Balduin Groller
Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer. Band IV - VI
Balduin Groller

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Fünfter Band

Die seltsame Fährte.

Es war um sechs Uhr früh an einem schönen Septembertage, und zwar an einem Samstag, daß Dagobert von seinem Kammerdiener aus dem schönsten Morgenschlummer geweckt wurde.

Andreas Grumbach, der Präsident des Klubs der Industriellen, hatte dringende Botschaft geschickt, Dagobert möchte unverzüglich kommen – es handle sich um einen Mord. Mit einem Satz war Dagobert aus dem Bette und eilte ins Badezimmer. Von seiner Gewohnheit ließ er nicht. Er nahm auch seine kalte Dusche, ließ sich von seinem Diener frottieren, machte seine üblichen gymnastischen Übungen, die er niemals ausließ, und zog sich dann unter Beihilfe des Dieners rasch an. Während all das vor sich ging, berichtete der inzwischen zur Stelle geschaffte Bote, es war Grumbachs Chauffeur Marius, Näheres über die Mordtat.

Was er, noch vom Schrecken bleich und von der rasenden Fahrt ein wenig aufgeregt, hervorsprudelte, war folgendes: Die Herrschaften Grumbach befinden sich seit einigen Tagen auf Schloß Palting an der Donau in der Nähe der alten Nibelungenstadt Pöchlarn. Das Schloß gehört zu dem Großgrundbesitz Palting, Hiersau, Eichgraben –.

4 »Weiter, weiter!« mahnte Dagobert. Das wußte er alles selber viel besser.

»Gestern abends nun,« fuhr der Bote fort, »erschien der Waldhüter Mathias Diwald im Schlosse, um in der Wirtschaftskanzlei wie immer am Freitag die Löhne für das Jagdpersonal und die Holzarbeiter in Empfang zu nehmen und sie nach dem Forsthause zu bringen, damit sie heute am Samstag ausbezahlt werden sollten. Diwald ist nicht zum Forsthaus gelangt. Dort wartete man auf ihn bis um elf Uhr nachts. Dann machten sich der Förster und zwei Forstgehilfen auf, ihn zu suchen. Erst um drei Uhr morgens haben sie ihn am Waldessaum gefunden, ermordet und der Barschaft beraubt. Der Förster eilte zum Schlosse und ließ den gnädigen Herrn wecken.«

»Hat die Gnädige auch etwas davon erfahren?« fragte Dagobert. Es war ihm ein peinliches Gefühl, daß sie so entsetzlichen Aufregungen preisgegeben sein sollte.

»Ja, sie erwachte auch gleich und sie war es, die Herrn Grumbach bat, doch ja Herrn Dagobert sofort holen zu lassen. Wie nun der Mord geschah, das weiß ich natürlich nicht, ich glaube aber, die Sache war so: –«

Dagobert winkte ab. Er wollte nichts hören. Von jeher war es bei ihm Grundsatz, vor Beginn einer Untersuchung nicht Mitteilungen aus zweiter und dritter Hand entgegenzunehmen.

»Wann sind Sie abgefahren?« fragte er den Chauffeur.

»Punkt vier Uhr, Herr Dagobert, und Punkt sechs Uhr war ich hier.«

»Wie groß ist die Strecke?«

»Sechsundneunzig Kilometer.«

5 »In zwei Stunden – nicht schlecht gefahren! Zurück werden wir es natürlich rascher machen.«

»Aber – Herr Dagobert!«

»Rascher machen! Das ist nicht zuviel verlangt von einem sechzigpferdigen Mercedes. Ich stecke die Stopuhr zu mir und nehme die Zeit auf. Merken Sie auf, Marius: für jede Minute unter zwei Stunden zwei Kronen Belohnung, wenn je – so ist bei solchen Fällen Zeit Geld!«

Marius sah das auch von seinem Standpunkte aus ein, und sie erreichten Schloß Palting in 1:32, worauf Marius seine wohlverdiente Prämie von 56 Kronen mit äußerst vergnügter Miene einstrich.

Frau Violet eilte von der Schloßveranda die Freitreppe hinunter, als sie Dagoberts Petruskopf aus dem mächtigen Automobil emportauchen sah und begrüßte den treuen Freund des Hauses auf das herzlichste. Sie war noch immer bleich und ganz verstört von dem ausgestandenen Schrecken. Dagoberts Anwesenheit wirkte beruhigend auf sie. Nun wußte sie doch, daß wenigstens alle fachgemäßen Vorkehrungen getroffen werden würden, um das schreckliche Verbrechen zu sühnen.

»Ich habe Sie mit einem Frühstück erwartet,« begann sie. »Wir haben noch gerade zwanzig Minuten Zeit dazu. Um halb Neun soll sich die Gerichtskommission hier im Schlosse versammeln, um Beratung zu pflegen und dann von hier aus die Untersuchung einzuleiten. Mein Mann ist eben auf dem Wege, die Kommission zusammenzuholen.«

Dagobert ließ sich das Frühstück schmecken. Es kam ihm sehr gelegen; denn zu Hause hatte er sich nicht die Zeit genommen, sich damit aufzuhalten.

6 Die Kommission, geführt von dem Hausherrn, erschien pünktlich. Grumbach erledigte die Vorstellung rasch, und dann ging man sofort zum Gegenstand der Tagesordnung über. Erschienen waren: der Bezirksrichter mit dem Gemeindeschreiber, der »staatsanwaltschaftliche Funktionär,« der Gemeindearzt Doktor Ramsauer, der Gendarmerie-Postenführer Lambacher und der Förster. Der staatsanwaltliche Funktionär war kein Beamter. Einen solchen hätte das kleine Bezirksgericht nicht vertragen. Es war der Barbier des Ortes, der diese Stelle bekleidete. War einmal irgend etwas los, dann hatte er »die Anwendung des Gesetzes« zu beantragen. Die vorliegende Kausa fiel bei ihrer Schwere ohnedies nicht in die Kompetenz des Bezirksgerichtes, sondern sie mußte vor das Kreisgericht kommen. Staatsanwalt und Untersuchungsrichter vom Kreisgericht konnten aber erst am nächsten Tage eintreffen, und nun kam es nur darauf an, durch ein möglichst vollständiges Protokoll den Fall so klar als möglich darzustellen. Es durfte nichts versäumt werden, beizeiten jene Umstände festzustellen, welche zur Aufhellung des dunklen Verbrechens irgendwie beitragen konnten.

Die Sitzung währte nur kurze Zeit. Man war nur zusammengekommen, um gemeinsam nach dem Schauplatz der Tat aufzubrechen. Erst sollte der Lokalaugenschein vorgenommen und nach dessen Ergebnissen das Protokoll redigiert werden. Ganz untätig war man indessen auch bisher schon nicht gewesen. Als der Förster die Leiche auffand, stellte er zwei Forstgehilfen in entsprechendem Abstand als Wachen hin, damit niemand der Leiche nahe käme oder sie gar berühre, bevor die Kommission an Ort und Stelle 7 gewesen sei. Dann weckte er den Bezirksrichter und sodann den Postenführer, und nach gemeinsamer Beratung wurden sodann zwei Gendarmen und zwei bewaffnete Waldhüter als Streifpatrouillen ausgeschickt.

Alle Anwesenden wußten bereits, daß ein berühmter Detektiv sich mit dem Falle beschäftigen werde, und nun blickten sie fragend nach Dagobert, ob er denn auch die bisherigen Maßnahmen gutheiße.

»Soweit ist alles ganz in der Ordnung,« beantwortete Dagobert die stumme Frage. »Jetzt müssen wir aber trachten, möglichst bald auf den Schauplatz der Tat zu kommen. Jede Minute ist kostbar.«

Die Leiche lag eine Viertelstunde Wegs vom Schloß. Grumbach fragte, ob man gehen oder fahren solle. Für alle Fälle sei eingespannt; wenn man aber zu Fuße ginge, könnte man vielleicht schon auf dem Hinwege gewisse Untersuchungen anstellen. Dagobert entschied dahin, daß gefahren werden solle. Die Untersuchung habe erst nach der Aufnahme des Tatbestandes einzusetzen.

Die Kommission fuhr in zwei Equipagen ab. Frau Violet und Dagobert bestiegen das Automobil, das, von Marius gelenkt, den Schluß des Zuges bildete. Sie waren noch nicht zwei Minuten gefahren, als Frau Violet den Kraftwagen halten ließ, ausstieg und einem verkrüppelten Bettler, der am Straßenrand saß, eine Gabe in den Hut legte.

»Das hätten Sie ihm ja auch zuwerfen können, Gnädigste,« meinte Dagobert, als sie sich anschickte, wieder einzusteigen.

»Nein, Dagobert, das ging nicht. Sehen Sie sich ihn doch an. Was soll er denn tun, wenn ich nicht in den Hut treffe. Er kann sich ja kaum rühren.«

8 Dagobert sah genauer hin. Es war in der Tat ein Krüppel von abscheuerregender Monströsität. Ein häßlicher großer Kopf mit den Merkmalen der Hydrokephalie, mächtige Schultern und auffallend langen und kräftigen Armen, aber weiter nach unten hin die grauenhafteste Verkümmerung; die Beine wie die eines vierjährigen Kindes und dabei noch seltsam verdreht und verkrüppelt. Allerdings – wie der sich fortbewegen sollte, das konnte man sich nicht vorstellen.

»Vorwärts, Marius!« rief Dagobert, als Frau Violet eingestiegen war. »Wir müssen als die Ersten ankommen.«

In kürzester Frist war das verlorene Terrain nicht nur eingebracht, sondern die Wagen auch weit überholt. Frau Violet kam wieder auf den Krüppel zurück.

»Es ist der einzige Bettler in unserer Gegend,« sagte sie, und gleichsam sich entschuldigend fügte sie hinzu, »und auch ihn hätte ich gerne schon so versorgt, daß er nicht zu betteln brauchte, aber mir schien es immer, als wäre es eine Grausamkeit, ihn seinem Berufe zu entziehen. So sitzt er doch an der Straße und sieht etwas von der Welt. Rühren kann er sich nicht. Soll man ihn zeitlebens in einem Zimmer sitzen lassen? Zeigt er sich aber auf der Straße, so schenkt ihm doch jeder etwas.«

Die gut gehaltene Bezirksstraße führte am Waldessaum hin. Als Dagobert den einen der wachehaltenden Forstgehilfen erblickte, ließ er halten.

»Sie, Gnädigste,« sagte er, »bleiben hier sitzen, denke ich. Die Leiche des Ermordeten ist kein Anblick für Sie. Ich berichte Ihnen dann schon, wenn ich irgendeine bemerkenswerte Wahrnehmung machen sollte.«

9 Damit schritt er auf die Unglücksstelle zu. Die beiden Wächter hatten ihre Pflicht getan. Es war gleich zu bemerken, daß da keine Unbefugten in die Nähe gelassen worden waren. Das hatte immerhin sein Gutes. In weitem Bogen standen zahlreiche Landleute in stummer Scheu herum. Auch Dagobert berührte den Toten nicht, aber er lugte scharf aus nach Anhaltspunkten für die Untersuchung.

Als die Kommission eintraf, wurde dem Arzt der Vortritt gelassen. Er kniete neben der Leiche nieder und legte sich diese mit einiger Anstrengung zurecht, denn sie war mit dem Gesicht nach abwärts gelegen. Dagobert beugte sich nieder und leistete dem Arzt Assistenz. Der Befund, in längeren Zwischenräumen abgegeben, lautete:

»Selbstmord oder unglücklicher Zufall ausgeschlossen. Mord außer allem Zweifel. Der Mann wurde erwürgt. Die Fingereindrücke sind noch in voller Deutlichkeit sichtbar. Pomus Adami eingedrückt, weiter gebrochen der Schildknorpel, Cartilago thyroïdea, und der Santorinische Knorpel. Der Tod muß momentan eingetreten sein. Der Tod ist jedenfalls schon vor acht bis zehn Stunden eingetreten; wahrscheinlich wurde der Mord vor Mitternacht begangen.«

»Erlauben Sie, Herr Doktor,« nahm Dagobert das Wort. »Eine genauere Feststellung des Zeitpunktes könnte doch von Belang sein. Ich glaube, wir haben die Mittel dazu in der Hand.«.

»Ich glaube nicht, Herr Dagobert,« entgegnete der Arzt. »Auf Stunde und Minute genau den Zeitpunkt zu bestimmen – da läßt uns die Wissenschaft im Stich.«

»Da müssen wir es ohne die Wissenschaft versuchen. Es hat gestern abends oder heute nachts geregnet. Die 10 Straße ist zwar wieder aufgetrocknet, aber es ist zu sehen, daß es geregnet hat, am besten hier an der Stelle, wo die Leiche lag. Die nassen, nun auch beinahe ganz getrockneten Kleider des Toten haben auf dem Erdboden einen feuchten Rand zurückgelassen. Es wird doch festzustellen sein, wann der Regen begonnen hat.«

»Das kann ich ganz genau sagen,« meldete sich der Förster. »Von dreiviertel acht bis acht ging unter Blitz und starkem Donner ein heftiger Gewitterregen nieder.«

»Da hätten wir ja einen Anhaltspunkt,« fuhr Dagobert fort. »Ich stelle nämlich fest, daß der Mord vor Beginn des Regens verübt worden ist. Überzeugen Sie sich. Die Bodenstelle, die der Leichnam deckte, ist staubig. Sonst ist die Straße zwar auch trocken, aber noch nicht staubig. Weiters sind Anzeichen dafür da, daß unmittelbar nach verübter Tat der Regen losbrach. Doch davon vielleicht später. Die Anzeichen können auch trügen, und darum wollen wir uns vorläufig mit ihnen nicht aufhalten. Der Staub lügt aber bestimmt nicht. Also: Diwald wurde vor dreiviertel auf acht ermordet. Wir wissen, daß er das Geld auf der Kanzlei um halb sieben behoben und in einem Täschchen aus Wachsleinwand zu sich gesteckt hat. Es wurde weiters erhoben und uns mitgeteilt, daß er von der Kanzlei ins Gemeindewirtshaus ging, dort zwei Viertel Wein trank und dann bald nach dem Siebenuhrläuten aufbrach. Weiter allerdings stimmt es mir nicht ganz – indessen doch nur um Minuten. Ich halte nämlich daran fest, daß er hierher gelangte, knapp bevor das Gewitter begann. Für den Weg selbst hätte er aber höchstens eine 11 Viertelstunde gebraucht. Wir können nicht wissen, warum es mindestens doppelt so lange dauerte, aber immerhin haben wir nun den Zeitpunkt mindestens auf eine Viertelstunde auf oder ab festgestellt.«

Nun beriet die Kommission wieder eifrig, und alle tauschten ihre Mutmaßungen und Beobachtungen aus. Dagobert störte sie darin nicht, sondern begab sich zu Frau Violet, die im Automobil seiner harrte und setzte sich zu ihr. Marius erhielt Befehl, im langsamsten Tempo, »im Schritt« zurückzufahren.

»Nun, Dagobert,« forschte Frau Violett. »Haben Sie Hoffnung?«

Dagobert erstattete kurz Bericht, und während er sprach, warf er immer spähende Blicke zur Seite auf die Straße. Eine Weile schwieg er dann wieder und dachte nach.

»Ein gewöhnlicher Raubmord,« sagte er nach längerem Sinnen, »und doch bietet er gewisse ganz ungewöhnliche Schwierigkeiten. Die Indizien widersprechen sich nämlich in ganz seltsamer Weise. Man muß annehmen, daß der Mörder ein Einheimischer ist, der die Verhältnisse genau kennt. Man fällt nicht einen armen Teufel von einem Waldhüter räuberisch an, es wäre denn, daß man weiß, daß er herrschaftliches Geld bei sich trägt.«

»Wegen elender vierhundertundfünfzig Kronen!« rief Frau Violet und die Tränen schossen ihr dabei in die Augen. »Wir hätten lieber das Zehn- und Hundertfache verschmerzt. Dafür ein Menschenleben, das Leben eines treuen Dieners!«

»Nur ein Einheimischer konnte von Diwalds regelmäßiger Mission wissen, und doch deuten die Anzeichen auf einen fremden Täter. Sagen Sie, Frau Violet, 12 ist gestern oder in den letzten Tagen fahrend Volk, eine Künstlertruppe, ich meine Akrobaten und Gaukler, im Dorfe gesehen worden?«

»Bestimmt nicht, Dagobert.«

»Oder vielleicht Zigeuner?«

»Auch nicht.«

»Vielleicht gab's in der Nähe ein Kirchweihfest?«

»Weit und breit nicht.«

»Es ist zu sonderbar und in meiner Praxis völlig neu! Ich hätte geschworen, daß der Mörder ein Akrobat ist.«

»Warum denn nun gerade ein Akrobat?«

»Oder gibt es vielleicht im Dorfe einen Menschen, von dem es bekannt ist, daß er Akrobatenkünste machen kann?«

»Auch das nicht, Dagobert.«

»Es ist um verrückt zu werden. Ich kann beweisen, daß es ein Einheimischer gewesen sein muß, und ebensogut beinahe kann ich beweisen, daß es ein Einheimischer nicht gewesen sein kann!«

Inzwischen waren sie wieder in die Nähe des verkrüppelten Bettlers geraten. Dagobert warf ihm mit einer Handbewegung zwei Silbergulden zu. Die beiden Geldstücke flogen auseinander und keines traf das Ziel, den aufgehaltenen Hut. Beide fielen mehrere Meter weit von dem Bettler auf die Straße. Dagobert stieg aus, beeilte sich aber nicht, helfend einzugreifen, sondern machte sich das grausame Vergnügen, ruhig zuzusehen, wie der Unglückliche, sich auf die Hände stützend, sich fortbewegte, um die Geldstücke aufzulesen. Dann stieg er wieder ein und fuhr mit Frau Violet ins Schloß, wo nun eben auch die Kommission anlangte.

13 Die Herren setzten sich sofort zur Beratung zusammen und gingen nun daran, das Protokoll zu verfassen. Dagobert wollte sie dabei nicht stören und zog sich zurück. Er wollte inzwischen einen Spaziergang machen, um sich die Gegend ein wenig anzusehen.

Der Gemeindeschreiber brauchte etwas mehr als eine Stunde, um nach dem Diktat des Bezirksrichters mit dem Protokoll zustande zu kommen. Eben sollte das Werk noch einmal zur Verlesung gelangen, um dann von den anwesenden Herren unterschrieben zu werden, als Dagobert, von seinem angeblichen Spaziergang zurückgekehrt, wieder eintrat. Der Hausherr war sehr erfreut, daß er wieder da war und meinte, er könnte nun gleich das Protokoll mitanhören und dann, wenn er einverstanden sei, auch mitunterschreiben.

»Ich denke, daß das nicht notwendig sein wird,« erwiderte Dagobert, indem er sich zu den Herren an den Tisch setzte. »Ich glaube vielmehr, daß wir gezwungen sein werden, ein ganz neues Protokoll aufzusetzen. Hier ist zunächst das geraubte Geld.«

Damit legte er ein Wachstuchtäschchen, das sofort als das von Diwald stets benützte erkannt wurde, auf den Tisch. Der Betrag war, wie sofort festgestellt wurde, unversehrt vorhanden. Der Herren bemächtigte sich eine ungeheure Erregung. Frau Violet warf Dagobert einen dankbaren und stolzen Blick zu. Sie wußte ja und hatte es immer gesagt, auf Dagobert könne man sich verlassen!

Dann stürmte alles mit Fragen auf ihn ein. Wenn er das geraubte Gut zustande gebracht habe, dann müsse er doch auch vom Täter eine Spur haben!

»Was den Täter betrifft,« erwiderte Dagobert, »so habe ich mir erlaubt, ihn in sicheren Gewahrsam 14 zu bringen. Ich habe ihn persönlich ins Gemeindegefängnis abgeliefert.«

»Wer – wer ist es, um Gottes willen!?«

»Erlauben Sie, daß ich der Reihe nach Bericht erstatte. Der Herr Gemeindearzt hat zweierlei mit unumstößlicher Sicherheit festgestellt. Selbstmord ausgeschlossen und Tod durch Erwürgung. Er hat nicht hinzugefügt – was auch schließlich nicht seines Amtes war – obschon der Befund es ergab, daß der mörderische Überfall von hinten erfolgte. Das beweisen die deutlich sichtbaren Fingereindrücke auf dem Halse und die Tatsache, daß die Leiche mit dem Gesichte abwärts lag. Spuren eines Kampfes waren nicht sichtbar. Aus diesen Feststellungen ergab sich die erste Schwierigkeit. Man kann sich schwer vorstellen, daß ein derartiger Überfall mit solcher Schnelligkeit erfolgen konnte, daß dem Angefallenen nicht einmal Zeit geblieben wäre, sich nach dem Angreifer umzuwenden. Die zweite Schwierigkeit war noch verwirrender. Es ergab sich da für mich etwas völlig Neues, etwas vielleicht überhaupt noch nie Dagewesenes. Der Herr Postenführer hat ja ganz pflichtgemäß nach den Fußspuren geforscht. Die Umstände waren dafür teils ungünstig, teils günstig. Ungünstig deshalb, weil die vor dem Regen etwa sichtbaren Spuren durch diesen weggewaschen worden waren. Günstig aber, weil die nach Beginn des Regens eingedrückten Spuren nun, nachdem sie eingetrocknet waren, in dem kalkhaltigen Boden nur um so deutlicher erschienen, förmlich wie herausgebacken.

Fußspuren waren, bis auf drei oder vier, die unzweifelhaft von Diwald selbst herrührten, nicht zu sehen, wohl aber etwas anderes, was nicht beachtet wurde, und ein ganz ungewöhnliches Rätsel aufgab – 15 Handspuren! Ich konnte die Spuren leicht verfolgen und gelangte zu dem allerdings irrigen Schlusse: ein Akrobat hat den Mord begangen und sich dann, um keine Fußspuren zu hinterlassen, im Handstand, den Kopf nach unten, die Füße in der Luft, davongemacht.

Diese Annahme war eine falsche, aber immerhin – den Mord hat einer begangen, der auf den Händen geht. In der ganzen Umgegend gibt es nur einen, der das tut – den Bettler Lipp! Und das ist der Mörder!«

»Unmöglich, ganz unmöglich!« tönte es einstimmig zurück. »Ein Mensch, der sich nicht rühren kann!«

»Seien Sie ganz beruhigt, meine Herren, er ist es! Seine Tat ist um so verabscheuungswürdiger, als er mit ihr ein Werk der Menschenfreundlichkeit und der Barmherzigkeit gelohnt hat. Er hatte Diwald um den Liebesdienst gebeten, ihn ein Stück Weges zu tragen. Diwald nahm ihn auf den Rücken und trug ihn, und damit war auch sein Geschick besiegelt. So er klärt sich auch die Zeitdifferenz, die mir aufgefallen war. Mit seiner Last brauchte er eine halbe Stunde für einen Weg, den er sonst in einer Viertelstunde zurücklegte.

Meine Erhebungen sind vollständig, und zu allem Überfluß liegt auch ein vor zwei Zeugen, vor mir und dem Chauffeur Marius, abgelegtes Geständnis vor. Als ich vorhin die Herren verließ, nahm ich mir Marius mit und hieß ihn, einen festen Strick einzustecken. Ich selbst lieh mir vom Herrn Postenführer ein Paar stählerne Handschellen aus. So ausgerüstet fuhren wir zu Lipps Hütte. Seine Pflegerin, ein altes keifendes Weib, war wütend über ihn. Gestern sei der Lump wieder spät nach Hause gekommen, er habe sich bis zehn Uhr im Wirtshaus herumgetrieben. Ich erhob sofort, daß er nicht im Wirtshaus gewesen 16 ist. Wohl aber berechnete ich, daß er bei seiner Art der Fortbewegung mindestens zwei Stunden brauchte, um vom Schauplatz der Tat bis in seine Wohnung zu gelangen.

Das übrige ist bald erzählt. Ich nahm eine Hausdurchsuchung vor und fand unter einer lockeren Diele die Geldtasche. Dann fuhren wir die Straße hinaus zu Lipp. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß er den Diwald umgebracht habe. Er versuchte zu leugnen. Ich herrschte ihn an und zeigte ihm die Geldtasche. Da klappte er zusammen und gestand zitternd: – Ja, ich habe es getan!

Auf meinen Wink warf Marius von hinten die Schlinge über ihn und preßte ihm so die Arme an den Leib. Darauf erhob er zur Abwehr die Unterarme und hielt mir so gerade recht die Hände hin, daß ich die Spangen um seine Gelenke legen konnte. Dann hoben wir ihn ins Automobil und lieferten ihn ins Gefängnis. Und somit wäre dieser Fall für mich erledigt. Das letzte Wort werden seine Richter zu sprechen haben. An ihnen wird es auch sein, zu entscheiden, ob ihm die volle Zurechnungsfähigkeit zuzuerkennen sei oder nicht. Jetzt bitte ich um die Erlaubnis, mich zurückzuziehen, da ich zufällig durch noch einen anderen ungewöhnlich verwickelten Fall in Anspruch genommen bin.«

Dagobert empfahl sich bei der versammelten Kommission, küßte dann ritterlich der Hausfrau die Hand, und zwei Minuten später befand er sich wieder in dem von Marius gesteuerten Automobil auf dem Heimwege. 17

 


 


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