Balduin Groller
Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer. Band IV - VI
Balduin Groller

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Das Halsband der Gesandtin.

Nach mehrmaligem vergeblichen Anklopfen betrat Engelbert, der Kammerdiener Dagoberts, um halb neun Uhr vormittags das Schlafzimmer seines Herrn, um ihn zu wecken. Es mußte etwas Besonderes los sein. Denn Dagobert liebte es nicht, zu »nachtschlafender« Zeit geweckt zu werden, und er konnte sehr unwirsch werden und seinem Unmut in sehr kräftigen Worten Ausdruck geben, wenn es doch einmal geschah, daß die aufräumende Dienerschaft in den Nebengemächern nicht so vorsichtig und geräuschlos hantierte, daß er darob doch aufwachte. Es kam allerdings selten vor; denn seine Leute waren gut abgerichtet.

Es mußte etwas Wichtiges los sein. Denn der Diener betrat das Zimmer ohne Scheu und besorgte dann das Aufwecken mit einer bestimmten Hast und Energie.

»Was gibt's?« fragte Dagobert, die Augen aufschlagend. In seiner Stimme klang etwas an wie fernes Donnerrollen und in seinem erstaunten Blicke zuckte es auch auf wie von einem unheilkündenden Wetterleuchten. Wehe jetzt dem sterblichen Kammerdiener, der da keine genügende Entschuldigung für sich hätte! Engelbert hatte sie für sich, und es vibrierte keine Todesangst in seiner Stimme, als er anhub: »Verzeihung, gnädiger Herr, Madame Meyer hat angerufen!«

46 »Ach, Madame Meyer – das ist etwas anderes!«

Dagobert war mit einem Satz aus dem Bett, und sein wirrer Petruskopf sah gar nicht mehr so bedrohlich und besorgniserregend aus.

»Es ist unnötig,« beeilte sich der Diener hinzuzufügen, »daß der gnädige Herr sich selber zum Telephon bemühen. Es ist schon abgeläutet. Ich habe nur auszurichten, daß der gnädige Herr die Güte haben sollten, sich sofort hinzubegeben. Es sei sehr dringlich.«

»Gut, Engelbert, dann sage dem Kutscher, er soll augenblicklich einspannen.«

In Wahrheit hatte Dagobert keinerlei Beziehungen zu irgendeiner Madame Meyer. Das war nur ein gegenseitig vereinbarter Schein- und Deckname für den telephonischen Verkehr mit dem Oberkommissär Dr. Weinlich, welcher der Leiter der Kriminalabteilung der Wiener Polizeidirektion war und nicht mit Unrecht als einer ihrer feinsten Köpfe galt.

Dagobert hatte sich, als er aufgestanden war, in sein Badezimmer begeben, wo er sein übliches Morgenbad nahm, das er damit beschloß, daß er sich unter die kalte Dusche stellte. Schon war dann auch der Kammerdiener wieder zur Stelle, der ihn dann frottierte, worauf Dagobert, wie er stand und ging, seine eisernen Hanteln aufnahm, um die seit jeher gewohnten Übungen durchzumachen. Er beendigte sie mit fünfzig Kniebeugen, und dann erst fühlte er sich ganz munter, ganz als Mensch. Er war an diese Übungen so gewöhnt, daß er sich den ganzen Tag über unbehaglich gefühlt hätte, wenn er sie einmal aus irgendeinem Grunde hätte unterlassen müssen.

Mit dem Ankleiden ging es dann unter Beihilfe des Dieners sehr rasch vorwärts, und als er sich 47 hierauf ins Speisezimmer begab, da stand auch schon sein gewohntes Frühstück: Tee, Butter, Schinken, Eier – bei Dagobert mußte alles wie am Schnürchen gehen – für ihn bereit auf dem Tische.

Punkt halb zehn betrat Dagobert die Kanzlei Dr. Weinlichs im neuen Polizeipalast. Es war ein großes, dreifenstriges Gemach und eleganter und behaglicher eingerichtet, als man es sonst bei Amtsräumen zu sehen gewohnt ist. An den beiden Eckfenstern stand je ein großer Schreibtisch aus lichtem Eichenholz. Zwischen diesen befanden sich mehrere große, sogenannte Klubfauteuils mit dunkelrotem Leder überzogen. An der rechten Seitenwand, der einzigen Vollwand, hing ein lebensgroßes Kaiserbild in Öl, an den übrigen Wänden mehrere geschmackvoll gerahmte Stiche und Photographien. An der linken Seitenwand befand sich eine Tapetentür, die in Weinlichs Privatkabinett führte.

Weinlich erhob sich rasch, als Dagobert eintrat und begrüßte ihn mit besonderer Wärme.

»Ich wußte es, Dagobert,« rief er, dem Eintretenden die Hände schüttelnd, »auf Sie kann man sich doch immer verlassen!«

»Genau dasselbe weiß ich von Ihnen, Doktor. Verfügen Sie über mich!«

Beide richteten sich in den großen Klubfauteuils ein.

»Eine sehr unangenehme Sache!« begann der Oberkommissär. »Und Sie sollen uns aus der Verlegenheit helfen. Ich wüßte nicht – wer sonst!«

»Vor allen Dingen der Dr. Weinlich selber!«

»Ich kann nichts tun. Hören Sie nur: Gestern war ich den ganzen Tag über ganz außerordentlich 48 in Anspruch genommen. Sie wissen – der Mord auf der Dominikaner-Bastei –«

»Ich weiß. Vom fachmännischen Standpunkte ein sehr fescher Mord. Alles, was recht ist – fein gemacht! Gar nichts zu sagen!«

»Nicht von dem Morde wollte ich sprechen, Dagobert. Die Sache ist so gut wie erledigt. Ich habe Glück gehabt.«

»Es sind die gescheiten Menschen, die Glück haben – bei unserem Geschäft!«

»Ich wollte nur erklären, daß ich von früh bis in die Nacht hinein in fieberhafter Tätigkeit begriffen war und mich um gar nichts anderes kümmern konnte. Und da hat es denn in meiner Abwesenheit, wie ich anzunehmen, zu fürchten geneigt bin, ein kleines Malheur gegeben, das uns vielleicht noch große Unannehmlichkeiten bereiten könnte.«

»Und da soll ich einspringen?«

»Ich wiederhole: ich wüßte nicht wer sonst! Die ganze Geschichte wird Ihnen übrigens sofort einleuchten, wenn ich Ihnen verrate, daß Ihr mit Recht so geschätzter Freund Dr. Skrinsky einen Fall in Behandlung genommen hat.«

»Ah, mein spezieller Liebling, der Kommissär Dr. Thaddäus Ritter v. Skrinsky!«

»Man hat ihn geschickt, weil ich nicht da war. Es handelt sich um einen Schmuckdiebstahl, und er hat den ›Täter‹ auch schon.«

»Schon wieder?«

»Und ich habe den Täter auch schon gesehen. Nun – wissen Sie – wenn Skrinsky einmal einen Täter hat, dann regt sich auch sofort eine starke Vermutung, daß – daß –«

49 »Daß –? Nur heraus mit der Sprache! Daß er eine Dummheit gemacht hat!«

»Einen Mißgriff wollte ich sagen.«

»Bleiben wir nur bei der Dummheit, lieber Freund. Das entwickelt sich ja alles organisch. Sie werden sich schließlich doch zu meiner Theorie bekennen, daß der Mensch nicht aus seiner Haut heraus kann. Skrinsky muß also seine Dummheiten machen. Es geht gar nicht anders.«

»In diesem Falle – das kommt noch dazu – wäre mir eine Bloßstellung unserer Polizei besonders peinlich. Denn der Diebstahl ist in dem Hause des xschen Gesandten begangen worden.«

»Ah, also wieder eine exterritoriale Geschichte! Die sind immer heikel.«

»Das will ich meinen, Dagobert! Wie da die Berichte gelesen werden! Nicht nur bei uns, sondern auch in der Heimat des Gesandten. Es kann da also für uns eine internationale Blamage blühen, und die möchte ich doch nicht zu den höchsten der Lebensgenüsse zählen.«

»Ich glaub's. Was also soll nun geschehen?«

»Sie sollen uns ans der Verlegenheit helfen, Dagobert.«

»Sehr schmeichelhaft. Wäre es aber nicht einfacher, wenn Sie ihm den Fall abnähmen?«

»Das ist ausgeschlossen. Wissen Sie denn nicht, was der ›Dienstweg‹ und das ›Interesse des Dienstes‹ zu bedeuten haben? Er hat die Geschichte angefangen, hat den Lokalaugenschein vorgenommen und da muß er sie auch zu Ende führen. Da gibt's kein Abnehmen.«

»Richtig. Das hatte ich nicht bedacht.«

50 »Auch das andere naheliegende Auskunftsmittel steht mir nicht zu Gebote. Ich könnte ihn wirtschaften lassen und ohne ihn, neben ihm, hinter ihm auf eigene Faust meine Nachforschungen anstellen. Geht auch nicht. Ich bin Beamter und darf nicht auf eigene Faust amtliche Untersuchungen durchkreuzen, unter Umständen sogar ihnen entgegenarbeiten. Das wäre ja eine heillose Wirtschaft. So bin ich denn auf Sie verfallen, Dagobert. Sie sind ein Privatmann, Sie können tun, was Sie wollen und der Sache nachgehen, wie Sie wollen, und wenn Sie dann mir einige Mitteilungen zukommen lassen, so ist das nur eine private Liebenswürdigkeit von Ihnen. Sie werden sicher keine Dummheiten machen.«

»Fürchten Sie nicht, Doktor, daß ich über Ihre Komplimente doch einmal erröten werde?«

»Von mir aus können Sie auch erröten, Dagobert, nur versagen Sie mir Ihre Hilfe nicht. Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, und ich könnte doch wieder ruhig schlafen.«.

»Sie sagten doch aber, daß Skrinsky den Täter habe. Es wäre ja möglich, daß er ausnahmsweise einmal doch den richtigen erwischt hätte!«

»Auch für diesen Fall wäre es mir eine große Beruhigung, von Ihnen dafür die Bestätigung zu erhalten.«

»Also – ich will's versuchen hineinzusteigen. Lassen Sie mich den Fall kennen.«

»Ich möchte Ihnen nichts erzählen. Sie wissen, was es auf sich hat mit Berichten aus zweiter und dritter Hand. Der Beschuldigte ist gestern eingebracht worden. Ich habe verfügt, daß Dr. Skrinsky das entscheidende Verhör jetzt um zehn Uhr hier in meinem 51 Bureau mit ihm vornehme. Auch eine Kronzeugin ist vorgeladen. Sie werden sich durch meine Autorität gedeckt an meinem Schreibtisch unauffällig beschäftigen, wenn Sie wollen, Ihre Notizen machen und so den Fall aus erster Hand kennen lernen.«

Dr. Weinlich drückte auf den elektrischen Taster und ließ durch die eintretende Ordonnanz den Herrn Kommissär Dr. Skrinsky zu sich entbieten. Dieser erschien sofort, grüßte überaus höflich und warf einen erstaunten Blick auf Dagobert. Weinlich schien das nicht bemerken zu wollen und mahnte zur Eile.

Der Kommissär richtete sich auf dem jenseitigen Schreibtisch ein und gab dem hereinbeorderten Wächter Befehl, den bewußten Häftling vorzuführen. Nach wenigen Minuten erschien dieser unter guter Bedeckung im Zimmer. Es war ein hochgewachsener, athletisch gebauter junger Mann, gut angezogen, obschon sichtlich ein wenig aus der Ordnung gebracht durch die im Polizeigefangenhause verbrachte letzte Nacht. Das volle, glattrasierte, gutgefärbte Gesicht ließ in seiner Harmlosigkeit allerdings nicht auf einen Verbrecher schließen. Das seidigglänzende, sehr lichte Blondhaar war etwa auf Daumenbreite kurz geschoren und strebte so geradeaus in die Höh'. Die gutgepflegten Hände waren von beträchtlicher Größe, so etwa Reisetaschenformat und er trug sie auch in der für Schwergewichtsathleten charakteristischen Haltung.

Er verneigte sich beim Eintreten höflich. Skrinsky rief ihm zu: »Treten Sie näher!«

Der Häftling trat an den Tisch des Kommissärs und richtete einen fragenden Blick auf ihn. Als dieser erfolglos blieb, redete er den Beamten an: »Ich glaube, Sie wollten noch etwas sagen, Herr Kommissär?«

52 »Was hätte ich nach Ihrer Ansicht noch sagen sollen?«

»Beispielsweise: bitte, nehmen Sie Platz! – Ich erhebe nämlich Anspruch darauf, so behandelt zu werden, wie es eben in anständiger Gesellschaft Sitte ist, und sehe gar nicht ein, warum gerade ich hier herumstehen soll, wo alles sitzt.«

Skrinsky wollte etwas scharf erwidern, als ihm Weinlich zuvorkam und dem jungen Mann einen Stuhl hinschob. Dieser dankte verbindlich und wandte sich dann überhaupt an Weinlich: »Verzeihen Sie, Herr – ich glaube – Herr Oberkommissär – richtig? – sehr angenehm! Wäre es nicht möglich, daß Sie mich verhören? Ich glaube, wir könnten uns viel leichter verständigen. Nach seinem gestrigen Debüt spreche ich mich mit diesem Herrn nicht besonders gut.«

Weinlich setzte ihm kurz auseinander, warum es untunlich sei, auf seinen Wunsch einzugehen. Er möge im übrigen beruhigt sein, daß ihm kein Unrecht geschehen werde.

Skrinsky war durch diese Zwischenspiele schon ein wenig nervös geworden und beeilte sich nun, das Verhör endlich aufzunehmen.

»Ich frage Sie,« begann er, »ob Sie bei Ihrem nutzlosen System, die Antworten zu verweigern, auch heute noch verharren wollen?«

»Ich werde auch heute mitteilen, was ich für angemessen erachte und auch heute verschweigen, was ich nicht zu sagen wünsche.«

»Gut. Wir sind auf Ihre Mitteilungen und Geständnisse nicht angewiesen, wie Sie gleich sehen werden. Wollen Sie Ihre Personalien angeben?«

»Nein, das will ich nicht.«

53 »Wie's beliebt! Ich werde sie Ihnen vorhalten, damit Sie sehen, daß die Polizei sich auch so zu behelfen weiß: Sie heißen Kajetan Mauhardt, geboren zu Obertrum im Salzburgschen als der Sohn des praktischen Arztes Georg Mauhardt, 24 Jahre alt, seit drei Jahren in Wien VJJ., Burggasse 48 wohnhaft als Zimmerherr bei der Witwe Theresia Feichtinger, der Sie monatlich 36 Kronen für Miete und Bedienung bezahlen, angeblich Student der Philosophie –«

»Ich bin Universitätsstudent. Dieses ›angeblich‹, soweit es eine Verdächtigung enthalten soll, muß ich mir auf das allerentschiedenste verbitten!«

»Ich dachte nur, daß ein akademischer Bürger und ein erwiesener Diebstahl –«

»Unsinn!«.

»– schlecht zueinander stimmen und daß man da wohl berechtigt ist, an dem ›Studenten der Philosophie‹ zu zweifeln.«

»Oder an dem Diebstahl!«

»Sie übersehen nur eines, die Hauptsache: daß Sie in flagranti erwischt worden sind!«

»Sie sollten vorsichtiger sein, Herr Kommissär!«

»Ihnen wäre jetzt vielleicht wohler, wenn Sie es gewesen wären! Es kann Ihre Lage nur verbessern, Mauhardt, wenn Sie –«

»Herr Mauhardt – wenn ich bitten darf!«

»– wenn Sie ein reumütiges Geständnis ablegen. Es ziemt Ihnen schlecht, sich aufs hohe Roß zu setzen. Ein überführter Dieb –«

Mauhardt erhob sich rasch und wandte sich an Dr. Weinlich: »So verhandle ich überhaupt nicht weiter. Ich verlange einen Stenographen, der das 54 Verhör wortgetreu aufnimmt. Das Ende vom Lied wird ja doch das sein, daß ich diesen Herrn ohrfeigen werde und da möchte ich meine Milderungs- und Strafausschließungsgründe schwarz auf weiß bei der Hand haben.«

Dr. Weinlich mahnte zur Mäßigung, bezüglich der Bitte um einen Stenographen gab er aber nach. Er habe selbst schon beizeiten daran gedacht und darum für die Beistellung eines durchaus zuverlässigen Stenographen gesorgt. Er werde übrigens persönlich dem Verhöre bis zum Schlusse beiwohnen, um bei der Verifizierung des Protokolls Zeuge zu sein.

Er gab nun Dagobert einen Wink, der sich darauf an die Seite Skrinskys setzte und die Arbeit sofort aufnahm.

Skrinsky fuhr fort, den Beschuldigten zu verhören: »Wollen Sie uns eine Darstellung des Sachverhaltes geben?«

»Nein.«

»Ich glaube, es wäre besser für Sie, wenn Sie sprächen. Schweigen oder leugnen hilft nichts mehr. Der Beweis ist in vollständiger, jeden Zweifel ausschließender Weise erbracht. Vielleicht könnten Sie doch einiges aufklären oder zu Ihrer Rechtfertigung vorbringen.«

»Ich habe nichts vorzubringen.«

»Wie Sie wollen! Dann werden wir Ihnen die Darstellung geben und damit den zwingenden Beweis gegen Sie erbringen. Voraussichtlich werden Sie dann von dem hohen Roß herabsteigen, auf das Sie sich zu setzen beliebt haben!« Zu dem neben Mauhardt aufgepflanzten Wachmanne: »Ich bitte, uns die vorgeladene Zeugin vorzuführen!«

55 Eine hochgewachsene, weißhaarige Dame in schwarzer Kleidung betrat das Gemach. Dagobert notierte nach ihren einleitenden Angaben: »Ethel Grant, geboren zu Wheeling, West Virgina U. S., 62 Jahre alt, katholisch, ledig; seit 18 Jahren als Stütze der Hausfrau tätig im Hause des Herrn William Armstrong, dermalen xschen Gesandten in Wien XVIII., Cottage, Haizingergasse 204.«

»Bitte, nehmen Sie Platz, Fräulein,« sagte Skrinsky, »und erzählen Sie uns, was Sie von dem Vorfall wissen, der uns heute beschäftigt. Ich ermahne Sie, streng bei der Wahrheit zu bleiben und uns nur zu berichten, was Sie aus eigener Wahrnehmung wissen.«

Die Zeugin nickte zustimmend und erzählte in einem Deutsch von stark fremdländischem Akzent, aber vollkommen klar und verständlich: »Mister und Mistreß Armstrong sind gestern mit dem Schnellzuge um 2 Uhr 45 Minuten nachmittags zum Sommeraufenthalte nach Gmunden abgereist. Gegen 2 Uhr verließen die Herrschaften das Haus. Als Mistreß Armstrong sich von mir verabschiedete – es war im Salon, wo begreiflicherweise große Unordnung herrschte – da wies sie nach dem Tisch hin und bat mich vor allen Dingen, darauf zu achten und Ordnung zu machen. Dort lag nämlich offen und noch unversorgt ein großer Teil ihres Schmuckes. Am Abend vorher war Empfang beim deutschen Botschafter gewesen. Die Herrschaften waren spät nach Hause gekommen, Mistreß Armstrong war infolgedessen spät aufgestanden, dann kamen die letzten Reisevorbereitungen, und so konnte es geschehen, daß der Schmuck noch immer nicht aufgehoben war. Als ich Mistreß Armstrong zum Wagen begleitete, überzählte ich vorher rasch mit dem Auge die Anzahl 56 der Schmuckstücke. Es waren acht Stück, das größte und wertvollste darunter das Diamanthalsband von Misses Armstrong.«

»Wissen Sie bestimmt, daß es damals noch dort lag?«

»Ganz bestimmt. Ich kann es beeiden. Es war das wichtigste Stück, und darum hatte ich besonders darauf geachtet.«

»Können Sie eine Angabe über den Wert des Halsbandes machen?«

»Es ist mir bekannt, daß Herr Armstrong zwölftausend Dollars dafür gegeben hat.«

»Schön. Erzählen Sie weiter.«

»Als die Herrschaften abgefahren waren, eilte ich wieder ins Zimmer hinauf und da – ich war sicher nicht mehr als fünf Minuten abwesend gewesen – bemerkte ich auf den ersten Blick, daß das Halsband nicht mehr da war. Ich glaubte, daß ich sterben müsse – es war mir anvertraut worden!«

»Was taten Sie da?«

»Einige Minuten suchte ich wie wahnsinnig im Zimmer, auf der Treppe, im Stiegenhause. Ich dachte, es könnte an einem Kleide oder an einem der Gepäcksstücke hängen geblieben und dann verstreut worden sein. Als das Suchen erfolglos blieb, begann ich zu überlegen. Ich sagte mir, daß ich vor allen Dingen die Besinnung nicht verlieren dürfe. Ich dachte nach, und dann tat ich, was Sie ja bereits wissen, Herr Kommissär.«

»Erzählen Sie nur weiter, Fräulein Grant, damit es dieser – ›Herr‹ Mauhardt auch erfahre. Vielleicht gibt er dann das Leugnen doch auf!«

57 »Ich habe nichts zu leugnen!« warf Mauhardt grollend ein.

»Wir werden ja sehen. Also, Fräulein Grant, bitte!«

»Ich lief zuerst zum Portier und befahl ihm, das Haus abzuschließen, niemand herein- und vor allen Dingen niemand hinauszulassen. Dann eilte ich zum Telephon und verständigte die Polizei, indem ich zugleich um unverzügliche Intervention bat. Zwanzig Minuten später erschienen Sie, Herr Kommissär, mit Begleitung bei uns.«

»Nur weiter, Fräulein Grant!«

»Sie nahmen den Tatbestand auf und dann ließen Sie sich alle im Hause anwesenden Personen vorführen. Es waren außer mir noch sechs Personen, alle zur Dienerschaft gehörig. Sonst war niemand da.«

»War die Dienerschaft vollzählig?«

»Nein; zwei Kutscher hatten die Herrschaften, das Gepäck und die Begleitung zur Bahn gefahren.«

»Die Begleitung bestand ebenfalls aus Dienerschaft?«

»Ja, es fuhr Herrn Armstrongs erster Kammerdiener und Misses Armstrongs Zofe mit. Mit allen Anwesenden nahmen Sie dann, Herr Kommissär, Protokolle auf.«

»Was geschah dann?«

»Dann schritten Sie, Herr Kommissär, zur Hausdurchsuchung, und im Verlaufe dieser wurde im linken Ecksalon des ersten Stockwerkes ein unbekannter Mann vorgefunden – der Herr, der nun hier sitzt. Wir waren natürlich sehr erstaunt, weil ihn niemand hatte kommen sehen und weil er keinerlei Aufklärung über seine Anwesenheit geben konnte.«

58 »Geben wollte!« korrigierte Mauhardt die Zeugin.

»Und ich füge für das Protokoll hinzu,« bemerkte der Kommissär, »daß er sie tatsächlich nicht geben konnte, worauf ich seine Verhaftung verfügte. Das Halsband wurde bei ihm nicht vorgefunden, aber er hatte Zeit gehabt, es zu beseitigen, vielleicht einem Komplizen im Vorgarten oder auf der Straße zuzuwerfen. Herr Mauhardt, ich frage noch einmal, ob Sie sich auch jetzt noch nicht zu einem Geständnis bequemen wollen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die freiwillige Gutmachung des Schadens in diesem Stadium Ihre Lage wesentlich verbessern könnte.«

»Ich habe nichts zu gestehen,« erwiderte Mauhardt. »Aufklärungen gebe ich nicht, weil ich sie nicht zu geben wünsche. Das ganze Verhör ist ungeheuer überflüssig, weil das Ende doch das sein wird, daß die volle Aufklärung sich auch ohne mein Zutun ergeben wird. Ich wundere mich, daß sie nicht schon erfolgt ist und zweifle nicht im mindesten, daß die nächsten Stunden sie bringen werden. So lange muß ich mich in Geduld fassen in der Zuversicht, daß Sie dann, Herr Kommissär, wie es sich für einen anständigen Menschen ziemt, mich unter tausend Entschuldigungen für Ihren Mißgriff entlassen werden.«

»So weit sind wir noch lange nicht, ›Herr‹ Mauhardt! Ich habe noch stärkere Beweise in der Hand, daß Sie der Dieb sind, und einem ertappten Diebe steht es schlecht an –«

Mauhardt sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Dr. Skrinsky ermahnte mit einem Blick die beiden anwesenden Sicherheitswachmänner auf der Hut zu sein und etwaige weitere Exzesse zu verhindern.

59 »Das lasse ich mir nicht gefallen!« rief Mauhardt in höchster Erregung. Dann bemerkte er erst, wie die beiden Männer an seiner Seite sich in Bereitschaft setzten, zuzugreifen. Das nötigte ihm ein vergnügtes Lächeln ab und in gemütlichem Tone sagte er zu ihnen: »Ihr könnt ganz ruhig sein – euch tue ich nichts!«

Auch Weinlich hatte sich erhoben und redete beschwichtigend auf den Aufgeregten ein.

»Allen Respekt vor Ihnen, Herr Oberkommissär,« erwiderte Mauhardt, »aber ich bin durchaus nicht in der Lage, mir von irgendeinem Menschen, selbst wenn er die Rechtswohltat des Schwachsinns für sich haben sollte, Insulten gefallen zu lassen.«

»Aber – Herr Mauhardt!«

»Ich bin akademischer Bürger und erhebe Anspruch auf anständige Behandlung. Ein Dieb soll ich sein! Er soll es beweisen, wenn er kann! Wenn er es aber nicht kann? Fragen Sie ihn doch, ob er dann bereit sein wird, mir für den Schimpf Genugtuung zu geben, und sagen Sie ihm, daß, wenn er sie nicht gibt, ich mir meine Satisfaktion nehmen werde!«

»Und ich sage Ihnen,« rief nun Skrinsky erregt, »daß ich Rechenschaft nur meiner vorgesetzten Behörde schuldig bin – Ihnen nicht!«

Weinlich sprach noch einiges leise mit Skrinsky, worauf dieser die Verhandlung wieder aufnahm.

»Ich komme zu den weiteren Beweisen. Nach seiner Einlieferung habe ich den Beschuldigten dem Erkennungsamt zur anthropometrischen Aufnahme überstellt.«

»Es war ein schöner Unsinn!« grollte Mauhardt weiter. »Jetzt komme ich gar ins Verbrecheralbum.«

»Ich habe meine Pflicht erfüllt,« fuhr der Kommissär fort. »Bei der vorgenommenen 60 Leibesdurchsuchung wurden folgende Gegenstände vorgefunden: ein Taschentuch –« Er wies die einzelnen Gegenstände vor.

»Sehr verdächtig!« rief Mauhardt ein.

»Eine Uhr mit Kette, eine Börse mit sieben Kronen Inhalt, eine Brieftasche –«

»Mit meinen Visitkarten und meiner Adresse darauf!«

»Mit einigen Visitkarten und zwei Zwanzigkronenscheinen.«

»Wahrscheinlich auch gestohlen!«

»Habe ich nicht behauptet. Wir kommen schon noch zu verfänglicheren Dingen. Eine Legitimationskarte, eine silberne Zigarettendose –«

»Allerdings sehr verfänglich!«

»Das noch nicht, Herr Mauhardt. Auch dieser Schlüssel – wahrscheinlich Ihr Wohnungsschlüssel – dürfte keine weitere Bedeutung haben, aber –«

»Das ist der Schlüssel von unserer Gartenpforte!« rief hier Miß Grant.

Der Kommissär machte ein erstauntes Gesicht.

»Ach sooo! Das haben wir ja gar nicht gewußt! Jedenfalls ist es sehr interessant und erklärt manches! Fräulein Grant, können Sie mit Bestimmtheit behaupten, daß das Ihr Gartenschlüssel ist?«

»Mit voller Bestimmtheit. Ich kenne unsere Schlüssel sehr genau.«

»Es könnte aber auch ein zu einem nicht schwer zu erkennenden Zweck angefertigter Nachschlüssel sein?«

»Dann müßte er sehr gut nachgemacht sein.«

»Nachschlüssel müssen sehr gut nachgemacht sein, sonst sperren sie nicht!«

»Ich meine nicht nur den Bart, sondern die ganze übrige Form.«

61 »Schön. Nun, Herr Mauhardt, was haben Sie darauf zu bemerken?«

»Nichts.«

»Auch gut. Wir gehen weiter. Endlich wurde bei dem Beschuldigten am bloßen Leib versteckt –«

»Versteckt!«

»Versteckt – denn Schmuck trägt man sonst sichtbar! – dieses Schmuckstück in Form einer Rosette an einer dünnen, goldenen Venezianerkette gefunden. Es besteht aus einem großen, schwärzlich grünen, vorläufig nicht näher zu bestimmenden Stein als Mittelstück.«

»Er ist schon näher zu bestimmen, Herr Kommissär,« bemerkte Mauhardt. »Es ist ein Jaspis, also jedenfalls kein Wertobjekt.«

»Also Jaspis – gut. Aber kein Wertobjekt? Wir werden ja sehen! Jedenfalls stelle ich schon jetzt fest, daß ›Herr‹ Mauhardt ein ausgezeichneter Steinkenner zu sein scheint. Der Jaspis ist umkränzt von sieben Diamanten. Diese sind ein Wertobjekt. Denn sie sind groß und von seltener Schönheit.«

Mauhardt machte ein bestürztes Gesicht.

»Ich wußte nicht,« sagte er in sichtlicher Verwirrung, »daß diese Steine so wertvoll sind, sonst –«

»Was – sonst?«

»Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich wollte nur andeuten, daß ich von dem Werte der Steine keine Ahnung hatte.«

»Sie – der genaue Juwelenkenner?!«

»Ich habe nie in meinem Leben Brillanten besessen –«

»Das glaube ich!«

»Sie haben gar nichts zu glauben, oder von mir aus – glauben Sie, was Sie wollen! Ich habe nie welche besessen und nie etwas mit solchen zu tun 62 gehabt. Ich wußte also wirklich nicht, daß das ein Schmuckstück von besonderem Werte sei.«

»Sie wußten es nicht, Herr Mauhardt – gut. Aber es war bei Ihnen versteckt und man hat es bei Ihnen gefunden. Sie wußten nicht, daß es wertvoll sei. Es ist wertvoll. Wir haben den Kaufpreis der Rosette ermittelt. Er betrug 4600 Kronen. Also immerhin schon der Mühe wert. Wir haben aber noch etwas anderes erhoben. Als ich das Schmuckstück vorfand, habe ich es sofort dem hier anwesenden Fräulein Grant zur Besichtigung zugeschickt. Sie sollte bekunden, ob es auch zum Armstrongschen Besitze gehöre. Sie hat es bestätigt. Nun, ›Herr‹ Mauhardt – was haben Sie darauf zu erwidern?«

»Nichts.«

»Gut. Fräulein Grant, bleiben Sie bei Ihrer Aussage und können Sie sie diesem Herrn ins Gesicht wiederholen?«

»Ja, Herr Kommissär, ich bleibe bei meiner Aussage und kann sie beschwören. Die Rosette gehört zu unserem Schmuck, und ich weiß auch genau, was sie gekostet hat. Das alles ist auch leicht festzustellen und zu beweisen. Sie wurde erst vor wenigen Wochen hier in Wien beim Hofjuwelier Friedinger gekauft. Wenn Sie ihn vorladen wollen, wird er meine Angaben bestätigen müssen.«

»Nun, Herr Mauhardt – Sie wollen noch immer nicht sprechen?«

»Ich habe nichts zu sagen.«

»Dann muß wohl ich sprechen und ich sage: Wer die Rosette gestohlen hat, der wird auch über den Verbleib des Halsbandes etwas wissen!«

Mauhardt erhob sich rasch, und es schien im ersten 63 Augenblick, als wolle er sich auf den Kommissär stürzen. Er bezwang sich aber bald und sagte nur kurz: »Ich geh'. Mir ist die Sache zu dumm!«

Damit drehte er sich um und schritt zur Tür, die beiden Wächter dicht an seiner Seite.

»Herr Mauhardt,« rief ihm der Kommissär wütend nach, »ich befehle Ihnen zu bleiben!«

»Sie können befehlen, was Sie wollen,« entgegnete Mauhardt mit zurückgewendetem Kopf, »ich für meinen Teil habe keine Lust, Ihre böswilligen Albernheiten noch länger mitanzuhören!«

Damit schritt er zur Tür hinaus, um sich wieder in seine Zelle abführen zu lassen. Die Zurückgebliebenen sahen sich mit verdutzten Gesichtern an. Dr. Skrinsky gab sich sichtlich Mühe, Herr der Situation zu bleiben. Zunächst entließ er huldvoll die Zeugin Grant, und als er dann mit Dr. Weinlich und Dagobert allein im Zimmer war, wandte er sich gleichsam entschuldigend an seinen Vorgesetzten: »Ich glaube, Herr Oberkommissär, ich konnte nicht anders vorgehen!«

»Gewiß nicht. Sie haben Ihre Sache ausgezeichnet gemacht, Herr Kollege,« erwiderte Weinlich, ohne dabei Dagobert einen Blick zuzuwerfen.

»Jedenfalls wird er mir nicht auskommen. Der Beweis ist in der denkbar umfassendsten Weise erbracht. Ich werde also nach Ausfertigung des Protokolls verfügen, daß die Akten unverzüglich der Staatsanwaltschaft übermittelt, der Dieb aber dem Untersuchungsrichter überstellt werde.«

»Ganz vortrefflich!« versicherte Weinlich.

»Noch etwas möchte ich für das Protokoll bemerken,« fuhr Skrinsky, sich an Dagobert wendend, fort: »Ich habe da einige Papiere –«

64 »Aber–« wagte Dagobert schüchtern einzuwenden, »die sind doch in der Verhandlung nicht vorgekommen?!«

»Das tut nichts; ins Protokoll müssen sie hinein. Als ich den Dieb in seinem Verstecke aufstöberte, da saß er und schrieb mit Bleistift seitenweise sinnlose Ziffernkolonnen. Hier sind die Blätter. Hier sind noch andere Blätter, ebenso sinnlos mit Ziffern bedeckt, mit denen er sich gestern abends und heute morgens in seiner Zelle die Zeit vertrieben hat.«

»Messen Sie diesen Blättern eine besondere Bedeutung bei, Herr Kollega?« fragte Weinlich, indem er die massenhaften Zahlenreihen prüfte.

»Eine sehr große Bedeutung! Nicht für den Tatbestand selbst, der keiner Aufhellung mehr bedarf, wohl aber zur Beurteilung der Methode der Verteidigung, die damit vorbereitet und eingeleitet werden soll.«

»Das ist ja hochinteressant, Herr Kollega! Und zu welchem Schlusse sind Sie gekommen?«

»Für den Kriminalisten kann es da nur einen zulässigen Schluß geben. In die Enge getrieben, simuliert der Dieb stillen Blödsinn. Nur ein Blödsinniger wird in der kritischesten Lage seines Lebens sich hinsetzen, um Ziffern in sinn- und endloser Reihe hinzumalen. Mit der Verweigerung der Aussage hat es angefangen und mit dem Plaidoyer auf Unzurechnungsfähigkeit wird es aufhören. Das Plaidoyer wird jetzt schon vorbereitet. Einen Blödsinnigen kann man nicht verurteilen!«

»In der Tat sehr scharfsinnig – ich mache Ihnen mein Kompliment, Herr Kommissär!«

»Es wird ihm nicht viel helfen, Herr Oberkommissär. Ich halte ihn zu sicher! Sie haben übrigens 65 selbst gesehen, Herr Oberkommissär, der Mann ist so gut bei Sinnen wie ich selbst!«

»Gewiß – mindestens!«

»Und darum muß ich Wert darauf legen, daß diese Ziffernschmierereien auch in unserem Protokoll die ihnen gebührende Berücksichtigung finden.«

Die letzten Worte waren an Dagobert gerichtet, für den sie eine sanfte Mahnung bilden sollten. Er aber hatte sie nicht gehört; so sehr war er schon in das Studium der Zahlenkolonnen vertieft.

Weinlich bat den Kommissär, die Schriftstücke ihm einstweilen noch da zu lassen. Er werde die Angelegenheit später noch mit ihm beraten. Dann entließ er ihn, nachdem er ihn noch auf das herzlichste zu dem ausgezeichneten Resultate seiner Untersuchung beglückwünscht hatte.

Als die beiden Freunde nun allein waren, nahm Weinlich sofort das Wort: »Nun, Dagobert, was sagen Sie zu der ganzen Geschichte?«

Dagobert fuhr wie aus einem Traum empor: »Was ist's? Was gibt's? Was ich sage? Ich sage, daß das eine ganz brillante und hochinteressante Differenzialrechnung ist. Hallo! – da bin ich dem schönen Herrn auch auf einen Fehler gekommen! Der wird sich wundern. Da muß ja das Resultat natürlich falsch werden!«

»Nun – ja doch!«

»Erlauben Sie nur, daß ich das weiter durchrechne.«

»Wird das lange dauern?«

»Höchstens zwei Stunden!«

»Nur?«

»Ja, mein Lieber, Differenzialrechnungen sind eben ein wenig umständlich.«

66 Weinlich nahm Dagobert die Blätter aus der Hand und legte sie beiseite.

»Das, Dagobert, rechnen Sie nur ein andermal nach. Jetzt sagen Sie mir, was halten Sie von der ganzen kuriosen Geschichte?«

»Mein ahnend Herz betrog mich nicht: Skrinsky ist wirklich ein Rhinozeros!«

»Ich muß auch sagen, er hat Untersuchung und Verhör musterhaft geführt.«

»Ich verstehe Sie, Weinlich, trotz Ihrer diplomatischen Ausdrucksweise. Er hat sie geführt als Muster, wie sie nicht geführt werden sollen. Ich bin kein Diplomat und darum sage ich es rund heraus: er hat die Untersuchung geführt wie ein Schwein!«

»Sagen wir – wie die Kuh im Porzellanladen. Vielleicht ist das etwas weniger grob. Daß ich der Geschichte vom Anfang an mißtraute, wissen Sie. Darum habe ich auch die schöne Beschreibung, die Skrinsky unter besonderer Berücksichtigung seiner hohen Verdienste für den Polizeianzeiger verfaßt hat, vorläufig zurückbehalten. Ebenso habe ich den kaiserlichen Rat Wilhelm, den Herausgeber der offiziösen ›Korrespondenz Wilhelm‹ ersucht, über den Fall nichts zu publizieren. An Vorsicht habe ich es also nicht fehlen lassen. Nun wissen Sie, was vorgeht, Dagobert. Haben Sie sich Ihre Ansicht gebildet?«

»Allerdings habe ich das und habe dabei eine kleine Enttäuschung erlebt.«

»Sie hatten sich die Sache schwieriger vorgestellt?«

»So ist es. Angefangen aber haben wir einmal und so wollen wir sie auch zu Ende führen. In vierundzwanzig Stunden, glaube ich, wird dieser gordische Knoten gelöst sein.«

67 »Sie glauben also, den Schlüssel zu der ganzen geheimnisvollen Affäre gefunden zu haben, Dagobert?«

»Ich habe ihn, mein Teurer! Aber weil wir gerade vom Schlüssel reden, Weinlich – was ist Ihre Ansicht darüber, wo die Untersuchung korrekterweise einzusetzen hätte. Wenn ich mir meine Meinung auch schon gebildet habe, so interessiert es mich natürlich doch in hohem Maße, auch die eines so gewiegten Fachmannes kennen zu lernen.«

»Ehrlich gestanden, Dagobert, ich fühle mich diesmal nicht vollständig auf der Höhe. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Ich wußte von vornherein, daß ich da nicht eingreifen könne, und habe mich also von vornherein ganz auf Sie verlassen. Unter solchen Umständen konzentriert man dann seine Gedanken schon nicht so, wie man es sonst vielleicht getan hätte. Das werden Sie psychologisch erklärlich finden. Immerhin glaube ich, daß man – Sie haben das Wort gesprochen – mit dem Schlüssel anfangen müßte. Ich meine – den Gartenschlüssel!«

»So ist es. Damit müßte man natürlich anfangen – unter normalen Umständen und – wenn man nichts Besseres hat. Ich habe aber Besseres. Mein lieber Dr. Weinlich, ich stelle mit besonderer Befriedigung fest: diesmal bin ich Ihnen über!«

»Vielleicht nicht nur diesmal!«

»Nein, nein, ich wollte nicht anmaßend sein und nicht protzen. Es ist der pure Zufall, daß ich mich dieses eine Mal Ihnen ›über‹ fühle und vielleicht jedem, der etwa noch die Affäre in die Hand nehmen wollte. Aufklären wird sie natürlich bald einer können. Denn sie ist recht durchsichtig und durchaus nicht verwickelt. Aber ich werde infolge des erwähnten Zufalles – ich 68 tue mir nichts darauf zugute – rascher und sicherer arbeiten können, als es irgendein anderer an meiner Stelle vermöchte. Ich habe jetzt tatsächlich etwas vor Ihnen voraus, Meister, und das macht mich stolz!«

»Und darf man vielleicht erfahren, was es mit jenem glücklichen Zufall auf sich hat?«

»Warum nicht? Sie haben wahrscheinlich noch keine dichtende Baronin geliebt –?«

»Eine dichtende Baronin – das allerdings noch nicht.«

»Aber ich schon! – Ich habe die Ehre!«

Damit ging Dagobert von dannen.

* * *

Noch an demselben Tage, knapp vor Mitternacht, erhielt der Oberkommissär Dr. Weinlich von Madame Meyer folgende telephonische Mitteilung: »Sache erledigt. Setzen Sie für morgen vormittag halb zwölf ein Verhör an, zu dem Miß Grant vorzuladen ist. Um zwölf Uhr, wo wahrscheinlich alles schon vorbei sein wird, bin ich bei Ihnen.«

Punkt zwölf Uhr am nächsten Tag erschien Dagobert tatsächlich in der Kanzlei Dr. Weinlichs und tatsächlich war alles schon vorbei. Der Oberkommissär erschöpfte sich in Danksagungen und Komplimenten für Dagoberts rasche und erfolgreiche Arbeit. Dann erzählte er den Verlauf der Verhandlung wie folgt: »Ich hatte natürlich Miß Grant vorgeladen und für ihr pünktliches Erscheinen Sorge getragen. Sie war auch pünktlich zur Stelle. Ein rechtes Kreuz hatten wir aber mit Mauhardt. Als ihn Skrinsky zum Verhöre vorführen lassen wollte, weigerte er sich entschieden zu kommen. Er wollte mit dem Herrn 69 nichts mehr zu tun haben; er solle machen, was er wolle. Skrinsky war sofort für Fesselung und gewaltsame Vorführung, was ich natürlich nicht zuließ. Ich ging nun selbst in die Zelle und redete dem Menschen zu. Es war aber mit ihm nicht zu reden. Er bestand darauf, daß vorerst Skrinsky zu einem Besuche bei ihm antreten und ihm Abbitte leisten müsse – anders täte er's nicht. Das ging natürlich auch nicht. Endlich brachte ich ihn damit herum, daß ich ihm versicherte, daß Skrinsky gänzlich ausgeschaltet werden solle und ich nun selber das Verhör leiten würde. Darauf ging er willig mit. Ich machte es kurz.

›Herr Mauhardt,‹ begann ich, ›nach Ihrer bisherigen Haltung bin ich wohl berechtigt anzunehmen, daß Sie auch heute nicht geneigt sein werden, uns irgendwelche Aufklärungen zu geben?‹

›So ist es, Herr Oberkommissär. Ich wünsche nicht auszusagen.‹

.Es ist Ihr Recht, Herr Mauhardt; ich nötige Sie nicht. – Fräulein Grant, haben Sie uns noch eine Mitteilung zu machen?‹

›Ja, Herr Oberkommissär, eine Mitteilung von höchster Wichtigkeit. Vor allen Dingen aber habe ich die Herren um Verzeihung zu bitten, insbesondere Herrn Mauhardt, dem ich durch meinen Übereifer so viel Ungelegenheit und Schande bereitet habe. Ich wünsche hier zu erklären, daß auf die Ehre Herrn Mauhardts auch nicht der geringste Schatten fallen kann.‹

›Hat sich also das Halsband wieder vorgefunden, Fräulein Grant?‹

›Ja, Herr Oberkommissär, und um die Herren zu überzeugen, habe ich es mitgebracht.‹

70 Sie wies das Halsband vor, und ich muß gestehen, es war ein herrliches Schmuckstück.

›Darf ich fragen, Fräulein Grant,‹ fuhr ich fort, ›auf welche Weise es Ihnen gelungen ist, das Halsband wieder zur Stelle zu schaffen?‹

›Ich möchte um die Erlaubnis bitten, Herr Oberkommissär, darüber nicht auszusagen. Ich müßte dabei private Familienverhältnisse berühren und dazu halte ich mich nicht für berechtigt.‹

›Die Behörde hat kein Interesse daran, in private Familienverhältnisse einzudringen. Wir bedürfen nur noch einer Aufklärung bezüglich der Rosette.‹

›Auch die kann ich geben, Herr Oberkommissär. Die Rosette befand sich nicht unter den Schmucksachen auf dem Tische, und Herr Mauhardt befindet sich, wie ich mich nun überzeugt habe, in vollkommen rechtmäßigem Besitz derselben.‹

›So fühlen Sie sich also, Fräulein Grant, in keiner Weise geschädigt?‹

›In keiner Weise, Herr Oberkommissär; weder ich noch das Haus Armstrong. Geschädigt wurde nur Herr Mauhardt, den ich hier noch einmal inständig um Verzeihung bitte.‹

Ich erhob mich.

›Die Verhandlung ist geschlossen. Herr Mauhardt, Sie sind frei und können dieses Haus ungehindert verlassen. Vorher bitte ich Sie nur, von dieser amtlichen Stelle aus den Ausdruck des tiefsten Bedauerns entgegennehmen zu wollen, daß wir Ihnen infolge mißlicher Verkettung der Umstände so viel Ungelegenheiten bereiten mußten.‹

Mauhardt drückte mir dankbar beide Hände, aber 71 bezüglich Skrinsky ließ er noch immer nicht locker. Auf ihn hinüberblinzelnd fragte er: ›Und dieser Herr?!‹

›Und dieser Herr,‹ erwiderte ich, ›der Herr Kommissär Dr. Thaddäus Ritter v. Skrinsky wird als Ehrenmann sicher nicht zögern, sich für eine irrtümliche Auffassung in dienstlicher Tätigkeit und unter Umständen, die seine Auffassung zu bestätigen schienen, bei Ihnen zu entschuldigen und Ihnen jede gewünschte befriedigende Erklärung zu bieten.‹

Diesem Wink mit dem Zaunspfahl folgte Skrinsky und so löste sich alles in Wohlgefallen auf. Es sind noch keine fünf Minuten darüber vergangen. Nun aber, Dagobert, erzählen Sie! Jetzt regt sich in mir das Interesse am Handwerk. Wie haben Sie nur all das so rasch und so glatt zustande gebracht?«

»Sie wissen, lieber Dr. Weinlich, daß der Fall von Haus aus einfach lag. Ich konnte mir also, bevor ich an die Arbeit ging, erst noch ein gutes und ausführliches Frühstück genehmigen. Es war, gottlob, recht angenehm. Dann fuhr ich in die Haizingergasse. Bevor ich das Armstrongsche Haus betrat, nahm ich erst eine kleine Rekognoszierung vor. Das Haus steht in einem ansehnlichen Garten, der einen ganzen quadratischen Block deckt. Vier Straßenzüge begrenzen also das Grundstück. Bei Prüfung der Vorderseite mußte ich sofort die Auffassung verwerfen, daß der Schmuck etwa aus einem Fenster des ersten Stockwerkes einem Komplizen zugeworfen worden sein konnte. Hätte sich dieser im Vorgarten aufgehalten, dann hätte ihn der Portier sehen müssen. Wäre er auf der Straße gewesen, dann hätte der verdächtige Vorgang von den Passanten nicht unbemerkt bleiben können. Der spätere Lokalaugenschein in dem Zimmer, in dem Mauhardt 72 aufgefunden wurde, belehrte mich zudem darüber, daß die Wahrscheinlichkeit einer solchen Handlung eine äußerst geringe war. Das einzige Fenster des Gemaches war ein Doppelfenster. Die äußeren und inneren Flügel waren geschlossen und zwischen beiden die Rouleaus heruntergelassen, wie Miß Grant bestätigte. Es wäre eine umständliche, zeitraubende und geräuschvolle Arbeit gewesen, alles zu öffnen, den Schmuck hinauszuwerfen und dann wieder alles zu schließen.«

»Die Auffassung war auch keine besonders glückliche!«

»Bevor ich eintrat, besichtigte ich auch erst die Gartenpforte auf der Rückseite. Wer einen Schlüssel hatte, konnte da allerdings ungesehen ins Haus gelangen. Die Pforte öffnet sich auf einen gedeckten Laubengang, der von der wundervollen blauen Pracht der Bougainvillanea gebildet wird. Vom anderen Ende dieses Ganges ist die Dienertreppe in zwei Schritten. zu erreichen. Nachdem ich so einige Kleinigkeiten, die mir von Belang schienen, ausgekundschaftet hatte, ging ich wieder nach vorn, läutete an und ließ mich bei Miß Grant melden. Sie empfing mich, wie man eine Amtsperson empfängt, für die sie mich hielt, willig und beflissen, mir alle Auskünfte zu erteilen, die mir irgendwie dienlich sein konnten. Also: die Verhältnisse des Herrn Armstrong sind gottlob recht angenehme, und der Verlust des kostbaren Halsbandes hätte ihn oder seine vortreffliche Gattin noch lange nicht ruiniert.«

»Das weiß ich, Dagobert.«

»Er ist einer der Milliardäre der Neuen Welt, und da seinem Ehrgeize das Geld allein nicht mehr genügte, wollte er auch noch eine politische Rolle spielen 73 und nahm gnädigst einen Gesandtenposten an. Miß Grant zeigte mir erst alle Gemächer, die ich sehen wollte, und dann ließen wir uns an dem Tische nieder, von dem das Halsband verschwunden war. Ich begann das Verhör, wobei ich mich von Haus sehr sicher fühlte.«

»Ach ja, Dagobert, Sie waren ja im Besitze des ›Schlüssels‹ oder glaubten doch wenigstens, es zu sein. Darf man nun erfahren, was es eigentlich war, was Sie auf die richtige Spur brachte?«

»Mit Vergnügen, Doktor. Wir Auguren unter uns werden uns doch keine Mätzchen vormachen! Wenn ich meine Geschichte jetzt nicht Ihnen, sondern meiner verehrten Freundin Frau Violet erzählte, dann würde ich mich natürlich hüten, mir einen dramatischen Effekt zu verderben und ich würde erst ganz zum Schluß, wenn ihr der Verstand schon glücklich ganz stehengeblieben ist, verraten, wie mir das Unbegreifliche gelingen konnte. In Wahrheit ist die Lösung sehr einfach, und ich war sicher, sie zu finden, als gestern hier im Verhör unter den bekannten Begleitumständen das Wort ›Jaspis‹ fiel.«

»Also der Jaspis war's?! Sie sagten aber doch etwas von einer dichtenden Baronin!«

»Das gehört zusammen. Hören Sie nur. Ich habe einmal wirklich eine dichtende Baronin geliebt. Es ist schon lange her. Ich war noch Student. Es war eine köstliche Zeit! Vorbei – vorbei des Lebens Mai!«

»Keine wehmütigen Schwärmereien, Dagobert! Es greift mich zu sehr an.«

»Sie hat mich auch kolossal geliebt – mich sogar angedichtet!«

74 »Angedichtet!«

»Jawohl, angedichtet – von oben bis herunter! Das schönste Gedicht gab sie mir, als sie mir einmal einen Jaspis an einer dünnen Kette überreichte.«

»Einen Jaspis – auch in Brillanten?«

»Nein, nur einen Jaspis. Für Diamanten war unsere Liebe zu ideal und unsere Barschaft zu klein. Das Gedicht war eigentlich eine Gebrauchsanweisung. Sie gab aber eine mündliche Erläuterung dazu, sonst hätte ich die Geschichte doch vielleicht nicht ganz verstanden. Ich war ja noch dumm wie ein junger Hund. Also: es besteht der alte Volksglaube, daß der Jaspis, vorausgesetzt, daß er von liebender Hand gespendet wurde und am bloßen Leibe getragen werde – da ungefähr, wo das Herz schlägt – die Wunderkraft habe, das Herz fröhlich und stark in Treue zu erhalten.«

»Ein sinniger Glaube! Und hat sich die Wunderkraft bewährt?«

»Großartig. Ich war riesig treu. Nur eine Dummheit habe ich mir zuschulden kommen lassen. Ich hatte nicht auch ihr einen Jaspis umgehängt. Ich liebte sie so lange geradezu fabelhaft treu, bis sie eines schönen Tages einen anderen heiratete, einen Baron. Da tat ich dann den Jaspis wieder 'runter, da ich seiner Wunderkräfte nicht mehr bedurfte. Begreifen Sie aber nun, daß ich doch auf gewisse Gedanken kommen mußte, als uns ein junger Student vorgeführt wurde, bei dem man am bloßen Leib einen Jaspis vorgefunden hat, und der im übrigen jede Aussage verweigert?«

»Ja, Dagobert, das allerdings erinnert deutlich genug an eine unserer ersten Pflichten – cherchez la femme!«

75 »Und begreifen Sie weiters, daß ich mich in dem Augenblick selbst Ihnen überlegen fühlen konnte? Ich wußte nun, wo der Hebel anzusetzen war, und so leitete ich dann das Verhör mit Miß Grant zu ihrer Verblüffung mit der Frage ein: ›Ist Ihnen bekannt, ob Mistreß Armstrong Gedichte macht?‹

Sie sah mich groß an und versicherte dann auf Ehre und Gewissen, daß Misses Armstrong noch nie in ihrem Leben ein Gedicht gemacht habe.

Also nicht. Das war einigermaßen kränkend für meine Eigenliebe, aber deshalb mußte ich noch immer nicht auf falscher Fährte sein. Ich fragte also weiter: ›Im Vertrauen, Miß Grant – ist Mistreß Armstrong eine schöne Frau?‹

Sie sah mich wieder groß an und erklärte dann ruhig: ›Misses Armstrong ist zweiundsechzig Jahre alt und außerdem hatte sie das Unglück, im Vorjahre einen leichten Schlaganfall zu erleiden, in dessen Folge ihr Gesicht ein wenig schief geblieben ist.‹

Damit war es also definitiv nichts. Ich bat nun, in möglichst unauffälliger Weise sämtliche weibliche Insassen des Hauses der Reihe nach antreten zu lassen. Man konnte doch nicht wissen! Das Resultat ließ sich recht unbefriedigend an. Alles war sehr ehrbar und namentlich in ästhetischer Hinsicht vollkommen unverdächtig.

Wir hatten eben ein Stubenmädchen älteren Jahrganges in der Arbeit, als sich die Tür auftat und eine kleine, elegante, schwarze Dame hereinwirbelte und sich lachend Miß Grant an den Hals warf. Diese wies mit ernstem Blick auf mich, als auf eine Amtsperson, vor der man doch ein bißchen Respekt haben sollte. Das kleine Fräulein wollte sich aber gar nicht 76 zum Ernst zwingen lassen und begann, immer noch lachend, gleich eine ganze Geschichte zu erzählen. Miß Grant unterbrach sie mit den strafenden Worten: ›Aoh, Miss Eleanor, what a behaving!

Und dann stellte sie uns vor – mich als einen Herrn von der Polizei. Eleanor ließ es sich nicht nehmen, ihre Geschichte doch zu erzählen. Für Miß Grant hatte diese nicht mehr den Reiz der Neuheit; denn sie war schon telegraphisch aufgeklärt worden, aber mich interessierte sie sehr. Eleanor hatte gestern Pa und Ma auf die Bahn begleitet und von der Bahn wollte sie dann wieder nach Hause zurückkehren. Es sei aber dann ganz anders gekommen. Sie habe mit ihren Eltern den Salonwagen betreten und wollte sich dort erst von ihnen verabschieden. Dabei hätten sie sich aber zu viel Zeit gelassen und ehe sie sich's versahen, habe sich der Zug in Bewegung gesetzt. So sei sie wider ihren Willen entführt worden. Sie hätten sehr darüber gelacht, hätten sich aber nicht mehr helfen können. Pa sei sehr vergnügt gewesen und hätte nun gemeint, sie solle ruhig bis nach Gmunden mitfahren und von dort aus dann den nächsten Zug zur Rückfahrt benützen. Das habe sie denn auch getan und nun sei sie da.

Also die Tochter des Hauses! Davon hatte man uns nichts gesagt. Daß wir nicht gefragt hatten, war unser Fehler, mein lieber Dr. Weinlich. Dieser Fehler war allerdings noch immer nicht so schlimm wie die vielen Unterlassungssünden, die sich Skrinsky bei der Nachforschung nach dem Verbleib des Halsbandes hatte zuschulden kommen lassen.

Natürlich kam ich nun sofort wieder und nun erst recht auf meine Jaspis-Theorie zurück. Es stimmte 77 mir auch alles psychologisch und physiologisch. Sie klein und schwarz – er blond und groß; sie quecksilbern und redselig – er behäbig und wortkarg selbst im Affekt. Die Tauben hätten sie nicht schöner zusammentragen können.

Nun wollte ich noch mit ihr ein Wörtchen unter vier Augen reden und bat Miß Grant, uns allein zu lassen. Für Miß Grant war ich der Repräsentant der staatlichen Obrigkeit und sie willfahrte widerspruchslos meiner Bitte. Eleanor sah mich erstaunt an, als ich sie einlud, sich zu mir an den Tisch zu setzen.

›Ich habe einige Fragen an Sie zu richten, Fräulein,‹ begann ich. ›Vorerst aber halte ich es für meine Pflicht, Sie darüber aufzuklären, daß ich tatsächlich nicht die Ehre habe, zur hohen Obrigkeit zu gehören. Es ist also ein durchaus privates Gespräch, das wir führen werden.‹

›Ich verstehe von alledem gar nichts, Herr – wie war doch der werte Name? Ich glaube – Mister Dagobert, nicht wahr? Was sollte ich mit Polizei oder sonstiger Obrigkeit zu tun haben?‹

›Es hat sich seit Ihrer unfreiwilligen Abreise doch manches im Hause zugetragen. Ich habe das Bestreben, die ganze Angelegenheit in aller Stille und ohne Aufsehen zu erledigen – in Ihrem Interesse, im Interesse Ihres Hauses und im Interesse eines Herrn, der sich gegenwärtig in einer äußerst unangenehmen Lage befindet.‹

›Ich verstehe noch immer kein Wort!‹

›Sie werden gleich verstehen. Sagen Sie mir, Fräulein, kennen Sie einen Herrn Kajetan Mauhardt?‹

78 Eleanor wurde blutrot, erhob sich rasch von ihrem Sitze und erklärte kategorisch: ›Ich verweigere jede Auskunft!‹

›So setzen Sie sich doch nur wieder, Fräulein Eleanor! Sie werden mir die Auskunft nicht verweigern, wenn ich Ihnen sage, daß Herr Mauhardt sich unter schimpflichem Verdachte in polizeilichem Gewahrsam befindet und daß vielleicht ein Wort von Ihnen ihn befreien könnte. Ich habe keinen anderen Wunsch, als Ihnen und ihm zu dienen. Wollen Sie Vertrauen zu mir haben?‹

›Aber ich kenne Sie doch gar nicht, Mister Dagobert. Was Sie mir sagen, ist entsetzlich!‹

›Wollen Sie Miß Grant rufen und sie fragen, ob Sie mir vertrauen können?‹

›Nein, ich will Miß Grant nicht haben! Sie weiß von der ganzen Geschichte nichts. Niemand weiß. Ich will zu Ihnen Vertrauen haben, Herr Dagobert. Ich glaube, Sie sind ein Gentleman.‹

›Sie werden in diesem Punkte keine Enttäuschung erleben, Miß Eleanor. Sie lieben Herrn Mauhardt?‹

.Ich bin seine Braut, das weiß außer ihm noch kein Mensch auf der Welt.‹

›Ich wußte es oder – dachte es mir. Sie haben ihm einen Jaspis verehrt – Jaspis hatte gewisse besondere Eigenschaften! – und ihm dabei ausdrücklich aufgetragen, er müsse ihn aller Welt verborgen auf der bloßen Brust tragen. Dichter oder – Dichterinnen pflegen da zu sagen: Er hält das Herz dir stark und treu!‹

›O, er hat Ihnen das erzählt – das war häßlich von ihm!‹

79 ›Er hat mir keine Silbe erzählt. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Er hat überhaupt kein Wort gesprochen. Darum eben sitzt er ja noch hinter Schloß und Riegel.‹

Good gracious – er sitzt! Das ist ja fürchterlich! Warum läßt man ihn denn nicht heraus?‹

›Weil er nicht sprechen will. Offenbar hat er den Wunsch, Sie zu schonen.‹

›Er soll mich aber nicht schonen! Ich habe nichts zu fürchten und darf tun, was ich will!‹

›Und doch ist es sehr begreiflich bei einem jungen Mann von Ehrgefühl.‹

›Wenn er aber nichts gesagt hat – woher wußten Sie doch, Mister Dagobert?‹

›Miß Eleanor, ich bin ein Detektiv aus Passion. Ich habe es herausgebracht.‹

›Sie machen mir Angst!‹

›Sie brauchen keine Angst zu haben; ich stelle mich in Ihren Dienst.‹

›Gut; ich vertraue Ihnen.‹

›Dann erzählen Sie mir aber auch, wie sich alles gemacht hat.‹

›Sehr einfach, Mister Dagobert. Ich studiere als außerordentliche Hörerin hier an der Universität Mathematik. Ich besuche das Kolleg sehr regelmäßig. Gewöhnlich waren wir dabei nur vier oder fünf Personen. Neben mir saß immer Herr Mauhardt. So wurden wir bekannt und bald rechneten wir auch miteinander.‹

›Doch nicht im Kolleg?!‹

›Nein. Auf mich wartete draußen immer der Wagen und da lud ich ihn denn ein, mit mir zu fahren. Wir fuhren nach dem Kolleg gewöhnlich in den Prater 80 oder in den Wienerwald und während der Fahrt rechneten wir immer zusammen.‹

›Und haben so lange gerechnet, bis dabei ein hübsches Resultat herausgekommen ist: die gegenseitige Liebe.‹

›Ja, Herr Dagobert.‹

›Ich bin kein großer Mathematiker, Miß Eleanor, aber das hätte ich Ihnen ohne weiteres gleich herausgerechnet.‹

›Er sagte mir eines Tages, daß er mich sehr lieb habe.‹

›Und was sagten Sie?‹

›Ich bat ihn, daß er mich heiraten möge.‹

›Zu Hause haben Sie aber nichts gesagt, Miß Eleanor?‹

›Nein, ich hatte nicht den Mut. Pa und Ma rechnen zwar nicht darauf, daß ich sie frage, wenn ich zu heiraten wünsche, aber ich hatte doch nicht den Mut. Ich glaube nämlich, daß Herr Mauhardt nicht so reich ist wie wir.‹

›Ich glaube sogar, Sie können ruhig annehmen, daß er im Verhältnis zu Ihnen sehr arm ist.‹

›Das ist ja ganz gleichgültig. Ich wollte nur den richtigen Augenblick abwarten, um zu reden.‹

›Und was war es gestern, Miß Eleanor?‹

›Für gestern gab ich ihm den Gartenschlüssel. Er sollte um drei Uhr kommen, über die Dienerstiege hinaufgehen und durch die erste Tür rechts, ohne zu klopfen, eintreten. Meine Eltern würden schon abgereist und ich vom Bahnhof wieder zurück sein. Dann hätten wir ruhig rechnen können. Nun ist aber das Mißgeschick dazwischengekommen, daß ich mit abfahren mußte.‹

81 ›Sagen Sie, Miß Eleanor, empfanden Sie es nicht doch als etwas Ungehöriges, sich von einem jungen Manne so in aller Heimlichkeit besuchen zu lassen?‹

Sie sah mich erstaunt an und schien den Sinn meiner Frage nicht zu verstehen.

›Mister Dagobert, kein Mensch würde bei uns darin etwas Ungehöriges sehen. Ich darf auch meine Geheimnisse haben. Bei uns haben junge Damen das Recht, sich vollkommen frei zu bewegen. Ich beanspruche, daß man mir Vertrauen schenke, und ich vertraue selbst auf mich.‹

›Immerhin!?‹

›Ich halte nicht viel von einer Tugend, die immer erst von anderen behütet werden muß.‹

›Ländlich – sittlich! Ich verurteile Sie nicht. Was Sie aber nicht wissen, ist nun folgendes: Herr Mauhardt scheint sich mit seinem Besuche ein wenig verfrüht zu haben. Während des Abreiserummels verschwand von diesem Tische das Halsband Ihrer Mutter. Miß Grant verständigte sofort die Polizei telephonisch und eine halbe Stunde später wurde bei der Hausdurchsuchung hier ein fremder Herr vorgefunden, der seine Anwesenheit in keiner Weise zu rechtfertigen wußte. Er sagte nur, daß auch ohne sein Zutun sich alles in kürzester Frist aufklären müsse. Es war Herr Mauhardt, der nichts reden, vielmehr es Ihnen überlassen wollte, zu sagen, was Sie für gut hielten.‹

›Ich finde, daß er ganz recht gehandelt hat.‹

›Allerdings. Aber das hatte die unangenehme Folge für ihn, daß er als des Diebstahls verdächtig eingezogen wurde.‹

›Aber das ist ja ein horrible nonsense! Das Halsband hat Geo, mein Bruder, mit meinem Wissen genommen!‹

82 ›Na, Gott sei Dank, jetzt wissen wir es endlich! Wie ging das zu, Miß Eleanor?‹

›Knapp vor der Abreise meiner Eltern kam er zu mir und wollte, daß ich ihm aushelfe. Ich hatte aber selbst kein Geld mehr, weil ich ihm in diesem Monate schon einmal ausgeholfen hatte. Er wollte auch abreisen.‹

›Mit den Eltern? Dazu brauchte er doch kein Geld.‹

›Nicht mit den Eltern. Er wollte zu den heutigen Rennen nach Budapest. Von Pa getraute er sich nicht zu verlangen. Denn Pa wünscht, daß er mit seinem Monatsgelde auskomme. Es ist nicht wenig, was er bekommt, aber er war doch schon fertig.‹

›Ihr Herr Bruder gibt wohl sehr viel Geld aus?‹

›O, nicht besonders, höchstens doppelt so viel als er hat. Aber das spielt ja keine Rolle. Er mußte das Geld haben für die Rennen. Da sagte ich ihm, er solle sich auf das Halsband etwas aufnehmen. In acht Tagen kriegen wir wieder unser Taschengeld und da würde ich es wieder auslösen. Das ging alles sehr geschwind, und es ist ein himmelschreiender Unsinn, daß man dafür – Mauhardt verantwortlich machen will!‹

›Wissen Sie, wo er den Schmuck versetzt hat?‹

›Im Dorotheum. Das ist staatlich und sicher.‹

›Wissen Sie auch, wieviel er darauf bekommen hat?‹

›O, er wollte nicht so – er wollte nur sechstausend Kronen darauf nehmen.‹

›Wann kommt Ihr Bruder zurück?‹

›Heute abend mit dem Schnellzug 11 Uhr 30.‹

›Dann werden wir ihn auf dem Bahnhofe erwarten. Darf ich Sie mit dem Wagen abholen, Miß Eleanor? Sie werden natürlich Miß Grant zu Ihrem Schutze mitnehmen.‹

83 ›Ich werde allein mit Ihnen fahren. Mister Dagobert. Ich brauche keinen Schutz.‹

›Gut. Morgen früh um neun Uhr muß das Halsband ausgelöst werden. Da Sie das Geld augenblicklich nicht flüssig haben, werden Sie erlauben, daß ich mich Ihnen zur Verfügung stelle.‹

›Vielen Dank, Herr Dagobert, aber es wird nicht nötig sein. Es ist nicht unmöglich, daß Geo selbst das Geld mitbringt und vielleicht doppelt und dreimal so viel. Er wettet doch geschickt und mit vieler Sachkenntnis und gewinnt doch auch sehr häufig. Sollte er aber Unglück gehabt haben, dann ist immer noch Miß Grant da, die aus ihrem Wirtschaftsgelde für solche Kleinigkeiten leicht aufkommen kann.‹

Wir holten also den jungen Mann ab. Er hatte wirklich gewonnen. Darauf, lieber Doktor Weinlich, erhielten Sie die telephonische Meldung von Madame Meyer. Am nächsten Morgen wurde das Halsband ausgelöst. Meine Mission war zu Ende und es folgte nur noch die Rührszene in Ihrer Kanzlei. Meinem Freunde Dr. Skrinsky können Sie aber ausrichten: Wenn ihm wieder so ein Fall unterkommen sollte, dann soll er doch wenigstens unverzüglich die Versatzämter und Juwelenhändler verständigen. Das ist, meine ich, doch das wenigste, was man von einem Kriminalkommissär erwarten darf!«

»Ganz schön, Dagobert; ich werde es auch ausrichten. So rasch und gründlich hätte uns das aber doch nicht geholfen, wie Ihre Jaspis-Wissenschaft!«

 

Ende des fünften Bandes.

 


 


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