf den vor ihnen im Staube liegenden Gegner, der vernichtet erscheint; – da empfängt sie eine wohlgezielte Salve, die Pferde der ersten Ssótnie springen auf die Beine, die Kosaken in den Sattel und in wütendem Gegenangriff verfolgen die Angegriffenen den Gegner, der sich in wilder Flucht auflöst. Dichte Staubwolken verhüllen bald die fortbrausenden Schwadronen für die Blicke der bewundernden Zuschauer.« –

Petersburg hatte vor 1914 die alte Nebenbuhlerin Moskau auch auf dem Gebiete der Industrie erreicht.Vgl. Roskoschny, Rußland, Land und Leute. Bd. 2. Leipzig 1882, Greßner & Schramm. Seine Fayencen und Porzellane, besonders die aus der Kaiserlichen und Korniloffschen Manufaktur, gehörten zu den Kunstwerken. Die Möbel- und Bautischlerei wetteiferte mit der vollendetsten des Auslandes. Auch Eisengießerei, Holzstoffgewinnung, Baumwollenspinnerei und -weberei waren bedeutend. Tüchtiges wurde ferner geleistet in den Gerbereien, den Handschuhfabriken, in der Herstellung von Reitzeug, des Juchtenleders. In der Eisenindustrie, namentlich im Maschinenbau, war Petersburg Hauptsitz; aus seinen Fabriken gingen Lokomotiven, Dampfmaschinen, Gußstahl, Werkzeuge, Gewehre hervor. Bronzeartikel, Tapeten, Papier, Kautschukfabrikate, Glas, Gold- und Silberwaren, Seidenstoffe, gewirkte Zeuge, Hüte, Parfüms, Stearinkerzen, Seifen, Zuckerwaren, Konserven, Zichorie, Essig, Schaumweine, Mineralwässer, Branntweine, Biere: alle diese Dinge erzeugte Petersburg in steigender Menge und Güte, unterstützt durch harte Einfuhrzölle. Nun ist durch die Umwälzung im Gefolge des Weltkrieges die Stadt des Zaren Peter des Großen, die das neue, nach Westen schauende Rußland verkörperte, in ihrer Bedeutung gesunken und gefallen. Ganze Teile sind zerstört, die Pracht und der Prunk verschwunden – die Holzhäuser, selbst das Holzpflaster der Straßen sind im Winter zur Feuerung abgetragen worden –, und in den verfallenden Steinpalästen hausen die Vertreter der emporgewirbelten, einst unterdrückten Pöbelschichten.

 

2. Petersburger Winter.

Im Jahre 1836 im Monat Dezember warf jemand in Moskau eine Apfelschale zu einem kleinen Luftfenster hinaus. Sie langte nicht auf der Straße an, sondern blieb zufällig auf dem Rande der Fensterbrüstung hängen und fror hier sogleich fest an. Sechs Wochen hindurch sah man diese Apfelschale steif gefroren über dem Abgrunde schweben, ohne daß auch nur ein einziges Mal eine warme Witterung sie erweicht hätte. Endlich, Anfang Februar, sechs Wochen und drei Tage, nachdem sie zum Fenster hinausgestürzt war, taute sie beim warmen Sonnenschein auf und fiel, ihren vor sechs Wochen begonnenen Sturz vollendend, auf die Straße hinab. – Gewiß ein anschauliches Bild von der eigensinnigen Ausdauer der Kälte im inneren Rußland.

In Petersburg kann Ähnliches nicht vorkommen; denn in dem sumpfigen Newa-Delta hat das Klima nicht die Unveränderlichkeit des mittleren Rußlands. Die mildernden Einflüsse der Ostsee stellen sich hier noch oft den eisigen Winden entgegen, welche Sibirien schickt. Regenfeuchte Westwinde, kalte Nordostwinde, dichte Nebel und heitere Frosttage wechseln eigentlich während dieser Jahreszeit beständig und ringen miteinander die ganzen sechs Monate hindurch, so daß man weder im Januar vor Regen und Schmutz ganz sicher ist, noch auch im Frühlingsmonat vor Eis und Schnee; ganz anders, als in Moskau, wo der Dezember sich noch nie zu einer Wasserträne erweichte, und im Januar sich noch niemand die Stiefel auf der Straße beschmutzte.

Dennoch fällt das Thermometer in Petersburg wegen seiner nördlicheren Lage häufiger auf niedrigere Grade herab als in Moskau, und ebenso zeigt die Durchschnittszahl des ganzen Winters eine niedrigere Temperatur an, als die des mittleren Rußlands ist. Petersburgs Klima ist sehr unbeständig. Im Sommer steigt die Hitze bis auf 30°, und im Winter gibt es Frost bis 30°. Im Sommer nach einem überheißen Morgen fällt oft nachmittags ein rauher Wind ein, der das Thermometer auf der Wärmeskala um 12° sinken läßt, gleichsam als ob die Stadt bald zum Äquator, bald zum Nordpole schwankte. Auch im Winter betragen die Unterschiede von einem Tage zum andern nicht selten 12-18°. Es wäre natürlich unmöglich, in einem solchen Klima zu leben, wenn nicht der Mensch gegen die wechselvolle Unbeständigkeit der Natur, deren Launen er durchaus nicht beherrschen kann, sein Leben durch Beständigkeit schützte und erhielte. Bei uns, wo die Übergänge nicht so schroff und die Gegensätze der Temperatur nicht so schreiend sind, ist es eher möglich, den Veränderungen des Wetters zu folgen und bald den Überrock abzulegen, bald zum Mantel oder Pelze zu greifen, bald etwas Holz mehr in den Ofen zu werfen, bald etwas weniger. In Petersburg ist man aber nicht so beweglich. Es wird angenommen, der Winter beginnt im Oktober und endet nach siebenmonatlicher Dauer im Mai. Demgemäß hüllt man sich zu Anfang Oktober in Pelze, die gleich für alle möglichen Kältegrade berechnet sind, und legt sie erst wieder ab, wenn alle Stürme ausgetobt haben. Ebenso unbeweglich, wie in der Kleidung, ist man in der Warmhaltung der Zimmer, die immer gleich stark geheizt werden, damit das Haus sich nie abkühle; ganz ebenso, wie man ein für allemal angenommen hat, die Schlittenbahn dauere fünf Monate, demzufolge man die Wagen im Oktober in Ruhestand versetzt und ununterbrochen in Schlitten fährt, es mag nun der Schnee fallen oder schmelzen. Nur leichtsinnige Ausländer versuchen es wohl, den Bewegungen des Wetters zu folgen, büßen aber, da sie ungeschickt darin sind, ihren Vorwitz mit Krankheit, zuweilen mit dem Tode.

Gewöhnlich also geht das Leben im Winter, es mag nun regnen oder schneien, frieren oder tauen, seinen alten gewohnten Gang. Tag für Tag knistern die Birkenscheite im Ofen, einen Tag wie den anderen rutschen die Schlitten in den Straßen herum, beständig werden die öffentlichen Wärmstuben für die armen Leute geheizt und regelmäßig die öffentlichen Feuer auf der Straße, in der Nähe der Theater für die Kutscher usw. unterhalten. Wenn aber die Kälte so groß wird, daß das Thermometer bis 20° und darunter zeigt, dann laufen die Fußgänger, die sonst in Petersburg einen ziemlich bedächtigen Schritt haben, so eilig, als hätten sie die wichtigsten Geschäfte, und die Schlitten, die schon vorher ziemlich flink sich bewegten, fliegen nun im Galopp über den schreienden Schnee. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber gewiß ist, daß 20° Kälte in Petersburg unendlich mehr bedeuten und weit schädlicher wirken als bei uns. Gesichter bekommt man dann gar nicht mehr auf den Straßen zu sehen; denn alles hat sich die Pelze über Kopf und Hut gezogen. Die Furcht, Augen, Ohren und Nase durch den Frost zu verlieren, beängstigt jeden, und da sich das Abfrieren nicht durch ein unangenehmes Gefühl vorher ankündigt, so hat man genug zu denken, daß man nicht eines der verschiedenen Glieder des Körpers vergesse, sondern zuzeiten etwas reibe. »Väterchen, deine Nase!« erinnert der Vorübergehende den Entgegenkommenden und reibt ihm ohne Umstände seine kreideweiße Nase mit Schnee ein. Mit den Augen hat man ebenfalls viel zu tun, weil sie alle Augenblicke zusammenfrieren. Man tappt dann in die erste beste Haustür hinein und bittet die Leute auf ein paar Augenblicke um ein Plätzchen am Ofen, indem man dann hinterher eine zertaute Träne des Dankes dafür vergießt.

Die Kälte Petersburgs ist allerdings viel empfindlicher als die unsrige, aber die Petersburger sind auch viel empfindlicher für die Kälte. Alle Ausländer, selbst Italiener, Spanier und Franzosen, sind bei weitem kühner und weniger zärtlich. Handschuhe, bei uns ein Luxusartikel, sind in Rußland ein für jedermann unentbehrliches Kleidungsstück, und selbst die Bauern arbeiten nie ohne Handschuhe hinter ihrem Pfluge. Man sieht Verhüllungen von Personen mit Gürteln, Pelzen, Tüchern, Kapuzen, Kopf- und Ohrennetzen, wie sie bei uns gar nicht vorkommen und die der Fremde anfangs verschmäht, allmählich aber auch anlegt.

Die russischen Öfen sind in ihrer Art das Vollkommenste, was Menschen erdacht haben. Sie sind aus Kacheln gebaut, und der Feuerzug windet sich in ihnen so vielfach auf und ab, daß die Hitze oft einen Weg von 30 m Länge und mehr darin machen muß, ehe sie in den Schornstein entlassen wird. Die große Steinmasse des russischen Ofens erwärmt sich nur sehr langsam, während unsere eisernen Öfen schon in wenig Minuten glühen; sie hält aber die Hitze desto länger in sich und wärmt, einmal geheizt, den ganzen Tag über. Man heizt fast durchgängig in Petersburg mit Birkenholz, das am billigsten in der Umgegend zu haben ist und dabei viel dauerhaftere Kohlen gibt, als das Holz der Nadelbäume. Denn auf reichliche Kohlenbildung kommt es bei der russischen Heizungsweise hauptsächlich an. Und während bei uns eigentlich nur die Flamme heizt, läßt man in Rußland viele Birkenstämme erst im Ofen verknistern. Dann, wenn die »Juschka« (eine eiserne Platte und darüber gelegte Kapsel), die den Ofengang doppelt verriegelt, geschlossen ist, fängt die Wärme an, etwas im Zimmer durchzuwirken. Die russischen Ofenheizer sind sehr geschickt in allen bei dieser Heizart notwendigen Verrichtungen. Zangen und Schaufeln kennen sie nicht; sie haben kein anderes Werkzeug als einen langen eisernen Feuerhaken, mit dem sie beständig den Kohlenbrei in dem Ofen umrühren und bearbeiten, die Kohlen zerschlagen und die noch nicht ganz ausgebrannten nach vorn bringen und dem Zuge mehr aussetzen. In jedem großen Hause gab es einen oder ein paar Ofenheizer, die den ganzen Tag weiter nichts zu tun hatten, als die Öfen zu versehen, das Holz herbeizuschleppen und vorzubereiten. Damit die Herren des Morgens beim Kaffee das Zimmer warm fanden, mußten jene guten alten dienenden Geister ihre Arbeit bereits in der Nacht beginnen. Gewöhnlich bauten sie schon am Abend vorher recht künstlich ihren Holzmeiler im Ofen auf, damit die Birken noch ein bißchen nachtrockneten, und zündeten dann früh am Morgen mit Kien- und Fichtenholz das Ganze an.

Man kann sich denken, welche wichtige Rolle der Ofen auch in den Häusern der ärmeren Russen spielt. Er ist ein zu außerordentlicher Größe gediehenes Bauwerk, das zugleich als Koch-, Heiz- und Backofen dient. Rund umher laufen Bänke zum Genießen der Wärme; denn diesen Nordmenschen ist das Wärmeeinsaugen und alles, was damit zusammenhängt, das Schwitzen, Sonnen usw., derselbe Genuß wie das Ausruhen und Schlafen. Es sind viele kleine Vertiefungen und Löcher in dem Ofen angebracht, um allerlei Dinge darin zu trocknen, und nasse Strümpfe und Kleider hängen immer daran herum. Auf der Plattform des Ofens liegen Betten, in denen man, noch in Schafpelze gehüllt, des Nichtstuns und der Wärme sich freut.

Nicht wenig zum Zusammenhalten der Zimmerwärme tragen die doppelten Fenster bei, die in Petersburg wie in ganz Rußland üblich sind. Wenn im September die Bäume sich rot und gelb färben, wenn im Oktober der erste starke Frost eintritt, so rüstet man das ganze Haus zu, verpicht alle kleinsten Öffnungen und setzt überall doppelte Fenster ein, deren Fugen oft noch mit Papier überklebt werden, selbst in den Eisenbahnwagen. Die Kinder haben keine Michaelisferien, sondern Klebeferien. Fast jeder Bauer hat Doppelfenster. Kaum wird hie und da ein Luftfensterchen gelassen, und man kann sich denken, welche Freude, welche Heiterkeit und Frische in die Zimmer zieht, wenn endlich, endlich im Mai diese beengenden Verhüllungen wieder abgenommen werden und die Fenster zum ersten Male wieder sich öffnen können, hinter deren Verschluß man saß wie Noah in seiner Arche. In der Höhlung zwischen den doppelten Fenstern pflegt man Salz oder Sand auszubreiten, welche Stoffe die sich sammelnde Feuchtigkeit anziehen sollen. Das Salz häuft man in allerlei zierlichen Formen auf, die unberührt bis zum Frühling liegen, und das Sandbeet bepflanzt man mit hübschen Kunstblumen, die dann ebensolange in diesem Käfige blühen. Jedes Haus hat darin seine eigenen Einfälle und seine besondere Weise, und man geht an einem hellen Wintertage gern durch die Straßen, um den Schmuck der Doppelfenster zu betrachten.

Die Türen bleiben nicht hinter den Fenstern zurück. Man findet nicht nur doppelte, sondern zuweilen selbst drei- und vierfache. Die kleinrussischen Bauern haben bei ihren Erdwohnungen einen verdeckten Gang, durch den man über einige Stufen zu der Tür des Hauses hinabgeht; an den Petersburger Häusern ist ein ähnlicher, nur daß man einige Stufen zur Haustür aufwärts, und dann noch durch eine Tür zu gehen hat, bevor man in das geheizte Vorhaus gelangt.

Die Armen leiden in kalten Wintern große Not. In Petersburg hat man Wärmstuben errichtet in verschiedenen Stadtteilen, und in eisernen Häuschen bei den Theatern brennen Feuer, woran die Kutscher sich wärmen. Dicke Pelze und Kleider haben meist auch die Bettler. Nichtsdestoweniger ist es natürlich, daß bei den barbarischen Kältegraden manches Menschenleben zugrunde geht. Doch sind die Sitten der Bewohner weit mehr schuld daran als die Dürftigkeit ihrer Schutzmittel, und zwar vor allem die Trägheit des Volkes – das BranntweintrinkenIm August 1894 wurden allein in Petersburg 5195 Personen wegen Trunkenheit auf den Straßen polizeilich aufgegriffen. Die zarische Regierung schon ging auch mit gesetzlichen Mitteln gegen den Branntweinunfug vor. – und die Rücksichtslosigkeit der Reichen.

Viele Russen, so lebhaft ihr Humor ist, lieben durchaus keine Anstrengung, und geistige wie körperliche Gymnastik ist ihnen verhaßt. Sie ziehen es daher in der Kälte vor, sich hinter den Ofen oder in Pelze zu verkriechen und still auszuhalten, anstatt, wie jeder Nichtrusse tun würde, mit Hand und Fuß sich gegen die Kälte zu wehren. Das unmäßige Branntweintrinken vergrößert die Gefahr; denn Trunkenheit und Schlaf sind beim Frost das Allergefährlichste. Da nun jeder plötzlich eintretende Frost eine Menge Trunkener und Schlafender auf den Straßen findet, so kann man sich denken, daß der Opfer nicht wenige sind. Ihre Zahl wurde durch die Rücksichtslosigkeit der Vornehmen vermehrt. Es war unglaublich, was man den armen Vorreitern, Dienern und Kutschern zumutete. Bei Besuchen ließ man sie auch beim härtesten Wetter stundenlang auf der Straße warten, um sie jeden Augenblick bereit zu haben. Die Kutscher schliefen dann auf ihren Böcken ein, und die kleinen zwölfjährigen Vorreiter, die noch nicht bis Mitternacht wachen gelernt hatten, hingen schlummernd auf ihren Pferden oder legten sich, den Zügel an den Arm gebunden, auf den gefrorenen Schnee des Straßenpflasters hin. Manchem armen Kutscher froren so Nase, Hände und Füße ab, während seine Herrschaft sich der ausgezeichnetsten Ohren- und Gaumengenüsse erfreute.

Die höchsten Kältegrade fallen gewöhnlich bei heiterem, ruhigem Wetter ein, und das prachtvolle Petersburg hat daher in der Regel bei 30° Kälte seinen »schönsten heitersten« Tag. Der Himmel ist hell, die Sonne leuchtet glänzend, um so glänzender, als ihre Strahlen durch Millionen kleiner blinkender Eiskristalle hindurchschießen, mit denen die Luft wie mit Diamantstaub erfüllt ist. Aus allen Häusern und selbst aus den geheizten Kirchen wirbeln dicke Rauchsäulen, die in der ätherklaren Luft so dicht erscheinen, als ob in jedem Hause eine Dampfmaschine stände, und dabei in allerlei Farben spielen. Schnee und Eis auf den Straßen und der Newa sind weiß und reinlich, als wäre alles aus Zucker gebacken. Die ganze Stadt hat das zierlichste Gewand von der Farbe der Unschuld, und sämtliche Dächer blitzen von einer gleichmäßigen Lage schimmernden Kristallstaubes. Alles Wasser gefriert, wie man es ausgießt, und die Brunnen, die Pferdetränken, die Schöpfanstalten, die Wasserfuhrleute und ihre Wagen – alles erscheint weiß mit Eis überzogen. In den Straßen zeigt alles, um dem Tode zu entgehen, das regste Leben. Alles rennt und jagt so hastig, als ob schon jedem der Sensenmann auf den Fersen säße. Der getretene Schnee knistert und heult die sonderbarsten Melodien, und alle anderen Klänge und Laute nehmen in der bitterkalten Luft andere Farbe an. »Es friert, daß es brummt« – denn beständig zieht ein leises Rauschen oder ein säuselndes Brummen durch die Luft, das von all dem erklingenden Schnee und Eise kommt. Unter der Hand des Künstlers aber werden die lebensfeindlichen Elemente zu bildsamen Stoffen; Kunstwerke und Eispaläste erstehen und werden in ihrer glitzernden Pracht besucht und bewundert, bis sie die Sonne zusammenschmilzt.

 

3. Die Newa.

Die Newa ist der Abfluß des Ladogasees, des »Eissees«. »Der leichtbewegliche Riesensee dehnt sich aus wie ein Meer, ohne Horizont. Er ist die Tochter des Meeres, und vieles in seiner Natur und in seinemTierleben erinnert an seinen stolzen Ursprung. Der Seehund jodelt und pfeift wie im Meere, und wenn der Sturm seine Flügel entfaltet, rasen die Wogen des Ladoga gleich denen des Meeres«.Ahrenberg. Die Gewässer der Newa setzen in dem 18 588 qkm großen Becken die letzten Spuren des Bergstaubes ab und kommen lauter und kristallrein bei Petersburg an. Sie ist ein Strom von wenig Meilen Länge, der sich eine Meile vor seiner Mündung in vier Haupt- und mehrere Nebenarme teilt, wodurch er einige Deltainseln bildet, auf denen St. Petersburg sich ausbreitet.

Die Newa führt aus dem Innern des Landes den Überfluß der Provinzen heran und trägt Speise, Futter und Kleidung der Hauptstadt zu. Sie empfängt an ihrer Mündung die schönsten Erzeugnisse ausländischer Industrie und schafft sie zu Palästen hin. Sie gibt den Petersburgern, die nur diesen einen schönen Brunnen und außer ihm keine klare Quelle haben, das Trinkwasser. Sie kocht ihre Speise, braut ihnen den Tee und Kaffee. Sie nährt gute Fische für ihre Tafel. Ja, sie verrichtet ihnen die gemeinste Sklavenarbeit, reinigt ihre Wäsche und nimmt ihre Schleusen auf. Es ist daher nicht verwunderlich, daß das Newawasser das Tagesgespräch vieler Petersburger ist. Es ist nicht immer ihre Freude, sondern zuweilen auch ihre Not und ihr Kummer, wenn es ihre Gärten verdirbt, ihre Häuser beschädigt, ja sogar ihr ganzes Dasein bedroht, was freilich nicht allein die Schuld der Newa ist.

Der harte nordische Winter schlägt fast die Hälfte des Jahres die Newa in eisige Banden, so daß sie nur sechs Monate hindurch ihre Wohltaten in vollem Maße spenden kann. Erst im Anfange des Aprils, selten am Ende des März, sind die Gewässer warm und kräftig genug, um den sie drückenden Eismantel zu sprengen. Obwohl auf dem Newaeise den Winter durch fleißig dem Schlittschuhlauf gehuldigt wird, erwartet man doch diesen Augenblick mit Sehnsucht, und kaum schieben sich die schmutzigen Eisschollen so weit vor, daß sie den glatten Spiegel auf eine Bootsbreite enthüllen, so donnerten die Kanonen der Festung, um den erwünschten Augenblick den Bewohnern zu verkünden. Zur selben Zeit, sei es Nacht oder Tag, stieg der Kommandant der Festung, mit allen Zeichen seines Ranges angetan und von seinen Offizieren begleitet, in eine prächtig geschmückte Gondel, um zum gegenüberliegenden Palaste des Kaisers zu fahren. In einem großen, schönen Kristallbecher schöpfte er das klare Newawasser, um es als die erste und schönste Gabe des Flusses dem Kaiser im Namen des Frühlings darzubringen. Er meldete seinem Herrn, daß die Macht des Winters gebrochen sei, daß eine fröhliche Schiffahrt gehofft werden könne, zeigte ihm als den ersten Wasserschwan seine Gondel am Ufer, die er glücklich herübergebracht, und überreichte ihm den Newabecher, den der Fürst auf die Gesundheit seiner Residenz leerte. Es war das am besten bezahlte Glas Wasser, das irgendwo auf dem Erdenrunde getrunken ward; denn der Sitte gemäß gab der Kaiser es dem Kommandanten mit Gold gefüllt zurück. Früher bekam er es gestrichen voll Dukaten. Da aber mit der Zeit die Becher immer an Größe zunahmen, so daß die Kaiser immer mehr und mehr Wasser trinken und immer mehr und mehr Gold bezahlen mußten, so wurde endlich die Summe von 200 Dukaten festgesetzt, die dem Kommandanten zugezählt wurden, gewiß noch immer für einen Trunk Wasser ein kaiserlicher Lohn.

Alles war aber auch auf die Enthüllung der Newa gespannt, da alles dabei beteiligt ist; die Kaufleute erwarteten diesen Augenblick mit Sehnsucht, weil das Gelingen manchen Geschäfts von seinem früheren oder späteren Eintritt abhing; die Arbeiter und Zimmerleute, weil er ihnen beim Brückenbau zu verdienen gab; die kranken Einheimischen und an Heimweh leidenden Fremden, weil nun die Bahn zu den Bädern und Europa wieder offen stand. Man hatte in dieser Zeit nur das eine Gespräch in Petersburg, »ob die Newa zum Ostersonntage oder zum Ostermontage aufgehen werde«, und es wurden sogar Wetten für diesen oder jenen Fall eingegangen.

Die Schiffe, welche im Sunde beigelegt hatten oder auf der Ostsee kreuzten, warteten auch mit Ungeduld auf den wichtigen Augenblick. Das erste Segel, das auf der Newa anlangte, wurde mit außerordentlichem Jubel begrüßt, hatte sich der größten Belohnungen und eines hohen Gewinnes zu erfreuen. Meistens war es mit Orangen, Modesachen, Web- und Wirkwaren und anderen Dingen beladen, nach denen sich das eitle Petersburg am meisten sehnte. Man zahlte das Doppelte und Dreifache der üblichen Preise. War einmal mit dem ersten Schiffe der Anfang gemacht, so zauderten dann auch die übrigen nicht lange, und es folgten ihm bald die geflügelten Flotten der Schweden, der Engländer, Deutschen und Amerikaner. Alles ging plötzlich und rasch in diesem Lande der plötzlichen Übergänge, der zauberischsten Umwandlungen. Auf die ödeste Todesstille folgte das regste Leben. Die Nationen Europas kamen auf hoch bewimpelten Seeschiffen meerwärts hereingezogen, und flußwärts auf gebrechlichen Flößen und grob gezimmerten Barken die Völker des Innern mit ihren Waren. Die bisher in den Speichern stockenden Erzeugnisse des Landes flossen nun aus in alle Lande. Die Kriegsflotte, die schon lange rüstete, lief aus zu friedlichen Reisen und kriegerischen Übungen auf die Baltische See, und Dampfschiffe schnaubten, Botschaften bringend und fördernd, schwarzen Atem aushauchend, die schöne Strombahn auf und ab, wo noch vor kurzem ein Seehund kaum Raum genug fand, ein wenig Luft zu schöpfen. Jeder Tag, jede Stunde brachte nun etwas Neues und Schönes, und die Entzauberung des toten Eispalastes war vollendet.

Die Russen haben sich daran gewöhnt, eine große Menge Eis in ihren Haushaltungen zu verbrauchen. Sie kühlen alle ihre Getränke gern mit Eis, genießen gefrorene Säfte, die den ganzen Sommer über auf den Straßen ihrer Städte feil geboten werden, in Menge, und trinken nicht nur Eiswasser, Eiswein, Eisbier, sondern auch Eistee, indem sie statt des Zuckers Eisstückchen in die Tasse werfen. Ihr kurzer, aber erstaunlich heißer Sommer würde alle ihre Lebensmittel in Gefahr setzen, zu verderben, wenn ihnen nicht der Winter die Mittel gewährte, die von der Wärme beschleunigte Auflösung zu hemmen. Eiskeller sind daher in Rußland unentbehrlich in jeder Wirtschaft und nicht bloß bei den Bürgern der Städte, sondern auch auf dem Lande bei den Bauern allgemein verbreitet. Jeder Keller hat mindestens 50 Schlittenladungen zu seiner Füllung nötig. Die Fischhändler, Fleisch- und Kwaßverkäufer usw. haben oft so große Keller, daß mehrere hundert Fuhren für sie nicht ausreichen. Die Bierbrauereien und Branntweinbrennereien verbrauchen ungeheure Massen von Eis. Dies liefert alle Jahre für Petersburg die Newa.

Das Newaeis wird gewöhnlich 1 m dick und in regelmäßigen Würfeln herausgearbeitet. Wenn es auf dem Schnee liegt, sieht es smaragdgrün aus, ist dabei fest, fast ohne Blasen und Risse. In langen Reihen wurden die Vorräte um den Bruch herumgestellt und an die Schlittenführer verabfolgt, die dann ein paar davon auf ihren Schlitten luden, sich selber auf diesen kalten Thron setzten und singend damit in die Stadt hineinjagten. Es gewährte nicht geringe Unterhaltung, die unzähligen Eisbrüche auf der Newa zu besuchen und die Russen hier wie in einem Silberbergwerke schalten und walten zu sehen.

In den Kellern werden die Eiswürfel regelmäßig übereinander gelegt und zu beiden Seiten große Mauern davon aufgeführt. In diese Mauern haut man alsdann allerlei Bänke und Nischen aus, um Milch, Fleisch usw. in diese kühlen Höhlungen bequem einstellen zu können. So ist es in den ordentlich gehaltenen Kellern. Das eigentlich russische Verfahren ist aber, die Schollen bloß in den Keller hineinzuwerfen, sie mit dem Beile zu zertrümmern und in allen Ecken fest einzukeilen. Durch diese Zertrümmerung wird die Festigkeit des Eises vermehrt; denn die Stückchen frieren bald von neuem in eine Masse zusammen.

Die Anschwemmungsinseln des Newa-Deltas, auf denen Petersburgs Paläste wurzeln, sind äußerst flach und niedrig. Mit ihren seewärts gekehrten unbewohnten Enden verlieren sie sich allmählich bis zum Wasserspiegel und darunter, selbst die entlegensten und höchsten, mit Häusern am meisten besetzten Teile der Stadt liegen nur 3-4 m über dem gewöhnlichen Stande des Meeres. Ein Steigen des Wassers von 5 m reicht also hin, ganz Petersburg unter Wasser zu setzen, und ein Steigen von 10-12 m, um die ganze Stadt zu ertränken. Man erwäge: Der Finnische Meerbusen erstreckt sich mit seiner größten Länge in gerader Richtung von Petersburg aus nach Westen, aus welcher Gegend die stärksten Stürme wehen. Diese treiben daher die Wassermassen des Meeres gerade auf die Stadt zu. Unglücklicherweise spitzt sich der Finnische Meerbusen nach Petersburg hin immer mehr zu, das in seiner innersten Spitze liegt und in dessen Nähe die Fluten in einen engen Sack, den Kronstädter Busen, gefangen und zusammengedrängt werden. Dazu kommt, daß die Newa gerade hier, von Osten nach Westen gehend, ins Meer mündet und ihre Gewässer jenen von Westen kommenden Wogen gerade entgegenwirft. Wenn einmal ein heftiger Westwind im Frühling mit dem höchsten Wasserstande und Eisgange zusammentrifft, so werden die Eis- und Wassermassen des Meeres landeinwärts gedrängt, und der Fluß wirft ihnen seine Schollen entgegen.

Das Elend und die Not, die eine Wasserflut wie die am 17. November 1824 in Petersburg herbeiführte, war unbeschreiblich. In allen Straßen der Stadt ist ihre Höhe bezeichnet durch Striche an den Häusern. Vom heftigsten Westwinde gepeitscht, hob sich das Wasser immer mächtiger und schoß endlich eilenden Laufes durch die Straßen, hob alles, was es an Kutsch- und Lastgeschirren fand, in die Höhe, ergoß sich durch die Fenster in die Keller- und Erdgeschosse der Häuser und stürzte in mächtigen Säulen aus den Öffnungen der Schleusen hervor. Manche der hölzernen Gebäude wurden vom Wasser ganz unversehrt und leise vom Boden gehoben und schwammen mit ihren Einwohnern in den Straßen umher. Die Kutschen sammelten sich zu Dutzenden in den Gehöften. Alle Bäume der öffentlichen Plätze saßen so voll von Menschen wie sonst von Sperlingen. Das Wasser stieg gegen Abend so hoch und der Wind wurde so stark, daß man alle Augenblicke fürchtete, die Kriegsschiffe möchten sich losreißen und in die Häuserreihen einbrechen. Das Übel war um so verderblicher, als es von niemand für so schlimm gehalten wurde, da das Wasser ohne Brausen und Toben mit ganz freundlicher Miene die Stadt beschlich. Sehr viele Häuser stürzten erst am folgenden Tage ein, als das Wasser schon wieder die Stadt verlassen hatte. Aus den meisten Wohnungen war die eingedrungene Feuchtigkeit nicht wieder zu verbannen, die Einwohner sanken aufs Krankenlager, und tödliche Seuchen herrschten noch viele Wochen nachher.

Das Newawasser ist bei der Mündung des Flusses noch sehr klar. Es ist bekannt, daß sein Genuß anfangs ganz eigentümliche Wirkungen hat, weshalb die Neulinge es nur mit Wein oder Rum vermischt trinken. Aber man gewöhnt sich leicht daran und hat dann ein so herrliches Getränk, daß man es allem anderen Wasser vorzieht. Die Petersburger beglückwünschen sich immer, wenn sie von Reisen zurückkommen, daß sie wieder Newawasser trinken können. Man erzählt, daß Kaiser Alexander II. auf seinen Reisen das Newawasser, auf Flaschen gefüllt, sich nachkommen ließ.

Alles Wasser, das die Stadt brauchte, mußte früher unmittelbar aus der Newa geschöpft werden. Es befand sich dazu in jeder Haushaltung ein Wasserfaß, das von einem eigens dazu angestellten Wasserschöpfer bedient ward. Sein kleiner Einspänner hatte meist den ganzen Tag vollauf zu tun mit Wasserschöpfen. Die Armen schickten ihre Leute einfach ans Ufer der Newa, wo sie mit Eimern, die an langen Stäben befestigt waren, das Wasser etwas fern vom Ufer aus dem Flusse schöpften. Für die Wohlhabenden gab es Schöpfanstalten, wo man in kleinen Häusern das Wasser aus dem Flusse hervorpumpte. Im Frühlinge, wenn bei der Schneeschmelze aus allen Straßen schmutzige Bäche nach dem Flusse laufen, war indes in vielen Haushaltungen große Not, weil die Schläuche der Pumpen zu nahe am Ufer lagen und dann nicht eben das reinste Wasser heraufbrachten. Im Winter wurden viele Schöpflöcher in die Eisdecke gehauen und in deren Nähe auch Tröge zum Tränken der Pferde aus Eis gezimmert. Jetzt fängt man weit oberhalb der Stadt das Newawasser in zwei Röhrenleitungen ab, die es nach gründlicher Filterung bis in die Häuser führen.

In Rußland kennt man fast nur die Flußwäsche, und selbst in der Residenz kommen überall die Weiber mit ihrem Gefolge und dem schönen Flachsgewebe zur Wohnung der Nymphen gefahren, um von ihnen neuen Glanz und neue Frische zu borgen. Auf allen Kanälen der Stadt und an den Ufern der Flußarme sind Flöße errichtet. In deren Mitte befinden sich Öffnungen, in welche man die Wäsche wirft, und ringsum Gänge zur Verbindung. Die ganze Tätigkeit der Wäscherinnen besteht darin, daß sie die Gewänder häufig benetzen und mit einem glatten Holze schlagen. Selbst im Winter, wo sie die Öffnungen der Flöße eisfrei halten, haben diese abgehärteten Frauen kein anderes Verfahren, und man bemerkt nicht, daß irgendein Kältegrad ihr Geschäft unterbräche. Natürlich begnügen sich die vornehmen Petersburger nicht mit dieser einfachen Waschweise; ja manche von ihnen trieben sogar die Reinlichkeit so weit, daß sie ihre schmutzige Wäsche alle vierzehn Tage regelmäßig nach London schickten, um sie von dort alle Sonnabende gebleicht und gereinigt zurück zu empfangen.

Noch mehr als die von Waschweibern wimmelnden Flöße zogen den Fremden auf den Kanälen und Flußarmen der Stadt die schwimmenden Fischbuden, die Ssadocks, an. Das waren hübsch bemalte und zierlich gestaltete Holzhäuschen, fast den Hamburger Elb- und Alsterpavillons ähnlich. Sie schwammen auf Flößen, lagen am Ufer vor Anker, und eine Brücke führte von da aus hinüber. Im Innern war ein Raum, worin die geräucherten und gesalzenen Fische aufgehängt waren, wie die Schinken und Würste in den Häusern der westfälischen Bauern. Mitten drin befanden sich zum Schutze des Häuschens ein paar große Heiligenbilder mit brennenden Lampen. Außer dem Räuchern und Einsalzen haben die Russen noch eine Art, die Fische vor Fäulnis zu bewahren, das Einfrierenlassen. Im Winter stehen große Kästen umher, die mit gefrorenen Fischen angefüllt sind. Zu beiden Seiten des Raumes waren ein paar saubere Zimmer, eins für die Mannschaft des Ssadocks, und eins für die Gäste, die frischen Kaviar zu essen liebten. Hinter dem Hause unter dem Wasser waren die großen Behälter für lebende Fische, da die Russen als Feinschmecker sie gern lebendig in den Topf bringen.

Die Newa ist mitten in der Stadt bis 600 m breit. Man kann sich daher denken, welche Eiswüstenei ihre Oberfläche im Winter darstellt. Dann können bei Nacht mitten in der Stadt Reisen gemacht werden, wo man sich verlassen glaubt, wie auf den Seeeinsamkeiten Finnlands. Die Lichter der Häuser dämmern nur aus der Ferne. Mond- und Nordlicht leuchteten, und man steuerte seinen Lauf nach dem Kompaß und den Sternen. Das alles änderte sich im Sommer. Der blinkende Fluß, dessen Oberfläche im Winter verbleichte, umgibt dann die schönen Stadtteile wie mit herrlicher Silbereinfassung. Die Nächte sind gelind und wunderbar hell, und die Petersburger, die sich aus Schlittenfahrten weniger machen als wir, weil der Schlitten bei ihnen mehr ein notwendiges Hausmöbel ist, schwelgten dann die kurze Zeit in der Lust des Gondelfahrens um so mehr. In den schönen warmen Monaten Juni und Juli waren die Newaarme Tag und Nacht mit großen und kleinen Segelschiffen und Rudergondeln übersät. Die Luft ist dann von schmeichelnden Südwinden durchsäuselt, warm und mild, zauberisch klar und hell, ohne daß doch die Quelle alles Lichtes über dem Horizonte sichtbar ist; es ist eine Nacht, in der sich nichts verbirgt und nichts schlummert, weder die zwitschernden Vögel, noch die wachenden Menschen, noch die sichtbaren Pflanzen, deren Farben nicht verbleichen; eine Nacht mit allen Reizen der Nächte und doch mit aller Bequemlichkeit des Tages, als strahlte überall der helle, frische Tag hinter dem übergehangenen prächtigen Gewande der Nacht hervor. Es kommt dazu der Strom, der sich spielend in eine Menge von Armen teilt und wieder zu großen Massen vereint, der sanft, klar und majestätisch fließt; eine Flur von Inseln, deren eine Hälfte mit prachtvollen Palästen besternt und deren andere mit wundervollen Gärten, geschmackvollen Lusthäusern und prunkenden Einsiedeleien geschmückt ist; dann das große Meer vor den Toren der Stadt und dicht bei ihr die sechs Mündungen der Flüsse. Dieses alles, von Tausenden von Gondeln belebt und mit Schiffen durchwebt – segelkundige Engländer, deutsche Bürger, russisches Volk, Matrosen und Schiffsvolk aller seefahrenden Nationen, die das Wunder der hellen Nächte anstaunten. Man konnte schwerlich eine Stadt auf dem Erdenrunde finden, die mit diesen Sommernachtsträumen Petersburgs zu wetteifern vermochte.

 

4. Im Petersburger Kaufhofe.

Quelle: H. v. Lankenau und L. v. d. Oelsnitz, Das heutige Rußland. Bd. I. Leipzig 1876, Otto Spamer. Wer je nach Petersburg kam, mußte den mächtigen, viereckigen Kaufhof des Gostinnoi-dwor an der Newskij-Perspektive besuchen. Der Gostinnoi-dwor war ein Irrsal, aber jedes Zimmer war eine Schatzkammer, blendend in ihrer Ausstattung wie in ihrer Auslage. Die Länder des Ostens namentlich gaben mit ihren Erzeugnissen diesen Kaufhallen ein eigentümliches, großartiges Gepräge. In grellen Farben schillerten die persischen rohen Seidenstoffe; die ausgelegten orientalischen Teppiche empfahlen sich besonders durch kunstvolle Muster, eigentümliches Farbenspiel und haltbare Arbeit; Tischdecken mit einer erstaunlich feinen Stickerei; kaukasische Gürtel, aus Filigran oder blauschwarz angelaufenen Silberstücken gefertigt; die mit Gold, Silber und Edelstein ausgelegten Waffen aus den Schwertfegereien von Damaskus; gestickte Pantoffeln aus buntem Saffianleder, dazu die in der Tracht ihrer Heimat auftretenden Verkäufer mit dem langen Vollbart, den dunklen Augen und der steifen Würde: dies alles gab ein durch seine Buntheit fesselndes Bild. Besonders bequem für den Käufer war die Anordnung der Lager in Quartieren, so daß gleichartige Dinge in derselben Reihe zu finden waren. Anstatt sich also nach dem einzelnen Käufer zu erkundigen, fragte man nur: »Väterchen, wo ist die Pelzbudenreihe, wo die Seiden-, Leder-, Stiefel-, Kleider-, Wechslerreihe?«

Ein Erlebnis unserer Gewährsmänner mag uns das Treiben dort veranschaulichen.

Einmal im Gostinnoi-dwor, lasse auch ich mich verleiten, mit meinem Begleiter, einem Petersburger, in das Magazin eines Schlafrockhändlers einzutreten und bitte ihn, den unter einem Berge von bucharischen Schlafröcken von mir ausgesuchten aus roter persischer Seide mit seltsam wunderlichem Muster zu erstehen.

»Was kostet dieser Schlafrock?« fragt mein Freund den Bucharen mit seinem geschorenen Kopfe und dem tatarischen Zöpfchen, der uns aufmerksam mustert. Statt darauf zu antworten, fängt dieser an, seine feine Ware zu loben und herauszustreichen und uns auf ihre Güte aufmerksam zu machen.

»O,« sagt er, »man sieht, Sie sind Kenner; unter allen den Schlafröcken haben Sie den schönsten und feinsten gewählt; gestern noch hat mir ein General einen ganz ähnlichen, doch nicht so feinen als dieser, abgekauft.«

»Das ist möglich, doch ich frage nicht danach; ich will wissen, was er kostet?«

»Ja, sehen Sie sich ihn nur einmal näher an, und Sie werden sich überzeugen, wie stark und dauerhaft die Seide ist und dabei so weich . . «

»Schon gut, aber wollen Sie nun nicht endlich auch einmal sagen, was er kostet?«

»Sie werden es mir vielleicht nicht glauben; doch aber ist es wahr, daß der Gouverneur von Tambow ein halbes Dutzend solcher Schlafröcke bei mir bestellt hat.«

»Und wenn Sie nun nicht gleich den Preis nennen,« unterbrach ihn mein Freund ungeduldig, »so werden wir zu Ihrem Nachbar gehen, dessen Bursche schon draußen darauf lauert, ob und was wir kaufen; vielleicht finden wir bei ihm etwas, was uns noch besser gefällt.«

»Besser? Bei ihm? Nun, das möcht' ich sehen; doch gewähren Sie mir noch einen Augenblick, Ihnen zu sagen, daß diese Ware geradeswegs mit der Karawane von Taschkent kommt . . «

»Kommen Sie,« sagte nun mein Freund, »dieser Mann scheint nichts verkaufen zu wollen und uns für Neulinge aus der Provinz zu halten.«

Der Kaufmann ließ meinen Freund nicht ausreden. »Euer Hochwohlgeboren,« hub er an, »belieben Sie doch nur einen kurzen Augenblick Geduld zu haben; wenn dies Moskauer Erzeugnis wäre, könnte ich Ihnen den Rock für 80 Rubel lassen, ja noch billiger; so aber kann ich eigentlich nicht weniger als 200 Rubel nehmen; ich will aber ein Opfer bringen, damit Sie ein anderes Mal auch wieder zu mir kommen, und so sollen Sie den Schlafrock für 150 Rubel haben.«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, Sie scheinen nichts verkaufen zu wollen oder uns für Neulinge zu halten; Sie sind närrisch, solch einen Preis zu verlangen,« antwortete mein Freund und nahm mich beim Arm, um das Kaufhaus zu verlassen.

Der Buchare vertrat uns den Weg. »Exzellenz,« rief er, »gehen Sie so nicht weg; wohlan, nennen Sie mir Ihren Preis, was ist Ihnen der Schlafrock wert?«

»Ich habe keinen Preis bei einer so unverschämten Forderung.«

»Erlaucht, und wenn ich nun das Unmögliche täte und 75 Rubel nähme?«

»Zu viel noch, viel zu viel!«

»Nun wohlan, so seien es 50 Rubel, das ist aber mein letztes Wort,« sagte der Buchare wie ärgerlich und fing an, die Schlafröcke zusammenzulegen.

Ich blickte meinen Freund an, der aber ganz gleichgültig blieb und endlich sagte: »Sie haben sich wohl versprochen, Sie wollten 25 Rubel sagen.«

»Wie?« rief nun der Kaufmann, »25 Rubel? Sie belieben sich über mich lustig zu machen. Beim Barte des Propheten, das Futter allein ist ja mehr wert. Sie haben 30 Rubel gesagt, nun wohlan! geben Sie 40, und der Schlafrock ist der Ihrige.«

»Ich habe 25 Rubel gesagt, wollen Sie, oder wollen Sie nicht, zum letztenmal, und halten Sie uns nicht länger auf!« Diesmal standen wir bereits vor dem Laden, vor welchem schon mehrere junge Burschen unserer warteten und uns aufforderten, in ihre Lager zu kommen; sie versicherten, noch viel schönere und billigere Schlafröcke zu haben.

Der Buchare kam uns eiligst nach und sagte mit kläglicher Miene: »Exzellenz, es geschieht der ferneren Kundschaft wegen, nehmen Sie ihn; noch mehr solche Opfer, und ich werde zugrunde gerichtet sein.« –

Die Kaufleute, denen es verboten war, innerhalb des Kaufhofes Feuer anzuzünden, denen also auch das Zubereiten von Speisen unmöglich war, wurden durch Rasnoschtschiks (Hausierer) mit Nahrungsmitteln versorgt. Auf einem Brett oder in einem Korbe boten sie innerhalb der Ladenreihen ihre Waren feil: Harte Eier, gesalzene Gurken, Essig- und Salzpilze, gesalzene und geräucherte Fische, Piroggen und Pasteten (mit gehacktem Kohl, Rüben, Fleisch und Fisch gefüllt), schöne weiße Semmel und lockeres Weißbrot, Sbiten (ein warmes Getränk aus Mehl und Ingwer), Kwaß, Beerenlimonaden und im Sommer Zitronen-, Himbeer- und Vanille-Eis.

 

5. Im Schlitten durch die Tundren nach Archangel.

Quelle: H. v. Lankenau und L. v. d. Oelsnitz, Das heutige Rußland. Leipzig 1876, Otto Spamer. Im Sommer ist eine Landreise nach dem russischen Norden mit vielen Unannehmlichkeiten verknüpft: die lästige Hitze, die aufgetauten Moore und Tundren, die Unzahl von Stechfliegen und Mücken können einem Westeuropäer das Reisen gründlich verleiden. Im Winter dagegen fliegt man, gut eingehüllt in russisches Pelzwerk, mit Leichtigkeit über die gefrorenen Moräste und Seen hin im halbverdeckten Schlitten, gezogen von einem flotten Dreigespann (Troika). Heutzutage kann man mit der Eisenbahn an die Küsten des Weißen Meeres gelangen. Die Fahrt geht erst östlich bis Wologda, dann genau nördlich nach Archangel.

Bis zum 61. Grad ungefähr trägt der Boden noch Roggen und Gerste, innerhalb der nächsten 30 Meilen nach Norden erscheinen jene Getreidegräser nur noch vereinzelt. Gibt uns weiter hinauf noch die nur von Flüssen, Seen und Sümpfen unterbrochene, vom Menschen freilich stark gelichtete Taiga, Urwald von Fichten, Lärchen, Kiefern und weißschaligen Birken, das Geleit, so nähert sich doch, je weiter wir nach dem Pol vordringen, der Pflanzenwuchs immer mehr dem Boden; die Krüppelformen der Nadelhölzer machen mageren Grasflächen mit Moosen (Sphagnum) und herrlichen Beerenarten Platz und gehen endlich in die TundraVom finnischen tunturi = »waldloses Gebirge«, deutsch am besten Eis- oder Moossteppe zu nennen. über. Die Tundren ähneln unseren Torfmooren, bei deren Überschreiten der Fuß ebenfalls in den schwankenden Boden einsinkt, nur daß sie hier stets auf Eisboden ruhen; beigemengtes Raseneisen gibt ihnen zuweilen ein braunrötliches, ein Teppich von Renntierflechten ein weißes Aussehen. Hier und da sind festere Stellen in Form von Hügeln bemerkbar, welche von den duftenden Waldbeeren der arktischen Zone bedeckt sind: den Wacholder-, Sand-, Molte-, ja an den Südgrenzen der Tundren selbst von wilden Himbeeren. Diese Hügel sind zugleich die einzigen Stellen, wo der menschliche Fuß sich sicher fühlt.

Das weite Tundren- und Waldgebiet ist das Bereich des Fuchses und Wolfes, des Bären, des Renntieres und zahlreicher kleiner Pelztiere, Nörz, Eichhörnchen, Baummarder, Eisfuchs, Hermelin u. a. Sobald die Julisonne die gefrorene Kruste etwa ½–1 m auftaut, erscheinen Züge lästiger Wespen und Mücken, die verschwinden, sobald der September schwere Nebel über die Tundra lagert und der Oktober die gefrorene Eiskruste in Schnee einhüllt. Die Schneefälle sind so bedeutend, daß das Flockenheer den Himmel verdunkelt, und besonders gefährlich für den Bewohner jener Einöden werden sie dann, wenn der Ponossucha (Wind) die Schneemassen zu Dünen auftürmt, so daß man die Gegend nicht wieder erkennt. Ist die Windsbraut beruhigt, so daß der Mensch den Fuß ins Freie zu setzen wagt, so knarrt der Schnee unter dem Fuße, das Tagesgestirn hat sich von diesen schaurigen Öden gewendet, blutigrot schießt nur das Nordlicht seine Strahlen über den Himmel, und das bezaubernde Licht des Mondes, der fast einen halben Monat am sternenbedeckten Himmel sichtbar ist, weckt in jenem Erdgürtel ein eigentümliches Leben.

Die Pelztiere wandern ein in die Tundren, Zobel und Marder, Füchse der verschiedensten Färbung, unter ihnen die geschätzteste Art, der Silberfuchs, ferner Schneehasen in Menge, endlich, geführt von einem Leittier, in langen Reihen die zarten Hermeline, jene Wiesel mit dem feinen weißen Pelze und dem vollen Seidenschwanze. Sie naschen an jedem Stück Fleisch, selbst an dem mit Quecksilber vergifteten Köder, den der Samojede, Sirjäne oder der russische Ansiedler an der Falle angebracht. Übrigens erlegen die Pelzjäger jene Tierchen nicht mit Schrot oder Kugel, sondern mit stumpfen Bolzen, um jede Verletzung des Pelzes zu vermeiden, und wo sie sich bei der Jagd auf Eichhörnchen doch des Feuerrohrs bedienen, zielen sie mit erstaunlicher Sicherheit immer nur nach der Schnauze.

An einem schönen Dezembermorgen trat einer unserer Gewährsmänner bei klarem Himmel und Windstille die Fahrt von Petersburg nach Archangel an.Der Leser findet sämtliche Stationen der Reise in jedem guten Handatlas. Er war wohl eingehüllt in einen dicken Leibpelz, welcher außerdem von einem weiten Schuppenpelze bedeckt war. Auf dem Kopfe trug er die russische Pelzmütze mit Ohrenklappen, an den Füßen enganschließende Filzstiefeln und darüber pelzgefütterte Galoschen. Auf dem Sitze des halbverdeckten, mit einem Bärenfell ausgestatteten Schlittens steht der jugendliche Kutscher, die Zügel seiner drei kleinen, flotten, ausdauernden Pferde in der Hand.

»Vorwärts, ihr Täubchen,« ruft er ihnen schmeichelnd zu, indem er ihnen die Zügel läßt und mit der Zunge schnalzt. »Lauft von Berg zu Berg; gibt doch der Herr ein Trinkgeld – ob er's gibt oder nicht, werden wir doch rascher zu Hause sein.« Wie ein Pfeil schießt die Troika über die schneebedeckte Ebene dahin, und abends 6 Uhr hält unser Reisender am Schlagbaum der kleinen Festung Schlüsselburg. Mit neuem Vorspann geht's nach Neu-Ladoga am Südufer des Riesensees, der sogar von Seehunden bevölkert wird, und eine dritte Troika setzt ihn am folgenden Abend in Wytegra unweit des Onegasees aus. Er war an dem wichtigen Marienkanalsystem entlang gefahren, das Rybinsk an der Wolga mit Petersburg, damit den Kaspisee mit der Ostsee verbindet. In östlicher Richtung eilte er weiter durch das wellige Meer von Schnee mit dem Untergrunde von Eis. Von den Hügeln erhoben sich bei dem Vorbeisausen des Schlittens Scharen krächzender Krähen. Um Mittag fuhr er durch einen nordischen Urwald von Nadelholz, die Sonne brach soeben durch die Wolken und strahlte aus allen den Schnee- und Eiskristallen am Boden und auf den Bäumen zurück. Plötzlich wurde das tiefe Schweigen um unseren Reisenden unterbrochen durch ein hundeartiges Geheul. Aufgeschreckt aus seinen Betrachtungen, steckte er den Kopf zum Schlitten hinaus und sah zwei Wölfe von ziemlicher Größe hinter dem Schlitten drein laufen. »Ich habe da ein paar gute Revolver,« sagte er zu seinem jungen Rosselenker, der die Zügel fester gefaßt hatte und die Pferde zu schärferem Laufe anregte, »wenn wir den Bestien ein kleines Andenken in den Pelz jagten« . .  »Hüten Sie sich,« entgegnete der mit den Gefahren des Landes wohlvertraute Führer, »wenn wir einen töten, werden wir bald das ganze Rudel hinter uns haben, und Gott weiß, wie groß das sein mag.«

»Werden denn diese hier uns den ganzen Weg begleiten?« – »Das wäre möglich.« – »Aber ist denn keine Gefahr?« – »Durchaus nicht, denn der Wolf ist ein feiger Geselle, greift nicht leicht selbst an, wenn er nicht sehr hungrig ist; wenn wir nicht umwerfen oder uns ein Pferd stürzt, können wir unbesorgt sein.«

Als eine der beiden Bestien dem Schlitten allzu nahe kam, konnte sich unser Reisender nicht enthalten, seinen Revolver loszudrücken. Mit einem jämmerlichen Geheul blieb der Getroffene zurück. »Er ist verwundet,« rief der Kutscher, »passen Sie auf, was da vor sich gehen wird.« Um das verendende Tier stand bereits ein ganzes Dutzend Kameraden, um dem Sterbenden das Grab in ihrem knurrenden Magen zu bereiten.

Weiter flog der Schlitten durch Urwälder und über Schneefelder, die mit ermüdender Einförmigkeit einander folgten. Von der Station Kargopol an der Onega schlug der Reisende nördliche Richtung ein. Kaum hatte er die Grenzen der Statthalterschaft Archangel überschritten, als ein furchtbarer Schneesturm losbrach. Die Dichte der Flocken verhinderte jeden weiteren Umblick; der Orkan knickte Riesenstämme, türmte Schneehügel und trieb den feinen Schneestaub dem Reisenden fast bis auf die Haut. So schnell wie möglich ließ der in der Gegend gut bekannte Jämschtschik seine Tiere ausgreifen, bald einen beweglichen Schneehügel umfahrend, bald durch einen anderen hindurchstürmend, und brachte unseren Reisenden glücklich nach der nächsten Poststation. »Ein Glück, daß uns der Buran (Wind) nicht ein paar Werst weiter zurück auf der offenen Fläche betroffen, wir hätten schwerlich die Station heute noch gefunden und erreicht.« – »Und was hätten wir wohl gemacht, wenn uns das widerfahren wäre?« – »Je nun,« sagt er achselzuckend und ein dargebotenes Glas Kognak auf einen Zug hinunterstürzend und dann pustend und sich räuspernd, »je nun, Gott ist gnädig; wir hätten wohl irgendeinen Schutzort in der Nähe suchen – ein paar dicke Bäume vielleicht – und warten müssen, bis der Buran vorübergehe. Möglicherweise wären wir eingeschneit, hätten die Deichsel des umgestürzten Schlittens etwa so stellen müssen, daß sie den Schnee überragte; vielleicht auch wäre ich reitend bis zur Station durchgekommen, hätte Beistand bringen können. Wozu sich aber damit den Kopf zerbrechen, was ja, Gott sei Dank – und dabei bekreuzigte er sich andächtig – nicht nötig geworden ist. Ihr roter Branntwein ist gut, Herr, wärmt Leib und Seele; solchen bekommen wir hier nicht. Bei dem kann man's schon aushalten.«

Je weiter der Reisende nach Norden vordrang, desto trostloser und beängstigender wurde die Einöde in den dichten, dunklen Nadelwäldern. Endlich hielt er nachts vor der Station Sijskoi an der Dwina, bald darauf vor der alten normannischen Handelsstadt Holmgard-Cholmogory, auf einer Insel des Stroms gelegen, und endlich zeigte sich am Horizonte das Ziel der Reise, Archangel.

Zunächst erschienen nur die Kuppeln der zahlreichen Kirchen, dann diese selbst mit den danebenstehenden Glockentürmen, ferner die öffentlichen Gebäude und endlich die Viertel der Bürgerhäuser. Die Macht der russischen Kirche findet einen beredten Ausdruck in der Zahl und Pracht der Gotteshäuser, deren Archangel, die Stadt des »Erzengels« Michael, mit ihren 23 000 Einwohnern (einschließlich des Inselstädtchens am Hafen, Solombola), mehr als zwanzig besitzt. Daß die Polarkälte keineswegs geistiges Leben tötet, geht deutlich daraus hervor, daß diese nordische Stadt ein geistliches Seminar, ein Gymnasium und eine Marineschule besitzt. Der bischöfliche Palast, das alte Kloster, der ansehnliche Markt, sowie die längs des Dwinakais hinführende Hauptstraße lassen die Bedeutung Archangels deutlich erkennen. Die lange Hauptstraße weist meist Steinbauten auf und enthält die Wohnungen, Läden und Niederlagen der Kaufmannschaft, die, wie sich aus den Firmen erkennen läßt, vorzugsweise englischer und deutscher Abstammung ist. Von einem Hamburger wurde vor etwa 80 Jahren das Haupthandelshaus Brandt & Co. gegründet. In erster Linie Kaufmann, war er doch auch wissenschaftlicher Tätigkeit nicht abgeneigt und begleitete den Reisenden Hoffmann als Führer in die Wildnisse an der Petschora. Seine Söhne setzten sein Geschäft mit Erfolg fort; über den ganzen Norden, bis nach Nowaja Semlja erstrecken sich heute die Handelsverbindungen dieses Hauses. In der Nähe der Stadt sind seine großartigen Sägemühlen und Zuckersiedereien, die Hunderte von Arbeitern beschäftigen, und in seinen Niederlagen häufen sich ungeheure Vorräte von Flachs, Pelzwerk usw.

Im Jahre 1553 erschien das erste englische Schiff an der Dwinamündung, das einzige, welches von einer größeren Unternehmung übrig geblieben war. Sobald einmal der Weg durch das arktische Eis gebrochen war, mehrten sich die englischen Fahrzeuge Jahr für Jahr, um europäische Industrieerzeugnisse gegen die wertvollen Rohstoffe des Nordens zu vertauschen. Bereits 1584 erhob sich in der Nähe des alten Klosters Archangel ein ansehnlicher englischer Kaufhof, um den sich dann wie um einen Magneten die Häuser scharten. Als freilich Peter der Große »das Fenster nach dem Westen Europas« öffnete und seine Gründung Petersburg mit größter Zollfreiheit ausstattete, ging der nordische Handelsplatz zurück, um erst unter der Regierung der großen Katharina seine alte Bedeutung wieder zu erlangen.

Archangel verdankt seine Bedeutung sowohl den Schätzen der Dwina und des Eismeeres, das an Heringen, Lachsen, Kabliaus, Steinbutten, Dorschen, Walrossen, Seehunden und Walen ganz ungeheure Mengen besitzt, als auch dem Wildreichtum der Tundren, welche bedeutende Vorräte kostbaren Pelzwerks liefern, wie auch den Erzeugnissen des Bodens, besonders dem Holz. Und seine Einfuhr befaßt sich mit allen Erzeugnissen des europäischen Kunstfleißes wie des Bodenbaues, ja es ist – wie oben erwähnt – auch eigene Industrietätigkeit am Orte zu verzeichnen. Wer den Dwinakai entlang wandert, kann im Hafen Solombola das Handelstreiben am besten beobachten. Kauffahrteischiffe mit hohen Masten und im Winde flatternden Flaggen und Wimpeln laden aus und ein, kleine Ruder- und Segelboote schießen zwischen ihnen hin und her, Bugsierdampfer schleppen eine Reihe von schwerbeladenen Barken hinter sich her; schwerfällige, derbe Fahrzeuge der Walfängerflotte harren des Kampfes mit dem nordischen Eise. Fast zwei Werst lang ziehen sich am Kai hin die Kaufmannshäuser, Kramladen, Speicher, Fabriken und die Niederlagen für Schiffsbedarf. Die Matrosen in ihren rot- und blauwollenen Hemden treiben sich schlendernd zwischen den Marktbuden umher, um irgend ein Kleidungsstück, Tabak, Heringe, Fisch- oder Fleischpasteten, wohl auch steinharte Pfefferkuchen zu erstehen. Auf einer Flußinsel liegt das Admiralitätsgebäude, das zugleich alten, ausgedienten Matrosen einen ruhigen Lebensabend bietet, während die noch rüstigen Seebären in eigenen Häusern wohnen, in denen ihre Frauen der Krämerei obliegen; die übrigen Räume sind an Handwerker vermietet.

Nicht selten im Frühjahr steht die Hafenstadt vollständig unter Wasser, dann nämlich, wenn der Eisgang auf der Dwina eine Verstopfung der Flußmündung herbeiführt. Die Bewohner retten sich dann in die höheren Stockwerke, während Pferde und Kühe die luftige Wohnung auf dem flachen Dache beziehen, bei dessen Bau man diesen Fall schon vorgesehen hat. Weit davon entfernt, sich durch dies ziemlich oft wiederkehrende Ereignis trübe stimmen zu lassen, besteigen die Bewohner vielmehr das Boot und fahren mit Spiel und Gesang durch die unter Wasser stehenden Straßen und um die überschwemmten Häuser.

In den Monaten Mai bis September drängen sich in dem rührigen Archangel auch fromme Pilgerscharen, die nach dem auf einer Insel im Weißen Meer gelegenen, befestigten Kloster Solowetzk fahren wollen. Dazu dient ein von seekundigen Mönchen bedienter Dampfer, der für mäßiges Überfahrtsgeld die Gläubigen nach dem Heiligtum führt, das durch den Reichtum seiner Meßgewänder, Monstranzen, durch die Ausstattung der Heiligenbilder, durch die auch den Fremden dienenden Klosterküchen und Herbergsräume, sowie auch hinsichtlich seiner gewerblichen Betriebsamkeit zu den bedeutendsten des Zarenreichs gehört.

Rußland hat übrigens 1898 an der Murmanküste eine neue Eismeerstadt angelegt, den Fjordhafen Alexandrowsk an der Kolabucht, der neben seiner Handelsbedeutung auch kriegerischen Zwecken dienen sollte. Doch wurde der Kriegshafen auf der östlich von der Kolabucht gelegenen Insel Kildin angelegt – und zum Endpunkt der neuen Murmanbahn: Petersburg-Murmanküste das Fischerdorf Semenowa an der Ostseite der Kolabucht, 30 km südlicher als Alexandrowsk, gewählt und Romanow getauft. Aber der Hafen ist leider nicht eisfrei.


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