Balduin Groller
Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer. Band IV - VI
Balduin Groller

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Vierter Band

Ein sonderbarer Fall.

Man saß bei Tisch im Hause Grumbach, und zwar wieder einmal zu dritt, der Hausherr, seine liebenswürdige Gattin Frau Violet und der alte bewährte Hausfreund Dagobert Trostler.

Der weißbehandschuhte Diener servierte eben die Suppe, als im Nebengemach die telephonische Klingel ertönte. Auf einen Blick des Hausherrn begab sich der Diener zum Apparat und kam nach wenigen Sekunden schon mit der Meldung zurück: »Madame Meyer wird gebeten; es ist sehr dringlich!«

Die Hausfrau lächelte, machte aber gleich darauf ein erschrockenes Gesicht. Sie hatte gelächelt, weil sie den Sinn der sonderbaren Meldung sofort verstanden hatte. Sie wußte, daß Polizeirat Doktor Weinlich und Dagobert sich dieses eigentümlichen Decknamens bedienten, wenn sie miteinander telephonisch verkehrten. Und erschrocken war sie dann, weil sie sich gleich sagte, daß es mit dem geselligen Zusammensein bei Tische, auf das sie sich wie immer gefreut hatte, nun auch schon sein Ende habe. Das war sicher wieder irgend so eine Detektivsache, und wenn Dagobert von so etwas hörte, dann war er einfach nicht zu halten. Sein »Beruf«, sein »Geschäft« ging ihm über alles. Tatsächlich erhob er sich sofort und legte seine Serviette auf den Tisch.

4 »Aber, Dagobert,« flehte die Hausfrau, »essen muß doch der Mensch, und wenn die Geschäfte auch noch so pressieren mögen!«

»Allerdings, Frau Violet, essen muß der Mensch, aber es muß nicht gerade dann sein, wenn es Wichtigeres zu tun gibt.«

»Aber so nehmen Sie doch Vernunft an! Was wird es denn sein? Um einen Einbrecher wird es sich wieder handeln. Den hat man entweder schon, und dann wird er Ihnen nicht davonlaufen, oder man hat ihn nicht, nun, dann wird man ihn eben fünf Minuten später fangen. Darauf kann es doch nicht ankommen!«

»Bei meinem Geschäft, Gnädigste, kann man nie im vorhinein wissen, worauf es ankommt. Sicher ist, daß ich auch nicht einen Augenblick verlieren darf.«

Es war mit ihm nicht zu reden. Er versprach noch rasch auf Bitten der Hausfrau, ihr wie immer auch dieses Mal alles haarklein zu erzählen und dann stürmte er die Treppe hinunter, bestieg seinen Wagen und war fünf Minuten später in der Kanzlei Doktor Weinlichs, der ihn mit besonderer Liebenswürdigkeit empfing.

»Sie wissen, Dagobert,« begann er nach der herzlichen Begrüßung, »daß Sie immer mein letzter Notanker oder, wenn es Ihnen besser gefällt, mein letzter Pfeil im Köcher sind, wenn ich mir schon gar nicht mehr zu helfen weiß.«

»Keine Schmeicheleien, Doktor! Sie wissen sich immer zu helfen.«

»Zu gütig! Wenn ich nur überall dabei sein könnte! Wir haben wieder ein kleines Malheur.«

»Um was handelt es sich?«

5 »Um einen Mord.«

»Doch schon etwas! Ich sollte meinen, das sei schon ein beträchtliches Malheur.«

»Nicht so meine ich es. Sie wissen, mein ständiges Malheur –«

»Ach sooo! Schon wieder und noch immer der ehrenfeste Doktor Thaddäus Ritter von Skrinsky?«

»So ist es. Ich war in der letzten Nacht nicht in Wien – mußte einer Banknotenfälscherbande in St. Pölten nachspüren; sonst habe ich Auftrag gegeben, mich bei jeder Mordsache zu wecken. Ihnen brauche ich ja nicht zu sagen, wie sehr es auf die erste Tatbestandsaufnahme ankommt. Und so war es denn wieder der unglückliche Skrinsky, der da zum Handkuß gekommen ist.«

»Daß Sie den noch nicht angebracht haben!«

»Unmöglich. Er avanciert sogar flott mit mir. Als ich Polizeirat wurde, rückte er zum Oberkommissär auf. Die ganze Stadt wird morgen auf sein über den Sensationsfall – für die Abendblätter habe ich die Nachrichten noch zurückgehalten – man wird von nichts anderem reden, und Skrinsky soll die Ehre des Hauses retten! Wir werden schön ausschauen! Nun sagen Sie selbst – muß ich da nicht meine Zuflucht zu Ihnen nehmen?!«

»Ich stehe mit Vergnügen zur Verfügung. Lassen Sie hören, aber, bitte, bevor Sie anfangen, lassen Sie mir etwas zu essen holen, sonst verhungere ich da auf dem Fleck und an einem verhungerten Dagobert haben Sie ja doch nichts.«

Doktor Weinlich gab die entsprechenden Befehle. Dagobert setzte sich zurecht und seinen Petruskopf neigend hörte er aufmerksam zu, als Weinlich begann:

6 »Sie kennen die Sensengasse. Sie mündet förmlich in den brausenden Weltverkehr hinein und ist doch vielleicht die stillste und verkehrsärmste Gasse von Wien, zumal bei Nacht. Nur am Anfang bei der Währingerstraße, einer Hauptverkehrsader der Stadt, einige Häuser, sonst in der ganzen Ausdehnung zu beiden Seiten sehr hohe, feste Gartenmauern. Die Gasse zieht sich hin zwischen weitläufigen Parkanlagen. Auf der einen Seite das Offiziersspital, auf der andern der historische ›Narrenturm‹ und die Totenkammer des allgemeinen Krankenhauses. Die Gebäude stehen weit drin in den Anlagen und sind von der Straße aus kaum sichtbar. Da geht in der Nacht niemand durch, der nicht gerade muß.«

»Ich kenne die Strecke; sie gehört zu jenen, von denen es heißt, daß man auf ihnen auch bei hellichtem Tage erschlagen werden kann.«

»Tatsächlich ist dort einer erschlagen worden. Nicht bei Tage, sondern um zwei Uhr nachts. Berücksichtigen Sie, daß bei uns um Mitternacht jede zweite Straßenlaterne abgedreht wird, und Sie werden sich vorstellen können, wie es zu jener Stunde in der Sensengasse aussehen mag.«

»Das kann ich mir denken. Weiter.«

»Nun denn, dort ward auf der Seite des Offiziersspitals nahe zur Mauer, aber doch noch auf dem Fahrdamm, die Leiche eines Erschlagenen aufgefunden.«

Dagobert blickte auf.

»Ist niemand sonst auf dem Tatorte gesehen, nichts von einem vorhergehenden Raufexzeß wahrgenommen worden?«

»Nichts von alledem. Ringsherum Totenstille.«

»Sonderbar!«

7 »Ja, leider sehr sonderbar und für uns wahrscheinlich eine Katastrophe. Denken Sie nur, die kolossale Sensation, die es geben wird. Fast mitten in der Stadt wird auf offener Straße ein Mensch ermordet, und die Polizei bringt wieder nichts heraus!«

»Erzählen Sie Näheres, Weinlich!«

»Ich werde mich hüten. Einem Kriminalisten Ihres Ranges – Sie brauchen nicht abzuwehren; ich weiß, was ich sage – soll man womöglich überhaupt nichts erzählen. Muß ich Sie erst auf die Psychologie der Zeugenaussagen verweisen? Ich selbst weiß alles nur aus zweiter und dritter Hand. Es ist nicht ausgeschlossen, daß schon mir irgendeine Einzelheit ungenau berichtet oder von mir falsch aufgefaßt wurde. Es ist weiters nicht ausgeschlossen, daß ich, wenn auch unabsichtlich, irgendeine subjektive und vielleicht falsche Meinung durch meine Darstellung suggerieren könnte. Vor derlei müssen wir uns hüten. Sie müssen den trockenen Tatbestand kennen lernen, wie er bisher in den Akten festgelegt ist.«

»Sehr gut. Möchten Sie uns nicht den Doktor Skrinsky mit seinem Material herüberzitieren?«

»Das war meine Absicht. Ich glaube aber, Sie verfolgen auf eigene Faust die Angelegenheit. Eine Kollision mit ihm befürchte ich nicht; denn er kommt bestimmt nicht auf die richtige Spur.«

Als Doktor Skrinsky mit seinen Akten eintrat, wurde eben auch das bestellte Mahl für Dagobert gebracht. Dieser entschuldigte sich bei dem Ankömmling und erbat sich von ihm die Erlaubnis, in seiner Gegenwart seinen Hunger zu stillen.

»Sie wissen, Herr Oberkommissär,« fuhr er dann schon essend fort, »daß ich eine kleine Schwäche für 8 interessante Kriminalfälle habe, und da habe ich denn von meinem speziellen und sehr verehrten Freund, dem Polizeirat, die Erlaubnis erbeten, auch meine Nase ein wenig hineinzustecken.«

»Aber Herr von Dagobert,« erwiderte der Oberkommissär mit äußerster Höflichkeit, »ich weiß ja, daß Sie zu unseren getreuesten Hausfreunden zählen und daß wir Ihnen schon manchen wertvollen Dienst zu danken haben.«

»Ich werde Sie auch ganz gewiß in Ihren Untersuchungen nicht stören. Ich will nur ein wenig trainieren. Sie wissen, daß es bei unserem Geschäft wesentlich darauf ankommt, immer im Training zu bleiben.«

»Gewiß, ich weiß, Herr von Dagobert.«

»Der Erfolg soll Ihnen auch ungeschmälert bleiben, Herr Oberkommissär. Er wird bei Ihrem bewährten genialen Scharfblick sicher nicht ausbleiben.«

»Ich denke selbst, es wird ein schöner Erfolg werden,« entgegnete der Oberkommissär sich bescheiden verneigend. »Der Fall ist ja nicht einfach, aber ich habe es bisher schon nicht an den nötigen Vorkehrungen fehlen lassen und ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich behaupte, daß ich jetzt schon auf der richtigen Spur bin.«

»Desto besser! Und nun, Herr Oberkommissär, ad rem!«

Der Oberkommissär verlas das erste in dieser Sache aufgenommene Protokoll, dessen wesentlicher Inhalt dahin lautete:

»Am 23. Februar kurz vor zwei Uhr nachts wurde vom Rayonposten Sicherheitswachmann Kajetan Wendtlehner, Nr. 1478 in der Sensengasse, IX. Bezirk, 9 ein Mann auf der Straße liegend und anscheinend tief bewußtlos aufgefunden. Der Wachmann versuchte, den Mann durch Anrufen und Rütteln zum Bewußtsein zu bringen, was ihm jedoch nicht gelang. Er gab darauf das Signal um Sukkurs und veranlaßte die sofortige telephonische Verständigung der Rettungsgesellschaft. Nach Verlauf von acht Minuten war das Automobil der Rettungsgesellschaft zur Stelle. Der Inspektionsarzt konnte schon nach kurzer Untersuchung den bereits eingetretenen Tod feststellen und lehnte daher jede weitere Intervention ab. Hierauf wurde das Kommissariat Schottenring verständigt, das sofort eine Kommission entsandte. Der Lokal-Augenschein ergab: Der Kleidung nach gehörte der Tote den besseren Ständen an. Nach verschiedenen Karten, insbesondere nach der studentischen Legitimationskarte und sonstigen Schriftstücken, welche man bei ihm vorfand, schien die Identität mit dem Studenten der Medizin im achten Semester Erich Puchta, geboren zu Villach in Kärnten, wohnhaft IX. Lazarettgasse 17, festgestellt. Der Polizei-Bezirksarzt Dr. Robitschek konnte, nachdem er den anscheinend durch einen Schlag, dessen Spuren deutlich sichtbar waren, fest angetriebenen Hut, der am Hinterhaupt infolge gestockten Blutes angeklebt oder angefroren war, mit aller Vorsicht entfernt hatte, außer einer Schwellung am Scheitel und verhältnismäßig geringem Blutaustritt keine andere äußere Verletzung nachweisen. Jedenfalls ist es jetzt schon als sicher anzunehmen, daß der Tod als die Folge eines mit großer Gewalt geführten Streiches mit einem stumpfen Instrument herbeigeführt worden ist. Sohin wurde die Überführung der Leiche in das gerichtlich-medizinische Institut behufs Sicherstellung der Todesursache veranlaßt.«

10 »Schön. Ist die Obduktion bereits vorgenommen worden?« fragte Dagobert.

»Ja,« entgegnete der Oberkommissär, »ich habe auch das Obduktions-Protokoll hier.«

»Ich bitte, es zu verlesen.«

»Ich fürchte nur, Herr von Dagobert, daß es Sie vielleicht beim Essen –«

»Keine Idee – lesen Sie nur!«

Skrinsky verlas das Protokoll, dessen wissenschaftliche Darstellung der tödlichen Verletzung sich im wesentlichen mit der schlichten Beschreibung des Wachmanns deckte. Als er zur ausführlichen Beschreibung der inneren Organe gelangte, fragte er, ob er auch diese verlesen solle.

»Ist etwas Auffälliges dabei?« forschte Dagobert.

»Nichts Besonderes; Herz normal, Leber etwas vergrößert, granuliert und leicht fettig degeneriert –«

»Ein Student – wird im Alkohol ein bißchen exzediert haben.«

»Sehr richtig, Herr von Dagobert. Dürfte in diesem Punkte erblich belastet sein. Ich habe bereits alle Familienverhältnisse telegraphisch bei der Villacher Polizei ermittelt. Sehr wohlhabendes Haus, Fabrikanten, Vater und noch zwei andere im Geschäft tätige erwachsene Söhne, alle drei ungemein kräftig, aber alle drei auch schwere Alkoholiker.«

»Mein Kompliment, Herr Oberkommissär! Ich beglückwünsche Sie zu der Genialität, mit der Sie das so rasch herausgebracht haben. Ich wußte, daß man sich auf Sie verlassen kann. Ich zweifle nicht, daß ich Ihnen in kurzem zu einem vollen Erfolg werde gratulieren können.«

»Wäre nicht so unmöglich. Ich habe eine Spur –!«

11 »Desto besser – nur nicht locker lassen!«

»Ich lasse nicht locker und glaube, daß ich – kurz, ich halte die Hand über den Täter!«

»Ausgezeichnet! Ich frage gar nicht erst.«

»Es ist auch besser, noch nichts davon zu reden. Herr von Dagobert wissen selbst am besten, daß das Geheimnis nur allzuoft die Bürgschaft des Erfolges ist, und schließlich gibt es Amtsgeheimnisse, die selbst für –«

»Natürlich weiß ich das. Nur nichts ausplaudern, Herr Oberkommissär. Möchten Sie aber nun nicht uns die Kleider und sonstigen Habseligkeiten des Opfers ansehen lassen?«

Doktor Skrinsky ging und brachte einen großen Karton mit den gewünschten Gegenständen herbei. Dagobert prüfte alles genau und machte dabei kurze Bemerkungen: »Die Kleider sind von einem guten, also teuren Schneider. Das Hemd gleich mit Kragen und Manschetten, nicht erst angeknöpfelt. Der Mann hat bei der Wäscherin nicht gespart. Der Hut – richtig, ein Habig, also ein Zehnguldenhut, und die prachtvolle Spur des Schlages. Ich erkenne es mit besonderer Befriedigung an, Herr Oberkommissär, daß diese Spur so schonend behandelt worden ist. Sie allein wird uns ja noch eine ganze Geschichte zu erzählen haben. In der Brieftasche unter anderem der Betrag von einhundertvierzig Kronen. Ein Student, der am dreiundzwanzigsten noch einhundertundvierzig Kronen in der Tasche hat – alle Achtung! Da ist ja auch ein buntes studentisches Band – der junge Mann war also ›Vandale‹. Haben Sie nach dieser Richtung schon recherchiert, Herr Oberkommissär?«

12 »Unnötig, Herr von Dagobert. Ich darf mich nicht verzetteln. Ich habe meine sichere Spur, und wenn ich die einmal habe, lasse ich mich grundsätzlich durch keine Versuchung ablenken.«

»Das ist ganz vortrefflich! Nur so fort, Herr Oberkommissär, und Sie werden noch glänzenden Ruhm erringen. – Was ist denn nun das?!« fuhr Dagobert in der Musterung fort. »Das paßt mir aber doch gar nicht da herein. Ein langstieliges goldenes Lorgnon, eine wundervolle, graziöse Arbeit, aber es ist doch ein – Damenlorgnon? Wie kommt denn das da her?«

»Sehen Sie, Herr von Dagobert,« erwiderte Doktor Ritter von Skrinsky mit einem nur halb geglückten Versuch, ein überlegenes Lächeln diskret zu unterdrücken, »gerade was Ihnen so gar nicht da hereinpaßt, ist als sein Eigentum beglaubigt. Belieben nur näher hinzusehen. Oben in der Mitte der kleinen kreisförmigen Ausbuchtung, die bestimmt ist die zusammengeklappten Gläser aufzunehmen, finden Sie seine Initialen E. P. eingraviert. Weiter: daß er das Lorgnon beständig im Gebrauch hatte, das beweist der Umstand, daß er bei seiner Auffindung noch als Leiche das Lorgnon in der Hand hielt.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß er seinen Mörder anlorgnettiert hat, während dieser den tödlichen Streich führte?!«

»Ich will immer nur das sagen, was durch Tatbestand und Lokalaugenschein beglaubigt ist. Als er aufgefunden wurde, war die feine, jetzt allerdings gerissene venezianische Kette des Lorgnons um seine rechte Hand geschlungen.«

13 »Ich bekenne mich für geschlagen, Herr Oberkommissär, und gebe willig zu, daß ich Ihnen gegenüber niemals aufkommen werde.«

Skrinsky verneigte sich lächelnd und fragte, ob er sich nun wieder zurückziehen und die Sachen mitnehmen dürfe.

»Alles dürfen Sie mitnehmen, nur den Hut und das Lorgnon lassen Sie uns noch da, vorausgesetzt, daß Sie dadurch nicht in der Arbeit behindert werden.«

»Durchaus nicht, Herr von Dagobert. Es trifft sich sogar sehr gut. Gerade diese beiden Stücke brauche ich nicht mehr.« –

»Nun, was sagen Sie?« fragte Doktor Weinlich, als Skrinsky wieder draußen war.

»Ich meine, daß der Fall sehr schwierig ist. Halten Sie sich nur die Situation vor Augen. Ein Mensch wird in tiefer Dunkelheit tot aufgefunden. Weit und breit keine lebende Seele. Am Tatort selbst gibt man sich gar nicht erst die Mühe, nach Spuren zu suchen. Es vergeht ein ganzer Tag, und man legt uns ein Obduktionsprotokoll vor.«

»Es ist wahr, Dagobert, Sie hätten die Leiche früher sehen sollen. Sie wissen, ich bin unschuldig; ich war verreist. Wollen Sie sie jetzt noch besichtigen?«

»Jetzt? Das hätte, nachdem das Messer des Anatomen dort gewütet hat, gar keinen Zweck. Ich fürchte sehr, daß wir da an eine sehr harte Nuß geraten sind.«

»Ich wundere mich, Dagobert, Sie ausnahmsweise gleich so entmutigt zu finden.«

»Sie irren, verehrter Freund, ich bin nicht entmutigt, ich sehe die Dinge nur wie sie sind. Urteilen Sie selbst. Wir haben die Habseligkeiten des Getöteten durchforscht. Das ist doch schon etwas. Sie 14 erzählen ihre Geschichte und gestatten gewisse Schlüsse. Und dann auf einmal die plötzliche Schwierigkeit und verwirrende Ablenkung! Das haben Sie doch sofort selbst bemerkt, nicht wahr?«

»Ich habe gar nichts bemerkt, Verehrtester, weil ich in dieser Sache nichts bemerken will. Ich halte sie mir sogar geflissentlich fern. Denn ich stecke zu tief drin in anderen wichtigen Affären. Darum halte ich mir also absichtlich alles fern, um mir nicht unnötigerweise den Kopf noch mehr zu beschweren. Das taugt nichts. Ich will mich nicht vertiefen, und darum können Sie mich in diesem Falle als vollständigen Laien, als Wickelkind oder als Kapazität vom Range Skrinskys betrachten. Gar nichts habe ich also bemerkt.«

»Gut. Das wichtigste Stück mußte für mich der Hut sein.«

»Natürlich. Da ist doch wenigstens eine Spur von prachtvoller Deutlichkeit!«

»Jawohl, und gerade der Hut gibt mir ganz unerwartete Rätsel auf, und dazu dann noch das merkwürdige Lorgnon – es ist rein um verrückt zu werden!«

»Ich verstehe Sie nicht, Dagobert. Wie bereits erwähnt, bin ich – in diesem Falle – vollständig Wickelkind.«

»Der Hut – doch ich darf nicht voreilig sein! Können Sie mir den Wachmann Kajetan Wendtlehner stellig machen?«

Der Polizeirat läutete und gab Befehl, den Wachmann sofort zur Stelle zu schaffen. Sein Aufenthalt sei telephonisch zu erheben. Sollte er im Dienst sein, so sei er sofort abzulösen. Er solle sich einen Fiaker nehmen; unter allen Umständen habe er in einer halben 15 Stunde gestellt zu sein. Es traf sich glücklich, daß der gesuchte Wachmann gerade. im Hause war. Zwei Minuten später trat er an. Er erhielt vom Polizeirat den Befehl, sich Herrn Dagobert zur unbeschränkten Verfügung zu stellen.

»Was wollen Sie nun beginnen, Dagobert?« fragte er weiter.

»Beginnen – und zwar dort, wo begonnen werden muß. Der Herr Wachmann wird die Freundlichkeit haben, nun mit mir in meinem Wagen zum Tatort zu fahren.« – –

Am nächsten Vormittag wollte Dagobert wieder beim Polizeirat vorsprechen, er traf ihn aber nicht an. Er war wieder um die Wege in Sachen der Banknotenfälscherbande, die nachgerade beträchtliche Beunruhigung verbreitete. Erst am übernächsten Tage, es war ein Sonntag, gelang es Dagobert seiner habhaft zu werden.

»Nun?« fragte Doktor Weinlich gespannt. »Bringen Sie uns gute Nachrichten? Wir bedürfen ihrer gar sehr.«

»Das glaube ich. Es ist, wie ich es vorausgesehen habe. Die Erregung in der Bevölkerung ist eine maßlose. Die Zeitungen haben sich der Sensation bemächtigt und schroten sie nicht nur in spaltenlangen Originalberichten, sondern sogar in Leitartikeln aus.«

»Leider! Wir kennen das. Die Leitartikel müssen geschrieben werden, weil der Fall das Tagesgespräch bildet und dieses Thema gegenwärtig die öffentliche Meinung ausschließlich beherrscht. Im Gegensatz zu den Lokalberichten muß der Leitartikel zu einer ›Pointe‹, zu dem sogenannten ›großen Gesichtspunkt‹ gelangen, und das ist: ›Es muß anders werden. Unsere Polizei 16 taugt nichts. Nötig ist sofortige Reform an Haupt und Gliedern.‹ Kurz alle Maßnahmen, welche geeignet erscheinen könnten usw. usw. Bei uns im Hause ist auch glücklich alles schon nervös geworden und alles hat den Kopf verloren.«

»Ich bin selbst der Meinung, verehrter Doktor, daß etwas geschehen müßte, um die Bewegung ein wenig abflauen zu lassen, sonst kann sie uns noch sehr unbequem werden.«

»Wie soll das aber geschehen? Wir können doch nicht verkünden lassen, daß wir den Täter schon haben, wenn es nicht wahr ist. Das würde die Sache nur schlimmer machen.«

»So meinte ich es auch nicht. Ich wollte einen andern Vorschlag machen. Doch lassen Sie erst hören, ob Skrinsky nicht vielleicht etwas herausgebracht hat?«

»Ach Gott, Skrinsky ist der einzige, der den Kopf nicht verloren hat.«

»Er kann nicht leicht in die Lage kommen.«

»Ich verstehe. Er ist ein Fels im Meere und steht mit siegesgewissem Lächeln da. Er hat sogar auch schon den Täter ermittelt und verhaften lassen.«

»Was Sie nicht sagen?!«

»Den Täter und das Mordwerkzeug.«

»Das Mordwerkzeug interessiert mich noch mehr als der Täter!«

»Sie wissen, was ich von seinen Kombinationen halte!«

»Aber es könnte doch einmal auch eine blinde Henne – uns wäre jedenfalls eine kolossale Arbeit erspart. Vielleicht gibt es doch Wunder. Also der Täter sitzt?«

17 »Vor einer Stunde haben sie ihn eingebracht. Wollen Sie, daß ich ihn Ihnen vorführen lasse?«

»Vorläufig trage ich kein Verlangen danach. Bitte, erzählen Sie, Herr Polizeirat.«

»Das ist bald getan. Skrinsky hat sein Augenmerk auf den Hausbesorger in dem Hause gerichtet, das Erich Puchta bewohnt hatte.«

»Wiener Hausmeister sind sonst selten Mörder. Gewöhnlich sind sie Vertrauensmänner der Polizei.«

»Er hat dort Hausdurchsuchung vorgenommen und hat dort zwei Keulen gefunden.«

»Gleich zwei Keulen! Das ist mir ein bißchen zuviel. Für solche Zwecke genügt gewöhnlich eine Keule. Welcher Luxus! Und das Motiv? Es wurde doch nichts geraubt. Selbst wenn er verscheucht worden wäre, hätte er immer noch zurückkommen können, um sich die Brieftasche zu holen. Und Haß oder Rache? Ein ›Vandale‹, der zudem – eigentlich Pleonasmus – Alkoholiker ist, ist mit seinen Sperrgeldern eine liebe und gute Kundschaft für den Hausmeister. Übersehen Sie nicht, daß er ihn oft genug die Treppe hinaufgelootst haben mag. Derlei Liebesdienste müssen anständig honoriert werden und werden es.«

»Es ist nicht nur das. Der Hausmeister ist in der Lage, wie er versichert, sein Alibi zu beweisen, und ich glaube ihm. Er beruft sich darauf, daß er die ganze Nacht Dienst getan habe und macht Hausbewohner namhaft, welchen er um die kritische Zeit das Tor geöffnet habe. Noch sind diese Parteien nicht vernommen, aber ich zweifle nicht im mindesten, daß sie die Angaben des Hausmeisters im vollen Umfang bestätigen werden. Gehen wir weiter – die Keulen!«

18 »Jawohl – die Keulen! Ich bin sehr gespannt.«

»Hier sind sie.«

Doktor Weinlich wickelte aus einer reinlichen Papierumhüllung, die in großem Aufdruck die Firma eines bekannten Sportgeschäftes aufwies, zwei handliche Keulen heraus, wie sie sehr häufig bei sportlichen Übungen von Jung und Alt in Verwendung genommen werden. Er berichtete, daß der Hausmeister, nach seiner Angabe, sie am Vorabend des Mordes auf Geheiß Puchtas aus jenem Sportgeschäft abgeholt habe. Er sei allerdings nicht mehr dazugekommen, sie seinem Auftraggeber abzuliefern. Doktor Skrinsky nun ist der Meinung, daß mit einer dieser Keulen der tödliche Schlag geführt worden sei.

Dagobert unterzog die Keulen einer flüchtigen Untersuchung und lächelte vergnügt dazu.

»Ich behaupte,« begann er, »daß dieser Hausmeister nicht der Mörder ist, und wenn Sie mir nun schmeicheln wollen, Doktor, dann verfügen Sie schon auf meine Behauptung hin und ohne erst meine Beweisführung abzuwarten seine sofortige Freilassung. Trauen Sie mir aber nicht, dann hören Sie mich ruhig an.«

»Einen Augenblick, Dagobert! Der Entlassungsbefehl liegt bereits ausgestellt und von mir unterfertigt hier auf meinem Tische. Skrinsky habe ich bereits davon Mitteilung gemacht und ihm eingeredet, daß es besser für die Untersuchung sein werde, den Mann frei gehen und dann unauffällig, aber sorgfältig beobachten zu lassen. Dann könnte es wohl eher gelingen, auch etwaiger Komplizen habhaft zu werden. Vorher müssen allerdings die für den Alibibeweis vorgeschlagenen Zeugen einvernommen werden. Das wird 19 im Laufe des heutigen Tages geschehen. Und nun zu Ihrer Beweisführung!«

»Urteilen Sie, Herr Polizeirat. Hier zunächst die Papierhülle. Wie reinlich und verhältnismäßig wenig zerknüllt ist sie auch jetzt noch nach mehrmaliger Enthüllung und Wiederverpackung der Keulen. Ich glaube nicht, daß das Paket von der Hand eines Mörders aufgemacht und dann wieder geschlossen worden ist, bevor Doktor Skrinsky es in die Hand bekam. Dann, wie bereits erwähnt, zwei Keulen! Ein Mörder kauft sich überhaupt keine Keule, und nun gar in einem eleganten Geschäfte in der Kärntnerstraße, er weiß sich anders zu behelfen. Schon gar nicht diese feinen modernen Trainingskeulen, von deren Existenz überhaupt nur Freunde der leichten Athletik, also Sportsleute, Kenntnis haben. Warum auch zwei Keulen? Oder trauen Sie ihm so große Absichten zu, daß er so viele Morde begehen wollte, daß eine Keule doch bald zu sehr abgenützt sein werde?!«

»Das klingt ja überzeugend,« erwiderte Doktor Weinlich lächelnd, »aber immerhin wäre es denkbar, daß wenn er schon im zufälligen Besitze der Keulen war – Puchta hatte sie, wie bereits erhoben ist, wirklich bestellt – so wäre es doch immer möglich, daß er seine Zeit benützt und von einer wenigstens einen verbrecherischen Gebrauch gemacht hätte.«

»Gut. Ich habe das Bisherige auch nur nebenbei erwähnt. Wir kommen nun zur Hauptsache, zu dem Punkte, der für mich allerdings auch die Hauptschwierigkeit bildet. Lassen Sie mich systematisch vorgehen. Als ich mit dem Wachmann Wendtlehner von Ihnen ging, ließ ich mich von ihm an den Tatort führen. Sie meinen – ein bißchen spät, wenn man noch Spuren 20 finden wollte. Ich hatte mich keinen Illusionen hingegeben, und habe tatsächlich auch nicht gefunden, was ich doch zu finden gehofft hatte. Davon später. Ich begnügte mich also damit, an der kritischen Stelle ein Erdklümpchen herauszustechen. Der Boden war zur Zeit der Tat gefroren und er war es noch, als ich zur Stelle war. Hier in diesem Säckchen habe ich den kleinen Klumpen mitgebracht. Ich zerreibe ihn mit meinen Fingern. Ich streue die Teilchen auf meinen Hut, damit wir ebenfalls eine schwarze Unterlage haben. Hier mein Taschenmikroskop. Es gibt nur sechzigfache Vergrößerung, aber es zeigt gut und scharf.«

Beide Herren untersuchten nun erst die Spur an dem Hut des Erschlagenen und dann die auf Dagoberts Hut. Dann fuhr Dagobert fort: »Sie sehen, verehrter Freund, die Merkmale sind identisch. Erde, Sand, Staub, winzige Quarzkristalle vollkommen gleich. Ich hoffe, Sie trauen mir nicht zu, daß ich mich damit aufhalte, etwas beweisen zu wollen, was keines Beweises bedarf, daß nämlich die Katastrophe wirklich an jener Stelle erfolgt ist, wo man den Toten gefunden hat. Das war die günstigste Stelle für das Unternehmen, und man wird doch eine Leiche nicht in der Stadt verschleppen. Hätte der Täter das überhaupt können, dann hätte er doch wohl lieber die günstige Gelegenheit benützt, sofort spurlos zu verschwinden.«

»Das ist klar.«

»Mir kommt es auf etwas anderes an. Die Spur auf Puchtas Hut ist ganz auffällig reichlich mit Erde, Sand usw. bedacht.«

»Das stimmt.«

»Die Keule hätte also sehr mit Schmutz, mit Erde, Sand usw. bedeckt sein müssen, um eine solche Spur 21 zurückzulassen. Sehen Sie sich nun die Keulen an. Sie sind vollständig neu. Nicht der geringste Schmutzfleck daran. Vielleicht hat man ihn nachträglich abgewaschen? Ausgeschlossen. Die Keulen sind mit einem feinen Lack überzogen. Der Glanz ist ein tadelloser, und er hätte doch stellenweise wenigstens blind werden müssen bei einer Behandlung mit Wasser. Und dann das Entscheidende: Sie finden an dem ganzen feinen Lacküberzug nicht den geringsten Ritzer oder Kratzer. Die Keulen sind also vollständig neu und können zu einem Totschlag, der solche Spuren hinterlassen hat, nicht verwendet worden sein.«

»Der Beweis ist Ihnen vollständig gelungen, Dagobert, allerdings haben wir damit noch nicht viel erreicht.«

»Ich bin auch noch nicht fertig. Ich wollte nur erst den Hausmeister und die Keulen aus dem Wege schaffen. Die Sache wird immer schwieriger. Ich lade Sie zu einem weiteren Experiment ein. Sehen Sie sich meinen steifen Filzhut an, den ich eigens für das Experiment mitgebracht habe. Er ist genau von derselben Sorte, wie der Puchtas. Ich lege ihn auf den Tisch und schlage nun mit der Keule drauf. So! Jetzt sehen Sie sich die Spur an. Eine ovale Spur. Kann gar nicht anders sein. Nun betrachten Sie gefälligst die Spur auf dem andern Hute. Sie ist viel größer und kreisrund. Nicht daß ich noch gegen die Keule polemisieren wollte. Die ist abgetan. Sie sehen aber nun die Schwierigkeit, sich das ›stumpfe Instrument‹ vorzustellen, mit dem der tödliche Streich geführt worden sein soll.«

»Sie haben recht, Dagobert. Hätte ich mir nicht geflissentlich vorgenommen, in dieser Sache überhaupt 22 nicht zu forschen und nachzudenken, so hätte ich wohl selbst schon auf diese Schwierigkeit kommen müssen.«

»Ein Knüttel kann es nicht gewesen sein, eine Keule auch nicht, ebensowenig die stumpfe Seite eines Beiles, die gewöhnlich viereckig ist. Aber auch wenn sie rund gewesen wäre – ich habe noch nie ein Beil mit so einer großen Rundfläche gesehen. Dasselbe würde nur noch in erhöhtem Maße gegen einen Hammer sprechen. Allerdings wäre ein Holzhammer von solchen Dimensionen denkbar, vielleicht noch andere ›stumpfe Instrumente‹ mit so großer runder Fläche, nur würde dann der Zweifel auftauchen, ob damit auf einen Schlag der sofortige Tod eines kräftigen Mannes mit starken Schädelknochen herbeigeführt werden könne.«

»Sehr richtig, Dagobert. Es fehlt uns noch immer die ›taugliche‹ Waffe, von der auch das Gesetz spricht.«

»Noch ein Umstand ist zu beachten. Die Spur auf dem Hut beweist, daß die runde Fläche über und über mit Erde und Sand bedeckt gewesen sein muß. Da haben Sie das größte Rätsel. Die Erde war gefroren und in diesem Zustande hat sie nicht die Klebrigkeit wie im nassen. Und wenn man das Instrument noch so eifrig auf der Erde herumgewälzt hätte, es hätte nicht so reichliche Spuren zurücklassen können.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber es ist vollkommen einleuchtend.«

»Begreifen Sie nun, daß einem da der Verstand stehen bleiben kann? Ich habe ja schon einiges erhoben, aber damit habe ich doch nur den zweiten Schritt vor dem ersten getan und in Wahrheit bin ich über den ersten Schritt nicht hinausgekommen. Das ist das Beschämende bei der Sache.«

23 »Der erste Schritt ist aber auch der wichtigste. Was hätten Sie davon, wenn Sie schon zehn Schritte gemacht hätten – in falscher Richtung?«

»Wie Freund Skrinsky. Ich kenne nur ein Instrument, auf das die vorhandene Spur passen würde, und das ist bestimmt nicht verwendet worden.«

»Was könnte das für ein Instrument sein, Dagobert?«

»Die ›Jungfer‹, mein lieber Polizeirat.«

»Kenn' ich nicht.«

»Das ist der große, zweihenkelige Stößel, den die Pflasterer benützen, um die schweren Granitwürfel einzurammen. Die runde Fläche würde stimmen, und da würde auch das reichliche Vorhandensein von Sand und Erde auf der Spur hinlänglich erklärt sein. Ihre Miene drückt Zweifel aus, Herr Polizeirat. Ich sagte ja selbst, daß ich an diese Möglichkeit nicht glaube. Stellen Sie sich nur die Situation vor, die dazu nötig gewesen wäre. Der Schlag ist senkrecht von oben geführt worden. Der Mörder müßte eine Doppelleiter zur Verfügung gehabt haben, wie sie bei Zimmermalern gebräuchlich ist. Die hätte er in der Sensengasse aufgestellt und mit der ›Jungfer‹ bewehrt bestiegen, dann sein Opfer ersucht, sich richtig aufzustellen und schön ruhig zu halten, und dann auf seinen Schädel losgetrommelt. Ein bißchen umständlich die Methode und ein bißchen unwahrscheinlich.«

»Wir stehen also dort, wo wir standen. Was aber sollen wir tun, Dagobert? Etwas muß geschehen; die Bevölkerung ist zu erregt!«

»Ich komme nun auf meinen Vorschlag. Wir wissen noch gar nichts und werden vielleicht noch lange nichts wissen. Denn wenn ich auch die Hoffnung noch lange 24 nicht aufgegeben habe, so sehe ich doch, daß der Fall ein schwieriger ist und daß es daher eine langwierige Geschichte werden kann. Wir wissen nicht, ob ein Mord oder ein Totschlag vorliegt. Ich persönlich bin geneigt, einen Totschlag anzunehmen. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten. Puchta kann verunglückt sein; er kann aber auch Selbstmord begangen haben.«

»Die beiden letzteren Möglichkeiten scheinen mir aber ausgeschlossen zu sein, Dagobert.«

»Mir auch, Doktor. Wir müssen aber doch alles in Erwägung ziehen. Eine Möglichkeit der Verunglückung wäre, daß ihm vom dritten oder vierten Stock eines Hauses ein Blumentopf auf den Kopf gefallen wäre. Damit wäre auch die Spur zur Genüge erklärt. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Es gibt dort keine Häuser, und mit einer Fraktur der Schädelknochen geht man nicht gemütlich weiter, sondern bleibt hübsch auf dem Flecke tot liegen. Auch ward nirgends etwas von einem zertrümmerten Blumenstock oder eine Spur von Gartenerde entdeckt.«

»Sogar auf dem Hut oder an den Kleidern hätte man etwas von dieser Erde finden müssen!«

»Natürlich. Ich lasse diese Annahme auch vollständig fallen. Es gibt weitere Möglichkeiten der Verunglückung. Der Mann war, wie ich jetzt schon weiß, betrunken. Er könnte gefallen, auf den Kopf gefallen sein und sich dabei tödlich verletzt haben. Ich kenne Ihre Einwendung; sie ist unanfechtbar. Kein Mensch, es sei denn ein Akrobat, kann senkrecht auf den Kopf fallen. Lassen wir also auch diese Kombination fallen. Nun gibt es noch zwei Möglichkeiten. Eine für das Verunglücken, eine für den Selbstmord. Er könnte es irgendwie möglich gemacht haben, die hohe 25 Gartenmauer des Offiziersspitals zu erklettern, und da ist er entweder heruntergefallen – das wäre die Verunglückung – oder er hat in seinem Dusel durch einen Kopfsprung in die Tiefe Selbstmord begangen.«

»Das wären wenigstens halbwegs plausible Möglichkeiten.«

»Ich glaube nicht an sie, aber ich meine, daß sich hier ein Anhaltspunkt ergibt, die maßlos aufgeregte öffentliche Meinung zu beruhigen. Mein Vorschlag geht dahin: Sie lassen offiziös verlautbaren, daß nach dem bisherigen Gang der Untersuchung es sehr unwahrscheinlich geworden sei, daß überhaupt ein Verbrechen vorliege, es deute vielmehr alles daraufhin, daß der Unglückliche das Opfer eines Unfalles geworden sei. Mein Gott, es fällt einer unglücklich auf den Kopf und bleibt tot liegen – das ist schon dagewesen. Ich verbürge mich dafür, daß das Publikum sich dabei sofort beruhigt.«

»Ihre Idee hat viel für sich, Dagobert. Bei dieser allgemeinen Nervosität und der Hetze von allen Seiten läßt sich tatsächlich nicht ruhig weiterarbeiten.«

»Dieser Meinung bin ich auch. Verdorben wird durch meinen Vorschlag nichts. Kriegen wir nichts heraus, dann ist die Sache sanft eingeschlafen. Gelingt die Entdeckung, dann wird gleichwohl der Erfolg der Polizei um nichts geringer sein. Man hatte eben im Interesse der Untersuchung seine Gründe gehabt, die öffentliche Aufmerksamkeit von dem Falle abzulenken.«

»Da Sie die Hand im Spiele haben, Dagobert, hoffe ich auf einen Erfolg.«

»Man tut, was man kann.«

* * *

26 Acht Monate waren vergangen. Am 20. Oktober erhielt der Polizeirat Doktor Weinlich von Frau Violet Grumbach eine briefliche Einladung für den 23. Oktober, 6 Uhr abends auf einen Löffel Suppe in ihrem Hause. Dagobert hatte diese Einladung veranlaßt. Bei Tische saßen nur das gastgebende Ehepaar, Doktor Weinlich und Dagobert. Man wußte, daß Dagobert mit einer bestimmten Absicht diese Zusammenkunft herbeigeführt hatte, aber man kannte auch seine Gepflogenheit, bei Tische, schon der aufwartenden Dienerschaft halber, niemals etwas von seinen Absichten zu verraten. Man konzentrierte also die Aufmerksamkeit auf das vorzügliche Menü und führte im übrigen ziemlich gleichgültige Gespräche. Erst als man sich nach Tisch zum kleinen Schwarzen im Rauchzimmer eingerichtet hatte, wo man ungestört war, gab Frau Violet ihrer Neugierde und Ungeduld Ausdruck: »Also, Dagobert, erzählen Sie; Sie haben sicher etwas auf dem Herzen!«

»Allerdings, Gnädigste, ich habe ein Versprechen einzulösen, das Sie selbst vielleicht schon längst vergessen haben. Es sind nun auf den Tag acht Monate her, daß ich es Ihnen gegeben habe.«

»Ich erinnere mich wirklich nicht.«

»Ich wurde am 23. Februar aus Ihrer Gesellschaft plötzlich abberufen.«

»Was ich sicher sehr bedauert habe.«

»Damals forderten Sie das Versprechen, daß ich Ihnen erzählen würde –«

»Sie haben seither so Vieles und Interessantes erzählt, Dagobert, daß ich an dieses Versprechen gar nicht mehr gedacht habe.«

»Und doch glaube ich, Frau Violet, Sie werden bei meinem Bericht Augen machen!«

27 »Warum?«

»Wir werden ja sehen.«

»Ach ja, ich erinnere mich dunkel, jetzt sogar ganz genau. Damals ist ein junger Mediziner erschlagen worden. Später hieß es, er sei verunglückt. Da habe ich mich nicht weiter dafür interessiert.«

»Diesen Fall habe ich allerdings im Auge. Nun habe ich aber auch unserem gemeinschaftlichen Freunde Doktor Weinlich Bericht zu erstatten, und um nicht zweimal dieselbe Geschichte erzählen zu müssen, habe ich gebeten, auch ihn heranzuziehen. Ich berichte also und bemerke nur, daß meine Mitteilungen rein privater und persönlicher Natur sind, wodurch aber unser Herr Polizeirat nicht gehindert sein soll, amtlich vorzukehren, was er für seine Pflicht hält.«

»Sie haben den Fall wirklich aufgeklärt, Dagobert?« fragte der Polizeirat mit überraschter Miene.

»Vollständig. Der Anfang ist ja bekannt; bekannt, daß Erich Puchta mit zerschmetterter Hirnschale tot aufgefunden wurde, daß unser Freund Skrinsky die Untersuchung sofort in die falschen Wege leitete und daß sich der Bevölkerung eine ungeheure Erregung bemächtigte, die sich erst legte, als man annehmen konnte, daß nur ein Unglücksfall, nicht aber ein Verbrechen vorliege. Nun, es war kein Unglücksfall.«

»Also doch ein Mord!«

»Nur ein wenig Geduld, Gnädigste! Nach genauer Prüfung der bei dem Toten vorgefundenen Habseligkeiten beschloß ich, die Untersuchung auf Grund zweier Gegenstände zu beginnen. Ein studentisches Band ließ erkennen, daß Puchta dem Korps der ›Vandalen‹ affiliert war. Als alter Herr der ›Alemannen‹ fand ich leicht Anschluß an die ›Vandalen‹ und ward sogar zu 28 dem Trauersalamander für den dahingeschiedenen Korpsbruder eingeladen. Ich erhob, daß in der kritischen Nacht eine solenne Kneipe abgehalten worden war, daß Puchta in Begleitung seines Konkneipanten Robert German, alias Moppi, den Heimweg angetreten hatte. Beide waren schwer bezecht. German erinnerte sich nur dunkel, daß sie sich in der Sensengasse getrennt hatten, weil Puchta aus irgendeinem Grunde, der seinem Begleiter inzwischen entfallen war, sich standhaft geweigert hatte weiterzugehen. Nach genauer Zeitberechnung mußte das Unglück wenige Minuten nach der Trennung erfolgt sein. Hier riß der Faden ab und war nicht weiter zu verfolgen.

Ich verließ also diese Spur, um eine andere aufzunehmen. Unter Puchtas Sachen wurde auch ein kostbares goldenes Lorgnon von merkwürdiger Form vorgefunden. Es wies zwar eingraviert die Anfangsbuchstaben seines Namen auf – E. P., aber ich konnte mich doch nicht mit dem Gedanken befreunden, daß das sein Lorgnon gewesen sei. Es war ein ausgesprochenes Damenlorgnon, langstielig, von zierlicher Rokoko-Ornamentik –«

»Dagobert!« fuhr Frau Violet erstaunt auf, »doch nicht etwa wie –?!«

»Genau so! Beruhigen Sie sich übrigens, Gnädigste, Sie werden noch Gelegenheit genug haben sich zu wundern. Mit einem solchen Instrument hätte ein Vandale nur komische Figur gemacht, und alle andern Sachen Puchtas waren durchaus korrekt. Zwei Umstände gaben mir zu denken. Das Lorgnon war nicht in einer der Taschen Puchtas gefunden worden. Es war vielmehr ihre dünne Goldkette um seine Hand geschlungen. Zweitens: während sonst alle Sachen 29 Puchtas den charakteristischen Geruch der Kneipe aufwiesen – Alkohol und Tabak – ging von dem Lorgnon ein kaum merklich feiner Chypreduft aus. Es war bestimmt Chypre. Ich bin einigermaßen bewandert in den verschiedenen Parfüms. Wie war er also zu diesem Lorgnon gekommen, das überdies keiner seiner Kommilitonen jemals bei ihm gesehen hatte? Ich mußte annehmen, daß es doch einen Kampf gegeben habe mit tödlichem Ausgang für ihn, daß bei diesem Kampfe auch eine Dame zugegen gewesen sei, der er in der Hitze des Gefechtes vielleicht unabsichtlich das Lorgnon herabgerissen habe. Der Fall wurde also immer rätselhafter.

Nun nahm ich das Lorgnon und ging damit zu dem mir bekannten Hofjuwelier Friedinger, um mir von ihm einige Auskünfte zu erbitten. Er prüfte das Ding fachmännisch, fand die Arbeit reizend, Pariser Provenienz, Goldwert etwa vierhundert Kronen, aber bei solchen Sachen sei die Fasson teuer. Unter achthundert Kronen sei es wohl nicht zu kaufen.

Ich forschte weiter, ob er wohl angeben könne, ob der Gegenstand bei einem Wiener Juwelier gekauft worden sei und dann bei welchem. Er erwiderte, daß dieser Artikel von Juwelieren selten geführt werde, eher von Optikern. Allerdings sei er für diese wieder zu teuer, aber da falle ihm doch ein, daß vor einigen Monaten am Kohlmarkt 58 im ersten Stock ein Optikergeschäft für die elegante Welt eröffnet worden sei, das ›Ophthalmion‹. Dort habe man sich auf großem Fuße eingerichtet. Jeder Käufer und jede Käuferin werde erst in das Kabinett des dort angestellten Augenarztes geführt, der die Augen unentgeltlich untersucht und dann die Nummern der erforderlichen Gläser 30 wissenschaftlich bestimmt. Es sei nicht unmöglich, daß das Lorgnon dort gekauft worden sei.

Ich begab mich ins Ophthalmion, wo man mich auch sofort dem Arzte vorführen wollte. Ich lehnte ab. Meine Augen seien ganz gesund; ich wolle nur ein hübsches Lorgnon für eine befreundete Dame kaufen. Die Gläserfrage werde erst später in Betracht kommen. Es handle sich zunächst um eine Überraschung. Man legte mir verschiedene Muster vor, zu 100, 200 und 300 Kronen. Ich wurde ungeduldig und meinte, es könnte schon etwas mehr kosten, aber etwas Hübsches müßte es sein. Dann wurden dienstbeflissen die teuren Sachen herausgeholt, unter diesen richtig zwei Exemplare, die auf das genaueste dem entsprachen, das ich in der Tasche hatte.

Jetzt ließ ich mit mir reden.

›Das gefällt mir. Kostenpunkt?‹

Erst ein Schwall von Erklärungen, und dann kam's heraus: 780 Kronen.

›Schön. Ich bin nicht abgeneigt, eines dieser beiden zu kaufen, aber vorher möchte ich mir doch einige Fragen erlauben. Haben Sie von dieser Sorte schon mehrere Exemplare verkauft?‹

›Nur ein einziges, bitte ganz ergebenst,‹ erwiderte der geschmeidige Verkäufer. ›Das ist kein Massenartikel, und so habe ich denn versuchsweise nur ein Vierteldutzend davon aus Paris mitgebracht.‹

›Können Sie mir auch sagen, wer das Stück gekauft hat. Sie begreifen – ich möchte das Lorgnon einer Dame zum Geschenk machen, und da kann es mir doch nicht gleichgültig sein, in welchen Händen etwa das Pendant dazu auftauchen könnte.‹

31 ›Begreife vollkommen, aber Sie können ganz beruhigt sein. Bei uns verkehrt nur die allerfeinste Kundschaft.‹

›Immerhin! Ich muß vorsichtig sein und möchte das zur Bedingung machen.‹

›Zufällig kann ich auch mit genauer Auskunft dienen. Wir haben nämlich das Stück erst vor wenigen Tagen wieder hier gehabt. Es war an der Feder etwas zu reparieren.‹

›Desto besser. Nun?‹

›Freiherr von Prank war der Käufer. Sie sehen, eine durchaus einwandfreie Seite!‹

›Der alte Baron oder der junge?‹

›Nicht der Exzellenzherr persönlich; es war der junge.‹

›Schön; aber der junge ist nicht verheiratet, übrigens ist auch der Vater, der Feldzeugmeister selber verwitwet. Ich müßte doch wissen, in welche Hände das Lorgnon geraten ist. Es soll vorkommen, daß auch sehr einwandfreie junge Freiherrn gelegentlich Bekanntschaften haben, die vielleicht nicht ganz einwandfrei sind.‹

Einigermaßen zögernd bekannte der Verkäufer, daß der Baron das Lorgnon allerdings für eine Dame gekauft habe.

›Sehen Sie,‹ fuhr ich fort, ›daß ich allen Grund habe, vorsichtig zu sein. Vielleicht ist es auch zu eruieren, wer diese Dame war.‹

Der Verkäufer schlug in seinem Buche nach, konnte aber nur feststellen, daß die Rechnung dem Baron geschickt und von diesem bezahlt worden sei. Ich ließ mich aber nicht entmutigen und fuhr fort: ›Vielleicht läßt sich auch das noch herausbringen. Bei Ihnen 32 geht es ja sehr gründlich und fachgemäß zu. Bei einem Lorgnon spielen schließlich auch die Gläser ihre Rolle. Ich vermute, daß die Dame hier gewesen ist, um ihre Augen untersuchen zu lassen.‹

›Das ist richtig. Nach meinem Buche wurde das Stück am 22. Dezember verkauft. Es handelte sich also offenbar um ein Weihnachtsgeschenk. Wenn Sie sich mit mir in unser ärztliches Ordinationszimmer bemühen wollten –‹

Der Arzt schlug in seinem ›Journal‹ nach. Nach seinen Aufzeichnungen hatte er am 22. Dezember untersucht: Frau von Cohnheim, den Senatspräsidenten Hofrat Doktor von Stockhammer, den Kommerzienrat Heinrich Wiesinger, Miß Elsie Pondicherry –

›Halt!‹ rief der Verkäufer, ›das ist die Dame. Jetzt erinnere ich mich ganz genau. Sie war in Begleitung des Barons erschienen.‹

Ich hatte ohnedies schon gewußt, daß wir an die richtige geraten waren. E. P. – Die Anfangsbuchstaben stimmten. Ich forschte weiter: ›War die Dame jung?‹

›Ja,‹ erwiderte der Verkäufer unter zustimmendem Nicken des Arztes, ›jung war sie, und ich kann hinzufügen, sie war schön, ganz außerordentlich schön. Ich habe nie etwas Schöneres gesehen. Aber nicht etwa, daß Sie glauben – ganz bestimmt nicht! Man hat ja seinen Blick. Sie war durchaus ladylike.‹

Der Arzt nickte wieder zustimmend.

›Dann allerdings,‹ bemerkte ich, ›liegt für mich kein weiteres Hindernis vor. Ich kaufe das Lorgnon. Was die Gläser betrifft – es soll eine Überraschung werden und umgewechselt werden sie ja doch – machen 33 Sie also ruhig dieselben Gläser hinein, wie Sie sie für Miß Elsie Pondicherry geliefert haben.‹

Ich bezahlte und ging. Noch wußte ich nicht recht, warum eigentlich ich mir das teure Lorgnon gekauft hatte. Allerdings – ich hatte bis dahin an langgestielten goldenen Damenlorgnons im Rokokostil bitteren Mangel gelitten, aber das war doch wohl nicht der Grund. Ich bereute den Kauf auch nicht; hatte er mir doch zu vielleicht wertvollen Anhaltspunkten verholfen, und vielleicht konnte das Ding mir auch in irgendeiner Weise dienlich sein. Und wenn auch nicht, so hatte ich doch ein interessantes Objekt für meine kriminalistische Raritätensammlung, immerhin auch für den Fall der Erfolglosigkeit eine hübsche Erinnerung.

Im Gehen überlegte ich. Die Pranks waren mir ja bekannt – dem Namen nach. Der alte Exzellenzherr Othmar Freiherr von Prank, Feldzeugmeister, Sr. Majestät Wirklicher Geheimer Rat, erbliches Herrenhausmitglied, das Musterbild eines alten Militärs und Kavaliers. Ein Umstand fiel mir ein, der mir nicht unwesentlich schien. Der Exzellenzherr hat bei der Zentralbank ein ziemlich beträchtliches Depot erliegen. Freund Grumbach ist schuld daran, daß ich mit zur Verwaltung dieser Bank gehöre. Da konnte sich für den Notfall doch eine ungezwungene Anknüpfung ergeben.

Der junge Baron Albrecht Prank hatte einige Jahre bei den Dragonern gedient und dann quittiert. Nun privatisierte er und betätigte sich nur als Sportsman, insbesondere galt er als der großmütige Protektor der Schwerathleten, die ihn vergötterten. Er übte fleißig mit ihnen, führte bei ihren Veranstaltungen den Vorsitz und sorgte dafür, daß ihnen die lockenden Ehrenpreise nicht ausgingen.

34 Nun denn – auch ich genieße die Ehre, zu den Protektoren der Schwerathletik gezählt zu werden. Da konnte ich es immerhin wagen, ihn aufzusuchen, um irgendeine wichtige sportliche Idee mit ihm zu besprechen. Ich überlegte nicht lange und begab mich ins Pranksche Palais am Rennweg. Die Auskunft, die ich durch den Portier erhielt, war eine äußerst herabstimmende. Beide Herrschaften, Vater und Sohn, seien nach Indien auf Tigerjagd abgefahren.

Ich erkundigte mich um Tag und Stunde der Abreise: 23. Februar neun Uhr vormittag. Die Reise sei plötzlich beschlossen und ohne umständliche Vorbereitungen angetreten worden. Das gab doch zu denken. Um zwei Uhr nachts der Mord oder Totschlag, zu dem der junge Prank doch in irgendeiner, wenn auch vielleicht nur entfernten Beziehung stand, und wenige Stunden darauf die hastige Abreise, die eigentlich mehr einer Flucht glich. Und der alte Baron flieht mit!

Das Rätsel wurde immer dunkler, immer heftiger aber auch mein leidenschaftliches Verlangen, es zu lösen. Nun fuhr ich zur Polizeidirektion, um mir im Meldungsamt die Personalien der Miß Elsie Pondicherry auszuheben. Ich hatte nicht lange zu suchen: Mistreß Mabel Pondicherry, Sprachlehrerin aus Brighton, 56 Jahre alt, mit Tochter Elsie, 24 Jahre alt, I. Operngasse 2, 4. Stock.

Ich beschloß sofort, mich im Englischen zu vervollkommnen. Ich spreche es zwar fließend wie Wasser, aber Vervollkommnung kann niemals schaden. Ich fahre vor und steige die vier hohen Stockwerke hinauf. Eine junge Dame öffnet mir. Der schwärmerische Optiker hatte nicht zuviel gesagt. In der Tat, jeder Zoll eine lady von hoher, seltener Schönheit. Ich 35 bin sonst mehr für das Wiener Genre, aber eine Engländerin, wenn sie schön ist – alle Achtung, Hut ab! Ich möchte, wenn's gestattet ist, den Unterschied darlegen.«

»Nein, Dagobert, nicht jetzt!« flehte Frau Violet. »Gelegentlich einmal. Jetzt erzählen Sie nur weiter, ich bin zu neugierig!«

»Neuerlich muß ich leider wahrnehmen, daß man meine ästhetischen Erörterungen fürchtet. Ich erkläre, daß ich tief gekränkt bin und fahre fort. Das aber darf ich hoffentlich doch noch sagen, daß ihre Gestalt eine entzückende war, daß ich nie ein Haar von leuchtenderem Goldblond gesehen hatte, und die Augen, die Augen –!«

»Dagobert!«

»Nun ja doch, ich bin schon fertig. Ich erkundigte mich also um Missis Pondicherry. Ich hätte die Absicht, mich in der englischen Konversation ein wenig zu vervollkommnen, und sie sei mir besonders empfohlen worden. Miß Elsie klärte mich auf, und dabei standen ihr die Tränen in den Augen, daß ihre Mutter leidend, herzleidend sei. Einige Aufregungen in der letzten Zeit hätten das Übel wesentlich verschlimmert, und deshalb habe sie selbst, wenigstens vorläufig, alle Lektionen ihrer Mutter übernommen. Sie sei zwar gewiß nicht so tüchtig und so erfahren wie ihre Mutter, aber gerade für die Konversation würde auch sie wohl noch ausreichen können.

Ich war roh genug, mich über diese Auskunft nicht allzusehr zu betrüben. Wir machten also ab – täglich eine Stunde.

Die Konversationen ließen sich sehr gut an, und ich übereilte nichts in meinen Nachforschungen, um 36 nichts zu verderben. Ich trachtete durch rückhaltlose Ergebenheit ihr Vertrauen zu gewinnen. Es ward mir nicht schwer, diese Ergebenheit aufzubringen. Denn Miß Elsie hatte sich meine Verehrung und meine herzlichsten Sympathien im Fluge erobert. Was wollen Sie – ein Mann ist ein Mann! Was am meisten auf mich wirkte, war ein leiser Hauch von Trauer, der um ihr Wesen wob. Bei der ersten Begegnung war mir diese ans Herz greifende traurige Stimmung aufgefallen und bei allen späteren Zusammenkünften nahm ich sie immer wieder wahr. Miß Elsie klagte niemals, sprach auch niemals von sich, aber man mußte kein großer Psycholog sein, um zu erkennen, daß da ein schmerzliches Erlebnis aus der jüngsten Zeit seine dunklen Schleier auf ein junges Gemüt gesenkt habe.

Einen großen Vorteil hatte ich vor ihr voraus. Ich saß da und lenkte das Gespräch mit bestimmten Absichten, und sie war arglos. So konnte ich doch manches erraten, was sie freiwillig vielleicht niemals verraten hätte. Dazu kam noch, daß ich natürlich sehr bald auch die Bekanntschaft mit ihrer Mutter machte. Die leidende Dame verbrachte ihre Tage und Nächte auf ihrem Zimmer im Lehnstuhl sitzend. Das Liegen vertrug sie nicht mehr. Gar oft saß ich bei ihr und plauderte mit ihr. Sie war, wenn sie nicht gerade allzusehr litt, mitteilsam, und erzählte freiwillig ihre und ihrer Tochter ganze Biographie, allerdings nur bis auf den einen Punkt, der gerade ein besonderes Interesse für mich gehabt hätte.

Ihr Mann habe in England ein großes Exportgeschäft betrieben, und sie hätten ihr ganzes Leben in Reichtum verbracht. Er sei aber gerade zur Zeit einer geschäftlichen Krise gestorben, und nach seinem Tode 37 stellte es sich heraus, daß sie gänzlich verarmt seien. In der früheren Gesellschaft habe sie nicht fortleben können; da habe sie sich denn mit ihrem Kinde aufgemacht, um sich auf dem Kontinent durch Unterricht im Englischen fortzubringen.

Es geschah gelegentlich auch, daß Miß Elsie mich mit ihrer Mutter allein ließ, wenn irgendein Besuch zu überstehen oder etwas in der Wirtschaft zu besorgen war. Diese Gelegenheit benützte ich nun so gut ich konnte. Missis Mabel öffnete leicht ihr Herz, wenn von ihrem Kinde die Rede war. Ich erfuhr von ihr, was die Ursache von Miß Elsies Kummer war, und was ihr eigenes Leiden so sehr verschlimmert hatte. Ein junger Mann von guter Familie, der durchaus ehrenwert und würdig schien, habe bei ihr um Elsies Hand angehalten. Elsie liebte ihn, und er erhielt das Jawort. Alles ward zur Hochzeit gerüstet – da kam eines Tages wie ein Blitz ans heiterem Himmel ein kurzer hastiger Brief – eine Absage.

›Ganz ohne Erklärung?‹

›Ohne vernünftige, verständliche Erklärung. Sein Gewissen zwinge ihn. Seither haben wir ihn nicht wieder gesehen.‹

›Erinnern Sie sich, an welchem Tage der Brief eintraf?‹

›Ich werde den Tag niemals vergessen. Es war der 23. Februar.‹

Also der dreiundzwanzigste Februar! Der Zusammenhang war da, und ich konnte ihn noch immer nicht ergründen. Ich beschloß nun, einen ernsthaften Vorstoß zu wagen. Bald darauf, als ich wieder eine Stunde hatte, sagte ich leichthin zu Miß Elsie, ich wollte ihr was Hübsches zeigen, das ich soeben gekauft 38 habe. Sie ward sofort neugierig, als sie ein elegantes Etui bemerkte, und ich wies ihr das von mir gekaufte Lorgnon vor. Die Arme wurde totenbleich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie griff hastig danach; ihr suchender Blick schien nach den Anfangsbuchstaben ihres Namens zu forschen. Dann gab sie es mir zurück.

›Ich hatte ein ähnliches,‹ sagte sie, ihre Tränen niederkämpfend.

›Sie haben es verloren, Miß Elsie?‹

›Es ist in Verlust geraten.‹

›Ich habe Ihnen Schmerz bereitet, Miß Elsie?‹

›Sie können nichts dafür, Mister Dagobert.‹

Ich schämte mich, fuhr aber doch fort: ›Es war Ihnen ein teures Andenken?‹

›Ja, es war ein teures Andenken, aber es ist verloren.‹

›Das will sagen, daß Sie es von einer Person hatten, die Sie liebten?‹

›Ja, Mister Dagobert, von einer Person, die ich liebte, aber es ist verloren und alles ist vorbei.‹

Ich hatte nicht das Herz weiterzufragen. Einer der nächsten Tage brachte uns eine tiefe Erschütterung. Ich kam wie gewöhnlich zur Stunde. Miß Elsie empfing mich tränenden Auges. Sie war sehr bleich, und die Blässe ihres Antlitzes wurde noch erhöht durch – die Trauerkleidung, die sie trug.

Am Morgen des Tages war ihre Mutter nicht mehr erwacht. Die schwer leidende Frau hatte sich sanft und ohne Todeskampf hinübergeschlummert. Ihre Lebensuhr war abgelaufen; das Werk war in aller Stille stehengeblieben.

Elsie war sichtlich mit aller Anstrengung bemüht, mir gegenüber ihre Haltung zu bewahren, aber 39 schließlich brach sie doch nieder unter der Wucht des Schmerzes. Sie sank auf einen Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte so schmerzhaft, so bitterlich – meine Herrschaften, ich zähle mich wahrhaftig nicht zu den sogenannten weichen Naturen, aber da – ich konnte nicht anders, ich legte ihr die Hand aufs Haupt und weinte im stillen mit.

Ich redete ihr zu und versuchte zu trösten, aber in solchen Situationen läßt sich überhaupt nichts Vernünftiges sagen, und wenn auch – es hilft ja doch nichts. Ich raffte mich also auf und erkannte gleich, daß Handeln jetzt besser am Platze sei als Reden, und übernahm es sofort, alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen. So niedergeschmettert Elsie auch war, so mußte sie doch auf eine Stunde mit mir fahren, um die noch notwendigen Trauersachen zu beschaffen. Dann besorgte ich das Leichenbegängnis und meinen Kranz. Das Leichenbegängnis war ein würdiges. Auf meinen Arm gestützt schritt Elsie durch den Friedhof zu dem offenen Grabe, das nun das Teuerste, was sie auf Erden hatte, umschließen sollte. Dann, als alles vorbei war, führte ich sie wieder in ihr verödetes Heim. Ich sprach ihr zu, so gut ich konnte, und namentlich suchte ich sie zu überzeugen, daß sie an mir unter allen Umständen, mag da kommen, was da wolle einen treuen und verläßlichen Freund und Beschützer haben werde. Einige Tage später konnte ich auf die Erörterung der immerhin wichtigen Frage eingehen, wie sie in der Folge sich ihr Dasein einzurichten gedächte.

›Ich kann doch wohl nichts anderes tun, Mister Dagobert,‹ meinte sie, ›als versuchen, mich durch Unterricht fortzubringen.‹

40 ›Ich bin nicht dieser Meinung,‹ entgegnete ich. ›Hören Sie mich an, Miß Elsie. Ich habe natürlich die Sache auch schon genau überlegt und auch schon einen Ausweg gefunden. Es kommt nur darauf an, daß Sie zustimmen. Eine Dame der besten Gesellschaft hat sich auf meine Fürsprache bereit erklärt, Sie als Stütze ins Haus zu nehmen.‹

›Ich als Gesellschafterin – in meiner Stimmung?!‹

›Die Dame weiß von dem Unglück, das Sie betroffen hat, und das war nur ein Grund mehr für ihre Zustimmung. Sie können bei ihrem mir bekannten Zartgefühl jeglicher Schonung sicher sein. Ich wiederhole, es ist eines der ersten Häuser der Stadt.‹«

»Sie sind aber wirklich ein entsetzlicher Mensch, Dagobert,« unterbrach da Frau Violet. »Ich hatte wirklich gern zugestimmt und habe es auch in all den Monaten keinen Augenblick bereut, aber Sie haben mir mit keinem Worte angedeutet, daß ich da doch in irgendeiner Weise in einen Mordprozeß verwickelt werden könnte!«

»Ich hielt es nicht für nötig, Gnädigste, Sie zu beunruhigen. Daß Miß Elsie keine Mörderin sei, das wußte ich so ziemlich auch damals schon.«

»Sie ist ein Engel, und ich wäre glücklich gewesen, wenn ich sie mein lebelang hätte im Hause behalten können, aber Ihre Pflicht wäre es gewesen, mich beizeiten über alles aufzuklären.«

»Meine Pflicht war es, keine Unvorsichtigkeit zu begehen.«

»Streiten wir jetzt nicht darüber. Erzählen Sie weiter!«

»In dem halben Jahre, da Miß Elsie in Ihrem Hause weilte, da ihre Farbe und ihren Lebensmut 41 wiederfand, ruhte die Angelegenheit, die zu verfolgen ich mir vorgenommen hatte. Ich blieb aber doch nicht ganz ohne Nachricht über die beiden Pranks. Ich habe bereits erwähnt, daß der Exzellenzherr ein Depot bei der Zentralbank hat. Von Zeit zu Zeit kamen Weisungen, ihm Summen nachzusenden nach Bombay, nach Yokohama, nach San Francisco usf. Ich hielt das in Evidenz und konnte so die Route ihrer Weltreise feststellen. Eine solche war es tatsächlich. Sie müssen auch namentlich in Japan und in China bedeutende Einkäufe gemacht haben. Denn es waren recht beträchtliche Beträge, die sie sich nachschicken ließen. Der letzte Auftrag kam aus Venedig mit der Verfügung, daß das Geld dem jungen Baron zu überweisen sei. Gleichzeitig meldeten die Zeitungen, daß Se. Exzellenz von einer längeren Reise wieder zurückgekehrt sei und sich zum Dienstesantritt gemeldet habe.

Nach Venedig fahre ich immer wieder gern. Um der Bank das Postporto zu ersparen, benützte ich den nächsten Schnellzug, um dem Herrn Baron das Geld persönlich zu überbringen. Meiner telegraphischen Benachrichtigung zufolge erwartete er mich zur bestimmten Stunde im Palazzo Grassi, wo er sich eingemietet hatte.

Vom Sehen aus kannte ich ihn ja von früher her und ich fand ihn wenig verändert. Nur das Gesicht tiefer gebräunt und das ganze Gehaben etwas ernster, düsterer als sonst. Übrigens ein Prachtmensch; hohe athletische Figur, das dichte Haar kurz geschoren, der mächtige braune Bart unten rechteckig zugestutzt.

Zunächst erledigten wir das Geschäftliche, dann aber ging ich geradeaus auf mein Ziel los, indem ich gestand, daß ich mir die Rolle eines Geldbriefträgers 42 nur zum Vorwand gewählt hätte, um zu einer Unterredung mit ihm in einer privaten Angelegenheit zu gelangen.

›Ich stehe gerne zur Verfügung,‹ erwiderte er in verbindlichem Tone.

›Ich weiß nicht, Herr Baron, ob Ihnen mein Name bekannt ist –‹

›Gewiß,‹ entgegnete er lächelnd, ›der Name Dagobert ist mir bekannt und er hat für mich einen guten Klang.‹

›Ich meinte, ob Sie mich als einen Mann kennen, zu dem man Vertrauen haben darf.‹

›Ich weiß, daß man zu Dagobert Vertrauen haben darf.‹

›Nun denn, ich biete Vertrauen und verlange Vertrauen, sonst hätte unsere Verhandlung keinen Zweck. Es ist eine sehr heikle private Angelegenheit, die ich zur Sprache bringen möchte. Wenn ich aber sage ›private‹ Angelegenheit, so habe ich Ihnen damit gleich die Gewähr geboten, daß gegen Ihren Wunsch kein Mensch von unserer Unterhaltung auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren wird.‹

›Sprechen Sie.‹

›Ich gedenke nicht, den Untersuchungsrichter zu spielen, der mit List aus Ihnen herausbringen möchte, was Sie nicht zu sagen wünschen. Ich will Ihnen ganz offen sagen, was ich weiß und was ich auf Grund gewisser Kombinationen zu wissen glaube und überlasse es Ihnen, die Richtigkeit meiner Auffassungen zu bestätigen oder nicht. Wenn ich gleichwohl um Ihr Vertrauen bat, so geschah es nur zum Teile aus Eigenliebe, um den Triumph zu genießen, annähernd ein dunkles Geheimnis gelöst zu haben, obschon man ja 43 auch seinen Künstlerehrgeiz hat, sondern in der Hauptsache deshalb, weil ich die Hoffnung hege, durch aufrichtige Aussprache Ihnen und vielleicht auch einer andern Persönlichkeit einen Dienst erweisen zu können.‹

›Ihre Einleitung ist sehr geheimnisvoll. Kommen wir zur Sache.‹

›Bitte, ich bin schon dabei. Am 23. Februar etwa um zwei Uhr nach Mitternacht wurde in Wien in der Sensengasse ein junger Mann tot aufgefunden. Ich sehe, daß es Sie Überwindung kostet, davon sprechen zu hören, Herr Baron, aber ich meine, es ist in mehrseitigem Interesse, daß wir uns darüber klar und ruhig aussprechen. Der Fall erregte ungemessenes Aufsehen. Die Polizei war vollkommen ratlos. Ich bin mit dem Leiter der Kriminalabteilung befreundet. Durch ihn erfuhr ich das Vorgefallene. Der Fall interessierte mich, und ich begann meine Nachforschungen auf eigene Faust. Ich bemerke, daß ich nicht im Solde der Polizei stehe und daß ich nicht verpflichtet bin, ihr meine Wahrnehmungen bekannt zu geben. Weiter will ich bemerken, daß die behördliche Untersuchung vollständig ergebnislos verlief, daß der Fall für die Polizei ruht, einfach eingeschlafen ist und, wenn ihr nicht Hilfe von außen gebracht werden sollte, wohl auch nie wieder erwachen wird.‹

›Was auch wohl das Beste wäre!‹

›Das ist noch die Frage, Herr Baron! Auch im Publikum denkt man nicht mehr an den Fall. Es geschah auf meine Veranlassung, daß offiziös die Wahrscheinlichkeit eines Unglücksfalles verkündet wurde. Dabei beruhigte sich die aufgeregte öffentliche Meinung, und heute ist die Sache vergessen. Meine Untersuchung ist nicht ergebnislos geblieben.‹

44 ›Was haben Sie herausgebracht?‹

›Ich beginne mit der Hauptsache – daß Sie, Herr Baron, in sehr naher Beziehung zu diesem Unglücksfall stehen!‹

›Wie kamen Sie darauf, Herr Dagobert? Können Sie das beweisen?‹

›Sonst hätte ich es nicht gesagt. Und wie ich darauf kam? Meine Geschichte ist sehr kurz. Sie hatten am erwähnten Datum zur erwähnten Stunde ein Renkontre mit dem Mediziner Erich Puchta. Als Opfer dieser Begegnung blieb der junge Mann auf dem Platze. Wenige Stunden später traten Sie in Begleitung Ihres Herrn Vaters eine Weltreise an. Diese Reise war eine Flucht und spricht gegen Sie.‹

›Immer nur in der Voraussetzung, daß ich der Täter war. Wie beweisen Sie meine Täterschaft, wie überhaupt meine Anwesenheit am Tatorte zur kritischen Zeit?‹

›Sie müssen doch wohl dort gewesen sein, sonst hätten Sie mit dem jungen Manne nicht ins Handgemenge geraten können, sonst hätte dieser dabei nicht mit der Hand an der Kette eines goldenen Damenlorgnons hängen bleiben können.‹

›Das Lorgnon wurde gefunden??‹

›In der Hand des – Verunglückten. Es wies das Monogramm E. P. auf, das sind die Anfangsbuchstaben Erich Puchtas, und die Polizei nahm deshalb ohne weiteres an, daß es sein Eigentum gewesen sei. Wir zwei wissen es besser. Wir wissen, daß Sie das Lorgnon am 22. Dezember am Kohlmarkt für 780 Kronen gekauft haben, daß Sie einige Wochen später eben dort die Feder reparieren ließen, daß Sie am Tage vor dem unseligen Ereignis es wieder 45 abgeholt und die Kette einfach umgehängt haben. Wir wissen endlich, daß die Initialen nicht Erich Puchta, sondern Elsie Pondicherry zu Ehren eingraviert worden sind.‹

›Herr Dagobert, Sie fangen an, mir unheimlich zu werden!‹

›Ich bin nun bei einem sehr wichtigen Punkte angelangt, Herr Baron, bei dem schwersten Schuldbeweis gegen Sie. Ich gestehe ehrlich, daß ich auf die eigentliche Todesart trotz allem Überlegen und Nachdenken nicht kommen konnte, auch jetzt noch nicht gekommen bin. Ein Mord schien mir gleich ausgeschlossen, aber auch ein Totschlag schien mir der Sachlage nach schwer erklärlich. Ich neigte tatsächlich der Annahme einer seltsamen Verunglückung zu, aber dann lieferten Sie selbst den Schuldbeweis. Sie haben ihn erschlagen.‹

›Und der Schuldbeweis?«

›Ich spreche nicht von der Flucht, obschon auch die gegen Sie zeugt. Auch bei geringerer Schuld ist es erklärlich, daß ein Mann, der auf seinen guten Namen hält, unter Umständen den Weitläufigkeiten mit der Behörde und der damit verbundenen peinlichen Hinauszerrung seines Namens in die Öffentlichkeit gern aus dem Wege geht. Wenn aber ein Mann von vornehmer Gesinnung, ein Mann von Ehre nach einem solchen unglückseligen Zwischenfall einer Dame, der er sein Herz und seine uneingeschränkte Hochschätzung gewidmet hat, daraufhin eine Absage sendet, zu der ihn sein Gewissen zwingt, dann ist dieses Gewissen ein gutes, und es gibt dafür nur eine psychologische Erklärung: er scheut es, sie in sein Schicksal mit herabzuziehen, er scheut sich, ihr die Hand zum Lebensbunde zu reichen, weil diese Hand mit Blut befleckt ist.‹

46 Prank saß da die Stirne auf die Hand gestützt und verharrte lange in Schweigen.

›Es nützt nichts,‹ sagte er endlich, ›sich gegen Sie zu wehren, Herr Dagobert. Sie sehen einem Menschen ins Herz hinein. So war es, buchstäblich so. Ich konnte, ich durfte nicht anders und damit habe ich mich unglücklich gemacht fürs ganze Leben.‹

›Darüber, lieber Baron, wollen wir später noch reden. Jetzt stellen wir nur erst den Tatbestand fest. In zwei wichtigen Punkten läßt mich mein Witz im Stich. Ich habe mir den Kopf zermartert. Ich finde das Motiv nicht und auch die Todesart kann ich mir noch immer nicht erklären.‹

›Darauf war allerdings auch mit der genialsten Kombination nicht zu kommen. Ich will Ihnen ehrlich beichten. Mein Vater liebt mich; er ist der beste, der zärtlichste Vater der Welt. Nur in einem Punkte hat – ich kann jetzt sagen hatte er eine mich schwer bedrückende Eigenheit. Ich bin – war glücklich über dreißig Jahre alt geworden, aber in seinen Augen war ich noch immer sein Bub geblieben, der nicht reif genug ist, gelegentlich auch seinen eigenen Willen zu haben. In dieser Hinsicht war die Zeit an ihm spurlos vorübergegangen. Wie vor fünfzehn Jahren sollte ich auch nun unter allen Umständen und unbedingt Order parieren. Er hielt mich durchaus nicht knapp, aber irgendein selbständiges Verfügungsrecht auch über mein rechtmäßiges Vermögen wollte er mir noch immer nicht einräumen. Auf die vermögensrechtliche Frage legte ich nicht einmal ein besonderes Gewicht. Die Verwaltung war in seinen Händen gut aufgehoben. Wohl aber war der Moment gekommen, wo ich in einer wichtigen Lebensfrage – Sie wissen, was ich 47 meine – eine Entscheidung getroffen hatte. Damit war er nun durchaus nicht einverstanden. Ich war entschlossen nicht nachzugeben, und ein schwerer Konflikt entstand, der Bruch schien unvermeidlich. – In jener verhängnisvollen Nacht waren wir zusammen auf einer aristokratischen Soiree gewesen. Als wir diese verließen, schlug ich vor, unsern Wagen nach Hause zu schicken und den langen Weg zu Fuße zurückzulegen. Ich wollte noch einmal eine – vielleicht die entscheidende Aussprache herbeiführen. Er ging mit mir, zeigte sich aber völlig unzugänglich und unnachgiebig. Ich geriet in Hitze und ging im Zorn davon. Er blieb im gemessenen Schritt, und so kam es, daß bald eine beträchtliche Strecke zwischen uns lag.

Wie ich in die Sensengasse komme, sehe und höre ich zwei sichtlich trunkene Leute miteinander parlamentieren. Trotz meiner tiefen Erregung belustigte mich die Sache. Der eine redete zu, schön vernünftig nach Hause zu gehen. Der andere an einen Pilaster der Gartenmauer gelehnt weigerte sich standhaft weiterzugehen. Er werde da stehenbleiben; erst müsse der nächste, der da vorbeikomme, seine patente Ohrfeige kriegen. Der Freund torkelte weiter. Er hatte das graue Elend und jammerte herzbrechend: sein bester Freund wolle nicht mit ihm gehen, sein bester Freund liebe ihn nicht.

Das war ganz unterhaltend, da fiel es mir aber wie ein tödlicher Schreck aufs Herz: der nächste, der da vorbeikommen wird, ist mein Vater!

In rasender Hast laufe ich zurück. Schon war es zu spät; das Unglück war geschehen. Mein Vater lag blutend auf der Erde, auf ihm der Betrunkene, der noch immer wütend auf ihn losschlug. Ich überlege nicht lange, fasse den Menschen, reiße ihn zurück, hebe 48 ihn auf – ich hatte einen unglücklichen Griff erwischt, verkehrten Untergriff –‹

›Ach, du lieber Gott, Ceinture à rebours! Nun endlich begreife ich! Wahrscheinlich sogar ceinture à rebours de derrière! Das war freilich ein Unglück für ihn. Ich sehe die Situation ganz deutlich vor mir. Als Sie angesprungen waren, lag er mit dem Kopfe in der Richtung zu Ihnen. Sie mußten Ihren Vater, der unter dem Betrunkenen lag, raschestens befreien. Dazu mußten Sie der Sachlage nach, um den Angreifer wegzureißen, ihn um den Leib fassen und aufheben, und dazu mußten Sie, Sie konnten gar nicht anders, verkehrten Gürtelgriff von hinten nehmen. Es ist der gefährlichste aller Griffe. Gegen ihn gibt es keine wirksame Verteidigung mehr.‹

›Richtig, Herr Dagobert, so war es. Sie sind ja Fachmann auch auf diesem Gebiete. Damals in der furchtbaren Aufregung dachte ich natürlich nicht viel nach über die Theorie des Ringkampfes. Ich hob den Menschen hoch und gedachte, ihn fest auf die Füße niederzustellen. Ich stellte ihn mit Wucht auf den Kopf. Eine leblose Masse, eine Leiche entsank meinen Händen.‹

›Jetzt verstehe ich alles, Herr Baron! In seiner Bedrängnis hatte der Unglückliche instinktiv mit seinen Händen einen Halt gesucht und war dabei an der Kette des Lorgnons hängen geblieben.‹

›Mein Vater trieb zur schleunigsten Entfernung. Was auch immer geschehen möge, oder schon geschehen sein möge – kein Mensch dürfe jemals erfahren, daß er, erbliches Herrenhausmitglied, Feldzeugmeister, Seiner Majestät Wirklicher Geheimer Rat, Ritter des Maria-Theresienkreuzes von einem betrunkenen Studenten geohrfeigt worden sei.

49 Wir eilten davon und entkamen unbemerkt. Noch in derselben Nacht rüsteten wir die Abreise.‹

›Und noch in derselben Nacht schrieben Sie einen Brief!‹

›Ja – durch den sich mein Schicksal entschied. Mir war es, als hätte ich mein Todesurteil ausgefertigt. Meine Beweggründe haben Sie richtig erraten, Herr Dagobert. Ich hatte Blutschuld auf mich geladen. Das wird lebenslänglich auf mein Gemüt drücken, und doch – wenn ich heute wieder in solche Lage käme, was Gott verhüten möge, ich könnte nicht anders handeln. Von der Schuld hatte ich das klare Bewußtsein, aber ich wußte noch nicht, welcher Art die Folgen sein würden, die ich zu tragen haben würde. Ich wußte nur, daß ich nicht das Recht habe, ein reines Frauenbild in dieses Schicksal zu verstricken.‹

›Ich meine doch, Herr Baron, daß es am besten gewesen wäre, freiwillig und freimütig die etwaigen Folgen auf sich zu nehmen.‹

›Das war unmöglich. Die Rücksicht auf meinen Vater verbot es. Eine gute Folge hat dieses Unglück doch gehabt. In der Fremde auf der langen Reise durch die weite Welt haben wir, mein Vater und ich, uns enger aneinander geschlossen. Was hemmend und störend zwischen uns lag, ist beseitigt. Er hat mein Recht auf Selbständigkeit anerkannt, und nun endlich bin ich ein freier Mann. Es ist die Tragik meines Lebens, daß diese so lang ersehnte Freiheit, da ich sie endlich errungen hatte, mir inzwischen wertlos geworden war.‹

›Nicht so, Herr Baron. Mit Ihrer Philosophie bin ich durchaus nicht einverstanden. Sie verzeihen schon, wenn ich mich da offen äußere. Ihre Motive 50 mögen ja eine gewisse Berechtigung haben, sie müssen aber hinfällig werden angesichts der Pflichten, die Sie haben. Sie haben sehr ernste Pflichten, Herr Baron! Ein Unglück hat Sie betroffen. Sie dürfen aber nicht noch ein junges Menschenleben vernichten mit Absicht und mit Bewußtsein. Welcher Art auch die Folgen Ihrer raschen Tat in der Sensengasse sein mögen, sie werden keine entehrenden sein. Gegenwart und Zukunft eines jungen Geschöpfes ist vernichtet, das – Ihnen muß ich es nicht erst sagen – der Liebe und der Wertschätzung eines Mannes von Ehre in jedem Betracht würdig ist. Miß Elsies Mutter ist, was Sie vielleicht noch nicht einmal wissen, ihren Leiden erlegen.‹

›Nein, das wußte ich nicht! Um Gottes willen, was tut Elsie nun?‹

›Sie wäre nun ganz verlassen auf der Welt, wenn nicht eine wahrhaft edle und ausgezeichnete Frau als mütterliche Freundin sich ihrer angenommen hätte.‹

›Da muß etwas geschehen! Ich fahre heute noch nach Wien.‹

›Lassen Sie mich erst als Ihren Botschafter reisen, Herr Baron. Geben Sie mir nur die nötigen Vollmachten, und ich werde meine Mission schon zu Ihrer Zufriedenheit erfüllen.‹

›Sie haben jede Vollmacht, die Sie nur wünschen können!‹

Ich reiste ab. Was weiter geschehen ist, wissen Sie, Frau Violet.«

»Ja, jetzt weiß ich alles, Dagobert, aber jetzt erst habe ich den richtigen Zusammenhang erfahren, zugleich aber auch, daß es Ihnen beliebt hat, mit mir wie mit einer Marionettenfigur zu verfahren.«

51 »Verzeihen Sie huldvollst, Frau Violet. Es war notwendig und ging nicht anders. Ich war gebunden. Wenn aber auch Sie alles wissen, so muß doch das Nötigste noch unserem Freunde dem Polizeirat erzählt werden. Ich machte also von meinen Vollmachten einen umfassenden Gebrauch und trat sofort als Brautwerber auf. Ich sagte die volle Wahrheit, und die Träne, die in ihrem Auge erglänzte, als sie ihr Jawort sprach, war der schönste Lohn, den ich jemals im Leben für eine komplizierte Arbeit erhalten habe. Vor acht Tagen hat in aller Stille die Trauung stattgefunden. Die Rolle der Brautmutter hatte unsere herrliche Hausfrau übernommen, Beistand war Seine Exzellenz der Feldzeugmeister.«

»Bei alledem wundert mich nur eins, Dagobert,« bemerkte hier der Polizeirat, »daß Sie nun die ganze Geschichte doch erzählt haben!«

»Weil ich mir ausdrücklich dazu die Ermächtigung erwirkt habe. Darauf hatte ich bestanden. Ich hatte kategorisch erklärt, daß es durchaus nichts tauge, ein solches Geheimnis lebenslänglich mit sich herumzutragen. Die hohe Obrigkeit solle es nur erfahren und dann tun, was ihr gut und recht dünke. Beide Pranks waren damit einverstanden. Nur einen Vorbehalt machte Baron Albrecht. Er wollte sich sein junges Glück nicht durch polizeiliche oder gerichtliche Verhöre trüben lassen. Das junge Paar trat eine Hochzeitsreise um die Welt an. Der Baron wollte auch seiner jungen Frau all die Herrlichkeiten der schönen Gotteswelt weisen, die kurz vorher erst sein Entzücken erregt hatten. Nach seiner Rückkehr mögen immerhin die Häscher kommen!«

»Ich bin nun wirklich in Verlegenheit,« bemerkte 52 der Polizeirat, »wie ich mich verhalten soll. Sie haben mir eine private Mitteilung gemacht –«

»Allerdings; wir wünschen aber nichts zu vertuschen. Der Vorgang, wie ich ihn mir nun denke, ist folgender: Sie werden in tiefster Heimlichkeit Ihrem Präsidenten die Mitteilung machen, daß es Ihnen gelungen ist, den dunklen Fall aufzuklären. Er wird zunächst erschrecken und Sie ersuchen, auch weiterhin reinen Mund zu halten. Eine selbständige Verfügung zu treffen, wird er nicht den Mut haben; er wird erst ›oben‹ anfragen. Ein wirklicher geheimer Rat Seiner Majestät, ein Feldzeugmeister usw. auf der Straße geohrfeigt – das darf nicht ausgetrommelt werden! Nach einem gewissen Zeitraum wird man Sie rufen lassen und Ihnen bedeuten, daß Ihnen in Würdigung Ihrer ausgezeichneten und diskreten Nachforschungen, da Sie den Franz-Josephsorden schon haben, die Eiserne Krone dritter Klasse taxfrei verliehen worden sei. Das wird nicht sowohl die Belohnung für Ihren Scharfsinn, aber vielmehr für Ihre taktvolle Verschwiegenheit sein und zugleich die zarte Aufforderung, auch weiterhin in dieser diskreten Schweigsamkeit zu verharren. Ich halte jede Wette hundert zu eins, daß sich die Sache so abspielen wird!«

Und so geschah es. – 53

 


 


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