Curt Grottewitz
Der Mensch als Beherrscher der Natur
Curt Grottewitz

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VII. Aussterbende deutsche Tiere

Die Tierwelt der Erde hat von jeher ein außerordentlich wechselndes Aussehen gehabt.

Arten, Geschlechter, ja ganze Familien und Ordnungen schwanden, nachdem ihre Zeit abgelaufen, dahin, um neuen Formen Platz zu machen. Aus den Epochen der Erde, die der sogenannten Tertiärzeit voraufgingen, gibt es keine einzige sicher nachweisbare Tierart, die ihren Lebensfaden bis in die Gegenwart fortzuspinnen vermocht hätte.

Und auch später im Tertiär selbst tritt uns diese Wandlung der Formen entgegen, ja noch im Ausgang der Eiszeit starben mächtige Riesentiere, wie das Mammut, das wollhaarige Nashorn neben anderen weniger ansehnlichen Formen aus. Und in historischer Zeit sehen wir unter anderen den Ur, den mutmaßlichen Stammvater unseres Hausrindes, den Dronte, einen großen taubenähnlichen, gänzlich flugunfähigen Vogel der Insel Mauritius, den seltsamen nordischen Riesenalk und die ganze Familie der Dinornithiden und Aepyornithiden, gewaltiger straußartiger Riesenvögel Neuseelands und Madagaskars, vom Erdboden verschwinden.

Der Vorgang des Aussterbens gehört eben überhaupt nicht nur der Vergangenheit an. Auch in der Gegenwart können wir beobachten, wie manche Tiere seltener und seltener werden, wie sie in verschiedenen Ländern ganz und gar verschwinden und schließlich auf ein recht kleines Verbreitungsgebiet beschränkt sind. Wo immer wir diese Erscheinungen wahrnehmen, da sind sie das Zeichen dafür, daß das betreffende Tier seine Lebenstüchtigkeit verloren hat und sein Untergang in absehbarer Zeit gewiß ist.

Es ist eine nicht unbedeutende Anzahl auch von deutschen Tieren, denen heute so das Schicksal des Aussterbens droht. Ja es ist kein Zweifel, daß die Vernichtung verschiedener Lebewesen in der Gegenwart schneller und in größerem Umfange stattfindet, als dies jemals vordem der Fall gewesen ist. Wir wissen allerdings nicht, was die Ursachen waren, warum die gesamte Tierwelt der vortertiären Zeit ohne Ausnahme zugrunde gegangen scheint, aber ohne Zweifel sind es große erdumgestaltende Faktoren gewesen, Veränderung des Klimas, der Festländer und Meere und ähnliches, Faktoren, die zwar allmählich wirken mochten, aber nach vielen Tausenden oder Hunderttausenden von Jahren eine vollständige Umwandlung der vorhandenen Kräfte hervorbrachten.

Derartige Ursachen scheinen nun gegenwärtig ausgeschlossen, denn die erdphysikalischen Kräfte, besonders das Klima, haben seit den wenigen Jahrhunderten, seitdem das Aussterben gewisser heutiger Tiere beobachtet wird, wohl kaum eine ernstliche Veränderung erlitten.

An die Stelle dieser Naturkräfte aber ist nun eine Macht getreten, die für viele Lebewesen vielleicht ebenso schädlich oder gar bei weitem verderbenbringender ist: die menschliche Kultur.

Die Beobachtungen über aussterbende Tiere beziehen sich allerdings gewöhnlich nur auf die größeren und höher entwickelten Arten.

Ueber den mutmaßlichen Untergang von Insekten, Würmern, Krustentieren und anderen gibt es meist keine authentischen Nachrichten, aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß diese Erscheinung bei allen Tieren vorhanden ist. Ob aber bei jenen unkontrollierbaren Tieren der Mensch auch immer die Ursache der Ausrottung ist, läßt sich natürlich nicht entscheiden. Denn wer kann sagen, ob nicht z. B. ein Schmetterling der äquatorialen Gegend jetzt dem Untergang entgegenginge, weil die dortige Durchschnittstemperatur um einen, wenn auch wenig merkbaren Gradbruchteil herabgesunken wäre?

Jedenfalls aber ist bei allen den Tieren, deren Aussterben genau kontrolliert werden konnte und vor allem unseren deutschen, der schädliche Einfluß der menschlichen Kultur direkt nachzuweisen.

Am allermeisten sind heute zwei riesige, einander merkwürdigerweise sehr nahestehende Tierarten unserer Erde in ihrer Existenz bedroht: der ehemals auch zu unserem deutschen Jagdwild gehörige Wisent (Bison europaeus) und sein einziger unmittelbarer lebender Verwandter, der nordamerikanische Bison (Bison americanus). Und nirgends läßt sich besser feststellen als hier, daß der Mensch das Schicksal dieser Tiere bestimmt hat.

Der Wisent, dieses zu den Wildrindern gehörige größte Tier Europas, lebte früher allgemein in den undurchdringlichen Wäldern der Mitte unseres Erdteils, als sie noch keine Kultur, nicht einmal der Ackerbau, gelichtet hatte. Für die Römer war er ein Charaktertier Germaniens, also des damaligen Deutschlands. Zur Zeit Karls des Großen und bis tief ins Mittelalter war er nachweislich noch zahlreich bei uns erhalten, begann indessen allmählich mit dem deutschen Urwalde abzunehmen. Aber erst im achtzehnten Jahrhundert, nachdem die Kultur inzwischen von Westen her bis in die Ostspitze Deutschlands vorgedrungen war, wurde der letzte Wisent im Jahre 1755 in Ostpreußen, und damit der letzte seines Geschlechts auf unserer engeren Heimaterde überhaupt, erlegt. Etwa um die gleiche Zeit schwanden seine letzten größeren europäischen Bestände in Siebenbürgen. Bis auf unsere Tage fortgelebt hat dann bekanntlich ein kleines Häuflein der wunderbaren Geschöpfe noch in dem abgeschlossenen Walde von Bialowicza (Bialowies) in Litauen, als gehegtes Jagdwild des Zaren seit 1802 durch ein besonderes Gesetz geschützt. Das war ihre allerletzte europäische Station. Weniger bekannt pflegte zu sein, daß das Tier in einem vielleicht tausend Köpfe zählenden Trupp sich außerdem noch im asiatischen Kaukasus und zwar dort in ursprünglicher Freiheit behauptet hatte. In Bialowicza betrug der Bestand um 1914 noch an siebenhundert Stück. Trotz aller Pflege waren schon damals die Aussichten auf dauernde Erhaltung aber nicht mehr sehr günstig. Abgesehen von den geringfügigeren Verlusten durch Abschießen einzelner Tiere bei den Zarenjagden, Fall durch Bären und Wolfe, die lange noch daneben lebten, oder Versand an zoologische Gärten, drohte am verderblichsten die stete Inzucht zu werden. Immerhin hätte rechtzeitige Blutauffrischung durch kaukasische, ein klein wenig in der Rasse abweichende Exemplare den Untergang nach dieser Seite vielleicht noch aufhalten können. Den Garaus aber machte in unhemmbarer Katastrophe der Weltkrieg. Schon bei den ersten Kämpfen und Truppendurchmärschen im Walde fielen mehrere hundert Stück. Eine Weile suchte die deutsche Forstverwaltung noch in sehr umsichtiger Weise zu retten. Als auch sie 1918 aber den Ort verlassen mußte, haben die eindringenden Bauern den gesamten Bestand bis auf den letzten Kopf niedergeschossen, um aus den Häuten Stiefel zu machen. Da eine fast ebenso radikale Vernichtung um die gleiche Zeit über den Kaukasusrest erging, sind gegenwärtig fast nur noch die etwa fünfzig Stück, die sich im Wildpark von Pleß (aus Bialowicza seit 1865 bezogen), bei Hagenbeck und in den verschiedenen zoologischen Gärten zufällig erhalten, von dem ganzen Geschlecht der imposanten Tiere übrig. Eine großzügige Rettungs- und Weiterzüchtungsaktion, zu der sich eine ganze Gesellschaft von Tierforschern und Forstkundigen kürzlich zusammengetan, hofft immer noch, auch mit diesem winzigen letzten Bestande die Art einstweilen zu sichern, und man wird ihr den möglichsten Erfolg wünschen müssen, sich aber zugleich nicht verhehlen dürfen, daß die Aussichten schwach sind.

Hat in diesem Falle immerhin das Verhängnis einer Kriegskatastrophe das Schicksal beschleunigt, so wäre der amerikanische Bison um ein Haar bereits ein Opfer rohester Massenschlächterei in völliger Friedenszeit geworden. In noch nicht fünfzig Jahren hatten die nordamerikanischen Büffeljager die bis gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erhaltenen Millionenbestände dieser Bisons bis ebenfalls auf ein paar hundert Stück reduziert, dem eigenen Lande eine bei rationeller Hege ganz ungeheure Einnahmequelle auf einen Schlag dadurch vernichtend. Damals hat allerdings die amerikanische Regierung noch in letzter Stunde mit wirklichem Glück, scheint es, eingegriffen, indem sie ein drakonisches Gesetz erließ, Schutzparke mit Winterfütterung einrichtete und die letzten Bestände aufs genaueste unter »Polizeiaufsicht« nahm. Es heißt, daß damit die Art dort einstweilen gerettet sei, wenn auch nur als Jammerrest gegenüber ehemaliger Herrlichkeit und in kleinstem Winkel des früheren ungeheueren Verbreitungsgebiets, unter Verzicht auch dort auf ein eigentliches freies Wildleben der alten Kolosse.

Das Schicksal des Aussterbens steht auch dem Alpensteinbock unmittelbar bevor. Es fragt sich allerdings, ob man die Steinböcke, die in Sibirien, im Kaukasus und einigen anderen Gebirgen leben, als verschiedene Arten anzusehen hat. Sie weichen von einander nur sehr wenig ab, trotzdem werden sie in der Regel als gesonderte Spezies betrachtet. Der Alpensteinbock jedenfalls ist aber dem Untergange bereits so nahe, daß auch er nur noch in kaum zweitausend Exemplaren vertreten ist. Einst war er in den Alpen der Schweiz ein häufig anzutreffendes Wild, das sogar noch bis in die Voralpen kam. Das schöne, stattliche Tier reizte die Jagdlust natürlich ungemein, die verbesserten Schußwaffen halfen es sehr bald allenthalben ausrotten. Heute ist der Steinbock nur noch in den Gebirgszügen von Piemont vorhanden, und hier ist die Jagd auf ihn fast ganz untersagt und weitgehender Schutz durchgeführt. Es verhält sich also mit diesem Tiere ähnlich wie ehemals mit dem Wisent im Walde von Bialowicza: er lebt von der Gnade des Menschen, ohne dessen Fürsorge und Schonung er bereits seit Jahrzehnten ausgestorben wäre.

Abb. 15. Alpensteinbock.

Entsprechend gibt es noch eine Menge von Tieren, deren vollkommenes Aussterben zwar noch in weiter Ferne liegt, die aber in Deutschland selbst entweder bereits ausgerottet oder in ihrer Existenz bedroht sind. Solche Tiere zeigen zum mindesten, daß sie sieh einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe des Menschen nicht anzupassen vermögen, und da die Kultur nun einmal in steigenden und stetig breiter werdenden Bahnen verläuft, so ist anzunehmen, daß diese Lebewesen von ihr immer weiter zurückgedrängt und schließlich auch ganz aus dem Wege geräumt werden. In dieser Lage befinden sich vor allem der Bär, der Wolf und der Luchs. Alle drei sind, wenn auch erst im abgelaufenen Jahrhundert, im engeren Deutschland als Standtiere ausgerottet worden.

Der Luchs, zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Bayern noch allen Jägern vertraut, wechselt jetzt nur ganz vereinzelt noch einmal von Polen nach Ostpreußen herüber. Der Wolf, noch im Jahre 1817 innerhalb der Grenzen Preußens in tausendachtzig Stück abgeschossen, ist entsprechend zu einem Zeitungsereignis geworden, wenn er in unserem Osten oder Südwesten als solcher Irrgast auftaucht. Gänzlich unbekannt geworden ist in Deutschland wie in Belgien, Holland, England und der Schweiz der wilde Bär. Trotzdem sind alle drei als Art zäh genug, sie halten sich noch in an Deutschland grenzenden Gebieten, der braune Bär vor allem auch auf den großen europäischen Gebirgen wie den Karpathen, den Transsylvanischen Alpen und den Höhen Skandinaviens, und wenn sie auch hier vielleicht in einiger Zeit verschwinden werden, so bieten ihnen Rußland und Sibirien wahrscheinlich noch für lange ein sicheres Unterkommen.

Abb. 16. Luchs.

Fast ebenso liegen die Verhältnisse für das Elen oder den europäischen Elch (Alces alces), den gewaltigen Hirsch, der einst ebenfalls über ganz Nord- und Mitteleuropa verbreitet war. Bei ihm ist der stufenweise Rückzug vor der Kultur noch deutlicher wahrnehmbar. Mit dem Vordringen der Römer nach Gallien wird der Elch hier seltener. In demselben Grade wie dann die Kultur ostwärts vordringt, weicht auch er zurück. C. Grewe hat diese Verdrängung des Elentiers in einem Artikel in der Zeitschrift »Zoologischer Garten« dargestellt. In Westdeutschland wurde der Elch bereits im zehnten Jahrhundert selten, im zwölften starb er aus. Vom sechzehnten Jahrhundert an nehmen die Tiere in ganz Deutschland, abgesehen vom äußersten Osten, bedeutend ab. Im vorvorigen Jahrhundert werden sie überall ausgerottet, mit Ausnahme von Ostpreußen. Hier werden sie nun im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ebenfalls immer seltener. Jetzt werden sie nur in einigen Forsten, besonders dem von Ibenhorst, noch gehegt. Einmal war die Zahl der stattlichen Tiere auch so bereits auf elf herabgesunken, später ist aber ihre Zahl wieder einigermaßen gewachsen, so daß der Bestand in Ostpreußen sich jetzt auf vielleicht vierhundertfünfzig Köpfe beläuft. So wenig auch dieses Tier einer geregelten Forstwirtschaft standzuhalten vermag, so hat es doch in den Wäldern Rußlands, Sibiriens und in engverwandter Art auch Nordamerikas noch auf lange Zeit hinaus wohl einen gesicherten Wohnplatz.

Noch in völliger »Wildheit«, aber ebenfalls jammervoll reduziert, lebt in Deutschland der Biber, doch er ist so selten geworden und überhaupt nur noch in wenigen Exemplaren (im Jahre 1913 nicht ganz hundert) an der Elbe bei Dessau vorhanden, daß auch zu seiner Erhaltung in unserem Vaterlande bereits schärfste Mahnungen von Sachkundigen ergehen. In Frankreich haust er noch an der Rhone, dagegen ist er etwas häufiger in Rußland und Sibirien zu treffen, wenn auch überall im Absterben begriffen.

Unter den Vögeln ist der gewaltige Lämmergeier, der größte Raubvogel der alten Welt, der früher noch in den Bayrischen Alpen vorkam, jetzt in Deutschland wie der Schweiz endgültig ausgerottet, während er in den Mittelmeerländern, seiner eigentlichen Heimat, noch dauert. Die erwähnten Tiere sind solche, deren Verbreitungsgeschichte schon seit langem verfolgt wird und darum auf sicherer Beobachtung beruht. Daß aber noch einer Menge anderer, besonders unansehnlicher und darum weniger kontrollierbarer deutscher Tiere der Untergang zu weissagen ist, unterliegt keinem Zweifel.

Das preußische Schutzgesetz von 1920 bezeichnet bereits nicht weniger als zweiundzwanzig Vogelarten und Säugetiere, die unbedingt und das ganze Jahr zu schützen seien, nicht nur, weil sie eine Zierde unserer Landschaft darstellen, sondern durchweg auch, weil bereits Gefahr der Ausrottung besteht. Bei den Vögeln finden sich u. a. dort Uhu, Kormoran, Rohrdommel und andere Reiher, Höckerschwan, der bereits hochgradig bedrohte schwarze Storch und der aussterbende Kolkrabe, unter den Säugern neben dem Biber der Siebenschläfer nebst Verwandten und der äußerst seltene Nerz oder Sumpfotter.

Auch von einem charakteristischen deutschen Schmetterling, dem wundervollen Apollofalter (Parnassius apollo), ist neuerlich festgestellt worden, daß er wenigstens in einem besonders interessanten Teile seines Gebietes, dem schlesischen Gebirge, in den letzten fünfzig Jahren radikal ausgerottet worden ist, und zwar wesentlich durch Schuld gewissenloser Insektenhändler, die ihn rücksichtslos abfingen.

Abb. 17. Apollofalter.

Die unvernünftige, unrationelle Ausrodung der Wälder, aber auch die intensivere und auf größeres Terrain ausgedehnte Bodenbewirtschaftung tragen neben solchen Einzelausbeutungen die Hauptschuld, daß auch Tiere vernichtet werden, die uns in vieler Beziehung nützlich oder durch ihre Belebung der Landschaft angenehm sind. Die Kultur hat besonders in Deutschland die großen und schädlichen Raubtiere ausgerottet. Leider wird sie nun eine Menge unschuldiger oder gar nützlicher Wesen verdrängen, wenn nicht beizeiten für deren weiteres Fortbestehen allgemein Sorge getragen wird. Die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse ist ja jetzt entschieden gewachsen und mit ihr die Anteilnahme an unserer heimischen Tierwelt. Vielleicht trägt dieses Interesse dazu bei, besonders unseren hilfsbedürftigen Vögeln überall Schonung oder gar Pflege angedeihen zu lassen. So wenig bei der Vernichtung schädlicher Tiere Sentimentalität angebracht wäre, so sehr muß es doch jedermanns Streben sein, unser einheimisches Naturleben möglichst vor Verarmung zu schützen.


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